Ich bin noch gar nicht fertig - Michael Schletz - E-Book

Ich bin noch gar nicht fertig E-Book

Michael Schletz

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Ich-Erzähler Micha berichtet in Anekdoten, was ihm insbesondere während der 80er- und 90er-Jahre zugestoßen ist. Da er sich der Punkszene zugehörig fühlt, stehen oftmals damit verbundene Erlebnisse im Vordergrund. Es ist eine Welt voller übermäßigen Alkoholkonsums, ausufernder Partys und durchgemachter Nächte, schräger und verbotener Aktionen, Polizeiverhören, Arbeitslosigkeit und verschiedener Jobs. Sei es ein geheimnisvoller Fahrauftrag, bei dem er sich selbst in Gefahr begibt, oder die Tatsache, dass er während eines Urlaubs nachts im Park erwacht und sieht, dass eine Waffe direkt auf ihn gerichtet ist – Micha berichtet aus seinem Blickwinkel, was vorgefallen ist, spart dabei aber nicht an vulgären Ausdrücken und der Schilderung teils absurder Situationen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-743-4

ISBN e-book: 978-3-99146-744-1

Lektorat: Vivika-R. Andige

Umschlagabbildungen: Mg1408 | Dreamstime.com; www.pixabay.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Allgemeiner, loser Unrat

Paul war irgendwann plötzlich da. Wie so oft in der Szene kamen Leute und schlossen sich uns an. Da wir immer mit den Wavern und Gruftis zusammenhingen, kam es nicht selten vor, dass auch aus dieser Richtung neue Leute dazukamen. Paul hatte zunächst noch seinen bürgerlichen Namen: Mario. Meist dauerte es nicht lange, bis Leute, die sich zum festen Bestandteil unserer Clique herauskristallisierten, einen Spitznamen verpasst bekamen. So auch bei ihm. Irgendjemand fand, dass er aussähe wie der Sänger Paul Young. Damit hatte er seinen Spitznamen weg. Paul war eher ein ruhiger Typ, hatte ständig was vor und immer was zu verkaufen. Alles, was er machte, schien dringend und konspirativ zu sein. Er hatte stets ein Date mit irgendeiner Frau oder war zeitweise mit einer zusammen. Durch eine dieser Frauen kam er auch in eine stadtbekannte Nachtbar. Davon konnten wir nur träumen. Normalerweise kamen wir in unseren Outfits fast nirgendwo ohne Beziehungen rein. In Pauls Begleitung gelang uns das zunehmend öfter. Keine Ahnung, wie er das anstellte und was er dafür im Gegenzug machte. So kam es vor, dass wir uns nachts inmitten von Wessis und Schwulen Champagner trinkend in einer Bar wiederfanden. „Uuuuhhh: Agnostic Front, was?“, fragte mich ein offensichtlich vom anderen Ufer stammender Typ und spielte dabei auf den Schriftzug auf einer meiner Badges an. Er kam mir bedrohlich nah und fummelte an den Badges rum, die an meiner Lederjacke prangten, während ich am Pissbecken stand und mein Geschäft verrichtete. „Jo“, erwiderte ich, machte meine Hose zu, verschwand schnell wieder vom Klo und setzte mich auf eines der bequemen Ledersofas zwischen die anderen.

Wenn wir in dieser Bar waren, was ziemlich selten vorkam, brauchten wir nie irgendetwas zu bezahlen. Unsere schwulen Freunde oder irgendwelche verirrten Wessis übernahmen generell immer unsere Getränke. Die Wessis wollten dafür ein Foto mit uns, das sie ihren Freunden oder der Familie zeigen wollten. So hatten sie die DDR nicht erwartet. Wir ließen uns so ein Foto gebührend bezahlen. Und sicher hatten die schwulen Freunde dabei ihre Hintergedanken, es ist mir allerdings nicht bekannt, dass auch nur einer von ihnen bei uns zum Zug kam. Zudem kam hinzu, dass sie allesamt dem Popper Spektrum zuzuschreiben waren, und mit denen wollten wir ohnehin nichts zu tun haben. Die Punkerphilosophie besagt ja, dass Popper ihre Feinde zu sein haben. Das ließ sich in diesem Fall nicht aufrechterhalten. Sie waren einfach zu nett und betrachteten uns auf eine Art und Weise als ihre Verbündeten. Wir hatten deshalb immer ein hervorragendes Verhältnis zur Popper-Schwulenfraktion. Sie waren immer korrekt zu uns. Wahrscheinlich resultierte das daraus, dass wir in den Augen der DDR-Oberen und auch der Bevölkerung Aussätzige waren. So etwas schweißte damals unheimlich zusammen und gab einem ein gutes Gefühl.

Aber zurück zur eigentlichen Sache. Nachdem Paul schon eine ganze Weile mit uns rumzog, brachte er eines Tages einen Typen mit. Recht unscheinbar in der Erscheinung und selbst für DDR-Verhältnisse recht lumpig gekleidet. „Das ist mein Bruder, Dirk“, stellte er ihn uns vor. Wir nahmen es wie üblich cool und gelangweilt zur Kenntnis. Dieser Typ sah weder so aus, noch machte er den Anschein, als ob er für uns interessant werden könnte.

Dirk war von da an immer dabei, später dann sogar öfter als Paul. Es dauerte auch nicht lange, bis seine Transformation zum Punk stattfand. Bald trug er nur noch schwarze Klamotten. Eine Lederweste, die nach und nach mit immer mehr Nieten, Ketten und anderen Utensilien versehen wurde, zierte sein Äußeres. Seine komischen Straßenschuhe tauschte er gegen Boots, die er aus einem Jäger- und Anglerladen erstand. Was ihm noch fehlte, war der passende Haarschnitt.

Bei einem der zahlreichen Saufgelagen war es dann soweit. Einige Mädels machten sich ans Werk und zauberten aus Dirks schwarzer Lockenpracht einen breiten Irokesenschnitt, der zur Hälfte blondiert wurde. „Du brauchst noch einen neuen Namen. Dirk fetzt nicht“, sagten die Mädels. Anhand seines vorher recht zerlumpten Outfits war der schnell gefunden. „Allgemeiner, loser Unrat passt zu dir“, stellten wiederum die Mädels fest und lachten. Auch wir befanden den Namen als passend, allerdings war er viel zu lang. Wenn man allerdings nur die Anfangsbuchstaben nahm, würde daraus ein passender Name entstehen. Dirk hieß also ab sofort nicht mehr Dirk, sondern Alu. Das war auch gleichzeitig schön doppeldeutig. Es war die Abkürzung für Aluminium.

Das mit den Spitznamen war Tradition in der Punkszene. Aber auch in allen anderen Szenen. Es gehörte zur neuen Identität, sich einen neuen Namen zuzulegen. Manche Leute kannte man über Jahre und wusste nur ihren Spitznamen. Das war bei Polizeiverhören immer besonders lustig. Bei den Mädels lief es ähnlich. Wobei die Namensgebung dort weitaus vielschichtiger war. Man ging respektvoller vor. Oder eben auch nicht. Je nachdem, wie die Betreffende beschaffen und wie sie drauf war.

Alu entwickelte sich im Laufe der Zeit zum Inbegriff dessen, was wir zu dieser Zeit unter einem Anarchisten verstanden. Er machte buchstäblich, was er wollte.

In den Anfangstagen kam er mal zu mir nach Hause. Mit einem uralten Herrenrad. Dieses ließ er dann bei mir stehen. Es stand jahrelang bei mir. Später fand ich heraus, dass er es irgendwo geklaut hatte. Als er in mein Zimmer kam, sah er sich um und machte sich über meine Bilder und Poster lustig. Ich verstand das nicht und es machte mich ziemlich wütend. So stolz war ich auf meine Poster von diversen Punkbands, die ich schwer ergattert hatte. Ganz besonders auf das Clash Poster, das ich gegen einen Wellensittich eingetauscht hatte. Einige Zeit danach war ich mal bei ihm zu Hause. In seinem Zimmer hingen jede Menge selbstgemalte Bilder. Mit Blumen, Traktoren und Tieren. Ich konnte es nicht fassen.

Alu war immer kontrovers und unberechenbar. Das wiederum machte ihn bei uns sympathisch. Er hatte nie Geld. Aber wenn er mal welches hatte, lud er alle ein, bis es alle war. Danach pumpte er sich gleich wieder welches bei irgendjemandem.

Ein Fall für sich war auch seine Mutter. Die sah man ständig irgendwo in der Stadt. Stets in Begleitung ihres Bruders, einem bärtigen Typen, der eigentlich nie was sagte. Beide schienen dem Alkohol sehr zugetan. Egal in welche Kneipe wir kamen, sie waren schon da. Wenn wir beispielsweise in unserer Stammkneipe einliefen, oft einzeln, saß sie mit ihrem Bruder schon an einem der Tische. Betrat man das Lokal, wurde man sofort von ihr „in Empfang“ genommen. Unter lautstarkem Lachen rief sie: „Wie sieht der denn aus?“ oder „Da kommt wieder einer von diesen Assis. Den würde ich hier nicht reinlassen.“ Man konnte sich in solch einem Moment sicher sein, dass man die Aufmerksamkeit der gesamten Belegschaft und der Gäste hatte.

Wenn Alu mit dabei war, verlief es etwas ruhiger. Er ging dann zu den beiden, begrüßte sie und ließ sich anschließend etwas Geld geben.

Interessant wurde es, wenn sich Alus Mutter einen Typen an Land gezogen hatte. Sobald Alu herausbekam, wo der Typ wohnte, wurde dessen Wohnung kurze Zeit später durch die Punks okkupiert. Wir klingelten, er öffnete, wurde zur Seite gestoßen und wir spazierten in seine Wohnung. Als Erstes wurde der Kühlschrank inspiziert, der Inhalt meist sofort aufgegessen. Danach machten wir es uns im Wohnzimmer bequem. Wir sahen fern oder einer legte eine Musikkassette ein. Als Nächstes wurde ermittelt, was an Alkohol vorhanden ist. Jedenfalls war immer Party. Proteste des Wohnungsinhabers wurden nicht akzeptiert. Je nachdem, was sich im Kühlschrank befand, schlugen wir uns die Bäuche voll.

Alu ließ ihm im Wesentlichen nur die eine Option: den Rest des Tages eingeschlossen im Schlafzimmer zu verbringen. Wahlweise aber mit uns zu feiern. Meistens zogen die Typen dann Letzteres vor. Bei einer dieser Partys fingen Alu und Rossi an sich zu tätowieren. Jeweils seitlich an die Waden links ein Anarchy Zeichen und ans rechte Bein ein Hakenkreuz. Das mit dem Hakenkreuz hatten sie auf einem Poster von Sid Vicious, dem Bassisten der Sex Pistols, gesehen. Der hatte öfter mal ein T-Shirt mit Hakenkreuz an. Keiner der beiden war zu diesem Zeitpunkt in irgendeiner Weise politisch ambitioniert, sondern einfach nur voll.

So kam es vor, dass wir manchmal bei einem uns völlig fremden Typen in der Wohnung saßen und unsere Zeit verbrachten. Auf Nachdruck von Alu wurden wir dann vorzüglich bewirtet. Diese Zustände hielten nie lange. Spätestens nach einem unserer Auftritte hatte sich das mit der Beziehung zwischen Alus Mutter und den jeweiligen Typen erledigt.

Ich erinnere mich an eine Party, die Alu und Paul bei sich zu Hause machten. Zu dieser hatten sich auch die Erfurter Punks eingefunden. Da sich das Haus der beiden auf dem Dorf befand, waren zunächst etliche Kilometer bis dorthin zu bewältigen. Hermann, ein Einheimischer und den Punks sehr zugetan, übernahm den Transport. Mit seinem Moped fuhr er jeden Einzelnen dort hin.

Die Party an sich war mal wieder ein einziges Chaos. Das blieb auch im restlichen Dorf nicht unbemerkt. Alus Mutter versuchte durch lächerliche Ansagen den Überblick zu behalten. Zu späterer Stunde formierte sich vor dem Haus eine Art Bürgerwehr. Sie standen mit Knüppeln und brennenden Fackeln vorm Haus. Sie riefen, wir sollten verschwinden, ansonsten würden sie jeden einzelnen von uns aus dem Dorf jagen. Daraufhin kam Bewegung bei den Partygästen auf. Es wurde nach Bewaffnung gesucht und über Gegenmaßnahmen philosophiert. Wie für diesen Zweck gemacht, stand neben der Eingangstür ein Bündel Schaufelstiele, die Alus Mutter nun in Windeseile an die Partygäste austeilte. Einige Erfurter versuchten, die Eingangstür von innen zu öffnen, was ihnen zunächst nicht gelang. Nach eingängiger Prüfung der Tür stellte sich heraus, warum. Die Tür ging nicht wie üblich dort auf, wo sich die Klinke befindet, sondern da, wo die Scharniere waren. Nachdem wir das herausgefunden hatten, wurde die Tür geöffnet, und einige Punks stürmten mit Schaufelstielen bewaffnet aus dem Haus. „Kommt her, ihr Bauernlümmel“, schrie jemand. Das Blöde war, die kamen wirklich. Sie schienen keinerlei Angst vor den bewaffneten Punks zu haben.

Nach einigen kurzen Scharmützeln zogen sich die Punks ins Haus zurück und verbarrikadierten die Tür. Jetzt wurde zu ideologischen und biologischen Waffen gegriffen. Alu sagte: „Ich hab eine Idee.“ Er ging mit einigen Leuten nach oben in die erste Etage und riss die Fenster auf. Wüste Beschimpfungen gingen auf die Dörfler hernieder. Aber damit nicht genug. Alu und ein paar besonders wilde Krieger knieten sich auf die Fensterbank, wobei sie von den Hintermännern gestützt wurden. Sie öffneten ihre Hosenställe und pissten den Dörflern, die inzwischen bis an die Haustür herangekommen waren, auf die Köpfe. Die stoben augenblicklich auseinander. Daraufhin gaben auch sie Kanonaden an Beschimpfungen ab. Zumindest hatten wir es damit geschafft, sie auf Abstand zu halten, denn keiner von denen riskierte es nochmal, vollgepisst zu werden. Wir Punks hatten zu keinem Zeitpunkt vor, das Feld zu räumen. Im Laufe des Abends entspannte sich die Lage. Den Dörflern wurde es scheinbar zu langweilig oder zu kalt. Jedenfalls verschwanden sie nach und nach. Wir feierten die ganze Nacht durch. Alu schickte seine Mutter irgendwann ins Bett. Der Alkohol hatte ihr mächtig zugesetzt.

Er selbst ging noch in die Schule und seine Jugendweihe stand bevor. Er sagte, dass er da nicht hingehen wolle, weil’s ne Spießerveranstaltung sei und er nichts zum Anziehen hätte. Wir besorgten ihm daraufhin ein paar Klamotten, die wir für diesen Anlass angemessen fanden. Auch eine schwarze Perücke, damit man den Iro nicht sah. Wir machten eine Anprobe mit ihm. Er sah damit wie ein völlig anderer Mensch aus. Alle fanden’s gut, nur Alu nicht. Dennoch versprach er uns, dort hinzugehen. Die Woche bis zur Jugendweihe sahen wir Alu nicht. Vielleicht ist er ausnahmsweise mal in die Schule gegangen. Wir hatten für das Wochenende mal wieder eine Party bei mir im Garten geplant. Feuerholz war genug da, Getränke musste jeder selbst mitbringen. Einladungen brauchte man nicht verschicken. So was sprach sich sehr schnell rum. Ganz ohne Telefone und Handys. Schon am Nachmittag war der Garten voll mit Leuten, das Feuer loderte und die Flaschen kreisten. Zu lauter Punkmusik wurde ums Feuer gehüpft. Wir malten uns aus, wie Alu zur gleichen Zeit seine Jugendweihe in der von uns zusammengestellten Verkleidung feierte. Gegen Abend jedoch tauchte er auf. „Was ist passiert?“, fragten wir. „Ich bin nicht hingegangen, scheiß drauf“, antwortete er.

Alu ging nicht mehr in die Schule und hing stattdessen die meiste Zeit mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten ab. Es dauerte nicht lange und er war in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt. Kurz darauf wurde er das erste Mal verhaftet. Aufgrund seines Alters kam er aber nicht ins Gefängnis, sondern in den Jugendwerkhof. So ein Aufenthalt dauerte in der Regel 6 Wochen. Als er wieder rauskam, schlüpfte er sofort in seine Punkklamotten, ließ sich einen Iro schneiden und färbte ihn bunt.

In die Schule brauchte er nicht mehr, die wollten ihn auch gar nicht mehr haben. Stattdessen sollte er eine Lehre beginnen. Aber auch dazu verspürte er wenig Lust. Er hing lieber mit uns oder seinen kuriosen Freunden rum.Seine Zeit verbrachte er hauptsächlich in irgendwelchen Kneipen. Das Haus auf dem Dorf, in dem seine Mutter und er wohnten, wurde abgerissen und sie zogen in eine Bruchbude in der Altstadt. Sein Bruder Paul hatte sich längst bei einer seiner Freundinnen einquartiert. Als Alu mich eines Nachts im Winter mit zu sich nach Hause nahm, stellte ich fest, dass sie überhaupt keine Heizung hatten. In seinem Zimmer stand zwar ein Ofen, der war aber nicht angeschlossen. Es war auch kein Loch für das Ofenrohr im Schornstein. Nachdem ich mir buchstäblich in dieser Nacht den Arsch abgefroren habe, fuhr ich am nächsten Tag nach Hause und holte mein Werkzeug. Mit Hammer und Meißel stemmte ich ein Loch in den Schornstein und schloss den Ofen an. Mit etwas Mörtel befestigte ich das Ofenrohr im Schornstein. Ich sah auch gleich in den anderen Zimmern nach den Öfen, sodass danach alle funktionstüchtig waren. Natürlich wollte ich gleich testen, ob alles funktioniert, aber Brennmaterial, Fehlanzeige. Von da ab musste jeder, der zu Alu kam, Holz oder Kohlen mitbringen. Oft zogen alle nachts los zum Kohlenhof mit Zinkwannen und Einkaufsbeuteln und es wurden Kohlen gestohlen.

Es war wieder 1. Mai. Natürlich feierten auch wir den Tag der Arbeit gebührend. Nachdem wir erfolgreich der alljährlichen „Demonstration der Werktätigen“ und allen Polizeikontrollen ausgewichen waren, machten wir uns auf zur großen Abendveranstaltung. Am Einlass des Festplatzes standen Howy und Werner als Einlasser. Zwei altbekannte Türsteher aus einer Disco, in der wir fast jede Woche verkehrten. Howy hörte man schon, bevor man ihn sah, er schrie praktisch immer. Trotz seines Glasauges hatte er alles im Blick. Seine Präsenz ließ für niemanden auch nur die kleinste Frage offen. Er sparte auch nie mit Komplimenten, wenn er jemanden durchließ.

Als er uns sah, ließ er es sich natürlich nicht nehmen, uns zu sagen, wie scheiße wir heute wieder aussahen. Das taten wir mit einem Lächeln ab. Wir kannten es nicht anders. Obwohl man bei ihm nie wusste, wie man dran war. Ich erinnerte mich dann immer an eine frühere Begebenheit, von der ich wusste, dass er eigentlich ein lieber Kerl war. Damals fuhr ich mal aus Langeweile zu Pfingsten nach Erfurt. Dort fand zu dieser Zeit ein Treffen der FDJ (Freie Deutsche Jugend) statt. Schon kurz nach meiner Ankunft dort traf ich in der Erfurter Innenstadt auf die gesamte Ordnungsgruppe des Klubhauses. In FDJ-Hemden. Wir freuten uns alle, uns dort zu sehen, und ich bekam sofort eines der zahlreichen Biere, die auf ihrem Tisch standen, gereicht. Obwohl ich nichts mit dieser Veranstaltung zu tun hatte und schon rein optisch da gar nicht reinpasste. Mit meinem Bier in der Hand blieb ich stehen und markige Sprüche wurden ausgetauscht. Es dauerte nicht lange, da standen drei Typen vor mir und machten mich an. Auch sie trugen FDJ-Hemden. „Verpiss dich, du Punkerschwein, sonst gibt’s was auf die Fresse“, bekam ich zu hören. Bevor ich noch reagieren konnte, schnellte Howy von seinem Stuhl hoch, packte mich am Kragen meiner Lederjacke und zerrte mich auf den Stuhl neben ihm. „Der gehört zu uns; wenn ihr Ärger wollt, dann kriegt ihr es mit mir zu tun. Und jetzt haut ab, bevor ich Backenplatten verteile.“ Sichtlich verwirrt wegen des unerwarteten neuen Gegners verpissten sich die drei Vögel tatsächlich. Den Rest des Tages feierte ich dann zusammen mit der Ordnungsgruppe.

„3,50 M kostet es heute“, schrie Howy. „Wer das nicht hat, kann gleich wieder zu Mutti nach Hause gehen. Ende der Durchsage.“ Wir kratzten das Geld zusammen und Alu wollte es Howy geben. „Doch nicht mir, du Streifenhorn“, brüllteer ihn an, „gib das der Kassiererin.“ Ohne weitere Aufforderung gab Alu der Kassiererin das Eintrittsgeld für uns alle. „Alle Punker durch, aber plötzlich,“ rief Howy. Sein Glasauge starrte dabei bedrohlich geradeaus, während dich das andere genau im Blick hatte. Stumm trotteten wir am Einlass vorbei aufs Gelände. Es spielten bereits einige Bands und Solisten. Eine gewisse Inka sollte Hauptact des Abends sein. Heute verkuppelt diese Inka bei RTL frauenlose Bauern mit herrenlosen Frauen, die gerne mal ins Fernsehen wollen und sich nicht davor scheuen, Kuhställe auszumisten und Schweine zu füttern.

Unser Pulk schloss sich auf dem Festgelände sofort mit den Metallern zusammen. Die Begrüßung war freudig, wie üblich. Es wurde ausgiebig getrunken und Gespräche mit Manne, Johnny, Zwecke, Klapperschlange oder Fehni waren immer lustig. Johnny kam zu mir und fragte mich, ob ich die neue Dimple Minds schon kennen würde. Ich verneinte. Sofort begann er mir eine Gesangsprobe darzubieten, von der ich aber aufgrund der Lautstärke der spielenden Band erstmal nur Fetzen verstand. Als er mitbekam, dass ich seine Gesangsprobe nicht verstand, kam er ganz nah an mein Ohr und sang nochmal. „Rostiges Metall rutscht in den Darm, wenn die Nonnen ohne Sattel Fahrrad fahrn.“ In diesem Moment beugte sich Klapperschlange über uns, zischte bedrohlich und klapperte dazu mit den Zähnen. Das war sein Markenzeichen. Klapperschlange hieß Klapperschlange, weil er das Geräusch einer Klapperschlange täuschend echt imitieren konnte. Dies gelang ihm nach eigenen Angaben, weil er nur noch 13 1/2 Zähne besaß. Zahnärzte waren nie sein Ding.

Der Hauptact des Abends war an der Reihe und Inka fing an zu singen. Spielverderber, Spielverderber … Wir bahnten uns den Weg vor zur Bühne. Das wollten wir uns genauer ansehen. Inka war ungefähr in unserem Alter und sah auch ziemlich gut aus. So kam es, dass sämtliche Punks vor der Bühne standen und wie hypnotisiert zu ihr schauten. Es war nicht unsere Musik, aber die Sängerin gefiel uns schon. Alu sah sie an und grinste dabei von einem Ohr zum anderen; nach einer Weile Dauergrinsen versuchte er die Bühne zu entern. Einige Ordner sprangen herbei und verhinderten dies. Nach der zweiten Zugabe versuchte Alu erneut sein Glück und diesmal gelang es ihm. Er verschwand hinter der Bühne und kam nach einiger Zeit wieder zum Vorschein, grinsend und mit einer Autogrammkarte in der Hand. So euphorisch hatte ich ihn noch nie gesehen.

In der danach folgenden Zeit verstrickte sich Alu immer mehr in kriminelle Aktionen. Ihm war alles scheißegal. Eine Ausbildung gemacht oder gearbeitet hat er meines Erachtens nie. Er fuhr stattdessen noch mehrfach in den sogenannten Jugendwerkhof ein und später dann in den Knast. Oft wurde er gesucht und es kam nicht selten vor, dass er bei einer vorbeifahrenden Polizeistreife plötzlich in ein Gebüsch sprang. Alu wurde irgendwann, wenn er nicht gerade irgendwo einsaß, immer gesucht. Der Kontakt zu ihm wurde stetig geringer. Irgendwann riss er ganz ab. Ich hörte später, dass er in die rechte Szene abgeglitten wäre. So wirklich habe ich das nie geglaubt, da er mit Politik nichts am Hut hatte. Er war nur ein Ganove.

Später, viel später traf ich ihn vor einer Disco. Er lehnte mit zwei Mädels an der Motorhaube eines Autos, ne Flasche Schnaps in der Hand. Als er mich sah, lud er mich sofort ein. „Nimm erstmal nen Schluck Weinbrand.“ Der Gedanke allein erzeugte bei mir schon einen Würgereiz. Weinbrand hatte ich nie wieder angerührt.

Ich nahm einen Schluck aus der Pulle. Uuuuuahhh, ekelhaft. Alu schien zu sehen, dass der Weinbrand nicht mehr mein Fall war. „Wie wär’s mit den beiden Mädels hier? Die kannst du mitnehmen, wenn du willst.“ Die beiden zwinkerten mir zu, als wollten sie mir sagen, dass sie damit einverstanden wären. Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche und lehnte dann dankend ab. „Du verpasst was“, rief Alu. „Die beiden sind echt heiß.“ „Kann sein, aber ich muss jetzt erst mal weiter“, antwortete ich und verabschiedete mich.

Sehr viel später, ich parkte gerade mein Auto am Straßenrand, schloss es und schickte mich anzugehen, da rief eine Stimme meinen Namen. Ich drehte mich um, niemand war zu sehen. „Ich bin’s, Alu.“ Ich sah immer noch niemanden. Er trat aus einem Gebüsch und sagte, dass er gesucht werde und sich deshalb verstecken müsse.

Es war das letzte Mal, dass ich Alu sah. Es schien sich nichts geändert zu haben.

Bären und Panzer

Banane sprach mich an, ob ich mir vorstellen könnte, zukünftig im sozialen Bereich zu arbeiten. Ich war seit Längerem arbeitslos und hatte in der Zeit schon die eigenartigsten Jobs gemacht. Kurz überlegte ich. „Hmm, um was handelt es sich denn und was muss ich machen?“, fragte ich. „Da ist gerade ne Stelle als Streetworker frei und du scheinst mir prädestiniert zu sein für diesen Job“, antwortete Banane. Ich sagte: „Okay, das klingt interessant. Ich mach es.“ Weil ich eh vorhatte, mich umzuorientieren, kam mir dieses Angebot ganz gelegen. Arbeitslos wollte ich auch nicht ewig sein. So wurde ich für eine Weile zum Streetworker.

Ein paar Jahre später fuhren wir im Zuge eines Jugendaustausches in die Slowakei. Da unsere Klientel sich aus eher schwierigen Jugendlichen zusammensetzte, deren Familien wenig Geld hatten, fanden wir so gut wie niemanden, der da mitwollte. Schon gar nicht Anfang März mit der Aussicht auf Wanderungen bei meterhohem Schnee und klirrender Kälte. Ganze zwei Jugendliche erklärten sich bereit mitzukommen. Seppel, ein immer adrett gekleideter junger Mann, der aber irgendwie nichts so wirklich auf die Reihe bekam, sich seine Situation aber immer wieder schönredete. Seiner Meinung nach war seine derzeitige Situation eine Verkettung unvorhersehbarer Hindernisse. Quasi eine Art von höherer Gewalt. Er schmückte sein Scheitern mit so viel trockenem Wortwitz aus, dass man es ihm fast glauben wollte. Schon aus Mitgefühl. Nein, an ihm konnte es wirklich nicht liegen. Nichtsdestotrotz ein äußerst sympathischer Kerl. Der zweite Jugendliche war Assel. Ein Punk der schlimmsten Sorte. Eigentlich mutierte er gerade zum Skinhead. Aber dafür war er definitiv nicht smart genug. Er war schon mehrfach im Knast gesessen, hatte jedoch immer wieder aufs Neue eine Chance bekommen, sein Leben in den Griff zu kriegen. Assel dachte jedoch nicht daran, etwas zu ändern, und frönte so gut es ging dem Assidasein. „Nichts ist wichtig, Biertrinken ist wichtig“, widersprach er sich regelmäßig lautstark selbst. Wir hatten zwei Jugendliche mit, deren Charaktere nicht unterschiedlicher sein konnten. Das konnte heiter werden.

Aus Mangel an Teilnehmern nahmen wir dann noch meine damalige Freundin Suzy mit. Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange zusammen und so hatten wir Gelegenheit, gleich mal so eine Art Urlaub miteinander zu verbringen.

Als Betreuer fuhren Banane, Schorsch und ich mit. Schorsch leitete das Streetwork-Projekt. Er war ein begnadeter Gitarrist, der sein Leben dem Blues verschrieben hatte. Allerdings nicht ganz. Er betrieb eine Nebentätigkeit, bei der er als Alleinunterhalter bei jeglicher Art von Festen auftrat. Dort spielte er aber vorwiegend Schlager. Auch englische Lieder befanden sich in seinem Repertoire, obwohl er kein Wort Englisch sprach. Das fand ich besonders amüsant. Schorsch war ein echter Kumpeltyp. Eigentlich hieß er Gerald, aber so nannte ihn nicht mal seine Frau.

Mit ihm kam man einfach klar. Seine äußere Erscheinung ließ schnell auf einen Menschen schließen, der nicht unbedingt der gewöhnlichen Norm entsprach. Lange grauweiße Haare, fast immer schwarz gekleidet, langen Mantel und nen alten Mercedes Kombi unterm Arsch. Natürlich Automatik. Seine größte Gabe bestand jedoch darin, Menschen, die in Schwierigkeiten steckten, aus dem Gefängnis zu holen und sie auf ihrem Weg ins alltägliche Leben zu begleiten.

Banane war ein Zwei-Meter-Typ, mal Glatze, mal lange Haare, die auch mal zu Rastazöpfen wurden. Ganz wie bei seinem Vorbild Bob Marley. Ein massiger Typ mit Schilddrüsenunterfunktion. Ich erinnere mich noch genau an eine Geburtstagsfeier bei ihm. Nach ungefähr 20 Minuten hatten sämtliche Gäste ihre Jacken wieder an. Es herrschten 15 Grad in seiner Bude, im Winter. Er im ärmellosen Shirt. Gefroren hat er auch nie. Wir fuhren zu einigen Festivals, wobei ihn die Bands, die da spielten, herzlich wenig interessierten. Darunter auch das Force Attack an der Ostsee, ein Punkfestival derbster Kajüte. Er zog kuriose Typen magisch an, sodass er den gesamten Zeitraum eines Festivals in Gesellschaft vor seinem Bus saß. Jeder, der vorbeikam, kriegte einen Spruch verpasst, an Sarkasmus mangelte es ihm nicht. Er schien auch nie zu schlafen, denn egal wann wir vorbeiliefen, er saß immer in seinem Stuhl. Früh am Morgen, wenn alle noch schliefen und die Toiletten leer gepumpt wurden, schrie er laut: „Aufstehen, es kommt frische Scheiße.“

Bei sich anbietenden Gelegenheiten gab er oft den Frauenversteher. Das wiederum kam aber bei deren Männern so gar nicht gut an. Zu gerne legte er sich auch mit Kommunalpolitikern an. Schriftlich wohlgemerkt. Da genügte ein Strafzettel oder ein seiner Meinung unrechtmäßiges Parkticket und schon begann er einen Kleinkrieg gegen alle Beteiligten und Unbeteiligten. Im Alltag bewegte er sich wahlweise auf einer Schwalbe oder mit seinem himmelblauen T4 VW Bus fort, an dem prinzipiell immer was zu machen war. Beruflich leitete er einen Jugendklub.

So viel zu unserer Besetzung. Sie versprach sowohl von den Jugendlichen als auch den Betreuern spannend zu werden.

Die Fahrt verlief dementsprechend lustig, als auch anstrengend. Nach einigen Fahrerwechseln erklärte ich mich bereit, den Rest der Strecke zu fahren. Das war gleichzeitig dann auch das Startsignal für Banane und Schorsch, sich die Fahrt etwas zu versüßen und eine Flasche Wein zu öffnen. Assel und Suzy tranken ja schon länger Bier. Seppel mimte den Vernünftigen, trank nichts und meckerte ständig über irgendwas. Mal hatte er einen Schluck Bier von Assel auf seine nagelneue Hose bekommen oder die geschmierten Brote schmeckten ihm nicht. Er bedauerte sich selbst, die Fahrt mitzumachen, und er wusste nicht, worauf er sich eingelassen hatte. Wenn er dann mal nicht meckerte, musste er dringend pinkeln. Assel machte sich ständig über ihn lustig. „Was bist du eigentlich für ein Weichei?“, fragte er Seppel. Ich beobachtete das Geschehen auf der letzten Bankreihe im Rückspiegel. Es war zu komisch. Eine Sitzreihe davor saßen Schorsch und Banane. Die erste Flasche Wein hatten sie schnell geleert und verlangten nach einer neuen. Die befand sich aber im Kofferraum des Busses. Also sagten sie zu Seppel, dass er ihnen mal die nächste Flasche reichen sollte. Dazu musste dieser sich jedoch erst mal abschnallen. Was scheinbar einen großen Aufwand für ihn bedeutete, vom Sicherheitsrisiko ganz zu schweigen. Assel rollte mit den Augen. „Jetzt hab dich nicht so und hol die Flasche Wein“, blaffte er Seppel an. Widerwillig gehorchte Seppel, beugte sich über die Lehne, griff nach der Flasche und reichte sie weiter. „Ey, hast du keinen Punkrock in deinem Scheiß-Radio?“, rief Assel lautstark nach vorn. „Nein“, antwortete ich. „Was is’n das für ne scheiß Tour, ohne Punkrock“, fügte Assel hinzu. „Musst du halt selbst singen“, entgegnete ich und lachte, ohne mir bewusst zu sein, was ich mit dieser Aussage anrichtete. Denn ab da gab Assel immer mal wieder Textpassagen irgendwelcher Punksongs zum Besten. Da er dem sogenannten Saufpunk frönte, waren die nicht immer ganz, naja, sagen wir mal, jugendfrei. Was wiederum Schorsch und Banane zu heftigen Lachern veranlasste. Für sie waren die Reime, die ihnen da entgegengepfeffert wurden, neu. Bei Suzy und mir brachten sie höchstens ein Schmunzeln hervor und Seppel war jetzt richtig angepisst und bat wie üblich um eine Pinkelpause. Erstaunlich, da er von dieser Besatzung am wenigsten trank.

Nach unzähligen Pinkelpausen kamen wir an der tschechisch-slowakischen Grenze an. Schorsch und Banane hatten alle Weinvorräte ausgetrunken, sogar noch eine Kiste Wein, die eigentlich als Gastgeschenk geplant war. Außer Seppel schliefen inzwischen alle Fahrgäste. Jetzt erwachten sie so nach und nach. Der tschechische Grenzposten verlangte die Papiere von allen. Ein wildes Gewusel begann. Seppel beschwerte sich bei mir über die fehlende Organisation und darüber, dass das ja jetzt wieder ewig dauere. Ich beachtete ihn nicht, sammelte die Ausweise von allen ein und übergab sie dem Soldaten. Er sprach Tschechisch mit mir, was ich in keiner Weise erwidern konnte. Er deutete an, dass wir aussteigen sollten. Beim Aussteigen kullerten die leeren Weinflaschen hinaus und zerbrachen mit lautem Klirren. „ACAB, ihr Fucker“, rief Assel den Grenzsoldaten zu, woraufhin auch unser Kofferraum durchsucht wurde. Ich packte Assel am Arm. „Du hältst jetzt deine Fresse“, sagte ich in scharfem Ton zu ihm. Er lamentierte weiter und fuchtelte mit den Armen herum. Faselte etwas von Scheiß-Bullen. „Schnauze jetzt“, entfuhr es mir. Dann hielt er seinen Mund. Seppel, der das mitbekam, sagte: „Komm, lass uns zurückfahren, das hat doch keinen Zweck, wir werden sicher gleich verhaftet.“ Ich sah ihn an und sagte: „Für dich gilt genau dasselbe, du hältst jetzt deinen Mund.“ Ich wandte mich wieder den Grenzposten zu, die immer noch unsere Ausweise kontrollierten.

In einer Mischung aus Deutsch und Englisch verklickerte ich ihnen unser Vorhaben. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie es schnallten und uns weiterfahren ließen. Kurze Zeit später waren wir am slowakischen Grenzposten. Diese schienen allerdings wenig Interesse an unserer Reisegruppe zu haben. Schon nach kurzer Einsicht in unsere Ausweise durften wir unsere Fahrt fortsetzen.

Nach dieser Aktion war die Entnervung im Bus groß. Wilde Diskussionen kamen auf. Banane meinte: „Das gibt’s nur im Ostblock. Scheiß Kommunistenschweine.“ Assel wiederholte sein ACAB. Schorsch meinte, dass es andere Gründe hatte, sagte aber nicht, welche das sein konnten, und Suzy sagte nur: „Was für ne Aufregung, jetzt brauch ich erst mal ein Bier.“ Seppel sagte, er müsse dringend pinkeln. Womit er dieses Mal breite Zustimmung hatte. Jeder von uns musste mal.

Also suchte ich nach der nächsten Gelegenheit, um anzuhalten. Es war Nacht; ich merkte trotzdem, dass wir uns in sehr starkem Nebel befanden. So stark, dass man wirklich nur ein paar Meter sehen konnte. Wir hielten an einem Feldweg abseits der Landstraße an. Alle verschwanden zum Pinkeln. Danach wurde geraucht, was das Zeug hielt. Durch die Kälte und den Nebel hatte man das Gefühl, den Rauch der Zigaretten noch viel intensiver zu sehen. Somit befanden wir uns in jenem Augenblick in einer riesigen Qualmwolke. Nachdem alle wieder eingestiegen waren und ich einen Blick auf die Karte geworfen hatte, fuhren wir weiter. Ich sah so gut wie nichts und konnte nur ganz langsam fahren. Die Straßen wurden immer enger und schlechter. Es rumpelte und plötzlich sah ich ein Schild. Ceska republika. „Scheiße“, rief ich, „wir sind wieder in Tschechien.“ „Na prima“, schlug Seppel die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich habe doch gesagt, wir sollen wieder nach Hause fahren.“ Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. „Halt die Klappe“, ermahnte ich. Assel bog sich weg vor Lachen, ihm schien es egal zu sein. Er sang fröhlich: „Mein Glied ist zu groß von den Kassierern.“ Suzy meinte: „Fahr doch mal rechts ran und guck auf die Karte.“ Banane sagte: „Doppelt hält besser.“ Und Schorsch fragte nur: „Wie haste das jetzt hingekriegt?“

Ich fuhr weiter. Was blieb mir anderes übrig. Wir kämpften uns durch den Nebel und standen plötzlich genau da, wo wir vor einiger Zeit schon mal gestanden hatten. Am Grenzübergang zur Slowakei. Es war genau dieser Übergang, an dem wir so akribisch kontrolliert worden waren.

Und wieder standen wir am Check Point. Die Soldaten sahen uns erstaunt an. Ich versuchte mir vorzustellen, was jetzt in ihren Köpfen vorging. Im Bus brach allgemeines Gelächter los.

Ich öffnete das Fenster meiner Autotür und versuchte dem Grenzposten zu erklären, was passiert war. Nach kurzer Zeit der Missverständnisse ließ er uns passieren. Er hatte offensichtlich die Nase voll von uns oder sein Déjà-vu noch nicht überwunden.

Die restliche Fahrt lief problemlos, wenn man mal von Seppels Gemeckere und den unzähligen Pinkelpausen absah. Es war bereits tiefe Nacht, als wir in Krupina ankamen. Eine herzliche Begrüßung blieb aus, da alle schon schliefen. Es lag tatsächlich sehr viel Schnee und das Thermometer zeigte -12 Grad. Ein Typ im Survival Outfit wies uns dann unsere Zimmer zu. Er meinte noch in gebrochenem Deutsch, morgen gehe es weiter. Uns war das egal in diesem Moment, wir wollten einfach nur schlafen. Wir bezogen unsere Zimmer und schliefen auch bald ein.

Am nächsten Morgen bekamen wir ein üppiges Frühstück serviert und die offizielle Begrüßung fand statt. Die Slowaken bestanden aus 20 Jugendlichen und 4 Betreuern. Dazu kamen ein Busfahrer und ein Bergführer, der mir von Anfang an suspekt erschien. Am 1. Tag stand eine Fahrt nach Bratislava auf dem Plan, mit Stadtführung. Auf der Fahrt machten wir uns allmählich mit den Jugendlichen bekannt. Die meisten von ihnen konnten hervorragend Deutsch und Englisch, sodass es so gut wie keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Wir lernten Bratislava kennen und bekamen die Sehenswürdigkeiten der Stadt präsentiert. Nach einem ausgiebigen Essen ging es wieder zurück zu unserer Unterkunft. Am Abend kam der Bergführer zu uns mit einer Flasche selbst gebranntem Sliwowitz. Er konnte, im Gegensatz zu den Jugendlichen, kein einziges Wort Deutsch. Bei dem Ausflug nach Bratislava war er nicht mit gewesen und wir sahen ihn an diesem Tag das erste Mal. Eine Betreuerin erzählte uns, dass er sehr zurückgezogen lebe und sich ausschließlich in der Natur aufhalte. In seinem früheren Leben soll er ein hoher Parteifunktionär und strammer Kommunist gewesen sein, was sich wohl mit der Öffnung der Grenzen schlagartig geändert hatte.

Er drehte den Verschluss seiner Flasche auf und füllte eine Reihe Gläser bis zum Rand. Danach schob er jedem von uns eins davon vor die Nase. Wir stießen an, es schwappte aus den Gläsern. Als ich das Glas austrank, verspürte ich förmlich, wo das Zeug langlief. Den anderen schien es genauso zu gehen. Assel stieß ein lautes Knurren aus und Seppel ließ Würgegeräusche verlauten. Suzy standen Tränen in den Augen und sie bog sich zur Seite: „Baaah.“ „Junge, Junge“, sagte Schorsch, „der hat’s aber in sich.“ Banane merkte an, dass man damit sicherlich auch ein Auto betanken könne. Der Bergführer grinste verschmitzt und sagte irgendwas. Vera, die Leiterin der Gruppe, übersetzte, es wäre noch der Schnaps vom letzten Jahr, der nicht ganz so stark ausgefallen war und deshalb wegmüsse. Ich sah ihn mit großen Augen an. „Na, da möchte ich nicht den anderen probieren.“ Der Bergführer schenkte schon die nächste Runde ein. Mir war klar, dass ich nach diesem Gesöff frühzeitig schlafen gehen würde, dennoch trank ich weiter mit. Einige andere in der Runde hatten sich gleich nach dem ersten Schnaps verabschiedet. Es ging den ganzen Abend so weiter, bis ich nicht mehr konnte. Ob ich noch laufen konnte, war in diesem Moment eine wirklich spannende Frage. Jedenfalls ließ ich mir nichts anmerken. Der Bergführer trank kontinuierlich seinen Schnaps. Ihm war nicht das Geringste anzumerken. Die Gespräche mit ihm liefen ohnehin sehr einseitig. Fragen zu seiner Person beantwortete er nicht oder tat so, als hätte er sie nicht verstanden.

Irgendwann, als es wirklich nicht mehr ging, stand ich auf und sagte, dass ich jetzt schlafen gehe. Suzy sah mich an und sagte, sie komme mit. Ich war selbst gespannt, ob ich jetzt laufen konnte. Es waren immerhin etliche von diesen Schnäpsen. Die Flasche war jedenfalls leer.

Der erste Schritt war schon ein Wagnis. Der Stuhl flog weg und ich versuchte, Haltung zu bewahren. Sagen konnte ich nicht mehr viel. Ein „Gute Nacht, bis morgen“ musste reichen. Suzy stützte mich und wir gingen in unser Zimmer, wo ich ziemlich schnell einschlief.

Sehr früh am Morgen wurden wir geweckt. Ich war noch völlig zerstört. Suzy dagegen schien fit zu sein und hörte nicht auf, mich aus dem Bett zu kriegen.

Wir frühstückten und packten danach unsere Sachen. Der Reisebus stand schon mit laufendem Motor vor der Tür. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle im Bus saßen und das Gepäck verstaut war. Aber dann ging es los. Durch verschneite Dörfer und steile Bergpässe fuhren wir mehr und mehr in eine entlegene Gegend. Nur noch selten passierten wir eine Ortschaft. „Oh, man ey, das kann ja heiter werden. Wir scheinen hier in der absoluten Walachei zu sein“, sagte ich zu Suzy. Ich hörte Assel, der ganz hinten saß, singen. „Schnee Schnee Schnee, tut uns allen weh, von der Schnauze bis zum Zeh.“ Otze (Sänger von SK) hätte seine helle Freude gehabt an der Textkreation. (Originaltext Schleimkeim: Spion im Café, wenn ich so was seh, tut mir alles weh, von der Schnauze bis zum Zeh.)

Irgendwann war dann nur noch die Fahrspur vom Schnee geräumt und wir standen vor einem großen Holzhaus. Das war unsere Unterkunft für die nächsten Tage. Vera sagte: „Willkommen in der niederen Tatra. Hier liegt bis tief in den Frühling hoher Schnee.“

Es war ein ziemliches Getümmel, bis alle aus dem Bus gestiegen waren. Seppel fragte, was wir hier wollten, und er fügte noch hinzu, dass er keine Skiausrüstung dabeihätte. Assel wollte lediglich aufs Klo. „Wir beziehen jetzt erst mal unsere Zimmer und dann sehen wir weiter“, erklärte ich ihnen.

Nachdem wir unsere Reisegruppe in die einzelnen Zimmer verteilt hatten, bezogen auch Suzy und ich eines der Zimmer. Es war sehr eng. Das Bett passte gerade so rein. Das Bad war mit allem Notwendigen ausgestattet. Aber mehr auch nicht. Insgesamt sehr retro 80er-Jahre-Stil.

Von nun an wanderten wir jeden Tag. Es war nicht einfach, unsere beiden Experten jeden Tag wieder neu zu motivieren. Letztendlich ließ auch die dafür notwendige Bekleidung mächtig zu wünschen übrig. Aber nicht nur bei Assel und Seppel waren diesbezüglich einige Schwachstellen zu erkennen. Die beiden hatten wenigstens noch entsprechendes Schuhwerk an. Schorsch hingegen hatte normale flache Straßenschuhe an. Mit seinem langen schwarzen Mantel wirkte er eher, als ob er auf einer Shoppingmeile flanieren wollte. Aber er hatte nichts anderes mit und musste jetzt wohl oder übel so wandern gehen. Wir erkundeten die ganze Gegend um Banska Bystrica. Es ist eine sehr schöne Gegend, perfekt geeignet für Wintersportaktivitäten aller Art. Laut Ausführungen unseres Bergführers sei die Natur, im Gegensatz zu anderen Gegenden in der Slowakei, hier noch sehr ursprünglich. Auch der Tourismus halte sich in Grenzen, da die meisten Menschen eher nach Österreich in den Skiurlaub fahren. Deshalb sei auch die Tierwelt hier stark vertreten und man könne, mit etwas Ruhe und seiner Führung, auf seltene Tierarten, wie zum Beispiel den Luchs, treffen. Auch Bären seien hier keine Seltenheit.

So verlief die Zeit unseres Aufenthaltes sehr abwechslungsreich. Auch ein Besuch der Stadt erwies sich als schön. Abends war Disco angesagt. Es begann harmlos mit ein paar Trinkspielen und wir hielten uns mit dem Alkohol zurück, schließlich hatten wir ja eine Vorbildfunktion. Doch mit fortgeschrittener Uhrzeit rückte dieser Aspekt mehr und mehr in den Hintergrund. Alle tanzten. Als es etwas punkiger wurde, pogten Assel und ich zu ein paar Liedern. Mainstreamgemäßer Pop Punk von Green Day und Offspring. Immerhin. Nach „Lords of the Boards“ von den Guano Apes brauchte ich dringend ne Pause. Es war irre heiß. Assel und ich hatten während des Songs die Tanzfläche leergeräumt und auch die angrenzenden Tische und Stühle wurden derb in Mitleidenschaft gezogen. Danach wurde die Musik wieder poppiger. Ich sah Banane auf der Tanzfläche. Auf dem Rücken und auch vor sich hatten sich zwei junge Mädchen festgeklammert. Er drehte sich wild zur Musik und erinnerte in dieser Pose an einen Tanzbären. Der Schweiß lief ihm von seinem dauergrinsenden Gesicht herunter. Völlig außer Puste ließ er sich danach auf einem Stuhl nieder und trank ein großes Bier auf ex. Schorsch beobachtete die ganze Sache und sagte: „Na, mal sehen, ob Banane morgen fit ist.“

Am nächsten Tag, zum Abschluss unserer Reise, stand eine große Bergwanderung auf dem Plan, die bis in den Abend dauern würde und bei der wir ausreichend Verpflegung und Ausrüstung mitnehmen sollten. Wir achteten darauf, dass alle halbwegs zweckmäßig angezogen waren und genug Proviant und Getränke dabeihatten. Beim Frühstück fiel uns auf, dass der Bergführer nicht an seinem gewohnten Platz saß, sein Stuhl war leer. Komisch, er war sonst immer der Erste und lange vor allen munter. Er machte jeden Morgen eine Wanderung. Von der schien er heute noch nicht zurück zu sein. Kurz bevor wir vom Frühstück aufstehen wollten, ging ein Raunen durch den Raum und alle sahen zur Eingangstür. Der Bergführer kam herein. Mehrere rote Streifen zierten sein Gesicht und Blut lief herunter. Seine Haare standen wild ab. Er sah mächtig lädiert aus. Nachdem er kurz mit den Slowaken sprach und die Jugendlichen danach sehr aufgeregt waren, wurden auch wir neugierig und fragten nach, was passiert war. Bereitwillig gab man uns Auskunft. Der Bergführer hatte wie jeden Tag seine morgendliche Wanderung gemacht. Dieses Mal wollte er einen Teil der Strecke ablaufen, die wir heute wandern wollten. Dabei sei er von einem Bären angefallen worden und einen Abhang heruntergestürzt. Der Bär sei aber später geflüchtet und außer ein paar Kratzern sei dem Bergführer nichts passiert, sodass er die geplante Wanderung führen könne.

Etwas unschlüssig sahen wir uns an. In diesem Moment hatte keiner von uns mehr Lust auf die Wanderung. Wer will schon in freier Wildbahn Bekanntschaft mit einem Bären machen. Wie man unschwer am Gesicht des Bergführers erkennen konnte, will so ein Bär auch nicht nur spielen.

Nach kurzer Diskussion kam man zum Schluss, die Wanderung trotzdem zu machen. Es ging dann auch bald los und unsere Gruppe setzte sich in Bewegung.

Schnell ging es aus dem Ort heraus und wir kamen in waldreiche Gefilde. Uns war nicht wohl zumute, hinter jedem Geräusch im Wald wurde ein Bär vermutet.

Immer steiler wurde der Weg. Noch konnte man halbwegs laufen, doch je höher wir kamen, desto höher wurde auch der Schnee. Schon bald kamen wir nur noch langsam voran. Schorsch mit seinem langen Mantel und den Straßenschuhen versuchte in den Fußspuren der anderen zu laufen, was ihm aber nicht gelang, und weswegen er mehrmals hinflog. Je höher wir kamen, desto lichter wurde auch der Wald, bis wir ihn schließlich gänzlich hinter uns ließen. Die Landschaft wurde felsiger. Wir stapften fast knietief durch den Schnee. Gespräche fanden nur noch vereinzelt statt. Selbst Assel und Seppel waren verstummt und Banane machte schon lange keine Witze mehr. Trotz der Kälte standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Der Aufstieg verlangte uns alles ab. Im Stillen schimpfte ich auf den Bergführer, diesen Spinner. Dem schien das Ganze nichts auszumachen und er lief ganz vorne mit unvermindertem Tempo. Unsere Wandergruppe war inzwischen lang auseinandergezogen, sodass wir den Bergführer nur noch an seiner Silhouette erkannten. Selbst unsere Leute sah ich jetzt nur noch von Weitem. Der Vorteil war, dass wir, die weiter hinten liefen, eine ausgetretene Spur hatten, in der wir laufen konnten. Neben der Spur ging es fast senkrecht bergab. Wir liefen einen Bergkamm steil hinauf. An einen Bärenangriff dachte ich inzwischen nicht mehr, sondern nur noch ans Ankommen. Es muss so gegen Mittag gewesen sein. Ich hatte keine Uhr, deshalb konnte ich nur schätzen. Zwei Jugendliche kamen von hinten auf mich zugerannt. „Michail, Michail“, riefen sie und fuchtelten dabei mit den Armen in der Luft herum. Ich drehte mich um und sie deuteten mir an, zurückzukommen. Irgendwas musste passiert sein. „Your friend is sick“, sagte einer der beiden. „What happened?“, fragte ich. „I don’t know. Your friend is lying in the snow, he is not well.“ So schnell ich konnte, rannte ich zurück, an den anderen vorbei. Banane lag im Schnee, er atmete sehr schnell und weißer Schaum stand ihm vor dem Mund. Irgendjemand hatte ihn schon in eine stabile Seitenlage gebracht. Nach und nach versammelte sich die gesamte Wandergruppe um ihn und sah ihm beim Atmen zu. Schnell besprachen wir die weiteren Maßnahmen. Wir brauchten dringend einen Notarzt. Bloß – wie sollte der in das unwegsame Gelände kommen? Zwei offensichtlich äußerst sportliche Slowaken wurden auserkoren, so schnell wie möglich zurück ins Dorf zu laufen und Hilfe zu holen. Im Dauerlauf sprinteten sie los, schnell waren sie am Horizont verschwunden. Ich hoffte, dass nicht ausgerechnet jetzt dieser ominöse Bär auftauchen würde. Da hätten wir aber schlechte Karten. Die gesamte Wanderung kam ins Stocken. Bald tauchte auch der Bergführer auf, der ebenfalls zurückkam, mit ihm der Rest der Jugendlichen, die schon vorausgeeilt waren. Die Wanderung war somit im Großen und Ganzen schon beendet. Nun standen wir alle da, mitten in der Pampa. Nur Berge und Schnee umgaben uns. Wir schleiften Banane zu einem Baum, wo er sich anlehnen konnte. Immerhin war er bei Bewusstsein.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir in der Ferne ein leises Brummen vernahmen. Erst leise, wurde es zunehmend lauter. Alle sahen gespannt in eine Richtung. Vor uns kam etwas aus dem Wald geschossen. Es war ein Panzer. Ächzend und quietschend schob er sich den Berg hoch durch den Schnee. Er drehte sich zur Seite und blieb stehen. Eine Luke flog auf und die beiden Jungs sprangen heraus. Danach folgten zwei Sanitäter, die sich sofort um Banane kümmerten. Nachdem sie ihn notdürftig verarztet hatten, schnallten sie ihn auf eine Trage und luden ihn in den Panzer. Die Sanitäter sprachen noch kurz mit den slowakischen Betreuerinnen, stiegen ein und brausten in einer riesigen schwarzen Dieselwolke davon.

Für uns war der Tag gelaufen, keiner hatte mehr Lust weiterzuwandern und so machten wir uns auf den Heimweg. Umgehend wurde Verbindung zum Krankenhaus aufgenommen, in welches Banane gebracht worden war, um herauszubekommen, wie es ihm geht. Es stellte sich heraus, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging, die Behandlung jedoch per Vorkasse geschehen sollte. Da wir so viel Geld nicht dabeihatten, wurde es erst mal von unseren slowakischen Freunden vorgeschossen.

Es war der letzte Tag unserer Reise und am Abend wurde trotz Bananes Abwesenheit noch ein wenig gefeiert.

Am nächsten Tag fuhren wir wieder nach Hause. Die Heimfahrt verlief ungleich anders als die Hinfahrt. Jeder von uns war geschafft. Selbst Assel hielt seine Klappe. Diese Reise wurde so zu einem unvergesslichen Erlebnis und wenn ich später einen der Beteiligten traf, kamen wir immer schnell darauf zu sprechen, was für ein abgefahrener Trip es doch war.

Bei Anruf: Pizza

Nachdem ich ein paar Jahre im Westen der Republik verbrachte, genauer gesagt in Wuppertal, genoss ich es wieder zu Hause zu sein. Eine Arbeit war nicht in Aussicht und die Tage verliefen relativ entspannt. Sicher, Wuppertal hatte auch seine schönen Seiten, das bergische Land, Qualle und die Schwebebahn, aber zu Hause ist nun mal zu Hause.

Ich verbrachte meine Zeit damit, das Haus meiner damaligen Freundin (bzw. das ihres Vaters) etwas in Schuss zu bringen. Das gestaltete sich nicht immer ganz einfach. Peter, der Vater, hatte da seine eigenen Vorstellungen. Als wir einzogen, war die Heizung schon lange nicht mehr in Betrieb. Peter fror nicht und für den Fall, dass es doch einmal richtig kalt wurde, hatte er sich einen Ölradiator besorgt. Diese Heizgeräte waren die Speerspitze aller Elektrogeräte, die nach der Wende in den ostdeutschen Haushalten Einzug hielten.

Gefühlt verfügte zu dieser Zeit jede Wohnung über ein solches Gerät. Gleichzusetzen mit den Styropor-Stuckplatten, die plötzlich in allen erdenklichen Variationen nahezu sämtliche ostdeutschen Wohnzimmerdecken schmückten.

Peters Outfit bestand im Wesentlichen aus Hausschuhen, Jogginghosen und freiem Oberkörper. Falls es die Temperaturen erforderlich machten – und da sprechen wir von Temperaturen unter -5 Grad Celsius –, kam da noch eine Wattejacke dazu, die er sich lässig über den freien Oberkörper streifte, bevor er das Außenareal betrat.

Wir ließen trotzdem eine neue Heizung einbauen und renovierten auch das ganze Haus Stück für Stück.

Trotz dieser Beschäftigung suchte ich nach einem Job. Zumindest einem Nebenjob, um ein wenig Geld zu verdienen.

Irgendwann sprach ich mit einer Bekannten darüber. Sie sagte: „Wenn du Lust hast, kannst du meinen Job übernehmen. Ich fahre Pizza aus, fange jetzt aber eine feste Arbeit an und schaffe das zeitlich nicht mehr.“

Erfreut über das Angebot sagte ich spontan zu und bat sie, alles Erforderliche für die Übernahme in der Pizzeria zu veranlassen. Das tat sie dann auch und schon wenig später wurde ich von ihr eingearbeitet. Vorher hatte ich mir extra noch eine Baseballkappe besorgt, um auch wirklich wie ein Bote auszusehen. Mein Kumpel Manne überließ sie mir aus seinem enormen Arsenal an Kappen. „Biohazard“ prangte in dicker Schrift und mit entsprechendem Logo vorn drauf. Ich fand, das passte prima zum Essenausfahren. Dass es sich dabei um eine amerikanische Hardcoreband handelte, wussten sowieso nur Szeneleute. Ich trug sie locker über dem inzwischen wieder vorhandenen blondierten Iro.

Mein neues Dienstfahrzeug war ein Fiat Panda. Perfekt geeignet für diese Arbeit. Klein und wendig und noch genug Platz für ein paar Kisten mit Pizza. Ich arbeitete von 11.00 Uhr bis 14.30 Uhr. In der Regel nahm ich auf einer Tour drei Bestellungen mit. Pro Charge gab’s für mich 3 Mark plus Trinkgeld. Ca. 4 bis 5 Touren schaffte ich in dieser Zeit. Am Ende der Schicht gab’s noch ein Essen nach Wahl mit nach Hause, kostenlos. Richtig absahnen konnte man, wenn man abends fuhr, von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr. Da war Samstag der lukrativste Tag. Die Leute waren spendabel und geizten nicht mit Trinkgeld. Da konnte es schon mal vorkommen, dass man mit 80 bis 90 Mark nach Hause ging. Aber das machte ich nur selten. Abends hatte ich immer was vor. Geld spielte im Allgemeinen nur eine untergeordnete Rolle. Mir reichte es, dass ich jeden Tag welches in der Tasche hatte. Meine Ausgaben an sich beschränkten sich ja eh auf ein Minimum.

Da zu dieser Zeit sämtliche Straßen umbenannt wurden, war ein Stadtplan unerlässlich. Aber selbst der war nicht immer aktuell, was die Lieferung in manche Gegenden erschwerte. Navis gab es noch nicht. Generell begrüßte ich aber den Nebeneffekt dieses Jobs, da ich dadurch zwangsläufig sämtliche Straßen der Stadt kennenlernte und mich bald bestens auskannte.

Binnen kürzester Zeit lernte ich sämtliche Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Schulen, Autohäuser, Puffs und Klubs kennen. Denn eines einte sie alle. Irgendwann hatten sie Hunger, bestellten was zu essen und dann kam ich ins Spiel. Natürlich bestellten auch ganz viele Privatleute. Nicht selten öffnete sich die Haustür bei einer Bestellung und ein Bekannter oder sogar Kumpel stand plötzlich vor mir, um ne Calzone oder Pizza Hawaii in Empfang zu nehmen. Ich belieferte erste Dates von Leuten, die heute noch zusammen sind. Es kam gelegentlich vor, dass sich eine Tür öffnete und eine attraktive Frau, nur mit Handtuch bekleidet, öffnete. Einmal betrat ich, nachdem ich per Summer eingelassen wurde, den Riesenflur einer großen Villa. Langsamen Schrittes – ganz in Modelmanier – kam eine junge Frau nur mit einer Art Netzhemd bekleidet die Treppe heruntergeschritten. Anhand des Essens konnte ich erkennen, dass es für 2 Personen war. Sie kam lächelnd auf mich zu und drückte mir die Kohle in die Hand. Ich griff nach dem Wechselgeld, aber sie sagte: „Stimmt so.“ Verblüfft sah sie an, doch sie zwinkerte mir wortlos zu. Sie hatte mir 10 Mark Trinkgeld gegeben. Entschlossen drehte sie sich um und ging genau so, wie sie gekommen war, die breite Holztreppe wieder hinauf. Keinen Gedanken verschwendete sie daran, dass ich allein wieder hinausfand. Ich sah ihr nach und dachte, nicht übel. Wobei sich diese Feststellung gleichermaßen auf die Frau und das Trinkgeld bezog.

Aber das waren die Ausnahmen. Der Alltag sah ganz anders aus. Vordergründig hat man als Pizzafahrer nie Zeit und steht ständig unter Stress. Eine Bestellung sollte nach Möglichkeit schnellstmöglich und zum vereinbarten Zeitpunkt beim Kunden sein. Es gab mehrere Gegner dieses Unterfangens. Das war zum einen der Berufsverkehr und zum anderen waren es Adressen, die nach der Umbenennung noch nicht im Stadtplan standen. Es konnte aber auch sein, dass die Pizzabäcker bei einer größeren Bestellung nicht hinterherkamen. Oder ein Kunde ghostete einfach und tat, als wäre er nicht da, nachdem man bei ihm klingelte. Oder man hatte eine Bestellung in einem der umliegenden Dörfer. Das dauerte generell etwas länger. Ich fuhr Dörfer im Umkreis von 10 km an. Das ist jetzt nicht so weit, konnte aber im Berufsverkehr schon locker ne Stunde Fahrzeit bedeuten. Deshalb waren Fahrten außerhalb des Stadtgebietes unbeliebt. Zum Glück kam das selten vor.

Regelmäßiger Besteller war das Arbeitsamt und da gleich in mehreren Abteilungen. Fast täglich bestellte die Abteilung zur „Bekämpfung von Schwarzarbeit“. Bei meiner ersten Bestellung, die ich dahin ausliefern sollte, glaubte ich an einen schlechten Scherz des Personals. Denn ich führte diese Tätigkeit als waschechter Schwarzarbeiter aus. Ich war weder angemeldet, noch zahlte ich irgendwelche Steuern. Meinen Lohn bekam ich täglich auf die Hand, bzw. behielt ihn gleich ein.

Aber das Personal beruhigte mich. Keine Bange, die wollen nur was zu essen. Der Rest interessiert sie nicht.