Ich bin nicht Sherlock Holmes - Maxx J. Eden - E-Book

Ich bin nicht Sherlock Holmes E-Book

Maxx J. Eden

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Beschreibung

Im London des 21. Jahrhunderts hat es die junge Sekretärin Alexandra Green oftmals sehr schwer, nicht mit dem genialen Detektiv Sherlock Holmes verwechselt zu werden, da auch sie gewisse Fähigkeiten besitzt, die sie deutlich von der Masse abheben und wodurch der Scotland Yard sie gerne zu Hilfe holt. Und obwohl sie stets die Nähe von Sherlock Holmes und auch von dessen großem Bruder Mycroft zu meiden versucht, bringt der Fall eines kleinen Jungen die drei unweigerlich immer näher zusammen.

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ähnliche


basierend auf den Werken, Romanen und Geschichten von

Sir Arthur Conan Doyle

INHALTSVERZEICHNIS

I. Der vermisste Junge

II. Der Geruch von Menthol

III. Mycroft Holmes

IV. Goethe und Iron Man

V. M wie …

VI. Die Falle

VII. Margaret Trevor

VIII. Hippo

IX. Scotch

X. Die Wahrheit

XI. Das fehlende Puzzleteil

XII. Die Hexe

XIII. Der Bruce Partington Fall

XIV. Annabelles wahres Gesicht

I.DER VERMISSTE JUNGE

Es klingelte plötzlich an der Tür.

Stille.

Alexandra Green fuhr erschrocken hoch. Noch bevor ihre Augen sich schärfen konnten, machte der stechende Schmerz in ihrem Nacken ihr schmerzhaft klar, dass sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Ein kurzer Blick auf ihr Handgelenk verriet ihr die Uhrzeit – 7:00 Uhr morgens. Während sie die letzten Reste des Schlafs aus ihren müden Augen rieb, fragte sie sich:

Wer um alles in der Welt würde mich um diese Zeit stören?

Und das auch noch an einem Sonntag?

Sie gähnte, streckte sich langsam und erhob sich schließlich. Die Türklingel ertönte erneut, diesmal dringlicher.

Genervt trat sie in den Flur, ihren beigen Morgenmantel – eine billige Nachahmung von Seide – locker um sich geschlungen, sodass das weiße Nachthemd darunter, das ihr bis knapp über die Knie reichte, sichtbar war. Mit wachsender Verärgerung schloss sie die Tür auf und öffnete sie.

Auf der Schwelle stand eine ältere Dame mit silbergrauem Haar, das ordentlich zu einem Dutt hochgesteckt war. Sie trug eine runde Brille mit dicken schwarzen Rändern und eine graue Strickjacke, die wohl von ihr selbst gemacht war. Die Frau hielt eine kleine dunkelbraune Handtasche fest an ihre Brust gedrückt, ihre dünnen Finger umklammerten die Träger wie einen Schutzschild.

»Hallo«, stammelte die Frau unsicher. »Sind Sie Alexandra Green? Die Detektivin?«

Alex unterdrückte ein unbeholfenes Lächeln und zog den Gürtel ihres Morgenmantels fester um ihre Taille. Mit einer höflichen Geste lud sie die ältere Dame ins Haus ein. Sie führte sie ins Wohnzimmer und bereitete eine heiße Tasse Tee vor, um die Nerven der Besucherin zu beruhigen. Wortlos drückte sie der Frau die warme Tasse in die zitternden Hände. Dann ließ sich Alex mit gemessener Anmut in einen breiten Lesesessel sinken, der schräg gegenüber der Couch stand. Die Besucherin setzte sich ahnungslos auf den Platz, wo Alex zuvor geschlafen hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Unsinn, dachte Alex bei sich.

Das muss ihr doch aufgefallen sein.

Natürlich weiß sie, dass es viel länger gedauert hätte, wenn ich im Schlafzimmer gewesen wäre, um zur Tür zu kommen.

Es ist doch offensichtlich, dass ich gerade erst aufgewacht bin, oder nicht?

Nein, nein, tadelte sie sich selbst, innerlich die Augen verdrehend.

Sie ist viel zu beschäftigt, belastet vom Kummer, jemanden Geliebten verloren zu haben.

So etwas würde ihr kaum auffallen.

Oder vielleicht ist es einfach so, dass die meisten Menschen – normale Menschen – solchen Gedankengängen gar nicht folgen.

Alex holte tief Luft, ihre Stimme ruhig, aber aufmerksam. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Es geht um meine Tochter, Maria Drebber. Sie ist… nein, sie war…« Die Stimme der älteren Frau brach, und Tränen traten in ihre Augen. Zitternd stellte sie die Teetasse auf den schlanken Mahagonitisch zwischen ihnen, ihre Hände waren zu sehr am Zittern, um sie noch länger halten zu können.

Alex reichte ihr ein Taschentuch aus der Box, die perfektionistisch in der Mitte des schmalen Tisches stand. »Es ist in Ordnung«, sagte sie mit fester Stimme – ruhig, aber weder kalt noch unfreundlich. »Sie müssen nicht mehr sagen, Mrs. Drebber. Ich habe gelesen, was passiert ist. Mein aufrichtiges Beileid.«

»Danke«, schluchzte die ältere Frau, den Kopf gesenkt. »Man sagte mir, es gäbe keine Anhaltspunkte – nichts, was auf den Täter hinweist – und dass ich jetzt einfach nur abwarten könnte.« Sie hob ihre tränenverschleierten Augen und traf Alexandras Blick direkt. »Inspector Doyle war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben. Er meinte, Sie könnten vielleicht helfen.« Verzweiflung lag schwer in ihrer Stimme, als sie flehte: »Bitte, Sie sind meine letzte Hoffnung.«

Warum bloß, dachte Alex mit einem leisen Anflug von Verärgerung.

Es scheint, als würde Doyle mich geradezu herausfordern, mich wieder auf einen Fall mit ihm einzulassen.

Dieser faule Bastard.

Ich habe ohnehin schon genug zu tun.

Sobald es schwierig wird, zieht er mich mit rein.

Manchmal ist er sogar schlimmer als Lestrade.

Alex musterte ihre Besucherin mit einem scharfen, fast unmerklichen Blick. »Können Sie mir erzählen, was vor zwei Tagen passiert ist?«

»Maria hat mich wie üblich kurz nach dem Abendessen angerufen. Sie sagte, sie würden noch etwas länger unterwegs sein, weil sie gerade erst losgegangen seien, und dass ich nicht auf sie warten solle. Aber darüber hinaus… weiß ich nicht, was passiert ist.«

Alex lehnte sich vor, ihre scharfen Augen verengten sich, als könnte sie die Frau durchdringen. »Haben Sie irgendetwas im Hintergrund gehört? Kinder, besonders wenn sie spüren, dass ein Elternteil nicht ganz aufmerksam ist – etwa bei einem Telefonat – machen sich oft bemerkbar. War Ihr Enkel bei ihr? Selbst wenn es keine Worte waren, vielleicht bloß laute Rufe oder Geräusche?«

Mrs. Drebber zögerte einen Moment, offensichtlich bemüht, sich zu erinnern, und schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich… ich bin mir nicht sicher. Da war vielleicht etwas, aber es ist jetzt alles so verschwommen.«

Alex musterte ihre Besucherin noch einen Moment lang, ihr Geist arbeitete bereits daran, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen.

»Nein«, schüttelte Frau Drebber entschieden den Kopf. Doch dann, wie eingefroren in der Bewegung, hielt sie plötzlich inne. Ihre Augen weiteten sich, als eine Erinnerung in ihr aufblitzte. »Ja«, murmelte sie, ihre Hände zitterten unwillkürlich. »Sie müssen während unseres Gesprächs die Straße überquert haben. Philip hat Rot! gerufen – als ob meine Tochter, ohne nachzudenken auf die Straße getreten wäre. Dann hörte ich das Quietschen von Reifen und das laute Hupen eines Autos, so laut, dass Philip aufschrie. Maria schimpfte mit ihm deswegen, aber ich nehme an, sie sind danach weitergegangen. Aber sonst habe ich nichts mehr gehört.«

Während Mrs. Drebber sprach, arbeitete Alexandras Geist bereits auf Hochtouren, konstruierte die Szene blitzschnell – spielte verschiedene mögliche Szenarien durch, jedes rasch verworfen oder verfeinert, bis nur die einfachste, logischste Schlussfolgerung übrig blieb. Ohne Vorwarnung sprang sie aus ihrem Sessel auf.

»Könnten Sie mir den Ort zeigen?«, fragte sie, ihre Stimme scharf und zielgerichtet. »Natürlich müssen Sie mich nicht begleiten, wenn es zu viel für Sie ist. Ich verstehe das vollkommen. Die Adresse allein würde ausreichen.«

»York Street 17«, antwortete Mrs. Drebber, sichtlich überrascht von der plötzlichen Intensität in Alexandras Reaktion. »Dort hat man Maria zumindest gefunden.«

In Alex‘ Gedanken entfaltete sich eine mentale Karte von London – ein dichtes Netzwerk aus Straßen, Abkürzungen, Bushaltestellen und U-Bahn-Stationen. Sie runzelte die Stirn und überlegte. »Das liegt nicht auf dem direktesten Weg zu Ihnen nach Hause.« Ihre Augen glitten zurück zu Mrs. Drebber, die sie mit prüfendem Blick musterte. »Nimmt Ihre Tochter oft die York Street? Die Gloucester wäre viel schneller – und kürzer.«

Sie begann gedankenverloren im Raum auf und ab zu gehen, die Fakten wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Doch während sie dies tat, schien ihr die Schlussfolgerung, die sie erreichte, seltsam unplausibel und beunruhigte sie.

»Was? Warten Sie…« Mrs. Drebbers Stimme zitterte vor Verwirrung. »Wie können Sie das wissen? Sie wissen ja nicht einmal, wo meine Tochter losgegangen ist oder wo ich wohne.«

Alex lachte leise, ihre Begeisterung kaum verhohlen. »Natürlich weiß ich das.« Ihre Stimme klang fast zu leichtfertig für die Ernsthaftigkeit der Situation. »Wie ich bereits sagte, ich lese recht viel in den Zeitungen.«

»Aber es wurden keine Adressen erwähnt. Niemals.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Alex glatt. »Aber gewisse andere Orte wurden erwähnt. Und indem man die bekannten Orte miteinander verbindet, lassen sich sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel ableiten.«

Mrs. Drebber nahm einen langen Schluck Tee und runzelte die Stirn, während sie zu Alex aufsah. »Dann verstehe ich nicht, warum Sie gefragt haben, wo man meine Tochter und meinen Enkel gefunden hat.«

Alex lächelte wissend. »Irren ist menschlich.« Sie trat näher heran und begegnete dem Blick ihrer Besucherin mit unerschütterlicher Sicherheit. »Ich wollte nur sicherstellen, dass mir nichts entgangen ist.« Sie holte tief Luft, während ihr Geist bereits wie ein Raubvogel über der Situation kreiste. »Eine Mutter, besonders eine, die ein Kind allein großzieht, wandert selten spät abends mit einem Kleinkind durch die Straßen. Sie sind müde – erschöpft von den Anforderungen des Tages. Und Kinder noch mehr.« Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, während sie in Gedanken weiter die Straßen Londons verfolgte. »Sich spät abends hinauszuwagen, bringt nur unnötige Komplikationen und Stress. Besonders unter der Woche, wenn Mutter und Kind früh aufstehen müssen. Sie würden jede Umleitung vermeiden und höchstwahrscheinlich den kürzesten Weg nehmen.« Alex hielt kurz inne, um Mrs. Drebber die Zeit zu geben, ihre Schlussfolgerungen zu verarbeiten. »Also wurden sie entweder mit Gewalt zur York Street gebracht, oder sie hatten ein dringendes Anliegen, das sie vor der Heimkehr erledigen mussten.« Sie richtete ihren scharfen Blick wieder auf ihre Klientin. »Hatte Ihre Tochter Freunde oder Bekannte, die in der Nähe der York Street wohnten? Oder vielleicht Ihr Enkel?«

Mrs. Drebber schüttelte den Kopf, die Last ihres Kummers war deutlich zu erkennen, als sie ihn senkte. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid.«

»Bitte, entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Alex, ihre Stimme unerwartet sanft, als ein seltsames Gefühl des Mitgefühls sie durchströmte. »Vertrauen Sie mir, Mrs. Drebber – ich werde Ihren Enkel finden und unversehrt zu Ihnen zurückbringen.«

Was rede ich da?

Ich darf niemals Versprechungen machen. Niemals.

Verdammt.

Das ist überhaupt nicht meine Art.

Etwas an diesem Fall beunruhigte sie. Der Junge... da war etwas Merkwürdiges.

Seltsam.

Er erinnert mich an etwas...

Als Alexandra Green an der angegebenen Adresse in der York Street ankam, wurde sie sofort mit einem Problem konfrontiert: Zugang zum Tatort zu bekommen. Das Gebiet war abgesperrt, und sie musste sich zuerst mit Officer Tobias Gregson von der Metropolitan Police Service – im ganzen Land besser bekannt als New Scotland Yard oder einfach Scotland Yard – einigen.

»Was glauben Sie eigentlich, was das hier ist?«, fragte Gregson gereizt, seine tiefbraunen Augen blitzten unter seinen gerunzelten Brauen hervor. »Etwa eine Zirkusattraktion?« Seine Frustration war deutlich zu spüren. »Hier hat erst kürzlich ein Mord stattgefunden, wie Ihnen sicherlich bekannt ist. Sonst wären Sie ja wohl kaum hier. Dies ist ein abgesicherter, versiegelter Tatort, voller wichtiger Beweise. Unbefugte wie Sie haben hier nichts verloren. Also, machen Sie sich vom Acker!«

»Wo ist Inspector Doyle?«, entgegnete Alex ruhig, ihre Gelassenheit bildete einen scharfen Kontrast zu Gregsons gereiztem Tonfall. Sie schien völlig unbeeindruckt von seiner Härte. »Teilen Sie ihm mit, dass ich im Auftrag von Maria Drebbers Mutter hier bin.«

Gregson verdrehte die Augen, seine Verärgerung war ihm deutlich anzusehen. »Und was genau gedenken Sie jetzt zu tun? Sie ist bereits tot.«

»Aber der Junge ist es nicht. Noch nicht«, antwortete Alex mit durchdringendem Blick. »Und je länger Sie mich hier warten lassen, obwohl ich Ihnen durchaus helfen könnte, desto geringer werden unsere Chancen, ihn lebend zu finden.« Ihre Stimme war ruhig, doch die Dringlichkeit in ihren Worten war unüberhörbar.

»Unsere Chancen?« Er riss die Augen ungläubig auf, nur um sie dann scharf zusammenzuziehen, seine Stimme triefend vor Verachtung. »Es gibt kein uns, kein wir, verstanden, Missy?« Sein Gesicht verzog sich vor unverhohlener Bitterkeit. »Sie arbeiten weder für die Polizei noch für die Regierung. Sie sind nur irgendeine einfache Sekretärin für einen gierigen Anwalt, nicht mehr.«

Alexandra war nicht der Typ, solche herablassenden Worte ohne Reaktion stehen zu lassen. Innerhalb eines Augenblicks musterte sie Gregson mit der präzisen Genauigkeit eines Falken. Seine Körpersprache verriet ihn weit mehr als seine harten Worte es jemals könnten. Officer Gregson hatte die Angewohnheit, beim Sprechen wild mit den Armen zu gestikulieren, doch er mied direkten Augenkontakt. Beim Zuhören oder Nachdenken pflanzte er die Hände fest auf die Hüften und stand breitbeinig da, wie ein steifer Spielzeugsoldat. Seine Füße jedoch zeigten von ihr weg – ein unbewusstes Zeichen seines Wunsches, woanders zu sein.

Sein dunkelgraues Hemd, leicht abgetragen und unter dem schweren schwarzen Mantel zu sehen, trug winzige dunkelrote Flecken direkt unter dem Kragen – fast unmerklich für ein ungeübtes Auge. Der Stoff auf einer Seite war zerknittert, als hätte er beträchtliche Zeit liegend oder an eine harte Oberfläche gepresst verbracht, vielleicht ein Bett oder etwas Ähnliches. Sein Mantel, noch leicht feucht an den Schultern und Ärmeln, deutete auf kürzliche Einwirkung der Witterung hin, obwohl der größte Teil davon getrocknet war. Unter dem Hemd lugte ein kaum sichtbares weißes Unterhemd oberhalb des Kragens hervor.

Interessant.

Die Details vor ihr erzählten eine weitaus faszinierendere Geschichte, als es die prahlerischen Worte des Mannes je könnten.

»Wie lange?«, fragte Alexandra schließlich, ihr Ton beiläufig und doch messerscharf, nachdem sie genug Details gesammelt hatte für das, was gleich geschehen würde.

Gregson starrte sie verständlicherweise verwirrt an. »Was…?«

»Wie lange ist es her, seit Sie die Royal Navy verlassen haben? Zwei Jahre, oder vielleicht länger?«

Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Woher zum Teufel wissen Sie das?« Er war völlig überrumpelt, obwohl ein Hauch von Misstrauen in seinem Blick flackerte. »Doyle muss es Ihnen gesagt haben, oder?«

Sie lächelte, ein triumphierendes Glitzern in ihren Augen. In diesem Moment wusste Alex, dass sie ihn fest im Griff hatte. »Detective Inspector William Doyle? Er ist ein unerträglich pedantischer Mann, so steif wie ein Eisenstab, und würde niemals, unter keinen Umständen, ein einziges Wort über seine Kollegen verlieren. Würde ich auf ihn für Informationen zählen, hätte ich eher noch mehr von Maria Drebber selbst erfahren – oder vielleicht von Ihrer Begleitung letzte Nacht.«

Gregsons Verwirrung vertiefte sich. »Was? Wie zur Hölle…?« Das Feuer in seinen dunklen Augen flackerte und wandelte sich in Unsicherheit. »Haben Sie mich etwa verfolgt?«

Alex lachte amüsiert über seine Naivität. »Ja, natürlich! Ich habe Sie verfolgt, nur um Ihnen das hier vorzuwerfen und so zu tun, als ob ich alles wüsste, als hätte ich schon seit gestern gewusst, dass Sie heute hier stehen würden. Schließlich habe ich als ganz gewöhnliche Sekretärin nichts Besseres zu tun, oder?«, spottete sie mit übertriebenem Sarkasmus.

Ihr Scharfsinn traf ihn wie ein Peitschenhieb, und Gregson war sprachlos, während Alex den Moment genoss, ihr scharfer Verstand nun voll zur Schau gestellt.

»Aber wie wissen Sie das dann? Haben Sie mit meiner Freundin gesprochen?«, verlangte Gregson zu wissen, sein Ton verwirrt und voller Zweifel.

»Nein«, antwortete Alex mit einem gelassenen Lächeln. »Ich habe nur mit Ihnen gesprochen, Officer Gregson – gerade eben.«

Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf, tiefe Falten zogen sich über seine Stirn. »Das ist unmöglich. Woher sollten Sie das wissen? Ich habe Ihnen nie etwas davon erzählt. Wir kennen uns doch kaum!«

»Ganz richtig«, sagte sie, ihre Lippen verzogen sich zu einem wissenden Grinsen. »Ich wusste nicht einmal, dass Sie eine Freundin haben.«

In diesem Moment erschien Inspector William Doyle um die Ecke, seine schmächtige Gestalt warf einen langen Schatten. Er war ein etwas hagerer Mann, mit einem langgezogenen, markanten Gesicht und einer Nase, die ebenso prominent wie würdevoll war, obwohl sie einen leichten Bogen hatte. Sein Kopf, gekrönt von dunkelblonden Locken, ruhte erschöpft in seinen Händen. Doch als er das unverkennbare Geräusch einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Alexandra Green und Tobias Gregson hörte, weiteten sich seine meerblauen Augen ungläubig, und er verdrehte sie genervt. Seufzend eilte er herbei.

»Was in aller Welt macht ihr beiden hier?«, bellte Doyle, seine Worte voller Erbitterung.

»Wussten Sie, dass Officer Gregson früher bei der Royal Navy war?« Alex war vollkommen in ihr Spiel aus nonverbaler Kommunikation vertieft, und für einen Moment wirkte sie genauso arrogant und unerträglich selbstgefällig, wie es vielleicht Sherlock Holmes selbst gewesen wäre.

»Was?« Doyle blinzelte, völlig verwirrt. »Nein«, gab er zu, schüttelte den Kopf und sah Gregson mit neuem Erstaunen an.

»Wie machen Sie das?« Gregson platzte fast vor einer Mischung aus Staunen und Frustration. Seine Neugier war greifbar, und weit davon entfernt, wütend zu sein, schien er aufrichtig fasziniert.

Einen kurzen Moment lang erstarrte Alex, überrascht von seiner Reaktion. Sie hatte mit Wut gerechnet – wie bei all den anderen vor ihm –, doch hier stand Tobias Gregson, fast begeistert von ihren Fähigkeiten. Es verunsicherte sie ein wenig, obwohl es sie auch auf seltsame Weise schmeichelte.

Inspector Doyle, immer der Pragmatiker, verdrehte erneut die Augen und warf einen Blick zurück zum Tatort. Es war offensichtlich, dass er Alex‘ Angewohnheit, die Geheimnisse anderer zu enthüllen, unangenehm, vielleicht sogar unhöflich fand. Für ihn schien ihr Talent, Schlussfolgerungen zu ziehen, die Menschen bis auf ihre Essenz freizulegen und sie verwundbar zu machen, unheimlich. So sehr es ihn auch störte, konnte er sich dennoch nicht davon abhalten, fasziniert zu sein, wie sie zu Schlüssen kam, die selbst ihm verborgen blieben.

»Hören Sie auf, den armen Mann auf die Folter zu spannen«, forderte er bestimmt. »Erklären Sie ihm einfach, wie Sie das machen, sonst findet er nie wieder Frieden.«

Die junge Sekretärin lächelte, sichtlich zufrieden mit sich selbst. Auch wenn sie nicht arrogant oder eingebildet erscheinen wollte – schließlich war sie keineswegs wie Sherlock Holmes und hatte auch kein Verlangen, so zu sein – konnte sie nicht anders, als den Umstand zu genießen, dass sie in diesem Moment weit cleverer war als die beiden Männer vor ihr. »Aber nur unter einer Bedingung: Ich darf den Tatort untersuchen.«

»Nein!«, schnappte Doyle sofort, seine Stimme scharf und unnachgiebig.

»Okay«, mischte sich Gregson ein, seine Augen vor Neugier weit aufgerissen, fast flehend. »In Ordnung, erzählen Sie es mir! Los, machen Sie schon!«

Alex seufzte, ein Hauch von Widerwillen lag auf ihrem Gesicht. »Na gut, aber ich warne Sie – die Erklärung ist vermutlich nicht so spektakulär, wie Sie vielleicht erwarten.« Sie holte tief Luft, wählte ihre Worte sorgfältig, damit selbst jemand, der mit ihren oft eigenwilligen Schlussfolgerungen nicht vertraut war, folgen konnte. An ihrem Gesichtsausdruck war klar zu erkennen, dass es ihr nun weniger Freude bereitete, als Gregson unter der Last seines eigenen Staunens zappeln zu sehen.

Kein Magier enthüllt freiwillig die Geheimnisse seiner Tricks.

Aber diesmal blieb ihr keine andere Wahl.

Ich habe versprochen, den Jungen zu finden.

Und ich werde alles tun, um dieses Versprechen zu halten.

Es gibt weit schlimmere Dinge als das hier.

Sie atmete tief aus, bevor sie begann. »Die breite Haltung, die Sie einnehmen, mit den Händen in die Hüften gestemmt, ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass Sie entweder Zeit im Militär oder in einer ähnlichen Institution verbracht haben. Diese Haltung ist unter Soldaten fast instinktiv. Das weiße Hemd, das Sie unter Ihrer Uniform tragen, bestätigt mir zudem, dass Sie in der Royal Navy gedient haben. Ich kenne zufällig mehrere Personen aus der U.S. Navy, und sie haben alle die gleiche Angewohnheit, weiße Unterhemden unter ihrer Kleidung zu tragen. Aber nach Ihrem Akzent zu urteilen, waren Sie nie in Amerika, also war die Royal Navy die logische Schlussfolgerung.«

Sie hielt kurz inne und genoss Gregsons verblüfften Gesichtsausdruck für einen Moment. »Die schwachen Rotweinflecken auf Ihrem leicht zerknitterten Hemd sind ein weiterer Hinweis. Sie deuten darauf hin, dass Sie letzte Nacht mit einer Frau zusammen waren – wäre es ein gewöhnlicher Abend mit Männern gewesen, hätten Sie wahrscheinlich Bier oder etwas Stärkeres getrunken. Und Sie sind danach nicht nach Hause gegangen, um sich umzuziehen. Allerdings haben Sie es geschafft, zu duschen und sich die Zähne zu putzen, was mir sagt, dass Sie an einem Ort übernachtet haben, den Sie regelmäßig besuchen – wahrscheinlich ein Ort, an dem Sie einige Ihrer wichtigsten Dinge aufbewahren.«

Ihre Augen verengten sich leicht, als sie weitersprach. »Ihr Mantel ist immer noch feucht, was mir noch mehr verrät. Sie müssen in einer Bar gewesen sein, in der viel geraucht und getrunken wurde, und danach haben Sie Ihren Mantel draußen aufgehängt, um den Geruch loszuwerden. Es hat jedoch letzte Nacht geregnet – etwa um 03:20 Uhr – und jetzt ist Ihr Mantel noch nass vom Regen.«

Als Alex ihre Erklärung beendete, schluckte Gregson schwer und war sichtlich erstaunt. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Das ist… unglaublich«, murmelte er schließlich, seine Stimme von Bewunderung erfüllt.

»Darf ich jetzt den Tatort sehen?« Alex zeigte sich völlig unbeeindruckt von seiner Reaktion. Auch wenn seine Worte und der rühmende Ausdruck in seinen Augen schmeichelhaft waren, blieb sie konzentriert, das Versprechen an Mrs. Drebber hämmerte wie ein unaufhörlicher Takt in ihrem Hinterkopf.

Ich muss Philip finden – und zwar lebend.

Ohne ein weiteres Wort hob Gregson das Polizeiband an und ließ sie hindurchgehen.

Inspector Doyle, dem sichtlich unwohl dabei war, eine unbefugte Zivilistin in ein abgesperrtes Gebiet zu lassen, führte sie um die Hausecke in den abgelegenen Hinterhof des verlassenen Gebäudes. »Das ist eine einmalige Sache«, sagte er streng, seine Stimme leise. »Niemand darf erfahren, dass Sie hier waren.«

Alex grinste. »Technisch gesehen ist das Ihre eigene Schuld. Sie waren es, der Mrs. Drebber meine Adresse gegeben hat.«

»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Sie war verzweifelt, und ich konnte ihr nicht helfen.«

»Dann beschweren Sie sich nicht darüber, dass ich hier bin. Genau genommen haben Sie mich selbst hergebeten. Ich habe Mrs. Drebber versprochen, ihren Enkel zu finden und lebend zurückzubringen. Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, lassen Sie uns eine Ausnahme machen – nur dieses eine Mal.«

Der Hinterhof war düster und unheimlich still. Das Forensik- Team hatte bereits seine Arbeit erledigt. Die Leiche war fort, und nur eine weiße Markierung zeigte an, wo sie gelegen hatte, zusammen mit einer großen, getrockneten Blutlache auf dem Boden. Gegenstände, die zuvor herumgelegen hatten – Maria Drebbers Handtasche, die Mordwaffe – waren nun nur noch durch kleine weiße Kreise auf dem Boden dargestellt, jeder markiert mit nummerierten Fähnchen.

»Es hat keinen Sinn«, murmelte Doyle resigniert. »Sie werden hier nichts finden. Jedes Beweisstück wurde bereits katalogisiert und weggebracht. Es ist nichts mehr übrig.«

Alex überblickte die Szene, ihre scharfen Augen nahmen jedes Detail auf, egal wie unbedeutend es schien. Sie war noch nicht bereit, aufzugeben.

Der Hof war auf drei Seiten von stabilen Backsteinmauern umschlossen, gegen die sich gestapelte Kisten türmten, einige fast bis zur Spitze. Das Durcheinander ließ den Ort noch kleiner wirken, und auf den ersten Blick schien es wenig Interessantes zu geben. Doch Alex’ scharfer Blick entdeckte etwas, das die meisten übersehen hätten – eine kleine, fast unsichtbare Nische, die sich in einer Ecke verbarg, gerade groß genug, dass ein Kleinkind hineinkriechen könnte. Die Öffnung war so unauffällig, dass sie unter normalen Umständen völlig unbemerkt geblieben wäre. Nur jemand mit Alex’ scharfem Sinn für das Ungewöhnliche und Verborgene hätte sie so schnell entdecken können.

»Was tun Sie, wenn Sie Angst haben?«, fragte sie, während sie kurz zu dem Mann neben ihr hinüberblickte. »Wenn Sie wissen, dass Ihr Gegner größer, stärker und bewaffnet ist?«

Doyle, etwas verwirrt von der unerwarteten Frage, antwortete: »Ich würde fliehen.«

»Und wenn Sie in die Enge getrieben sind, ohne eine Chance zu entkommen?«

»Dann würde ich mich verstecken.«

»Genau.« Alex grinste, ein schelmisches Glitzern war in ihren Augen, als sie sich der kleinen Nische in der Ecke näherte. Sie kniete sich auf den rauen Asphalt und beugte sich vor. Aus ihrer Manteltasche zog sie ein frisches Taschentuch, wickelte es um ihre Finger und griff vorsichtig in die Dunkelheit der Nische. Zu ihrer Überraschung spürte sie etwas Festes. Sie zog ihre Hand zurück und hielt ein kleines Spielzeug in der Hand – eine Actionfigur eines Superhelden mit einem plüschigen, rot-goldenen Helm und passender Rüstung.

Victor.

Der Name blitzte mit plötzlicher Intensität in ihrem Kopf auf, obwohl sie keine Ahnung hatte, woher er kam. Es fühlte sich an, als hätte sie ihn ihr ganzes Leben lang gekannt. Mit dem Namen kam eine Welle tief verborgenen Schmerzes, die unerwartet an die Oberfläche drängte.

»Was ist? Haben Sie etwas gefunden?« Doyles neugierige Stimme durchbrach ihre Gedanken, während er ihr über die Schulter blickte.

Alex antwortete nicht sofort; ihr Blick blieb auf das kleine Spielzeug in ihrer Hand gerichtet, verloren in der plötzlichen Flut von Gefühlen und Erinnerungen. Mit großer Anstrengung riss sie sich von dem alten, schmerzhaften Gefühl los, das in ihr hochgekommen war, und stand auf. Sie reichte Doyle das kleine Spielzeug wortlos, und er nahm es vorsichtig mit einer Hand, die in Latexhandschuhen steckte, um mögliche Beweise nicht zu kontaminieren. Ohne ein Wort schritt sie an ihm vorbei und ging weiter.

»Alex?«, rief Doyle ihr verwirrt hinterher. »Was ist los?«

Ohne sich umzudrehen, ging sie zügig in Richtung Ausgang. »Auf der Puppe sind Hautschuppen und kurze dunkle Haare«, sagte sie knapp. »Hoffentlich gehören sie zum Täter und nicht zum Opfer. Finden Sie ihn, und Sie werden den Jungen finden. Meine Arbeit hier ist getan.« Ihr Schritt beschleunigte sich, wurde drängender, je näher sie dem Ausgang kam.

Wer zum Teufel ist Victor?

Als sie sich Officer Gregson näherte, der noch immer in der Nähe des Polizeibands stand, eilte Inspector Doyle ihr hinterher, holte sie gerade noch rechtzeitig ein und griff nach ihrem Arm, sein Gesicht voller Besorgnis. »Was ist los mit Ihnen?«

Alex versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch diese einfache Bewegung löste eine unerwünschte Erinnerung aus – etwas, das jahrelang tief vergraben, längst vergessen oder vielleicht bewusst verdrängt worden war. Doch jetzt drängte es an die Oberfläche, lebendig und unausweichlich, als hätte sich die Vergangenheit direkt vor ihren Augen materialisiert.

Die Erinnerung spielte sich vor ihr ab, so real und unmittelbar, als würde es gerade in diesem Moment geschehen.

Ein Junge mit einem Schopf aus lockigem, roten Haar und Sommersprossen auf seinen runden Wangen rannte durch ein kniehohes Grasfeld und jagte einem kleinen Mädchen hinterher. Sie hatte zwei wunderschön geflochtene, dunkelbraune Zöpfe, die hinter ihr herflogen, während sie lachend vor ihm davonlief.

»Stopp!«, schrie der Junge und packte das Mädchen grob am Arm.

»Ich hab gewonnen!«, rief sie triumphierend, ihre dunkelbraunen Zöpfe wirbelten in der Luft, während sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Du bist nur ein schlechter Verlierer. Du bist zu langsam!«

»Du hast geschummelt«, entgegnete er schmollend. »Mädchen können nicht schneller als Jungs sein. Das ist unmöglich.«

»Oh doch, das können sie! Ich hab gewonnen, und du hast verloren!«, rief sie trotzig zurück.

Der Junge, dessen Gesicht vor Frustration verzogen war, zerrte härter an ihrem Arm und riss sie mit einem scharfen Ruck zurück.

»Aua!«, schrie das Mädchen. »Victor, du tust mir weh.«

»Betrügerin!«, schrie er.

»Spielverderber!«, entgegnete sie.

»Lügnerin!«, bellte er, seine Stimme voller Empörung eines Kindes, das eine Niederlage nicht akzeptieren konnte.

»Alex!« Doyles Stimme, jetzt von Angst erfüllt, drang durch den Nebel, und er schüttelte sanft ihren Unterarm. »Können Sie mich hören? Was ist los mit Ihnen?«

Victor.

Dieser Name brannte sich in ihre Gedanken, hallte endlos durch ihren Geist.

»Was haben Sie ihr da drin angetan, Doyle?«, fragte Gregson scharf, sein Blick voller Besorgnis, als er die blasse Frau vor ihnen betrachtete.

Wir waren Freunde.

Aber das war vor einer Ewigkeit.

Victor... ist tot.

Plötzlich riss sich Alex aus Doyles Griff. »Ich habe gewonnen«, murmelte sie, noch immer gefangen in der lebhaften Erinnerung, die ihre Gedanken beherrschte. Erst als sie die verwirrten Gesichter der Männer sah, wurde ihr klar, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie, während sie sich eine Hand an die Stirn legte und ihre Gedanken von Verwirrung getrübt wurden. »Ich... ich muss gehen.«

Ohne ein weiteres Wort rannte sie los, wie ein gejagtes Tier, und ließ sowohl die Männer als auch den Tatort hinter sich.

Victor.

Was ist damals passiert?

Und warum habe ich dich vergessen?

Nach einer unruhigen und schlaflosen Nacht schleppte sich Alex müde aus dem Bett. Die vergangenen Stunden hatte sie damit verbracht, an die dunkle Decke ihres Schlafzimmers zu starren, während ihr Geist durch das Labyrinth vergessener Erinnerungen irrte und versuchte, den plötzlichen Aufbruch ihrer Vergangenheit zu begreifen. Doch Antworten kamen keine – nur noch mehr Fragen.

Noch halb im Schlaf schlurfte sie ins Wohnzimmer zur kleinen Kochnische und schaltete den Wasserkocher ein. Sie zog ihren Morgenmantel an und schlüpfte in ihre flauschigen lila Hausschuhe, bevor sie ihre Wohnung verließ. Die Treppe hinuntersteigend, nahm sie ihre Tageszeitung und ein paar Briefe aus dem Briefkasten beim Eingang. Zurück in der Wohnung machte sie sich eine Tasse Tee und setzte sich mit dem Stapel Post und ihrer Tasse an den Esstisch.

Die Schlagzeile auf der Titelseite erregte sofort ihre Aufmerksamkeit: Es wurde über den Mord an Maria Drebber und das Verschwinden ihres Sohnes Philip berichtet. In der Ecke der Seite war ein kleines Foto des Jungen abgebildet, der so unschuldig und süß lächelte, dass es selbst das härteste Herz erweichen konnte.

Der arme Junge.

Hoffentlich haben sie ihn gefunden.

Ein Anflug von Schuld nagte an ihr, als sie die Zeitung aufschlug und den Artikel zu lesen begann.

Am oberen Rand der Seite war ein Bild der kleinen Puppe, die Alex entdeckt hatte, neben einem schwarz-weißen Foto des Verdächtigen zu sehen. Es war niemand anderes als Philips Mathematiklehrer, Richard Hoffmann.

Sein Lehrer?

Wie schrecklich.

Und doch… irgendwie vorhersehbar.

Alex überflog die letzten Zeilen des Artikels, und ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Es wurde berichtet, dass der Junge unversehrt gefunden worden war und noch am selben Abend zu seiner Großmutter zurückgekehrt war.

Während Alex die Seite der Zeitung umblätterte, klingelte ihr Telefon. Sie nahm den Hörer ab und legte die Zeitung vor sich offen auf den Tisch. »Green?«

»Hallo, hier ist Inspector Doyle. Ich wollte nur nachsehen, ob es Ihnen gut geht.« Am anderen Ende herrschte eine kurze Pause. »Sie haben mir gestern einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

»Mir geht es gut«, antwortete sie schnell.

Victor.

Der Gedanke an die Ereignisse des Vortags machte sie unruhig. »Mir ist plötzlich etwas Dringendes eingefallen, um das ich mich kümmern musste.«

Doyle atmete hörbar aus, ein Seufzer der Erleichterung. »Haben Sie schon die Zeitung gelesen?«

Gut.

Er glaubt mir.

Leicht entspannt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich bin gerade dabei. Sieht so aus, als hätten Sie einen weiteren Fall geknackt. Inspector Lestrade wird aufpassen müssen, wenn er nicht den Anschluss verlieren will.«

»Darauf würde ich nicht wetten«, seufzte Doyle. »Schlagen Sie die Seiten sechs und sieben auf.«

Alex tat, wie er bat, und blätterte durch die Zeitung. Sie las laut aus dem Artikel: »Eine Studie in Scharlachrot. Detective Inspector Lestrade löst einen unmöglichen Fall mit Unterstützung des beratenden Detektivs Sherlock Holmes.« Sie verdrehte genervt die Augen. »Ohne diesen Kerl wäre Lestrade aufgeschmissen.«

»Genau wie ich ohne Sie«, erwiderte Doyle schnell, seine Stimme nahm einen ernsteren Ton an. Es war klar, dass er auf etwas hinauswollte. »Schauen Sie sich jetzt den Artikel auf Seite neun, unten rechts an.«

Alex blätterte weiter, ihre Augen wanderten über den Text. »Vivienne Sawyer«, las sie laut vor. »Die einzige Tochter des ehemaligen Kongressabgeordneten Mortimer Sawyer wurde letzten Samstag brutal ermordet und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Täter ist weiterhin auf freiem Fuß. Kongressabgeordneter Sawyer hat um eine schnelle Aufklärung des Falls gebeten.«

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Kopien der Tatortfotos und aller Polizeiberichte in einem Umschlag in Ihren Briefkasten zu legen«, fügte Doyle hinzu, seine Stimme ruhig, aber mit einem deutlichen Unterton von Dringlichkeit.

»Ich muss heute arbeiten«, erwiderte Alex und warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie war jetzt schon später dran als gewöhnlich. »Außerdem bin ich nur eine einfache Sekretärin.«

»Bitte.« Doyles Stimme nahm einen verzweifelten Ton an. »Viviennes Vater ruft ständig an, und ich weiß nicht mehr, was ich ihm sagen soll. Und wir beide wissen, dass Sie weit mehr sind als nur eine Sekretärin.«

Alex durchsuchte den Stapel Briefe auf ihrem Tisch, ihre Hand landete auf einem dicken Umschlag, auf dem ihr Name in einer hastigen, fast unleserlichen Handschrift gekritzelt war – eine Schrift, die eher wie die eines Arztes wirkte als die eines Polizisten. Sie riss den Umschlag auf und zog mehrere Tatortfotos und detaillierte Berichte heraus. Als ihre Augen auf die grausamen Bilder fielen, drehte sie instinktiv den Kopf weg, vorübergehend angewidert. Doch unfähig, der dunklen Faszination zu widerstehen, die sie immer wieder anzog, zwang sie sich, erneut hinzusehen und das schreckliche Szenario mit ernster Intensität zu betrachten.

»Nun?«, fragte Doyle und versuchte, so geduldig wie möglich zu bleiben.

»Ich werde es mir ansehen.« Alex schob die Fotos und Berichte zurück in den Umschlag und stand auf. »Sie hören von mir, sobald ich etwas gefunden habe.«

»Danke.« Doyles Stimme klang beinahe euphorisch vor Erleichterung. »Sie sind mein rettender Engel.«

II.DER GERUCH VON MENTHOL

Das schrille Klingeln des Bürotelefons riss Alex abrupt aus ihren Gedanken, gerade als sie endlich die Lösung für ihr Problem gefunden hatte.

»Anwaltskanzlei Harold Lloyd, hier spricht Alexandra. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, antwortete sie, ihre Stimme lieferte die vertrauten, einstudierten Worte mit der Präzision einer Aufnahme, dabei jedoch warm und professionell.

»Hier ist Leon Tregennis. Ist Mr. Lloyd zu sprechen? Ich muss dringend mit ihm reden«, kam die etwas unbeholfene Antwort von der anderen Seite der Leitung.

»Guten Morgen, Mr. Tregennis. Darf ich fragen, worum es geht?«

»Es geht um meine Schwester Beth. Bitte... ich weiß nicht mehr weiter«, antwortete der Mann, seine Stimme zitterte vor Angst und Unsicherheit.

»Einen Moment bitte. Ich verbinde Sie.« Mit geübter Leichtigkeit drückte Alex die Taste neben dem Display. Wenige Augenblicke später nahm ihr Chef, der renommierte Staranwalt Harold Lloyd persönlich, den Hörer ab. »Leon Tregennis ist auf Leitung eins, Sir«, informierte ihn Alex ruhig. »Es geht wieder um seine Schwester.«

»Danke«, erwiderte Lloyd knapp. »Stellen Sie ihn durch!«

Mit einer geschickten Bewegung legte Alex den Hörer auf und stellte Leon Tregennis dadurch automatisch zu ihrem Chef durch. Dann wandte sie sich wieder ihrer eigentlichen Arbeit zu – jener Arbeit, die längst das Stadium eines bloßen Hobbys überschritten hatte.

Vor ihr auf dem großen Schreibtisch lag ein chaotisches Sammelsurium an Papieren, durchsetzt mit Zeitungsausschnitten, Polizeiberichten und Tatortfotos. Jedes Bild trug den Namen Vivienne Sawyer in fetten Buchstaben am unteren Rand – eine düstere Erinnerung an das Opfer, das vor nur zwei Tagen brutal verstümmelt worden war.

Es grenzt an ein Wunder, dass sie überhaupt identifiziert werden konnte.

Alex betrachtete erneut die grausamen Bilder. Die Zähne der Frau waren entweder zertrümmert oder gewaltsam herausgerissen worden, was selbst eine Identifizierung über das Gebiss unmöglich machte. Die einzige Möglichkeit, ihre Identität zu bestätigen, war über ihre DNA, die überall am Tatort gefunden worden war. Die Tatsache, dass sie sie so schnell vergleichen konnten, bedeutete, dass bereits eine Probe ihrer DNA in der Datenbank vorlag.

Warum?

Alex’ Gedanken arbeiteten schnell, um das Puzzle zusammenzusetzen.

Natürlich!

Die Antwort ist zu offensichtlich.

Gerade als sie nach ihrem Telefon griff, um Inspector Doyle anzurufen, erschien sein Name auf ihrem Display, als hätte er im gleichen Moment dieselbe Erkenntnis gehabt. Sein eingehender Anruf leuchtete auf dem Bildschirm auf.

»Es war der Vater«, platzte Alex heraus, ohne jegliche Förmlichkeiten oder Begrüßung. Ihre direkte Art war typisch, auch wenn sie selten bemerkte, wie unhöflich das wirken konnte. »Vivienne Sawyer wurde von Mortimer Sawyer, ihrem eigenen Vater, ermordet.«

Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Stille, als der Anrufer versuchte, ihre blitzschnelle Schlussfolgerung zu verarbeiten. »Wie in aller Welt sind Sie zu diesem Ergebnis gekommen?« Doyles Stimme war von Verwunderung geprägt, klar war, dass er kaum begreifen konnte, wie sie zu einem so schockierenden Urteil gelangt war.

»Warum war ihre DNA schon in der Datenbank?« Alex fuhr fort, ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben. »Natürlich gibt es mehrere Gründe dafür, aber zwei sind in Fällen wie diesem am wahrscheinlichsten. Erstens: Sie selbst hat zuvor ein Verbrechen begangen. Oder zweitens: Sie war zuvor Opfer eines Verbrechens. Die erste Option kommt hier eindeutig nicht in Frage, also muss es die zweite sein.«

»Aber warum?« Doyle klang immer noch völlig ratlos und rang mit ihrer Logik.

»Sie haben das Opfer selbst am Tatort gesehen, Doyle. Ist Ihnen nichts aufgefallen? Die Unterseite ihres linken Unterarms war von feinen Narben bedeckt. Daraus schließe ich, dass sie Rechtshänderin war, auch wenn das Detail nicht entscheidend ist. Diese Narben – diese winzigen Schnitte – sind mehrere Jahre alt, einige sogar noch älter. Die frühesten stammen vermutlich aus ihrer Kindheit. Selbstverletzungen wie diese, Doyle, sind in über der Hälfte der Fälle von häuslicher Gewalt verbreitet.« Sie hielt kurz inne, ließ die Schwere ihrer Worte auf ihn wirken, bevor sie weitersprach. »Vivienne Sawyer war ein Einzelkind. Ihre Mutter starb, als sie noch jung war. Das lässt nur eine Person – den Vater – als Ursache für ihr Leid übrig. Es ist wahrscheinlich, dass Mortimer Sawyer sie sowohl körperlich als auch psychisch misshandelt hat. Die Anzeichen sind alle da. Er ist es, der sie umgebracht hat. Es ist so offensichtlich.«

Doyle schwieg lange, erschüttert von ihrer brutalen, aber methodischen Analyse der Wahrheit. »In Ordnung, gut.« Er atmete angespannt aus, sichtlich mit der Schwere von Alex’ Schlussfolgerungen ringend. »Vielleicht hat ihr Vater ihr in ihrer Kindheit Schreckliches angetan, aber das macht ihn nicht automatisch zum Mörder. Ich kann den Kongressabgeordneten Sawyer nicht einfach ohne stichhaltige Beweise verhaften, vor allem, wenn er derjenige ist, der so hartnäckig darauf drängt, den wahren Täter zu finden.«

»Sehen Sie sich die Tatortfotos genauer an, Doyle!«, fauchte Alex, ihre Geduld schwand. »Vivienne Sawyer war Verkäuferin in einem kleinen Tabakladen, nicht weit von ihrer bescheidenen Wohnung am Stadtrand entfernt. In den Berichten steht eindeutig – ihre Wohnung war spärlich eingerichtet, und sie besaß kaum Kleidung, nichts davon besonders teuer oder modisch. Also, wie erklären Sie sich, dass sie am Tag ihres Mordes ein Designerkleid trug? Allein die Schuhe waren mehr wert als zwei Monatsmieten ihrer Wohnung. Offensichtlich besaß sie keine anderen Kleidungsstücke dieser Art, und bei ihrem Wert hätte sie sie nicht beiläufig getragen. Sie muss an diesem Tag etwas Wichtiges vorgehabt haben. Entweder wollte sie zur Presse gehen, um die Taten ihres Vaters zu offenbaren, oder – was wahrscheinlicher ist – sie war auf dem Weg zu einem Anwalt, um ihn endlich vor Gericht zu bringen. Natürlich besteht eine geringe Chance, dass sie einfach nur versuchte, einen besser bezahlten Job in einem formelleren Geschäftsumfeld zu bekommen, aber das hätte ihr Vater kaum wissen können, vor allem, da er behauptet, seit Jahren keinen Kontakt zu ihr gehabt zu haben. Das allein deutet darauf hin, dass in der Vergangenheit etwas Schreckliches zwischen ihnen vorgefallen ist – warum sonst sollte Vivienne Sawyer solche Anstrengungen unternehmen, um ihren einzigen lebenden Verwandten zu meiden? Was auch immer der wahre Grund für ihre Wahl der Kleidung war, ihr Vater muss das Schlimmste befürchtet haben. Wahrscheinlich dachte er, sie würde seine Misshandlungen offenlegen wollen, und in seiner Verzweiflung sah er keinen anderen Ausweg, als sie für immer zum Schweigen zu bringen.«

»Du liebe Güte, Sie sind schnell«, sagte Doyle, sichtlich beeindruckt, während er einen Moment brauchte, um alles zu verarbeiten, was Alex gerade dargelegt hatte.

»Ich hätte den Fall viel schneller lösen können, wenn man mir erlaubt hätte, den Tatort selbst zu inspizieren«, antwortete Alex mit einem Hauch von Groll in der Stimme.

»Das ist nun mal nicht möglich«, unterbrach Doyle hastig.

„Natürlich nicht. Es wäre ja auch fatal, wenn jemand herausfände, dass Sie die Hilfe einer einfachen Sekretärin brauchen, um Ihre Fälle zu lösen«, entgegnete sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Wäre ich hingegen der große Sherlock Holmes«, fügte sie mit einem abfälligen Schnaufen hinzu, »würden Sie keinen Moment zögern, mich zum Tatort einzuladen.«

»Ich bin nicht Lestrade, und Bewunderung für diesen sogenannten Detektiv habe ich sicherlich nicht.«

»Wissen Sie«, fuhr sie fort, »Sherlock und ich sind uns gar nicht so unähnlich.«

Doyle hob eine Augenbraue. »Ich dachte, Sie können ihn nicht ausstehen?«

»Das stimmt. Aber ist es nicht oft so, dass wir diejenigen verachten, die uns am ähnlichsten sind?«

»Tatsächlich sind Sie ihm ähnlich«, gab Doyle zu. »Es sind die gleichen verstrickten Gedanken in Ihrem Kopf wie bei ihm.«

Alex konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Ich bezweifle, dass Sie den leisesten Schimmer haben, was im Kopf von Sherlock Holmes vorgeht, geschweige denn, was sich in meinem abspielt.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Also, haben Sie einen neuen Fall für mich, oder gibt es einen anderen Grund, warum Sie während meiner Arbeitszeit anrufen? Sie wissen, ich habe hier im Büro nur noch eine halbe Stunde, und ich hasse es, unterbrochen zu werden – egal ob bei meiner offiziellen Arbeit oder meinen inoffiziellen Beschäftigungen.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie weiterhin für diesen Anwalt arbeiten«, überlegte Doyle. »Sie verdienen mit Ihrem Nebenjob mehr als genug, um ihn hinter Ihnen zu lassen. Lloyd ist ein schmieriger, geiziger Betrüger. Sicherlich planen Sie nicht, noch lange dort zu bleiben?«

»Es gibt weitaus schlimmere Menschen auf dieser Welt als Harold Lloyd, und das wissen Sie wohl besser als jeder andere«, konterte Alex. »Und lassen Sie uns nicht vergessen, warum ich wirklich hier bin. Außerdem arbeite ich nur Teilzeit, drei Tage die Woche. Es ist kaum ein großer Zeitaufwand, und ehrlich gesagt, macht es mir Spaß. Ist es so schlimm, etwas zu mögen, was ich tue?«

»Sie mögen es nicht nur«, widersprach Doyle. »Sie schwelgen darin. Das ist ein erheblicher Unterschied.«

Ein kleines, wissendes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Doyles Worte hatten näher an der Wahrheit gelegen, als sie es zugeben wollte. »Machen Sie sich Sorgen, dass ich eines Tages genug davon habe, nur Fälle zu lösen, und anfange, meine eigenen zu erschaffen, indem ich selbst Menschen umbringe?« Ihre Stimme war von einer seltsamen Faszination für diesen Gedanken durchzogen.

»So etwas würden Sie nicht tun«, erwiderte Doyle entschieden. »Ich kenne Sie zu gut dafür. Ich finde es nur schade, wenn Sie Ihre einzigartigen Talente an einen schmierigen Gauner wie Lloyd verschwenden. Das ist pure Vergeudung Ihrer Fähigkeiten und Ihrer Zeit.«

»Ach«, sagte sie mit einem Grinsen, »das liegt nur daran, dass Sie die Vorteile nicht verstehen, die ich aus dieser Situation ziehen kann.« Ihr Lächeln verblasste, als sie hastige Schritte im Flur hörte, die schnell um die Ecke auf sie zukamen. »Ich muss jetzt aufhören. Wenn Sie wirklich einen neuen Fall für mich haben – und ich hoffe sehr, dass Sie das haben – rufen Sie mich in einer halben Stunde zurück.«

Sie beendete das Gespräch abrupt, sammelte die verstreuten Dokumente auf ihrem Schreibtisch ein und verstaute sowohl ihr Telefon als auch die Papiere in der schwarzen Lederhandtasche unter ihrem Schreibtisch.

»Was tun Sie da?« Eine Stimme unterbrach sie, und Mr. Lloyd erschien um die Ecke und blieb direkt vor ihrem Schreibtisch stehen. Er lehnte sich vor und musterte sie eindringlich.

Mit einem kleinen Taschenspiegel und einem kräftig roten Lippenstift in der Hand lehnte sich Alex zurück und zog sorgfältig die Konturen ihrer Lippen nach, als wäre sie eine Filmdiva, die sich für ihren Auftritt vorbereitete. Sie beobachtete sich im Spiegel, ihr Ton war beiläufig, aber perfekt. »Ich frische nur meinen Lippenstift auf, Sir. Nicht mehr.«

Der Anwalt betrachtete sie einen Moment lang wie gebannt. »Keine schlechte Idee, Miss Green. Rot steht Ihnen außerordentlich gut.«

»Danke, Mr. Lloyd«, schnurrte sie, ihre Stimme mit einem Hauch von Schmeichelei gefärbt.

Er grinste, kehrte jedoch schnell zu seinem üblichen selbstzufriedenen Ausdruck zurück, als er sich um ihren Schreibtisch bewegte. Sich direkt vor ihr auf die hölzerne Tischkante setzend, blickte er mit einem selbstgefälligen Grinsen auf sie herab. »Sie wissen doch, dass Sie für mich weitaus wertvoller sind als Sidney, oder?«

Alex begegnete seinem Blick ohne eine Regung, ihr Ausdruck undurchschaubar, als sie den Lippenstift ablegte und die Spannung im Raum fühlbar war. »Ja, das weiß ich, Sir, und das bedeutet mir viel«, erwiderte Alexandra mit einem betörenden Lächeln. »Aber Paige ist eine ausgezeichnete Sekretärin. Vielleicht sollten Sie etwas nachsichtiger mit ihr sein.«

»Da haben Sie wahrscheinlich recht«, gab Lloyd zu. »Gute Mitarbeiter sind heutzutage schwer zu finden. Es ist schade, dass Sie nur Teilzeit hier sind. Ich hätte Sie gern ganztags im Büro, Miss Green. Vermissen Sie mich nicht nachmittags oder an den anderen Tagen, an denen ich Sie nicht sehe?«

Alexandra konnte nur mühsam ein herzhaftes Lachen unterdrücken.

Wenn er nur wüsste, was ich in dieser Zeit alles treibe.

Selbst Sherlock Holmes wäre auf einige der Fälle neidisch, die ich schon bearbeitet habe.

»Oh, es gibt immer etwas, das mich beschäftigt hält«, sagte sie stattdessen in süßem, leichten Tonfall. »Die Wohnung putzen, Wäsche waschen, kochen, bügeln – die üblichen häuslichen Dinge eben. Das alles braucht seine Zeit.« Sie fühlte sich wie eine zarte Spiegelung von Marilyn Monroe in einer ihrer glamourösesten Szenen.

»Und was ist mit Ihren seltenen Abenden?«, bohrte Lloyd weiter, offensichtlich neugierig. »Sind Sie da genauso beschäftigt wie tagsüber?«

»Manchmal«, antwortete sie mit einem koketten Lächeln. »Aber die meisten Abende genieße ich ein feines Glas Chianti und die großartigen Werke von Goethe und Schiller – eine ganz besondere Gesellschaft, würden Sie nicht zustimmen?«

Lloyd beugte sich noch etwas näher, sein bewundernder Blick verweilte auf ihr. »Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, Miss Green. Das gefällt mir.«

Sein Verlangen, noch näher heranzurücken, war spürbar, doch zum Glück für Alexandra war ihre Kollegin Paige für ihre Pünktlichkeit bekannt.

Die junge, zierliche Frau betrat eilig das Büro, ihre langen, dunkelblonden Haare waren fest zu einem Zopf geflochten, und sie trug einen eleganten marineblauen Hosenanzug, der ihr eine professionelle Ausstrahlung verlieh. Sie begab sich an ihren Schreibtisch, nur ein paar Meter von Alexandras entfernt. »Guten Tag, Mr. Lloyd. Hallo, Alex«, grüßte sie, wobei sie nervös eine lose Haarsträhne hinters Ohr strich, bevor sie sich setzte.

In dem Moment, als Lloyd sie sah, änderte sich sein Verhalten schlagartig. Er trat von Alexandra zurück, seine Miene wurde kalt und er warf Paige einen eisigen Blick zu, bevor er ohne ein Wort an ihr vorbeiging und in seinem Büro verschwand.

»Danke«, atmete Alex erleichtert auf. Sie stand auf und ging schnell zu Paiges Schreibtisch hinüber, lehnte sich mit einem schelmischen Lächeln an. »Na? Wie war es gestern Abend mit David? Los, erzähl mir alles!«

Beim Erwähnen seines Namens liefen Paiges Wangen scharlachrot an vor Verlegenheit. »Es war… unglaublich! Er ist so nett, so witzig und einfach unfassbar gutaussehend.« Sie konnte ihre Aufregung kaum verbergen. »Ich glaube, das könnte wirklich etwas Ernstes werden.«

»Oh, wie wundervoll!«, rief Alex aus, ehrlich erfreut für ihre Freundin. »Ich freue mich so für dich. Also, gibt’s schon Pläne für die nächsten Tage?«

»Du meinst, wie ein weiteres Date oder so?« Paige zögerte, und ihr Lächeln verblasste kurz. »David ist im Moment total eingespannt mit der Arbeit, aber nächste Woche hat er ein paar Tage frei und möchte mit mir übers Wochenende wegfahren.«

»Okay, das klingt gut«, antwortete Alex, auch wenn sie innerlich damit kämpfte, den Mann nicht sofort anhand der wenigen Informationen zu analysieren, die sie hatte.

Das ist seltsam.

Er hat plötzlich so viel Arbeit, wo er vorher viel verfügbarer schien.

Vielleicht spielt er nur mit ihr.

Oder er meint es tatsächlich ernst.

Falls nicht, könnte er zumindest testen wollen, wie loyal sie ist, wie viel sie aushalten kann.

Wie auch immer, es könnte nicht schaden, ihm einen kurzen Besuch abzustatten.

»Wie war Davids Nachname nochmal?«, fragte Alex vorsichtig.

»Moran. Er heißt David Moran«, antwortete Paige und zog ihr Handy heraus, um Alex etwas zu zeigen.

Moran?

Warum bereitet mir dieser Name so ein schlechtes Gefühl?

»Hier«, sagte Paige und hielt das Handy hin. Ein Foto eines jungen, gutaussehenden Mannes füllte den Bildschirm. »Das ist er. Ist er nicht umwerfend?«

»Ja, sehr attraktiv«, bemerkte Alex und zwang sich, das Unbehagen zu verbergen, das an ihr nagte. »Wo habt ihr zwei euch eigentlich kennengelernt? Ich glaube, das hast du mir nie erzählt.«

»Oh, es war im The Loop in Mayfair, bei der großen Wiedereröffnung. Du musst da unbedingt mal hin. Ihre Cocktails sind erstklassig.«

Bevor Alex antworten konnte, klingelte ihr eigenes Handy in der Handtasche. Ohne ein weiteres Wort an Paige ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch und kramte in ihrer Tasche herum, bis sie das Mobiltelefon fand.

Der Name Liz blinkte auf dem Display auf.

»Hey«, meldete sich Alex und drückte das Handy ans Ohr. »Was gibt’s?«