Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker - Renate Bergmann - E-Book + Hörbuch
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Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker E-Book

Renate Bergmann

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Beschreibung

Mit so viel Biss hat noch niemand über Zahnlosigkeit geschrieben. «Deutschlands bekannteste Twitter-Omi» (Bild) hat Zucker und «Ossiporose», schläft unter einer Heizdecke und hat den Krieg nicht überlebt, um Kunstfleisch aus Soja zu essen: Renate Bergmann, 82, aus Berlin-Spandau. Ihre Männer liegen in Berlin auf vier Friedhöfe verteilt, das Gießen dauert immer einen halben Tag. Und apropos tot, Renate und ihre beste Freundin Gertrud haben ein schönes Hobby: Die beiden suchen sich in der Zeitung eine nette Beerdigung raus, ziehen was kleines Schwarzes an, und dann geht es los. Zwei alte Damen mehr oder weniger am Buffet – da schaut keiner so genau hin. Denn schließlich: «Die meisten denken, ich bin eine süße alte Omi. Aber ich kann auch anders.» In 34 Episoden schreibt Renate über ihre Abenteuer: ein großartiges Spiel zwischen Altennachmittag und Cyberspace. «Meine Oma @RenateBergmann ist jetzt auch bei Twitter. Folgt ihr gern, macht dabei aber bitte nicht wieder so einen Lärm.» (Sarah Kuttner)

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Renate Bergmann

Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker

Eine Online-Omi sagt, wie's ist

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Mit so viel Biss hat noch niemand über Zahnlosigkeit geschrieben.

 

«Deutschlands bekannteste Twitter-Omi» (Bild) hat Zucker und «Ossiporose», schläft unter einer Heizdecke und hat den Krieg nicht überlebt, um Kunstfleisch aus Soja zu essen: Renate Bergmann, 82, aus Berlin-Spandau. Ihre Männer liegen in Berlin auf vier Friedhöfe verteilt, das Gießen dauert immer einen halben Tag. Und apropos tot, Renate und ihre beste Freundin Gertrud haben ein schönes Hobby: Die beiden suchen sich in der Zeitung eine nette Beerdigung raus, ziehen was kleines Schwarzes an, und dann geht es los. Zwei alte Damen mehr oder weniger am Buffet – da schaut keiner so genau hin.

 

Denn schließlich: «Die meisten denken, ich bin eine süße alte Omi. Aber ich kann auch anders.»

 

In 34 Episoden schreibt Renate über ihre Abenteuer: ein großartiges Spiel zwischen Altennachmittag und Cyberspace.

 

«Meine Oma @RenateBergmann ist jetzt auch bei Twitter. Folgt ihr gern, macht dabei aber bitte nicht wieder so einen Lärm.» (Sarah Kuttner)

Über Renate Bergmann

Renate Bergmann, geb. Strelemann, wohnhaft in Berlin. Trümmerfrau, Reichsbahnerin, Haushaltsprofi und vierfach verwitwet: Seit Anfang 2013 erobert sie Twitter mit ihren absolut treffsicheren An- und Einsichten – und mit diesem Buch jetzt die ganze analoge Welt.

Inhaltsübersicht

Eigentlich war ich ...Guten Tag. Ich ...Man hat so sein Tun.Dafür hatten wir früher keine Zeit.So jung kommen wir nicht mehr zusammen.Leseprobe «Das bisschen Hüfte, meine Güte»

Eigentlich war ich schon fertig mit dem Buch, da kommt das Fräulein vom Verlag und sagt: «Frau Bergmann, da müssen wir noch mal dran. Wir müssen die Figuren vorstellen, damit die Leser gleich verstehen, worum es geht.»

Figuren! Da geht mir der Hut hoch. Das sind meine Familie, meine Freunde und Bekannten! Aber die Gute hat ja recht, es ist wohl besser, wenn ich Ihnen kurz erzähle, mit wem Sie es hier zu tun kriegen. Wissense, nichts ist einem ja unangenehmer, als wenn man auf einer Feier oder einer Beerdigung Leute trifft und sie einem nicht vorgestellt werden. Da weiß man gar nicht, was man von den Menschen denken soll. So soll es Ihnen nicht gehen:

Gertrud Potter

Gertrud ist 82 und meine beste Freundin. Sie ist ein Pfundskerl, und ich kann immer auf sie zählen. Gertrud ist verwitwet, aber nur einmal. Wir sind wohl gut befreundet, jawoll, aber wenn es um Männer geht, waren wir immer Konkurrentinnen: Wenn Silvester 1962 nicht die Extraflasche Korn in der Bowle gewesen wäre, hätte sie sich Wilhelm von Morskötter geangelt. Gertrud hatte die Bluse schon zwei Knöpfe weit auf und knallroten Lippenstift dran. Aber nach ein paar Tassen Bowle lag sie in der Speisekammer unter den frisch geräucherten Leberwürsten, während Wilhelm und ich einen Spaziergang bei Mondschein machten.

Gertrud hat keinen echten Sinn für Schönes, wissense. Sie hat zusammengestoppeltes Besteck und Geschirr. Auf den Messern steht «Lufthansa», «Mitropa» oder «Palast der Republik». Woher sie die Messer hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Sie ist noch nie geflogen.

Aber jetzt bin ich schon mitten im Erzählen, dabei wollte ich doch nur kurz ein paar Worte zu den wichtigsten Personen sagen. Entschuldigen Sie.

Ilse und Kurt Gläser

Meine Freundin Ilse ist eine Seele von Mensch. Eine ganz Liebe. Sie ist wie ich 82 und seit – ach du liebe Zeit, wenn ich nachrechne, bekomme ich einen Schreck –, seit weit über 60 Jahren mit ihrem Kurt verheiratet. Was Männer betrifft, sind wir uns also nie in die Quere gekommen. Sie hat bis zu ihrer Pensionierung Englisch und Deutsch am Gymnasium gegeben und auch Stefan unterrichtet. Aus dem Jungen ist was geworden.

Ihr Mann Kurt ist 87. Er ist ein wenig brummig, aber das meint er nicht so. Bei ihm gilt «Ein Mann, ein Wort» noch was. An manchen Tagen ist ein Wort aber auch alles, was er bis abends hin sagt.

Kirsten von Morskötter

Kirsten ist meine Tochter. Sie stammt aus meiner zweiten Ehe mit Wilhelm. Kirsten ist jetzt 50 und arbeitet … na, sagen wir, sie macht … ach, es fällt mir immer noch schwer. Sie … lassen Sie mich nachschauen … praktiziert als «esoterische Lebensberaterin und Heilpraktikerin für Kleintiere», nun ja. Das ist immer noch komisch für mich. Aber sie verdient ihr Geld damit und pilgert zur Sinnfindung jedes Jahr, da kann man nicht meckern.

Stefan Winkler

Der Stefan ist Verwandtschaft von meinem ersten Mann Otto. Ein angeheirateter Enkel … nee. Neffe. Oder? Wissense, ich muss Ilse fragen, die kennt sich mit so was besser aus und kann sogar ihre Kusscousinen bis zum dritten Grad aufsagen. Stefan sagt jedenfalls Tante Renate zu mir und hilft mir immer mit dem Händi und dem Fernseher und solcher Technik. Er arbeitet hier in Berlin, irgendwas mit Computer. Ein ganz lieber Junge, der sich reizend um seine alte Tante kümmert. Oder angeheiratete Oma? Ist ja auch nicht wichtig, wissense, was zählt, ist doch, dass er für mich da ist. Als Dank für seine Hilfe putze ich alle paar Wochen mal bei ihm durch, er hat nämlich keine Freundin, da könnense sich denken, wie es da bei ihm aussieht.

Manja Berber

Die Berber ist erst letztes Jahr bei mir im Haus eingezogen, mit der werde ich nicht warm. Sie hat ein polterndes Kind mit Bindestrichnamen aus Frankreich und keinen Mann dazu. Die Zeiten sind halt so, bitte. Wir leben friedlich nebeneinander und behandeln uns mit höflichem Respekt. Liederliches Ding!

Schwester Hillburg

Schwester Hillburg ist noch eine vom alten Schlag. Sie arbeitet bei Frau Doktor Bürgel, meiner Hausärztin. Eine ganz famose Person. Sie hat immer ein Ohr für meine Sorgen und den Laden im Griff. Sie kommt im Notfall auch ins Haus und guckt nach dem Rechten, wie damals, Pfingsten, als Ilses Buttercremetorte einen Stich hatte und wir alle Durchfall bekamen. Ein Anruf, und Schwester Hillburg war da. Kirsten hat ihr zum Dank die Karten ausgelegt und die Zukunft wohlwollend vorhergesagt.

Frau Doktor Bürgel

Meine Hausärztin heißt Frau Doktor. Frau Doktor Bürgel. Frau Doktor hat einen großen Computer, in den sie alles schreibt, was ich ihr erzähle. Meist ruft sie nach dem zweiten Satz: «Nicht so schnell, nicht so schnell, Frau Bergmann, ich muss das ja alles hier … ach … nee. Hier? Moment. So!» Dann drückt sie eine Taste, und es geht weiter. Ihr Mann ist Internist, deshalb kriegt jeder eine Überweisung zu ihm. Die Kasse muss ja stimmen, da hat man doch Verständnis, nicht? Man munkelt ja, sie hat was mit dem Orthopäden, der eine Straße weiter um die Ecke praktiziert, aber an so einem Tratsch beteilige ich mich nicht.

Ursula Specht

Keine hat einen so guten Griff für mein Haar wie Ursula. Sie ist meine Friseurin seit – ach, man darf gar nicht nachrechnen. Seit Jahrzehnten! Ich kannte sie schon als Lehrmädel vom alten Meister Breckler, mit dem mein erster Mann Otto zusammen im Krieg war. In drei Jahren geht Ursula in Rente. Sie ist immer ein bisschen durch den Wind und kann sich nichts merken. Wie oft hat sie meinen Termin schon vergessen, und jemand anders saß auf dem Stuhl, als ich kam. Jetzt habe ich den Spieß umgedreht, gehe einfach hin, wenn ich Lust habe, und behaupte, ich wäre dran. Klappt fast immer.

Hermann Hagekorn

Wissense, in meinem Alter hat man mit dem Thema «Männer» ja abgeschlossen. Aber der Herr Hagekorn ist ein Galan, von dem man sich gern ausführen lässt. Er sieht stattlich aus, hat noch volles Haar, hört gut und fährt noch selbst Auto, und zwar ohne dass sie hinter ihm hupen wie bei Kurt. Herr Hagekorn guckt auch nicht schief, wenn ich nach der Torte im Café noch einen Korn bestelle. Nicht mal beim Doppelten. Er ist Apotheker im Ruhestand. Er hat seine Apotheke seinerzeit so gut verkaufen können, dass er eine Eigentumswohnung im Grunewald hat und ein Haus am Tegernsee. Da wohnt aber sein Sohn drin, und der hat auch die Hand drauf, da hätte ich als Frau gar keine Chance. Obwohl ich mich da wegen des Pflichtteils noch mal genau kundig machen muss, ganz so einfach geht das, glaube ich, nicht.

 

So, nun kennen Sie erst mal die wichtigsten Personen in meinem Leben, und wir können dann mal anfangen, nich?

Guten Tag. Ich heiße Renate BERGM HUUUUCH JETZT SCHREIBT DAS HIER ALLES GRO?

WAS ISt jetzt … jetzt geht es wieder.

Entschuldigen Sie.

Ich kenne mich mit diesen Geräten nicht so aus. Wissense, mein Neffe hat mir vor ein paar Monaten … aber ich war ja noch gar nicht fertig. Ich heiße Renate Bergmann. Ich bin eine geborene Strelemann. Das wird Ihnen bestimmt nichts sagen. Ich war viermal verheiratet und bin genauso oft verwitwet, aber die Namen jetzt alle aufzuzählen bringt ja nichts. Ich bin 82 Jahre alt und habe meine kleine Wohnung in Berlin-Spandau. Früher Staaken. Jetzt Spandau. Dabei bin ich nach der Wende nur ein paar Straßen weiter gezogen. Ulkig, findense nich? Im Grunde bin ich eine normale Rentnerin, die ganz bescheiden lebt, ihren Haushalt macht und regelmäßig zum Friseur und zum Seniorenturnen geht. Die Leute wundern sich nur, dass ich mich ein bisschen mit Internet und Händitelefon auskenne.

Alles fing damit an, dass mir mein Neffe sein altes Telefon gegeben hat. Er sagte: «Tante Renate, du bist viel unterwegs, und wir machen uns oft Sorgen. Du bist jetzt in einem Alter …»

Frechheit!

«… bist jetzt in einem Alter, wo dir immer mal was passieren kann. Wir wissen nicht, wo du dich rumtreibst, und können dich nicht mal erreichen. Es muss ja nicht mal was Schlimmes mit dir sein, es reicht ja schon, du steigst in einen falschen Bus …»

Stellt mich der Rotzbengel doch als senile, alte Tante dar. Das eine Mal. Und ich bin nicht falsch eingestiegen, der Fahrer hat unterwegs die Nummer gewechselt. Da wird dann ewig drauf rumgeritten, so was wird man nicht wieder los. Eine Renate Bergmann steigt nicht in den falschen Bus!

Trotzdem war ich neugierig geworden.

Stefan zeigte mir das Gerät: Vorn war eine Glasscheibe und hinten eine angebissene Tomate. Es hatte keine Wählscheibe und auch keine Tasten. «Und damit kann man telefonieren?», fragte ich. Man hat ja schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.

Die folgenden zwei Stunden vergingen wie im Flug. Stefan zeigte mir so viele verrückte Sachen! Sie glauben es nicht; man kann mit dem Apparat fotografieren, einkaufen, Nachrichten schreiben, Briefe schicken und lesen und sogar Vögel mit einer Steinschleuder abschießen. Es macht auch Musik und hilft einem, den Weg zu finden. Das brauche ich aber nicht, ich fahre ja kein Auto. Und Kurt, der Mann von meiner Freundin Ilse, lässt sich da nicht reinreden, den verwirrt das nur, wenn man ihm die Strecke ansagen will. Spätestens seit er damals auf den Deich gefahren ist, weil Ilse und ich gleichzeitig «Links!» und «Rechts!» gerufen haben, halte ich lieber den Mund. Wir standen dann vor der Wahl, ob Kurt drei Kilometer zurückstößt oder ob ich den ACDC anrufe. Ach, das war eine Aufregung, fragense nicht!

«Und hab nur keine Angst, Tante Renate, du kannst gar nichts verkehrt machen», beruhigte mich der Stefan, als er nach Hause ging. Der Gute! Nachdem er weg war, probierte ich in aller Ruhe die Bildchen auf dem Glasscheibchen durch, zu denen Stefan vorher gesagt hatte: «Brauchst du nicht.»

Hihi.

Ein Zeichen war ein blaues F. Man sah Fotos, und jemand schrieb, ob ich mit zum Grillen kommen will. In der Ecke stand: «Gefällt mir.» Als ich mit dem Finger drauffasste, wurde es weiß. Das war so lustig! Ein anderes Zeichen war genauso blau, aber es war ein kleines T. Dann stand da: «Text bitte eingeben.» Ich schrieb: «Hallo Stefan, hier ist Tante Renate. Das ist aber ein tolles Gerät!», und drückte «Senden». Danach summte der Apparat ein paar Mal wie ein Brummkreisel, und dann standen da Nachrichten wie «Identitätskrise?» oder «Jetzt hat deine Tante dein Handy geentert oder was?». Unverschämt. Eine Anrede gebraucht die Jugend von heute wohl gar nicht mehr!

Keine Stunde später summte das Gerät, hopste über den Tisch, und Musik fing an zu spielen. Stefan hatte mir genau gezeigt, dass ich nur über das Glas wischen muss, und schon konnte ich ihn hören. Ich freute mich sehr, dass das so prima funktioniert.

«Tante Renate, was hast du gemacht?», rief er ohne Gruß.

So was. Die jungen Leute! So viel Zeit muss doch sein. Er blaffte mich stattdessen an, dass ich auf Fäßbuck und Zwitter gewesen sei. Dabei hatte ich, seit er zur Tür raus war, das Haus nicht verlassen. Nee. Ich doch nicht. Ich hatte nur geschrieben, dass mir das Telefon gefällt. Stefan hatte selbst gesagt, dass dabei nichts kaputtgehen kann. Auf einmal belehrte der Bengel mich, dass wir mir eigene Konten einrichten müssten. Diese jungen Leute. Ich bin seit Jahrzehnten bei der Sparkasse und mache jetzt, mit 82, kein neues Konto mehr auf. Kommt gar nicht in Frage. Wozu auch? Die Rente kommt doch nur einmal im Monat. Der Mann, der in der Kaufhalle stand und mir gesagt hat, ich soll in den ADC … ACDC … nee, warten Sie … ADAC gehen, der hat auch gesagt, ich würde damit kostenlos aus dem Urlaub abgeholt. Und wer hat das Taxi bezahlt? Nee. Nichts wird unterschrieben und eröffnet! Stefan atmete tief aus. Wie mein Otto, als seine Lunge nicht mehr so mitmachte: «Tante Renate, ein Facebook-Konto. Ein Profil.» Ich versprach, das Gerät nicht weiter anzurühren, bis der Junge mir noch mal alles genau erklärt hatte. Aber eigentlich … Das T sollte ich nicht wieder drücken, hatte Stefan gesagt. Es gab auch ein Symbol mit einem E: eBay stand klein darunter. Nanu, dachte ich. Hat denn hier jeder Buchstabe ein Programm? Neugierig fasste ich drauf, und das Telefon fragte mich, wonach ich suchen will. Ich überlegte kurz. Wissense, ich war ja ein großer Fan von Prinzessin Diana. Soll mir keiner erzählen, dass das ein Unfall war. Diese Camilla, die steckt dahinter. Also wenn die Königin wird! Ich tippte «DIANA» ein, und es erschien eine Liste mit kleinen Fotos. Auf einem der Bilder trug Diana ein wunderhübsches rotes Abendkleid. Ich habe dann noch ein paar Mal «Ja» oder «Gefällt mir» gedrückt, so genau weiß ich das nicht mehr. Es blendete ein bisschen, und ohne meine Brille kann ich das auch gar nicht so genau sehen.

Drei Tage später klingelte es, und Stefan stand in der Tür. So regelmäßig hatte ich ihn sonst nur gesehen, wenn früher ein Westpaket gekommen ist. Er drückte mich zur Seite wie ein Handtaschendieb, stürmte in die Wohnung und rief: «Sag mal, spinnst du jetzt völlig, Tante Renate?»

«Wie sprichst du denn mit deiner alten Tante?»

«Komm mir nicht mit der Unschuldsnummer», rief er und warf ein Paket auf den Tisch. Und jetzt raten Sie mal, was drin war? Das hübsche Kleid von Lady Di! Hatte der Junge das gekauft? Für mich? In meinem Alter? Aber gut, meine Beine können sich noch immer sehen lassen. Die langen Wege zwischen den Friedhöfen formen die Waden schön.

«Was genau hast du gedrückt, Tante Renate?»

«Dass es mir gefällt. Diesen Daumen, weißt du …»

«Das wäre bei Facebook. Du warst bei eBay! Du hast ‹sofort kaufen› gedrückt.»

Ich … also, das war so klein, und meine Brille … Ich habe bloß immer gedrückt, dass die Felder weggehen. Das schwöre ich Ihnen!

«DU HAST 3500 € FÜR EIN GETRAGENES ABENDKLEID AUSGEGEBEN. DREITAUSENDFÜNFHUNDERT EURO.»

Gottchen, was hat der Junge sich aufgeregt. Von Prinzessin Diana getragen, immerhin. Ich habe ihm Tee angeboten. Ich bin berühmt für meinen Tee. Kaffee darf ich ja nur morgens eine Tasse, wegen Blutdruck. Aber Tee mache ich Ihnen in allen Varianten, da bin ich gut ausgestattet. Kommen Sie gerne mal vorbei! Mein Besuch ist immer ganz begeistert. Stefan wollte keinen Tee. Stefan wollte Schnaps. Und das Telefon. Ich hab dann lieber nichts mehr gesagt. Es gibt Momente, da hält man besser den Mund. Glauben Sie das einer alten Frau. Stefan drückte an dem Telefon rum wie ein Wilder, steckte ein Kabel dran und tippte mit seinem Klappcomputer irgendwas. Ab und an fluchte er, aber im Großen und Ganzen hatte er sich wieder beruhigt. Ich schielte zum Paket mit dem Kleid. Neugierig war ich ja nun schon, wenn man ein Stück von Prinzessin Diana in den eigenen vier Wänden … Dem Kleidchen lag ein Schreiben bei, auf dem das königliche Wappen und ein Text in Schnörkelschrift abgebildet waren. Ich schob die Brille auf die Nasenspitze, lehnte den Kopf in den Nacken und las laut: «… wissisdokjumänt … ossoreissd … prinzesswäls … orridschinelly …» Schwarz auf weiß! Wissense, mein Englisch ist nicht sehr gut, aber ein paar Brocken verstehe ich. Ich habe ja gleich 1992 den Seniorenkurs für Englisch an der Volksschule gemacht. Ich holte Stefan seinen Korn und für mich gleich auch. Schließlich gab es etwas zu feiern. Dieses herrliche rote Kleid! Einen Korn darf ich ja hin und wieder, der drückt den Zucker, hat die alte Frau Mosert schon immer gesagt, und die musste es wissen, weil sie mit ihrem Zucker 98 geworden ist. Ohne Beine zwar, aber sonst tipptopp. Die Rücknahme des Kleides war ausgeschlossen, das Geld war für einen guten Zweck, und ich stellte mich auch stur. Ich bin zwar durch die Lebensversicherungen meiner vier verstorbenen Ehemänner gut versorgt, aber das muss der Stefan ja nicht wissen. Wenn dereinst mein Testament eröffnet wird, erfährt er davon früh genug. Soll er ruhig glauben, ich hätte außer meiner kleinen Rente nichts. Hihi. Man hat nur ständig lästigen Besuch von der Verwandtschaft, wenn die denken, es gäbe was zu holen. Nee, ich kann Ihnen sagen … nee! Aber ich verliere mich schon wieder, entschuldigen Sie.

Ich hatte mir überlegt, dass meine Enkelin Sarah das Kleid zur goldenen Hochzeit von Mechthild und Georg Dressel tragen könnte, wenn man es umarbeitet. Passt doch.

Das war also meine erste Begegnung mit dem Internet. Im Laufe der Zeit habe ich mich da belesen und mit Stefans Hilfe alles auf den Namen Bergmann eingerichtet. Twitter, Fäßbuck, eBay und eine Apothekenapp. Am meisten Freude macht mir Twitter. Ich habe mich da mit dem Tomatentelefon angemeldet und hin und wieder ein paar Sachen über meinen Alltag geschrieben, die Beispiele stehen hier immer in anderer Schrift, damit Sie sehen, wie ich im Internetz so bin. Innerhalb von ein paar Monaten hatte ich fast 20000 Freunde gefunden! Mir ist gar nicht klar, wie das passieren konnte. Jetzt schreibe ich jeden Tag ein paar kleine Nachrichten. Bei Twitter muss man sich ja kurz fassen. 140 Zeichen! Sie haben mich ja nun schon ein bisschen kennengelernt und können sich vorstellen, dass ich eigentlich mehr Platz brauche, deshalb habe ich angefangen, ein paar kleine Geschichten ganz aufzuschreiben. Aber lange Rede, kurzer Sinn: Ich fange einfach mal an, nich?

 Auch wenn Winter ist – ich muss heute mal auf die Friedhöfe und wenigstens harken. «Den Männern die Haare kämmen», wie Gertrud immer sagt.

Jetzt bin ich gleich mit der Tür ins Haus gefallen. Dabei wissen Sie noch nicht mal, mit wem Sie es eigentlich zu tun haben, nich? Das war unhöflich. Entschuldigen Sie.

Also: Renate Bergmann, geborene Strelemann, vierfach verwitwet. Sie werden bestimmt staunen, aber die angenehmste Jahreszeit für mich ist der Winter. Ja, ich finde den Frühling auch angenehm, auch den Herbst. Aber am liebsten habe ich den Winter. Da liegt nicht so viel Arbeit auf den Friedhöfen an, und ich habe mal ein bisschen Zeit für mich. Meine vier verstorbenen Ehemänner liegen über die ganze Stadt verteilt auf vier verschiedenen Friedhöfen. Allein das Gießen dauert im Frühjahr und Sommer den halben Tag. Vier Ehemänner?, werden Sie sagen. Aber ich kann Ihnen das erklären, passen Sie nur auf. Und dann wissense Bescheid über mich. Geben Sie also bitte Obacht.

Walter war mein bislang letzter Ehemann. Der liegt hier in Spandau ganz in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter. Ihn habe ich vor 10 Jahren begraben. So, wie die Dinge jetzt stehen, sollen sie mich mal zu ihm legen, wenn es bei mir so weit ist. Wobei ich manchmal denke: Er hatte immer so eisige Füße, da bin ich immer so erschrocken, wenn er mir die im Bett auf meine Seite rübergeschoben hat. Vielleicht überlege ich mir das noch mal. Sein Grab liegt im Schatten alter Tannen; im Sommer hält sich die Feuchtigkeit, und im Herbst hat man kein Laub. Wirklich pflegeleicht. Die paar Kannen Wasser, die Walter braucht, machen mir nichts aus. Er war schon zu Lebzeiten sehr genügsam und macht auch jetzt nicht viel Arbeit.

Mein erster Mann, Otto, starb sehr früh, noch vor dem Mauerbau. Wir wohnten damals in Moabit, und da wurde er auch beerdigt – es wusste ja keiner, wie mal alles kommt. Otto war ja deutlich älter als ich. Als er aus dem Krieg zurück war, kamen auf einen halbwegs vorzeigbaren Herren an die zehn Backfische. Da war man froh, wenn man sich nicht allein durchschlagen musste. Er war schon 53, als wir 1950 geheiratet haben, und ich unschuldige 19. Vom Otto kann ich Ihnen Geschichten erzählen … also, später vielleicht. Er war wirklich kein Traummann, kaum Haare auf dem Kopf und nur einen Anzug im Schrank, aber, wissense, groß war die Auswahl nicht. Den hat er dann auch anbekommen, als er 10 Jahre später starb. Den Anzug meine ich. Bald nach seinem Tod kam die Mauer und ich nicht mehr rüber. Ich wohnte da ja schon in Karlshorst. Fast 30 Jahre habe ich sein Grab nicht gesehen, aber 1989 bin ich gleich mit Harke und Gießkanne rüber. Da haben die Grenzer aber geguckt! Außer kontrollieren und stempeln konnten sie aber nichts machen. Ein paar Wochen später waren sie dann auch nicht mehr da. Das Grab war verwildert, aber ich habe es wieder ordentlich in Schuss gebracht. Den Grabstein habe ich mit Schmierseife und Wurzelbürste geschrubbt – ich sage Ihnen, die haben alle nur gestaunt. Die Sträucher habe ich zurückgeschnitten, im nächsten Frühjahr sah alles aus wie geleckt.

Wilhelm, der Vater von Kirsten, von der ich Ihnen später noch erzähle, starb 1967. Er kam auf den Friedhof Karlshorst, gleich neben den Tierpark. Ich habe Kirsten dann immer ins Brehm-Haus geschickt, wenn ich auf dem Friedhof zu tun hatte. Vielleicht kommt daher ihr Hang zu Katzen.

Mitte der Siebziger habe ich dann Franz kennengelernt. Franz war aus Staaken. Liebe Zeit, es war ein ganzes Stück weg von Karlshort. Und gleich an der Mauer!

Wieder umziehen, wieder neue Nachbarn und der Friedhof Karlshorst weit weg. Wir konnten ja früher nicht durch Berlin durch, sondern mussten außen rum! Schon damals habe ich mit Frau Bewert die Gießgemeinschaft gegründet, die bis heute andauert. Ihr Herbert liegt gleich schräg gegenüber von meinem Wilhelm. Sie hat mitgegossen; ich bin dafür am Wochenende und im Urlaub hin und habe sie mit Spargel aus dem Brandenburgischen versorgt.

Bis Karlshorst war es eine Tour von fast zwei Stunden mit dem Trabi, den ich mir von Wilhelms Lebensversicherung gekauft hatte. Franz sah es nicht gern, wenn ich zu Wilhelms Grab fuhr. Eifersüchtig auf einen Verstorbenen. Können Sie sich so was vorstellen? Der Mann war ein Fehlgriff, das muss man ganz klar sagen. Aber man soll über Verstorbene nicht schlecht reden. Soll er in Frieden ruhen.

Als Franz dann starb, du liebe Zeit, das war eine Aufregung! Er war ja Reisekader und gerade in Westberlin. Sie wollten ihn mir nicht zurückbringen, sondern gleich im Westen begraben. Wegen des Zolls oder so ähnlich, ich weiß das gar nicht mehr so genau. Sie sagten, sie wüssten, wie Rindfleisch verzollt wird und auch Blumenzwiebeln, aber dass mein Franz außer Landes gebracht wird, das hätten die Alliierten nicht vorgesehen. Natürlich ist Franz schlussendlich doch in Staaken beerdigt. Eine Renate Bergmann weiß doch, was sich gehört!

Nach der Wende bin ich dann nach Spandau gezogen, wo ich noch immer bin; einen alten Baum entwurzelt man ja nicht mehr. Damals war ich schon in Rente und habe geschaut, dass ich was Passendes fürs Alter finde. Eine Wohnung, meine ich. Keinen Ehemann mehr. Wissense, drei waren mehr als genug, und ein Pflegefall kommt mir nicht ins Haus. Eine Renate Bergmann pflegt ihre eigenen Zipperlein und kostet ansonsten das Leben aus. Von hier ist es nicht weit zum Ärztehaus, und das Einkaufszänter ist gleich um die Ecke. Ilse und Kurt wohnen nicht mal fünf Minuten entfernt, und Gertrud ist mit der S-Bahn auch in einer viertel Stunde hier. Ich hatte seinerzeit wirklich nicht vor, noch mal zu heiraten, aber der Nachbar, Herr Bergmann, war ein so charmanter Herr … na, was soll ich Ihnen sagen. Ich bin eben auch nur eine Frau.

Der Walter war eine Seele von Mensch, ach, es ist so schade, dass ihm nicht noch ein paar Jahre mehr vergönnt waren. Ich hätte ihn in Staaken beerdigen lassen sollen. Renate, habe ich mir gesagt, Renate, das ist praktischer so. Zwei Männer auf einem Friedhof. Aber dann kamen die Kinder aus erster Ehe: Der Papa war schon immer Spandauer. Wir lassen ihn nicht im Osten begraben. Beim Russen. An Renate Bergmann hat wieder keiner gedacht. Sie können sich vielleicht vorstellen, was für ein Programm ich habe, wenn Gießtag ist. Aber da lass ich mir nichts nachsagen – wer erbt, muss auch gießen, so ist die Regel, und an die halte ich mich. Nach Karlshorst fährt mich meist Kurt. Aber wissense, mit 60 km/h über die Stadtautobahn – mit der S-Bahn bin ich ebenso schnell. Wenn der Frühling kommt und bei ALDI die Stiefmütterchen im Angebot sind, schlage ich zu. Bei vier Gräbern mit jeweils 24 Pflanzen kommen am Ende, wenn das Pflänzchen auch nur einen Groschen billiger als bei der Konkurrenz ist, 10 Euro zusammen. Ein schönes Stückchen Buttercremetorte und eine Tasse Bohnenkaffee für Ilse und mich! Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert, sage ich immer. Vorletztes Frühjahr wollte mir die Kassiererin dumm kommen und die Pflanzen nur in haushaltsüblichen Mengen abgeben. Na, die hat mich aber kennengelernt! Sind vier Gräber etwa nicht haushaltsüblich? Als wäre ich die Liz Taylor von Spandau! Der habe ich aber was erzählt. Wenn es einer Renate Bergmann an die Ehre geht, kann sich die Schlange auch durch die ganze Kaufhalle ziehen. Eine Renate Bergmann nimmt das nicht hin! Ganz kleinlaut war die Kassiererin am Ende, als sie mir meine Stiefmütterchen sogar noch eingewickelt hat. Auf jedem Friedhof habe ich auch meine Harke und meine Gießkanne. Kurt hat sie mir mit dem Lötkolben schön beschriftet, auf allen Geräten steht «Bergmann». Mit den frischen Blumen kommt bei meinen Männern frische Blumenerde auf die Gräber, da kenne ich nichts. Das ist das Geheimnis schöner Blumen, sach ich immer. Als ich mit Walter frisch verheiratet war, hat er darauf bestanden, dass wir Kaninchenmist auf den Gräbern ausbringen. Aber das war nix: Am Anfang fasst man beim Unkrautjäten ständig in die Karnickelkötel. Dann hat man den Sommer über Stroh zwischen den Blumen. Walter hat Jahre später noch mal den Vorschlag gemacht, er könne von einem Freund Taubenmist bekommen, aber Federn auf dem Grab hätten mir gerade noch gefehlt. Jedes Frühjahr frische Blumenerde und sonst nichts.

Ja, zum Pflanzen fahren mich Kurt und Ilse immer. Ilse geht mir auch zur Hand, wissense, in unserem Alter düselt einem ja doch schnell mal der Kopf, wenn man sich bückt. Da bin ich froh über ihre Hilfe. Wir müssen nur Kurt beschäftigen, damit er nichts anstellt. Vor ein paar Jahren kam Ilse auf die Idee, ihn die Gräber von Prominenten suchen zu lassen. Da ist Kurt nicht zu bremsen. Seit nun bald zehn Jahren sucht er in Karlshorst das Grab von Günter Pfitzmann, jedes Frühjahr wieder. Da kann er nicht weit weg, wir haben ihn immer in Sichtweite, und trotzdem wuselt er uns nicht vor den Füßen rum. Wenn wir fertig sind, ruft Ilse kurz: «Kurt, guck mal, hier liegt die Knef!», und schon kommt Kurt an. Die liegt, wie Pfitzmann, in Zehlendorf, aber das weiß ja Kurt nicht.

Nun wissen Sie ungefähr Bescheid. Ich weiß, es ist ein bisschen kompliziert, aber wenn man 82 Jahre alt ist, geht nicht immer alles glatt. Wissen Sie, ich habe die Mauer, vier Ehemänner und 217 Folgen «Denver Clan» überlebt, und nun regiert eine FDJ-Sekretärin Deutschland – es kommt nicht immer alles, wie man es erwartet und sich vorstellt.

 Die Meiser hat der Berber eine Karte aus dem Urlaub geschickt. Wetter ist gut, Essen schmeckt. Habe die Karte in den Kasten zurückgelegt.

Ich bin jetzt 82 und dankbar, dass ich noch so gut beieinander bin und allein leben kann. Die Beine wollen nicht mehr so, und hin und wieder zwickt der Rücken. Das kommt von der Ossiporose, sagt Frau Doktor. Aber ich esse viel Käse und Brokkoli und meide Rhabarber. Ein bisschen merke ich auch die Arthrose in den Fingern, und, ja, die Zuckerwerte sind ein bisschen hoch. Aber im Großen und Ganzen bin ich noch recht rüstig, wie es in den Heiratsanzeigen immer heißt.

Nicht, dass Sie jetzt denken, ich lese so was! Jedenfalls nicht regelmäßig. Hihi.

Hier bei uns in Spandau ist es sehr ruhig. Eine gesittete Gegend und alles, was man braucht, «dichte bei», wie wir Berliner sagen: Kaufhalle, Post und Sparkasse; ein Schwimmbad und auch ein Seniorenzentrum. Letzen Monat wurde ich in den Vorstand gewählt, und zwar ohne Gegenstimme. Da war ich schon ein bisschen stolz. Schauen Sie, selbst die Frau Merkel hat immer Gegenstimmen, wenn sie wieder Vorsitzende wird.

Meine Wohnung liegt in einem Mehrfamilienhaus mit sechs Mietparteien. Im Grunde alles sehr angenehme und ruhige Zeitgenossen, mit denen man auskommen kann. Nur die Meiser im zweiten Stock hört ständig Bumsmusik bis in die Puppen. Einmal war es fast neun! Und laut, nee, Sie machen sich keinen Begriff. Im Krieg habense Bomben geschmissen, und die Flak hat geballert, aber so ein Krach war nicht mal da! Wir haben auch Musik gehört, ja, aber das war auch noch Musik. Freddy Quinn auf Mittelwelle, ach, war das schön! Zur Seemannshitparade habe ich die Hausarbeit so gelegt, dass Bohnern oder Bügeln dran war, Staubsaugen hätte zu viel Krach gemacht. Da habe ich dann nebenbei diesen wunderbaren Schlager von Freddy Quinn gehört, warten Sie mal: «Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? WIR! – Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? WIR! – Ihr lungert herum in Parks und in Gassen, wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? WIR! WIR! WIR!» Aber die Meiser? Bis in die Puppen schlafen und das Haus verdreckt, aber Hauptsache den Dudelkasten auf volle Pulle und Nieten in der Nase. Nee, nee! Gegenüber wohnen Herbert und Hillburg Steiner. In den Ferien haben sie ab und an den Enkel da. Er heißt Jayden Madox. Ich musste das nachfragen, um es für Sie aufzuschreiben, ich kann mir den Namen nicht merken. Ich sage immer Jens. Im Erdgeschoss ist jetzt eine Neue eingezogen. Nun ja. Mit der werde ich nicht richtig warm. Wissense, die hat sich nicht mal vorgestellt! Zieht ins Haus und ist einfach da. Da denkt man doch, die würde mal klingeln und Weinbrandbohnen zum Einstand vorbeibringen – aber nee. Nichts. Einfach da.

Sehr unhöflich.

Aber man hat ja doch keine Ruhe. Man muss doch wissen, mit wem man unter einem Dach wohnt. Man hört und liest so viel über Schläfer und Terroristen und solche Dinge. Oder Prostatation oder wie das mit den Dirnen heißt. Ich musste doch einfach Bescheid wissen! Ich kann sie vom Balkon aus immer kommen und gehen sehen; sie macht meist ein Geschrei und telefoniert mit dem Händi, wenn sie das Haus betritt oder verlässt. Da kann man sie gar nicht verpassen.

Sie ist eine sehr üppig gebaute Person. Gott, bitte, ja. Es kann nicht jeder ein Mannekäng sein. Aber die trägt Pullis, die zwei Größen zu klein sind. Stellen Sie sich einfach eine Blutwurst im Naturdarm vor. So wären wir früher nicht gegangen, jedenfalls niemand, der etwas auf sich hielt. Aber es gab schon immer solche und solche. Meine Freundin Gertrud sagt zum Beispiel, sie kann ohne Kittelschürze nicht. Was die auch alles in den Taschen hat! Zwei Kastanien gegen ihr Rheuma! Gertrud hat kein Rheuma, es scheint also zu funktionieren. Dann ihren Hausschlüssel, ein Taschentuch für sich selbst und eines, mit dem sie fremden Kindern das Gesicht sauber wischt, ein Döschen mit Hustenpastillen, ein Pillendöschen mit Medikamenten für den Notfall, ein bisschen Hundekuchen für Norbert, etwas Kleingeld und zwei kleine Fläschchen Korn (eines für Renate, eines für sich). Sie hat die Kittel in allen erdenklichen Farben. Als ihr Mann Gustav starb, trug sie das Trauerjahr über nur schwarze Kittelschürzen. Ich dachte schon, sie bleibt dabei, aber kaum war der Juni rum, hatte sie die bunten Dinger wieder an. Manchmal bin ich aber auch dankbar für ihre Schürzen, wissense. Sie hat nicht so das Händchen für Farben und kombiniert schon mal gern Rot gegen Lila, da verdeckt der Kittel dann wenigstens das Schlimmste. Wenn es im Sommer richtig heiß ist, trägt sie nur Schlüpfer und Büstenhalter drunter. Ich sage Ihnen – das ist in unserem Alter nicht schön. Eigentlich wollte ich das gar nicht erzählen, aber …: Vor zwei Jahren hatten wir ziemlichen Ärger ihretwegen. Wir waren bummeln, und es war brütend heiß. Erst waren wir ein Weilchen bei LIDL an den Kühltheken, da ist es immer schön frisch. Aber nach zwei Stunden wurden wir gebeten zu gehen. Wir haben dann auf dem Marktplatz Rast gemacht und ließen die Füße in den Springbrunnen baumeln. Da sagt keiner was, das machen ja alle. Aber als Gertrud ihre Kittelschürze auszog und dann in Schlüpfer und Büstenhalter … sie war aber nicht aufzuhalten! Plötzlich stand eine Politesse vor uns. Zum Glück kam Gertrud ohne Diskussion auf die erste Aufforderung hin aus dem Wasser, sonst wäre das doch Widerstand gegen die Staatsgewalt gewesen. Die Polizeidame las lange in einem kleinen Büchlein und sagte, die Anwohner hätten sich beschwert, und eigentlich wären das 40 € wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. 40 €! Das sind 80 Mark! Gertrud musste versprechen, dass sie das nie wieder macht, und ich, dass ich auf sie aufpasse.

Eine Renate Bergmann ist sich ihrer Verantwortung immer und überall bewusst. Als sich die neue Nachbarin nach drei Tagen noch immer nicht gemeldet hatte, wollte ich klingeln. Ich bin leise an die Tür ran, konnte aber nichts hören. Den Türspion hatte sie von innen abgehängt, ich konnte auch nichts sehen. Eine Frechheit. Als würde da jemand durchgucken von außen … also, ich glaube nicht, dass das überhaupt zulässig ist. Ich werde bei der nächsten Mietersprechstunde bei der Hausverwaltung nachfragen. Ich war jedenfalls so verärgert, dass an Klingeln gar nicht mehr zu denken war. Als ich dann in der Mülltonne, also, als da … nun ja. Ich habe daraus geschlossen, dass sie gern Fisch in Dosen isst und Manja Berber heißt.

Ein paar Tage drauf machte ich einen neuen Versuch. Es ließ mir einfach keine Ruhe! Ich klingelte – nichts.

Der Klingelknopf war auch nicht beschriftet, ich wusste nicht mal einen Namen. Also nicht offiziell.

Ich klopfte.

«Liebes junges Fräulein, ich bin Ihre Nachbarin. Renate Bergmann, dritter Stock.»

«Ja und?», bellte mir eine stark gebaute Person entgegen.

«Es ist doch wohl üblich, dass man sich bei den Nachbarn vorstellt, wenn man neu einzieht.»

«Wir werden uns schon noch kennenlernen, aber das reicht ja wohl auch noch morgen, oder?»

Sie donnerte die Tür zu. Wumms! Ich war außer mir.

So etwas war mir noch nie passiert. Eine Frechheit! Eine Unverschämtheit, eine Unverfrorenheit sondergleichen! Ich genehmigte mir einen Korn zur Beruhigung.

Am nächsten Morgen machte ich mich wie immer auf den Weg zum Bäcker, um mir frische Brötchen zum Frühstück zu holen. Wissense, Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag. Man muss dem Magen immer eine Kleinigkeit anbieten, auch wenn man keinen Hunger hat. Der Appetit kommt manchmal erst beim Essen. Frühstück ist auch deshalb die schönste Mahlzeit für mich, weil ich morgens eine Tasse Bohnenkaffee darf. Die eine Tasse genieße ich und trinke sie schwarz, man will ja auch was haben vom Aroma, nich? Wegen des Blutdrucks hat mir Frau Doktor Bürgel geraten, nachmittags Tee zu trinken. Das ist schon gemein: Im Krieg hatten wir keinen Kaffee, zu DDR-Zeiten hat er nicht geschmeckt, und heute darf ich keinen mehr. Als ich bei der Berber vorbeikam, dachte ich mir: «Komm, Renate, reichste ihr die Hand und fragst, ob sie was vom Bäcker haben will.» Keiner machte auf. Als ich vom Bäcker zurück war, kam sie mir schon entgegen und schrie mich an, ich solle nie wieder bei ihr schellen. Dabei wollte ich nur freundlich sein. Schließlich weiß eine Renate Bergmann, wann sie zu weit gegangen ist. Aber offenbar ist die Berber auch so eine, die bis in die Puppen schläft. Es ist einfach kein Auskommen mit der Dame. Wissense, wenn die große Hausordnung ansteht, dann habe ich drei Stunden zu putzen. Wenn man es gründlich macht, braucht das eben seine Zeit. Als die Berber dran war, war ich gespannt. Könnense sich denken, nich? Man sieht das ja schon, ob jemand reinlich ist oder eher liederlich. Ordentliche Leute hängen ihre Betten zum Lüften morgens raus. Hab ich bei der Berber noch nie gesehen. Überhaupt putze ich gerne früh, spätestens ab fünf. Wobei ich vor Jahren einen Brief von der Hausverwaltung bekam: Bitte nicht vor sieben. Von Blätter harken oder Schnee fegen vor sieben Uhr stand da übrigens nichts.

Hihi.