Ich, Eleanor Oliphant - Gail Honeyman - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich, Eleanor Oliphant E-Book

Gail Honeyman

4,5
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie Eleanor Oliphant die Liebe suchte und sich selbst dabei fand

Eleanor Oliphant ist anders als andere Menschen. Eine Pizza bestellen, mit Freunden einen schönen Tag verbringen, einfach so in den Pub gehen? Für Eleanor undenkbar! Und das macht ihr Leben auf Dauer unerträglich einsam. Erst als sie sich verliebt, wagt sie sich zaghaft aus ihrem Schneckenhaus - und lernt dabei nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst noch einmal neu kennen.

Mit ihrem Debüt "Ich, Eleanor Oliphant" ist Gail Honeyman ein anrührender Roman mit einer unvergesslichen Hauptfigur gelungen. Ihre erfrischend schräge Sicht auf die Dinge zeigt uns, was im Leben wirklich zählt. Liebe. Hoffung. Ehrlichkeit. Und vor allen Dingen die Freundschaft.

"Absolut mitreißend." Jojo Moyes

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 624

Bewertungen
4,5 (96 Bewertungen)
63
15
18
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitate

Widmung

GUTE TAGE

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

SCHLECHTE TAGE

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

BESSERE TAGE

41

DANKSAGUNGEN

Über das Buch

Eleanor Oliphant ist anders als andere Menschen. Auf Äußerlichkeiten legt sie wenig Wert, erledigt seit Jahren klaglos einen einfachen Verwaltungsjob und verbringt ihre Freizeit grundsätzlich allein. Ein Leben ohne soziale Kontakte oder nennenswerte Höhepunkte – Eleanor kennt es nicht anders. Doch das ändert sich schlagartig, als Eleanor sich verliebt. Veränderungen müssen her! Nur wie? Der neue Kollege Raymond erweist sich als unerwartete Hilfe … und plötzlich findet sich Eleanor mittendrin im Leben.

Über die Autorin

Gail Honeyman lebt und arbeitet in Glasgow. Sie bekam bereits mehrere Preise für ihr Schreiben. Ich, Eleanor Oliphant ist ihr erster Roman.

Übersetzt aus dem Englischen vonAlexandra Kranefeld

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen

Titel der englischen Originalausgabe:

»Eleanor Oliphant is Completely Fine«

Für die Orginalausgabe:

Copyright © 2017 by Gail Honeyman

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Der Abdruck des Gedichts: »Wild Nights« von Emily Dickinson,

übersetzt von Gunhild Kübler, geschieht mit freundlicher

Genehmigung der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG.

Zitiert wurde nach folgender Ausgabe:

Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte,

übers. u. hg. Gunhild Kübler, München 2015.

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © getty-images/Neil Webb

eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3969-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

[…] das Bezeichnende an Einsamkeit ist der starke Wunsch, einen Ausweg aus diesem Erleben zu finden, was sich indes nicht durch schiere Willensanstrengung erreichen lässt oder dadurch, ›mehr unter Leute zu gehen‹, sondern einzig durch die Entwicklung tiefer zwischenmenschlicher Bindungen. Doch fällt genau das gerade jenen Menschen schwer, deren Einsamkeit von Verlust, Vertreibung oder Ausgrenzung herrührt, Menschen also, die allen Grund haben, der Gesellschaft anderer zu misstrauen oder sie zu fürchten und sich gleichwohl danach sehnen.

[…] umso einsamer Menschen werden, desto schlechter finden sie sich im sozialen Gefüge zurecht, was wiederum ihre Einsamkeit verstärkt. Einsamkeit lagert sich an ihnen ab wie ein Sediment, umgibt sie wie eine Hülle, ein Schutzschild, der jeden Kontakt verhindert, sosehr dieser im Grunde gewünscht wird. Einsamkeit nährt sich aus sich selbst, mehrt und dehnt sich ins Unendliche. Hat sie einmal Besitz von einem Menschen ergriffen, lässt sie sich nur noch schwer abschütteln.

Olivia Laing,

GUTE TAGE

1

Wenn ich gefragt werde – von Taxifahrern, beim Zahnarzt –, was ich so mache, antworte ich immer, dass ich im Büro arbeite. In fast neun Jahren ist noch niemand auf die Idee gekommen, sich danach zu erkundigen, welche Art von Büro oder was genau ich dort mache. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich der Vorstellung, die man sich von einer Büroangestellten macht, so exakt entspreche. Oder vielleicht hat auch jeder sofort ein Bild im Kopf, wenn er »arbeitet im Büro« hört: Frauen am Kopierer. Männer am Computer. Klingelnde Telefone. Wer weiß. Aber ich will mich nicht beklagen. Nach anfänglichen Versuchen habe ich es längst aufgegeben, andere in die Finessen der Debitorenbuchhaltung einzuweihen. Als ich frisch dort angefangen hatte, habe ich auf die Frage, was ich so mache, immer erwidert, dass ich in einer Grafikdesign-Agentur arbeite, und wurde dann sofort für eine Kreative gehalten. Irgendwann war ich es schließlich leid, mir anschauen zu müssen, wie lebhaftes Interesse und freudige Überraschung meines Gegenübers unverhohlener Langweile wichen, wenn ich erklärte, dass ich ausschließlich im Büro arbeitete und nicht mal in die Nähe von Zeichenstiften und Grafikprogrammen käme.

Ich bin jetzt bald dreißig Jahre alt und habe mit einundzwanzig hier angefangen. Kurz nach der Gründung der Agentur hat Bob, mein Chef, mich eingestellt. Wahrscheinlich tat ich ihm leid. Ich hatte einen Abschluss in Altphilologie und keine nennenswerte Berufserfahrung, zum Vorstellungsgespräch kam ich mit einem blauen Auge, zwei fehlenden Vorderzähnen und einem gebrochenen Arm in Gips. Möglich auch, dass er sich bereits damals dachte, dass jemand wie ich unmöglich Ambitionen haben könnte, die über einen mäßig bezahlten Bürojob hinausgingen. Ich wäre so froh, die Stelle zu haben, dass ich bestimmt nicht kündigen und ihm so die Mühe ersparen würde, sich nach einem Nachfolger umzusehen. Vielleicht ahnte er auch, dass ich meinen Jahresurlaub verfallen lassen, niemals in Flitterwochen fahren oder Elternzeit nehmen würde. Vielleicht. Ich weiß es nicht.

In der Agentur herrscht ein einfaches Zweiklassensystem: Die Kreativen sind die Stars, wir anderen die Statisten. Wer in welche Kategorie fällt, ist auf den ersten Blick ersichtlich, was aber, wie man fairerweise sagen muss, nicht zuletzt auch eine Frage des Gehalts, sprich des schnöden Mammons ist. Uns im Büro bleibt von unserem knappen Lohn nicht viel übrig für modische Kurzhaarschnitte oder trendige Designerbrillen. Unter den Kreativen hingegen gibt es gewisse Marken, Stile, Labels, die unhinterfragt zu bevorzugen sind; Normen, denen sie, obwohl sie sich alle als individuelle und kreative Freigeister verstanden wissen wollen, ausnahmslos entsprechen. Wie eine alberne Uniform.

Aber was interessieren mich die Kreativen, was interessiert mich Grafikdesign. Ich bin Buchhalterin. Im Grunde ist es egal, worüber ich die Rechnungen ausstelle. Güter, Waren, Dienstleistungen. Wir könnten ebenso gut Waffen liefern, Rohypnol oder Kokosnüsse.

Ich arbeite von Montag bis Freitag, fange morgens um 8.30 Uhr an und nehme eine Stunde Mittagspause. Am Anfang habe ich mir belegte Brote von zu Hause mitgebracht, aber die Vorräte verdarben immer, ehe ich sie aufbrauchen konnte, weshalb ich dazu übergegangen bin, mir mittags ein Sandwich zu kaufen. Freitags erledige ich nach der Arbeit meinen Wochenendeinkauf bei Marks and Spencer, mittags sitze ich mit meinem Sandwich im Pausenraum, lese die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite und löse die Kreuzworträtsel. Meist nehme ich den Daily Telegraph, was sich weniger aus einer besonderen Vorliebe erklärt als daraus, dass keine andere Zeitung bessere Um-die-Ecke-gedacht-Rätsel bietet als der Telegraph. Bis ich mein Sandwich gekauft, die Zeitung gelesen und beide Kreuzworträtsel gelöst habe, ist die Stunde fast um, ohne dass ich mich mit jemandem unterhalten musste. Ich kehre an meinen Schreibtisch zurück und arbeite weiter bis 17.30 Uhr. Die Fahrt mit dem Bus nach Hause dauert circa eine halbe Stunde.

Zu Hause bereite ich mein Abendessen zu und höre dabei die jeweils aktuelle Folge der Archers im Radio an. Meist mache ich Pasta mit Pesto und Salat. Ein Topf, ein Teller, ganz einfach. Meine Kindheit war voller kulinarischer Widersprüche, und es gab Zeiten, da auch ich Tafelfreuden wie frische Meeresfrüchte und in Folie gegarten Fisch mit marktfrischem Gemüse genossen habe. Aber nach gründlicher Abwägung aller politischen, soziologischen und ökonomischen Aspekte der Tischkultur bin ich zu dem Schluss gelangt, dass Essen für mich nicht oberste Priorität hat. Mittlerweile tendiere ich zu Nahrungsmitteln, die gut, günstig, leicht verfügbar und einfach zuzubereiten sind, einen aber dennoch mit allen lebensnotwendigen Nährstoffen versorgen.

Nach dem Abwasch lese ich ein Buch oder sehe fern, wenn der Telegraph an diesem Tag eine bestimmte Sendung empfohlen hat. Mittwochabends spreche ich meistens (eigentlich immer) noch ein Viertelstündchen mit Mummy. Gegen zehn gehe ich zu Bett, lese noch eine halbe Stunde, dann mache ich das Licht aus und schlafe in der Regel sofort ein. Schlafprobleme habe ich nur selten.

Freitags nehme ich nach der Arbeit nicht sofort den Bus, sondern gehe in den Supermarkt gleich um die Ecke von der Agentur, kaufe mir eine Pizza Margherita, einen Chianti und zwei Flaschen Wodka. Zu Hause esse ich dann die Pizza und trinke den Wein, danach noch ein bisschen Wodka, wobei ich freitags nie viel brauche. Ein paar Schlucke genügen. Meistens wache ich dann so gegen drei Uhr morgens auf dem Sofa auf und schleppe mich ins Bett. Den Rest des Wodkas trinke ich sehr gleichmäßig über das Wochenende verteilt, sodass ich nie ganz nüchtern, aber auch nicht betrunken bin. Bis Montag ist es lange hin.

Mein Telefon klingelt nur selten – und wenn doch, ist es so ungewohnt, dass ich vor Schreck zusammenfahre. In der Regel ist es nur ein Marktforschungsinstitut oder jemand, der irgendetwas verkaufen will. »Ich weiß, wo Sie wohnen«, flüstere ich dann in den Hörer und lege ganz behutsam, fast lautlos auf. Außer dem Mann, der den Zählerstand abliest, lasse ich im Grunde niemand freiwillig in meine Wohnung. Sie denken, das sei unmöglich? Nein, ist es nicht. Es ist wahr. Und doch lebe ich, oder? Ich existiere, auch wenn es sich oft so anfühlt, als wäre ich gar nicht da, als wäre ich nur eine Ausgeburt meiner Fantasie. An manchen Tagen fühle ich mich so leicht, fast schwerelos, als würde ich nur von spinnwebdünnen Fäden auf dem Boden der Realität gehalten. Ein starker Windstoß, und ich stöbe davon, entwurzelt, wie die federleichten Schirmchen einer Pusteblume.

Unter der Woche sind die Fäden etwas stärker und der Boden unter meinen Füßen fester. Telefonisch verhandele ich Budgetvorgaben und Kreditrahmen, ich verschicke E-Mails mit Verträgen und Kostenvoranschlägen an unsere Kunden. Die Kollegen, mit denen ich mir das Büro teile – Janey, Loretta, Bernadette und Billy – würden merken, wenn ich nicht an meinem Schreibtisch säße. Nach ein paar Tagen (nach wie vielen wohl?) würden sie sich vermutlich Sorgen machen, weil ich ohne Krankmeldung fehlte, ganz und gar nicht typisch für mich, und würden meine Anschrift aus der Personalakte heraussuchen. Und dann? Würden sie die Polizei rufen? Würden Uniformierte meine Wohnungstür aufbrechen? Würden sie mich dort finden, nach ein paar Tagen nicht mehr taufrisch, und sich wegen des Gestanks Mund und Nase bedecken? Da hätten sie im Büro aber was zu reden! Meine Kollegen mögen mich nicht, das weiß ich, aber meinen Tod würden sie sich dann doch nicht wünschen. Zumindest glaube ich das.

*

Gestern früh war ich beim Arzt. Ich kam zu dem jungen Doktor, dem blassen mit den roten Haaren, worüber ich froh war. Je jünger, desto frischer ihr Wissen, so sollte man meinen, und das kann doch nur gut sein. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich stattdessen zu Dr. Wilson geschickt werde. Ich würde sie auf sechzig schätzen und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie noch mit dem aktuellen Forschungsstand vertraut und über alle neuen Medikamente und Behandlungsmethoden auf dem Laufenden ist. Sie kommt ja kaum mit ihrem Computer zurecht.

Der junge Doktor schaut einen dafür kaum an. Während er mit mir redete, las er sich die Patientendaten am Bildschirm durch und schlug die Eingabetaste mit zunehmender Heftigkeit an, je weiter er nach unten scrollte.

»Was kann ich denn diesmal für Sie tun, Miss Oliphant?«

»Der Rücken, Herr Doktor«, sagte ich. »Ich komme fast um vor Schmerzen.«

Nicht mal jetzt schaute er mich an. »Wie lange haben Sie die Beschwerden schon?«

»Ein paar Wochen.«

Er nickte und starrte weiter auf den Bildschirm.

»Ich meine aber zu wissen, was die Ursache für meine Rückenbeschwerden ist«, sagte ich, »ich wollte nur noch Ihre Meinung dazu hören.«

Endlich hörte er auf zu lesen und sah mich an. »Und was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache für Ihre Rückenbeschwerden, Miss Oliphant?«

»Meine Brüste, Herr Doktor«, sagte ich.

»Ihre Brüste?«

»Ja«, sagte ich, »ganz genau. Ich habe sie kürzlich mal gewogen und kam auf fast drei Kilo – beide zusammengerechnet natürlich, nicht jede für sich!« Ich lachte. »Wenn man Ihnen drei Kilo zusätzliche Fleischmasse vor die Brust schnallen würde und Sie den ganzen Tag damit herumlaufen müssten, täte Ihnen vermutlich auch der Rücken weh, oder?«

Eine Weile sah er mich nur an, dann räusperte er sich.

»Wie … ich meine, wie haben Sie …?«

»Auf der Küchenwaage«, sagte ich. »Ich habe sie einfach draufgelegt. Allerdings nicht beide. Ich habe nur eine gewogen und bin davon ausgegangen, dass beide ungefähr dasselbe Gewicht haben. Von der Methode her nicht ganz wissenschaftlich, ich weiß, aber …«

»Ich verschreibe Ihnen noch mal was gegen die Schmerzen, Miss Oliphant«, fiel er mir ins Wort und begann zu tippen.

»Danke, Herr Doktor, aber diesmal gern etwas Stärkeres«, sagte ich, »und bitte nicht zu knapp.« Ein paar Mal war ich schon mit Aspirin abgespeist worden. Aber ich brauchte etwas, das wirkte. Für alle Fälle.

»Könnten Sie wohl auch noch ein neues Rezept für das Mittel gegen mein Hautekzem ausstellen? Bei erhöhtem Stress oder anderweitiger Stimulation blüht es förmlich auf.«

Er fand meine höfliche, wohlformulierte Frage keiner Erwiderung würdig und nickte nur. Bis der Drucker die Rezepte ausspuckte, sagte keiner von uns beiden mehr ein Wort. Er händigte mir die beiden Zettel aus, wandte sich wieder dem Bildschirm zu und schrieb flott weiter. Unbehagliches Schweigen herrschte, unterbrochen nur vom Klackern der Tastatur. Hatte er mich vergessen? Sollte ich einfach aufstehen und gehen? Für jemanden, der einen so am Menschen orientierten Beruf hatte wie er, war seine Sozialkompetenz geradezu unterirdisch.

»Dann auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte ich schließlich, »und recht vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Vermutlich entging ihm der Sarkasmus meiner Bemerkung, denn wieder nickte er nur und schaute nicht auf. Das ist der einzige Nachteil bei diesen jungen Ärzten: Sie können einfach nicht mit Menschen umgehen, mit Kranken schon gar nicht.

War das wirklich erst gestern? Gestern, in einem anderen Leben. Heute, am Tag danach, saß ich mit meiner Tasche auf dem Schoß im Bus, der trotz des morgendlichen Berufsverkehrs zügig vorankam. Es regnete, und das Wetter schien jedem außer mir aufs Gemüt zu schlagen. Die anderen Passagiere verkrochen sich in ihren durchgeweichten Regenmänteln, ließen mit ihrem sauren Atem die Fenster beschlagen. Seltsam, dachte ich und schaute hinaus. Mich funkelte das Leben heute aus jedem einzelnen Regentropfen an, der sich zitternd an die Scheibe klammerte, ja, es stieg gar als hoffnungsvoller Hauch aus dem Dunst nasser Kleider auf, legte sich schimmernd darüber.

Stets habe ich den allergrößten Wert darauf gelegt, allein zurechtzukommen. Ich bin eine Einzelkämpferin, die letzte Überlebende. Ich bin Eleanor Oliphant. Ich brauche niemanden sonst. Es gibt keine große Leere in meinem Leben, kein fehlendes Puzzleteil, das mich vervollständigen würde. Ich bin mir selbst genug, ein kleines Elementarteilchen. Das habe ich mir zumindest immer eingeredet. Bis gestern Abend, als ich der Liebe meines Lebens begegnet bin.

In dem Moment, in dem ich ihn gestern Abend auf die Bühne kommen sah, wusste ich es. Ich wusste es einfach. Er hatte einen ziemlich eleganten Hut auf, aber das war es nicht, was mich zu ihm hinzog. So oberflächlich bin ich nicht. Nein, er trug einen dreiteiligen Anzug – und den untersten Westenknopf offen! Daran erkennst du den wahren Gentleman, hat Mummy immer gesagt. Ein echter Gentleman schließt nie den untersten Knopf seiner Weste. Das sei eines der ersten Dinge, auf die man achten sollte, ein untrügliches Indiz dafür, dass man es mit einem kultivierten Mann aus den richtigen Kreisen zu tun habe. Dazu sein schönes, markantes Gesicht, seine Stimme … oh ja, da war er, endlich, ein Mann, den man mit einer gewissen Zuversicht als »Heiratsmaterial« bezeichnen konnte.

Mummy wäre so stolz auf mich.

2

Als ich im Büro eintraf, herrschte trotz des Wetters diese für Freitag typische Stimmung. Als hätten sich alle zu der Lüge verschworen, dass das Wochenende ganz wunderbar würde und selbst die Arbeit in der kommenden Woche anders wäre, nämlich besser. Manche lernen es nie. Für mich hingegen hatte sich tatsächlich etwas geändert. Obwohl ich die Nacht zuvor nur wenig geschlafen hatte, fühlte ich mich gut, besser, am besten. Weder das Wetter noch das drohende Wochenende konnten mir etwas anhaben. Es heißt ja, dass man es instinktiv wisse, wenn man ihm, dem einen, dem Richtigen begegnet. Dem konnte ich nur zustimmen. Alles passte perfekt, und selbst die Tatsache, dass unsere Wege sich an einem Donnerstagabend gekreuzt hatten, schien mir eine Fügung des Schicksals, lag doch nun das Wochenende ungewohnt einladend vor mir. Zwei Tage voller Möglichkeiten und Verheißungen!

Einer der Grafiker hatte heute Projektabnahme, und wie immer würde der Anlass bei einem kleinen Umtrunk mit billigem Wein und teurem Bier begangen werden. Ich konnte nur hoffen, dass er zeitig anfing, damit ich mich kurz zeigen und dennoch pünktlich Feierabend machen konnte. Schließlich musste ich unbedingt noch etwas erledigen, ehe die Läden zumachten. Notfalls würde ich mich bei Bob damit entschuldigen, dass ich krank sei, aber so weit würde es hoffentlich nicht kommen.

Ich stieß die Tür zum Büro auf, und obwohl ich, wie immer, meine dunkelblaue Weste trug, ließ die klimatisierte Luft mich frösteln. Billy stand mit dem Rücken zu mir und hielt mal wieder Hof, die anderen hingen derart an seinen Lippen, dass sie mein Kommen nicht einmal bemerkten.

»Die ist echt übergeschnappt«, sagte Billy gerade.

»Klar ist sie komisch«, sagte Janey, »das wussten wir doch von Anfang an. Was war’s denn diesmal?«

Billy schnaubte. »Ihr erinnert euch, dass sie bei der Tombola zwei Karten gewonnen und mich gefragt hat, ob ich mit ihr zu diesem blöden Benefizkonzert gehe?«

Janey stöhnte. »Oh je, die Tombola. Für Bob ja immer die Gelegenheit des Jahres, seine ollen Kundengeschenke loszuwerden. Erster Preis zwei Freikarten, zweiter Preis vier Freikarten …«

»Genau«, seufzte Billy. »Und für mich die Arschkarte. Ein Donnerstagabend im Pub mit dem Marketingteam unseres wichtigsten Kunden. Damit ich mir in aller Ruhe anschauen kann, wie die Typen sich mit irgendwelchen Kumpels auf der Bühne blamieren. Dabei bloß nicht zu offensichtlich fremdschämen, weil ja wichtiger Kunde – und obendrauf noch sie! Besten Dank, ich bin für die nächsten drei Jahre bedient.«

Alle lachten.

In gewisser Weise musste ich ihm sogar recht geben. Es war nicht gerade eine glamouröse Abendvergnügung im Stile des Großen Gatsby gewesen.

»Gleich am Anfang hat eine Band gespielt«, fuhr er fort, »Johnnie irgendwas und die Pilgrim Pioneers, die waren gar nicht mal so übel, die Jungs. Haben ein paar eigene Sachen gespielt und ein, zwei echt gute Coverversionen …«

»Oh, Johnnie Lomond, den kenne ich!«, rief Bernadette dazwischen. »Der war in der Schule im selben Jahrgang wie mein Bruder. Einmal, da waren Mum und Dad auf Teneriffa, haben er und ein paar Kumpels von meinem Bruder bei uns Party gemacht. Am Ende hat er das Waschbecken im Bad vollgekotzt, wenn ich mich recht erinnere …«

Ich wandte mich ab und versuchte wegzuhören; an seinen jugendlichen Verfehlungen war ich nicht interessiert.

»Na, jedenfalls«, redete Billy weiter, der es gar nicht mochte unterbrochen zu werden, »ratet mal, wer’s schrecklich fand? Bingo. Ihr hättet sehen sollen, wie die plötzlich dasaß, wie erstarrt, hat sich nicht mehr gerührt, nicht geklatscht, nichts. Völlig weggetreten. Und als die Jungs fertig waren, hat sie nur gemeint, sie müsste jetzt nach Hause. Ist nicht mal bis zur Pause geblieben, und ich saß dann da, wie so’n armes, einsames Schwein, das keine Freunde hat.«

»Schlimm, schlimm!«, krähte Loretta und stubste ihn an. »Dabei hattest du dich doch schon so gefreut, mit ihr noch was trinken und ein bisschen tanzen zu gehen.«

»Ha, ha, sehr witzig, Loretta. Die war weg wie der Blitz, saß wahrscheinlich schon mit ’nem Kakao und dem Reader’s Digest im Bett, bevor der Abend überhaupt losging.«

»Reader’s Digest passt nicht zu ihr«, meinte Janey. »Das müsste schon was Spezielleres sein – so was wie Alles für den Angler. Oder Campen & Caravan.«

»Horse & Hound – im Abo«, sagte Billy, was allgemeine Erheiterung auslöste.

Darüber musste sogar ich lachen.

Nie im Leben hätte ich erwartet, dass es gestern Abend geschehen würde. Wahrscheinlich hat es mich deswegen umso schlimmer erwischt. Ich plane die Dinge gerne im Voraus, bin gut vorbereitet und stets organisiert. Das jedoch kam völlig unerwartet. Wie ein Schlag aus heiterem Himmel.

Ich hatte Billy eigentlich nur deshalb gebeten, mich zu dem Konzert zu begleiten, weil er der jüngste meiner Kollegen ist und ich mir dachte, dass ihm die Musik gefallen würde. Natürlich war mir nicht entgangen, wie sehr die anderen ihn deswegen verspottet hatten, als sie dachten, ich sei schon in Mittag gegangen. Aber sei’s drum, das bin ich längst gewohnt. Mir selbst sagte keine der Bands etwas, und im Grunde interessierte mich das Konzert überhaupt nicht. Ich ging aus reinem Pflichtgefühl, weil ich die Karten bei der Tombola gewonnen hatte und wusste, dass irgendjemand aus der Agentur mich bestimmt danach fragen würde, wie es gewesen war.

Was tut man nicht alles. Und so war ich hingegangen, hatte sauren, viel zu warmen Weißwein getrunken, der nach den Plastikbechern schmeckte, in denen er ausgeschenkt wurde. Die mussten ihre Kunden wirklich für Barbaren halten! Billy hatte darauf bestanden, uns eine Runde auszugeben, um sich bei mir für die Einladung zu revanchieren, selbst wenn ihm klar gewesen sein dürfte, dass es keine Verabredung im eigentlichen Sinne war. Allein der Gedanke war lächerlich.

Dann, endlich, waren die Lichter ausgegangen und wir brauchten keinen Smalltalk mehr zu machen. Billy hatte sich die Vorgruppen gar nicht anschauen wollen, aber ich bestand darauf. Konnte man denn wissen, was einem sonst entging? Vielleicht verpasste man ja einen kommenden Star. Und dann kam er. Es war wie eine Offenbarung. Ich konnte kaum den Blick von ihm wenden. Seine Schönheit, seine Strahlkraft, dieses Charisma! Ich war wie gebannt. Er ließ die Bühne erbeben, er war Licht, er war Feuer. Seine bloße Berührung würde alles verändern. Ich rutschte auf meinem Sitz vor bis an die Kante, um ihm so nah zu sein wie möglich. Endlich. Endlich hatte ich ihn gefunden.

Nachdem das Schicksal meinem Leben eine so unerwartete und unwiderrufliche Wendung gegeben hatte, wollte ich noch etwas mehr nachhelfen. Ich beschloss, alles über ihn herauszufinden, denn ich musste mehr über ihn wissen, meinen Sänger, die Antwort, vielleicht, auf all meine Fragen. Bevor ich mich den Monatsbilanzen widmete, wollte ich mich daher mithilfe einer Internetrecherche informieren, was mich ein Computer kosten würde. Vermutlich hätte ich auch am Wochenende in die Agentur kommen und dort einen der Rechner benutzen können, doch das Risiko, dass dann gerade jemand hier wäre – die Kreativen arbeiteten zu den unmöglichsten Zeiten –, sich über meine Anwesenheit wunderte, gar Fragen stellte, wollte ich nicht eingehen. Zwar verstieße ich genau genommen nicht gegen irgendwelche innerbetrieblichen Regeln, aber letztlich war, was ich zu erledigen hatte, Privatsache und ging niemanden etwas an. Und wie sollte ich Bob erklären, dass ich jetzt sogar am Wochenende arbeitete und der Stapel zu bearbeitender Rechnungen dennoch nicht kleiner wurde? Zu Hause könnte ich zudem noch nebenher etwas erledigen und zu tun hatte ich jetzt so viel. Rezepte ausprobieren zum Beispiel. Ich könnte ein Menü für unser erstes Dinner Date zusammenstellen und es einmal nur zur Probe kochen, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Vor Jahren hat Mummy mir mal erklärt, dass Männer ganz verrückt seien nach Würstchen im Schlafrock. Liebe gehe durch den Magen, hat sie behauptet, und das Herz eines Mannes erobere man garantiert mit selbst gemachten Würstchen im Schlafrock: knusprig heißer Blätterteig, beste Qualitätswürstchen. Ich habe mir seit Jahren nur Nudeln und Pizza zubereitet. Würstchen im Schlafrock habe ich noch nie gemacht. Aber so schwer konnte es wohl kaum sein, oder?

Ich schaltete den Computer an und gab mein Passwort ein, aber noch während der Eingabe fror der Bildschirm ein. Ich schaltete den Computer aus und wieder ein, und jetzt kam ich nicht mal mehr bis zur Passworteingabe. Wie ärgerlich. Vergeblich versuchte ich, jemand bei der IT zu erreichen, niemand nahm ab. Wohl oder übel wandte ich mich an Loretta, unsere Bürokoordinatorin. Für meinen Geschmack bildet sie sich etwas zu viel auf ihre organisatorischen Fähigkeiten ein und stellt in ihrer Freizeit zudem Schmuck aus Kronkorken her, den ihr tatsächlich irgendwelche Idioten abkaufen. Unglaublich. Ich sagte ihr, dass mein Computer streike und ich leider, leider Danny von der IT nicht erreichen könne.

»Danny ist nicht mehr bei uns, Eleanor«, sagte sie ohne vom Bildschirm aufzuschauen. »Sein Nachfolger heißt Raymond Gibbons, er hat letzten Monat angefangen.« Sie sagte es so, als hätte ich das wissen müssen. Noch immer ohne mich anzusehen, schrieb sie seinen Namen und seine Durchwahl auf ein Post-it und gab es mir.

»Ganz herzlichen Dank, das war wie immer sehr hilfreich, Loretta«, sagte ich, auch wenn mein Sarkasmus erwartungsgemäß völlig an ihr vorbeiging.

Ich kehrte zurück an meinen Schreibtisch und wählte die Nummer, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Die Ansage lautete (und ich übertreibe nicht): »Hi, Raymond hier – und doch nicht hier. Wie Schrödingers Katze. Nachrichten bitte nach dem Ton. Danke und Ende.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und sprach dann sehr langsam und deutlich auf die Mailbox.

»Guten Morgen, Mr Gibbons. Hier spricht Miss Oliphant aus der Buchhaltung. Mein Computer hat soeben aus mir unerfindlichen Gründen den Dienst verweigert, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie heute noch die Zeit finden könnten, ihn zu reparieren. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, erreichen Sie mich unter der Durchwahl fünf-drei-fünf. Haben Sie recht herzlichen Dank im Voraus.«

Es stand zu hoffen, dass meine vorbildliche Nachricht ihm ein gutes Beispiel geben würde. Ich wartete zehn Minuten, räumte unterdessen meinen Schreibtisch auf, aber er rief nicht zurück. Nach zwei weiteren Stunden Ablage, während derer ich noch immer keine Rückmeldung von Mr Gibbons erhalten hatte, beschloss ich, sehr zeitig Mittag zu machen. Nach dem gestrigen Abend war mir der Gedanke gekommen, dass es gewiss nicht schaden könnte, vor einem möglichen Treffen mit meinem Musiker einige Veränderungen an mir vorzunehmen. Sollte ich mein Selbstoptimierungs-Programm innen beginnen und mich nach außen vorarbeiten oder sollte ich zunächst die äußerlichen Veränderungen in Angriff nehmen? Sämtliche mein Äußeres betreffende Punkte war ich auf der Fahrt zur Arbeit im Geiste durchgegangen: Haare (Kopf und Körper), Nägel (Finger und Zehen), Augenbrauen, Cellulitis, Zähne. Nicht zu vergessen meine Narben … All das wollte optimiert, gestrafft, verschönert werden. Am Ende beschloss ich, den Prozess von außen nach innen in Gang zu setzen und mir ein Beispiel an der Natur zu nehmen. Verpuppung, Häutung, Schlüpfen. Säugetiere, Vögel und Insekten können einem so nützliche Einsichten liefern. Immer wenn ich mir nicht sicher bin, wie ich mich in einer bestimmten Situation verhalten soll, frage ich mich einfach: »Was würde ein Wiesel tun?« oder »Wie würde ein Salamander auf diesen Sachverhalt reagieren?« Früher oder später finde ich auf diese Weise stets zur richtigen Antwort.

Auf dem Weg zur Arbeit komme ich jeden Tag an einem Kosmetikstudio namens Julie’s Beauty Basket vorbei. Wie mein Glück es wollte, hatte gerade jemand abgesagt, sodass über Mittag ein Termin frei geworden war. Die Behandlung würde zwanzig Minuten dauern, von Kayla durchgeführt werden und fünfundvierzig Pfund kosten. Fünfundvierzig Pfund! Aber, sagte ich mir nach dem ersten Schreck, das war er mir wert. Kayla und ihre Kolleginnen trugen weiße Clogs, weiße Hosen und weiße Oberteile, die an Arztkittel erinnerten. Letztere gaben dem Ganzen ein beinah klinisches Ambiente, das ich sehr zu schätzen wusste. Kayla führte mich eine Treppe hinunter zu einer klaustrophobisch kleinen Kammer, in der gerade genug Platz war für die Behandlungsliege, einen Tisch und einen Stuhl.

»So, da wären wir«, sagte sie munter. »Sie können sich schon mal unten herum frei machen und es sich auf der Liege gemütlich machen. Wenn Sie möchten, können Sie solange das hier anziehen.« Sie legte ein kleines Päckchen auf die Liege. »Oder Sie decken sich einfach mit dem Handtuch zu. Ich bin dann in ein paar Minuten wieder bei Ihnen.«

Ich nickte. Auf was hatte ich mich da eingelassen?

Als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, zog ich Schuhe und Hose aus. Sollte ich meine Socken anlassen? Nach gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile entschied ich mich dafür, sie anzulassen. Ich zog meine Unterhose aus und überlegte, wohin jetzt damit. Sollte ich sie einfach über den Stuhl hängen, so wie meine Hose auch? Der Gedanke, meine Unterwäsche derart zur Schau zu stellen, behagte mir nicht, und so faltete ich sie zusammen und steckte sie in meine große Umhängetasche. Da ich mich nun doch recht entblößt fühlte, griff ich nach dem kleinen Päckchen auf der Liege, öffnete es und zog eine winzig kleine schwarze Unterhose heraus, eine Unterhose in der Art, wie man sie bei Marks & Spencer als »Tanga« verkauft, nur dass dieses Modell aus einem ähnlichen Material wie Teebeutel gefertigt zu sein schien. Kopfschüttelnd stieg ich hinein und zog das Höschen vorsichtig hoch, damit es nicht riss. Es war viel zu klein, sodass mein Bauch und meine Hüften sich darüberwölbten.

Die Liege war recht hoch, doch glücklicherweise gab es einen kleinen Plastiktritt, der einem beim Aufstieg behilflich war. Ich setzte mich, streckte mich dann lang aus und versuchte, es mir gemütlich zu machen, was jedoch nicht ganz einfach war. Die Liege war mit einem schwarzen Handtuch ausgelegt, welches wiederum von diesem kratzigen hellblauen Papier bedeckt war, wie man es aus Arztpraxen kennt. Zu meinen Füßen lag ein weiteres, fein säuberlich zusammengefaltetes schwarzes Handtuch. Ich setzte mich noch einmal auf und zog es mir bis zur Taille hoch, um mich zu bedecken. Die Farbe der Handtücher beunruhigte mich etwas. Welche hygienischen Mängel versuchte man mit diesem Schwarz zu verbergen? Ich schaute zur Decke hinauf und zählte die Deckenspots, dann blickte ich mich in der kleinen Kammer um. Trotz des gedimmten Lichts entdeckte ich ein paar Schrammen an den hellen Wänden. Es klopfte, und Kayla rauschte herein, voll der heiteren Betriebsamkeit.

»So, da wären wir«, sagte sie in genau demselben Ton wie vorhin, »was sollen wir denn heute machen?«

»Einmal die Bikinizone bitte, genau wie ich es gesagt habe.«

Sie lachte. »Ja klar, sorry, ich meinte natürlich, welchen Stil hätten Sie denn gern?«

»Welchen Stil?«, fragte ich verwundert.

»Oder welche Form?«, sagte sie, nun schon leicht schnippisch, wie ich fand. Als sie meine entgeisterte Miene sah, begann sie an den Fingern abzuzählen. »Also, wir haben Brazilian Hollywood, Brazilian Landing Strip, Brazilian Triangle und Brazilian Special.«

Ganz schön brasilianisch hier, dachte ich und ging alle Worte im Geiste noch einmal durch – immer wieder, so wie ich es auch beim Lösen von Kreuzworträtseln mache, bis die Buchstaben ganz von selbst das richtige Muster ergeben.

»Brazilian Hollywood«, sagte ich schließlich. »Hollywood, das klingt doch gut.«

Ohne auf meinen zugegebenermaßen nicht ganz reinen Reim einzugehen, schritt Kayla zur Tat und hob das Handtuch hoch. »Oh«, sagte sie. »Okay.« Sie ging zu dem kleinen Tisch, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. »Vorher Schneiden kostet aber noch mal zwei Pfund extra«, sagte sie streng und streifte sich ein Paar Einmalhandschuhe über.

Während die Haarschneidemaschine summend ihre Arbeit tat, schaute ich zur Decke hinauf. Es tat überhaupt nicht weh! Als Kayla fertig war, fegte sie die abrasierten Haare mit einer breiten Bürste weg und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Panik stieg in mir auf. Beim Hereinkommen hatte ich überhaupt nicht auf den Boden geachtet! Was, wenn sie dasselbe auch bei anderen Kunden getan hatte? Hatte ich deren Schamhaare jetzt etwa an den Sohlen meiner gepunkteten Socken kleben? Bei der Vorstellung stieg leichte Übelkeit in mir auf.

»So, schon viel besser«, fand Kayla. »Ich versuche es so kurz und schmerzlos wie möglich zu machen. Danach bitte die nächsten zwölf Stunden keine parfümierten Lotionen da unten verwenden, okay?« Sie rührte in dem Wachs, das sie am Tisch auf einer Wärmeplatte erhitzte.

»Keine Sorge, Kayla«, versicherte ich ihr. »Ich bin keine große Freundin von Kosmetika.«

Sie glotzte mich mit großen Augen an. Also wirklich. Man sollte doch meinen, dass im Wellnessbereich tätige Menschen eine gewisse Sozialkompetenz haben müssten, aber sie war kaum besser als meine Kollegen im Büro.

Sie schob das Papierhöschen zu einer Seite weg und bat mich, die Haut straff zu ziehen. Dann strich sie mir mit einem Spatel warmes Wachs auf den Schamhügel und drückte einen Stoffstreifen darauf, fasste ihn an einem Ende mit den Fingern und zog ihn mit einer einzigen, blitzschnellen, in ihrem Schmerz exquisiten Bewegung wieder ab.

»Morituri te salutant«, hauchte ich und spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen. In Situationen wie diesen ist das stets das Motto meiner Wahl, und bislang hat es mich noch immer aufzuheitern vermocht. Ich versuchte, mich aufzusetzen, wurde von Kayla aber mit sanftem Nachdruck zurück auf die Liege befördert.

»Tut mir leid, wir haben noch ein bisschen was vor uns«, sagte sie und klang geradezu vergnügt.

Also legte ich mich wieder hin und schickte mich ins Unvermeidliche. Dazu muss man wissen, dass Schmerzen eine meiner leichteren Übungen sind, Schmerz ist mir vertraut. Ich zog mich in das kleine weiße Zimmer in meinem Kopf zurück, das watteweich und wolkenweiß ist, die Luft lau und von einem hellen Zuckermandelrosa, erfüllt von leiser, lieblicher Musik. Heute war es Top of the World von den Carpenters. Karen Carpenters schöne Stimme, so tröstlich und beseelt, so freundlich und voller Liebe …

Kayla machte derweil weiter. Zwischendurch gab sie mir ein paar Anweisungen, bat mich, die Knie zu spreizen und die Fersen aneinanderzudrücken. Wie Froschschenkel, bemerkte ich, aber sie ging nicht darauf ein, war völlig versunken in ihre Arbeit. Sie riss mir die Haare wortwörtlich unter dem Hintern weg; ich wäre nicht mal im Traum darauf gekommen, dass derlei möglich ist. Als sie damit fertig war, sollte ich mich wieder normal hinlegen. Sie zog mir das Papierhöschen herunter, strich Wachs auf die noch verbliebenen Haare und riss sie mit einem Schwung aus.

»So, geschafft«, sagte sie, streifte sich die Handschuhe ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das sieht doch gleich viel besser aus!«

Sie reichte mir einen Handspiegel, damit ich mich in Augenschein nehmen konnte. »Aber das ist ja völlig kahl!«, rief ich entsetzt.

»Das ist ein Brazilian Hollywood«, sagte sie. »Genau das, was Sie wollten.«

Meine Hände krampften sich zusammen, und ich schüttelte den Kopf. Ich war mit der Absicht hergekommen, mich in eine normale Durchschnittsfrau zu verwandeln, stattdessen sah ich jetzt aus wie ein Kind!

»Kayla«, begann ich und konnte es noch immer kaum fassen, in welch eine Situation sie mich gebracht hatte, »ich weiß kaum, was ich sagen soll. Der Mann, an dem ich interessiert bin, ist ein ganz normaler erwachsener Mann, der ganz normale Beziehungen zu erwachsenen Frauen unterhält. Oder wollen Sie vielleicht andeuten, er könnte pädophile Neigungen haben? Wie können Sie es wagen!«

Ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe. Jetzt reichte es mir endgültig!

»Wenn Sie nun bitte gehen würden, damit ich mich in Ruhe anziehen kann«, sagte ich und wandte mich ab.

Nachdem sie endlich weg war, stieg ich von der Liege herunter und schlüpfte in meine Hose. Mein einziger Trost war, dass die Haare vermutlich nachgewachsen wären, ehe der Musiker und ich das erste Mal intim wurden. Ich ging die Treppe hinauf und zahlte. Trinkgeld gab ich keines.

Nach meiner Rückkehr ins Büro funktionierte mein Computer noch immer nicht. Vorsichtig, ganz vorsichtig setzte ich mich hin und versuchte erneut Raymond von der IT zu erreichen, wurde aber sofort auf die Mailbox mit der albernen Ansage geleitet. Ich beschloss, nach oben zu gehen und ihn direkt aufzusuchen. Jemandem, der solchen Unsinn auf seine Mailbox sprach, war es durchaus zuzutrauen, Däumchen drehend neben einem klingelnden Telefon zu sitzen und einfach nicht dranzugehen. Ich wollte gerade aufstehen, als ich einen Mann auf meinen Schreibtisch zukommen sah. Er war nur minimal größer als ich, trug grüne Turnschuhe, eine schlecht sitzende Jeans und ein T-Shirt mit einem Zeichentrickhund darauf, der auf dem Dach seiner Hundehütte lag. Hund und T-Shirt spannten sich über seinem Bauch. Sein Gesicht war nicht rasiert und voller blonder Bartstoppeln, sein aschblondes Haar etwas zu lang in dem Versuch, seinen Glatzenansatz zu kaschieren. Seine Haut glänzte drall und rosig. Schweinchen, war mein erster Gedanke.

»Äh … Oliphant?«, fragte er.

»Ja, Eleanor Oliphant, das bin ich«, erwiderte ich.

Er schlug einen Haken um meinen Tisch herum und blieb neben mir stehen. »Ich bin Raymond, vom IT-Dienst«, sagte er. Ich reichte ihm meine Hand, die er nach kurzem Zögern auch nahm, wenngleich sehr zaghaft. Ein weiterer Beweis, wenn es dessen noch bedurfte, für den beklagenswerten Verfall guter Sitten. Ich schob meinen Stuhl zurück und räumte meinen Platz, damit er sich an den Schreibtisch setzen konnte.

»Was ist denn das Problem?«, fragte er und schaute auf den Bildschirm. Ich erklärte es ihm. »Alles klar«, meinte er und tippte lautstark auf der Tastatur herum. Ich nahm meinen Telegraph und sagte Raymond, er würde mich im Pausenraum finden. Es schien mir wenig sinnvoll, hier herumzustehen, während er den Rechner in Ordnung brachte.

Erfreut stellte ich fest, dass der Autor des heutigen Um-die-Ecke-gedacht-Rätsels »Elgar« war, dessen logische Eleganz und dabei doch stets faire Finesse ich sehr schätze. Gerade grübelte ich über zwölf senkrecht nach und klopfte mir mit der Spitze meines Stifts an die Zähne, als Raymond in den Pausenraum getrampelt kam und mich aus meinen Gedanken riss.

»Kreuzworträtsel, was?«, meinte er mit einem Blick über meine Schulter. »Konnte ich mich nie für begeistern. Für ein gutes Computerspiel würde ich aber alles stehen und liegen lassen, so was wie Call of Duty…«

»Haben Sie ihn repariert?«, unterbrach ich ihn, denn ich wüsste nicht, warum ich mir sein kindisches Geschwätz anhören sollte.

»Jep, hab ich«, sagte er zufrieden. »Sie hatten sich da einen ziemlich fiesen Virus eingefangen. Ich habe die Festplatte gesäubert und die Firewall neu installiert. Idealerweise sollten Sie einmal die Woche einen vollständigen Systemscan durchlaufen lassen.« Vermutlich hatte er meinen entgeisterten Blick bemerkt, denn er meinte: »Kommen Sie, ich zeig Ihnen das noch schnell.« Wir gingen zurück zum Büro. Seine grünen Turnschuhe gaben bei jedem Bodenkontakt grässliche Quietschgeräusche von sich. Er räusperte sich.

»Und sonst … äh, arbeiten Sie schon lang hier, Eleanor?«

»Ja«, erwiderte ich und beschleunigte meine Schritte.

Er konnte eben so mithalten, geriet aber merklich außer Atem.

»Ah, okay.« Er räusperte sich erneut. »Ich habe erst vor ein paar Wochen hier angefangen. War vorher bei Sandersons, unten in der Stadt. Weiß nicht, ob Sie das kennen.«

»Nein«, sagte ich.

Endlich hatten wir es zu meinem Schreibtisch geschafft, und ich setzte mich. Er blieb neben mir stehen, zu nah, wie ich fand. Er roch nach Essen und, wenn auch nur ganz schwach, nach Zigaretten. Unangenehm. Ich wich etwas zurück, während er mir zu erklären begann, was ich tun sollte; ich führte seine Anweisungen aus und versuchte, mir dabei alles zu merken. Als er endlich ausgeredet hatte, war mein Wissensbedürfnis nach technologischen Feinheiten für den Tag mehr als gestillt.

»Recht vielen Dank für Ihre Hilfe, Raymond«, sagte ich in einem Ton, der ihm zu verstehen geben sollte, dass er jetzt gehen konnte. Raymond salutierte und rappelte sich mühsam hoch. Einen Mann mit weniger militärischer Haltung konnte man sich kaum vorstellen.

»Keine Ursache, Eleanor. Wir sehen uns.«

Das wage ich doch sehr zu bezweifeln, dachte ich und öffnete die Excel-Tabelle mit den Mahnungen für den kommenden Monat. Ich sah Raymond mit weit ausholenden Schritten den Flur hinuntergehen, ein seltsam federnder Gang, als verlagere er zu viel Gewicht nach vorn auf die Zehenballen. Mir war aufgefallen, dass eher unattraktive Männer sich oft auf diese Art fortbewegen. Turnschuhe dürften dem auch nicht gerade zuträglich sein.

Mein Musiker hingegen hatte wunderschöne Lederschuhe getragen, als er gestern Abend auf der Bühne stand. Er war groß, anmutig und elegant. Schwer zu glauben, dass Raymond und er ein und derselben Spezies angehörten. Ich setzte mich unbehaglich auf meinem Stuhl zurecht. So langsam waren dort unten ein pulsierender Schmerz und einsetzender Juckreiz zu spüren. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich meine Unterhose wieder angezogen hätte.

Der Umtrunk begann gegen halb fünf, und nach Bobs Rede klatschte ich extra laut und anhaltend und rief »Hört, hört, bravo!«, damit auch alle meine Anwesenheit bemerkten. Genau eine Minute vor fünf brach ich auf und lief so schnell, wie meine frisch enthaarte Haut mich ließ, zum Einkaufszentrum, wo ich um Viertel nach eintraf. Nun galt es die Zeit bestmöglich zu nutzen und Prioritäten zu setzen. Effizienz, Eleanor, Effizienz! Ich steuerte das erste Kaufhaus an, das auf dem Weg lag, und nahm den Aufzug in die Elektronikabteilung.

Ein junger Mann mit grauem Hemd und billig glänzender Krawatte stand untätig vor der Wand mit den Flachbildschirmen und sah fern, wenn mich nicht alles täuschte. Ich trat zu ihm und sagte, dass ich gern einen Computer kaufen würde. Er starrte mich an wie ertappt. Wohl zu früh auf den Feierabend gefreut, junger Mann!

»Desktop Laptop Tablet«, leierte er herunter.

»Ich habe noch nie einen Computer gekauft, Liam«, sagte ich mit Blick auf sein Namensschild. »Man könnte vermutlich sagen, dass ich in Sachen neuer Technologie recht unerfahren bin.«

Er zerrte an seinem Hemdkragen, als versuche er seinen riesigen Adamsapfel zu befreien. Auf mich wirkte er wie eine Gazelle oder ein Gnu, eines dieser langbeinigen sandfarbenen Tiere, die zu krankhafter Schreckhaftigkeit neigen und die großen runden Kulleraugen fast seitlich am Kopf haben. Tiere, die von Natur aus dazu verdammt sind, früher oder später als Beute eines Leoparden zu enden.

Nach diesem recht holprigen Anfang ging es kaum besser weiter.

»Wofür möchten Sie das Gerät denn nutzen?«, fragte er und mied es, mich anzusehen.

»Das geht Sie überhaupt nichts an«, sagte ich empört.

Er sah aus, als wolle er gleich in Tränen ausbrechen oder Reißaus nehmen. Ich bekam Gewissensbisse. Er war noch so jung, ein halbes Kind, was wollte man denn erwarten? Ich legte meine Hand auf seinen Arm, obwohl ich Berührungen nicht mag.

»Sie müssen schon entschuldigen, Liam, aber ich stehe etwas unter Druck, da es absolut unerlässlich für mich ist, dass ich am Wochenende online gehen kann.«

Er wirkte noch immer etwas aufgescheucht.

»Liam«, erklärte ich, um Ruhe bemüht, »ich benötige einfach irgendein Gerät, mit dem ich von zu Hause aus im Internet recherchieren kann. Später möchte ich vielleicht auch elektronische Nachrichten versenden. Das ist alles. Hätten Sie vielleicht etwas Passendes vorrätig?«

Nach einigem Hin und Her einigten wir uns darauf, dass ein Laptop und mobiler Internetzugang für meine Zwecke ideal wären. Na also, warum denn nicht gleich so? Ich zückte meine Karte und zahlte.

Zu Hause angekommen, war ich noch immer ganz kribbelig, weil ich so viel Geld ausgegeben hatte. Dann stellte ich zu allem Übel fest, dass nichts zu essen da war. Im Eifer des Gefechts hatte ich den Wochenendeinkauf vergessen. Freitag war natürlich Pizza-Margherita-Tag, aber zum ersten Mal überhaupt hatten unvorhergesehene Ereignisse meine gut eingespielte Routine unterbrochen. Dann fiel mir ein, dass in der Küchenschublade noch einer der Flyer sein müsste, die mir regelmäßig durch den Briefschlitz geworfen werden. Er war nicht schwer zu finden, und ich strich ihn sorgfältig glatt. Am unteren Rand waren ein paar Gutscheine zum Ausschneiden, die jedoch längst abgelaufen waren. Vermutlich hatten sich auch die Preise geändert, aber ich hoffte, dass wenigstens die Telefonnummer noch stimmte und man dort auch noch Pizzen bestellen konnte. Wobei mir selbst die alten Preise so lächerlich hoch erschienen, dass ich ungläubig lachen musste. Bei Tesco Metro bekam man eine Pizza zu einem Viertel dieser Preise.

Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen. Ja, es war unverschämt teuer und genau genommen auch nicht nötig, könnte ich doch rein theoretisch auch an einem Freitag Pasta essen, aber gut, warum nicht? Schließlich sollte man im Leben mal etwas anderes ausprobieren, neue Erfahrungen machen, an seine Grenzen gehen. Gesagt, getan. Die Telefonnummer funktionierte noch, und die Bestellung war erstaunlich unkompliziert. Meine Pizza käme in fünfzehn Minuten, wurde mir versichert. Ich bürstete mir noch schnell die Haare, zog meine Hausschuhe aus und die Schuhe, die ich zur Arbeit trug, wieder an, und überlegte, wie genau wohl das Prozedere wäre. Wie beispielsweise sie das mit dem frischen Basilikum machten. Ob der Pizzabote eine Pflanze bei sich hatte? Aber wie sollte man sich das in der Praxis vorstellen? Er würde die Pizza wohl kaum mit frischen Kräutern belegen, wenn er bei mir vor der Tür stand. Rasch setzte ich noch Wasser auf, für den Fall, dass er einen Tee wünschte. Am Telefon war mir bereits der korrekte Preis genannt worden, und so suchte ich das passende Geld zusammen, gab es in einen Briefumschlag, auf dessen Vorderseite ich Pizza Pronto schrieb. Wurde ein Trinkgeld erwartet? Und wenn ja, wie viel? Jetzt wäre es nicht schlecht gewesen, wenn ich jemanden um Rat hätte fragen können. Mummy wäre mir dabei keine große Hilfe. Sie hat bestimmt noch nie in ihrem Leben eine Pizza beim Lieferdienst bestellt. Mummy muss essen, was auf den Tisch kommt.

Der einzige Haken an meinem Pizza-Plan war der Wein, der wurde nämlich nicht mitgeliefert, hatte der Mann am Telefon mir gesagt, und dabei leicht belustigt geklungen, als wundere er sich über meine Frage. Seltsam eigentlich, denn was passte besser zusammen als Pizza und Wein? War es nicht völlig normal, sich zur Pizza einen Wein zu bestellen? Und woher sollte ich mir jetzt noch rechtzeitig zur Pizza etwas zu trinken besorgen? Ich brauchte aber etwas zu trinken. Ein Dilemma, das mich die verbleibende Zeit bis zur Lieferung der Pizza beschäftigte, ohne dass ich zu einer Lösung fand.

Letztlich war das mit dem Pizza-Service zwar eine neue, aber doch etwas enttäuschende Erfahrung. Der Bote drückte mir einen großen, flachen Karton in die Hand, nahm meinen Umschlag an sich und riss ihn, ganz stillos, noch vor meinen Augen auf. Ich hörte ihn sogar leise fluchen, als er das Kleingeld durchzählte. Immer, wenn ich ein 50-Pence-Stück im Portemonnaie habe, nehme ich es heraus und lege es in das kleine Keramikschälchen im Flur. Die Pizzalieferung war mir als passende Gelegenheit erschienen, die auf diese Weise angesammelten Münzen endlich zu verbrauchen. Ich hatte noch eine extra für den Boten in den Umschlag getan, als Trinkgeld, erhielt jedoch keinen Dank dafür. Unhöflich, sehr unhöflich.

Die Pizza selbst war über die Maßen fetthaltig und der Boden weder knusprig noch schmackhaft. Im Großen und Ganzen keine sehr erfreuliche Erfahrung, die ich ein für alle Mal abhakte und mir vornahm, künftig nie wieder einen Pizza-Service zu bemühen, schon gar nicht mit meinem Musiker. Sollte uns je der Sinn nach Pizza stehen und gerade kein Tesco Metro in der Nähe sein, gäbe es genau zwei Möglichkeiten:

1) Wir würden mit dem Taxi in die Stadt fahren und in einem italienischen Restaurant Pizza essen.

2) Er würde uns eine frisch zubereitete Pizza backen.

Letzterer Möglichkeit gab ich den Vorzug und stellte mir vor, wie er den Teig machen, ihn mit seinen schmalen, doch kräftigen Künstlerhänden kneten würde, bis er ganz glatt und geschmeidig war. Ich sah ihn am Herd stehen, wo in einem Topf Tomaten mit frischen Kräutern und Olivenöl köchelten. Er würde seine älteste, bequemste Jeans tragen, die ihm tief auf den schmalen Hüften saß, und würde barfuß den Takt eines Stücks mitwippen, das er mit seiner wunderbaren Stimme leise vor sich hinsang, während er die Sauce umrührte. Wenn er den Teig ausgerollt, mit der rot glänzenden Sauce bestrichen und die Pizza belegt hätte – mit Artischockenherzen und fein gehobeltem Fenchel als krönendem Abschluss –, würde er sie in den Ofen schieben und mich holen kommen. Er würde mich bei der Hand nehmen und in die Küche führen, wo bereits der Tisch gedeckt wäre, mit frischen Blumen in einer Vase und flackernden Teelichtern in bunten Gläsern. Er würde einen Barolo öffnen und den Korken mit einem befriedigenden Plopp aus der Flasche ziehen. Dann würde er mir den Stuhl heranrücken, doch ehe ich mich setzte, würde er mich in seine Arme schließen und mich küssen. Er würde mich an sich ziehen, bis ich sein Blut pulsieren spürte, den würzigen Duft seiner Haut riechen könnte und die süße Wärme seines Atems.

Nachdem ich meine suboptimale Lieferpizza verzehrt hatte und den Karton gerade zu einer Größe zurechtzutreten versuchte, die in den Abfalleimer passte, fiel mir der Brandy ein. Brandy sei ein bewährtes Hausmittel gegen Schock, pflegte Mummy zu sagen, und so hatte ich mir vor ein paar Jahren eine Flasche gekauft, nur für alle Fälle, und sie zu meinem Notvorrat in den Badezimmerschrank gestellt. Der Brandy könnte sich jetzt als Segen erweisen. Ich schaute im Bad nach – und tatsächlich, hinter den zusammengerollten Wundbandagen und Handgelenksschienen stand, ich konnte mein Glück kaum fassen, eine ungeöffnete Halbliterflasche Rémy Martin. Ich drehte den Deckel auf und trank einen Schluck. Längst nicht so gut wie Wodka, aber besser als nichts.

Meine nächste Sorge galt meinem neuen Laptop, hatte ich doch nie zuvor einen Computer eingerichtet, aber es sollte sich zeigen, dass man praktisch nichts falsch machen konnte. Kinderleicht und selbsterklärend. Auch das Zubehör für das mobile Internet funktionierte wie von selbst. Ich stellte den Laptop auf den Küchentisch, die Brandyflasche daneben, dann gab ich seinen Namen bei Google ein, drückte die Eingabetaste und hielt mir schnell die Augen zu. Nach einer Weile spähte ich vorsichtig zwischen den Fingern hindurch. Oh … so viele Ergebnisse! Hunderte, nein Tausende! Wie es aussah, würde meine Recherche leichter als gedacht – ich hatte die Qual der Wahl. Ich beschloss, methodisch der Reihe nach vorzugehen und mir die Seiten gut einzuteilen. Wozu hatte ich denn das ganze Wochenende vor mir? Es bestand kein Grund zur Eile, und so hätte ich viel länger etwas davon.

Über den ersten Link gelangte ich zu seiner Website. Außer Fotos von ihm und seiner Band gab es nicht viel zu sehen, aber das genügte mir völlig. Ich rückte so nah an den Bildschirm, bis ich mir fast die Nase daran plattdrückte. Dann stellte ich fest, dass man die Bilder auch vergrößern konnte. Hier war er, mein Musiker, wie er leibte und lebte. Ich hatte ihn mir weder eingebildet noch das Ausmaß seiner Schönheit überschätzt. Der nächste Link führte zu seiner Seite bei Twitter. Ich las die letzten drei Einträge, zwei davon witzig und süffisant, der dritte ausgesprochen charmant. Er sprach darin einem anderen Musiker seine Bewunderung aus, was ich sehr großzügig von ihm fand.

Danach Instagram. Er hatte fast fünfzig Fotos gepostet. Ich klickte eines an, eine Porträtaufnahme, sehr ehrlich und unverstellt, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat. Er hatte ein klassisches Profil, und auch seine Ohren waren perfekt, genau die richtige Größe, nicht zu nah am Kopf, aber auch nicht abstehend, die Windungen der Ohrmuschel vollkommen symmetrisch. Seine Augen waren hellbraun. Sie waren auf genau die Weise hellbraun wie eine Rose rot und der Himmel blau ist. Für mich waren sie der Inbegriff von Hellbraun.

Die Versuchung war groß, sich der Reihe nach durch alle Fotos zu klicken, aber mein Verstand zwang meinen Zeigefinger, die Seite zu schließen. Schnell überflog ich, was Google mir noch beschert hatte. Es gab Videoclips von ihm auf YouTube. Links zu Artikeln. Konzertkritiken. Und das war nur die erste Seite der Suchergebnisse! Ich nahm mir vor, alles zu lesen, was ich über ihn finden konnte – Recherche und Problemlösung waren schon immer meine Stärken. Bevor ich ihn dann das erste Mal träfe, würde ich ihn schon richtig gut kennen. Ich will mich hier keineswegs über Gebühr meiner analytischen Fähigkeiten rühmen, ich lege nur den Sachverhalt dar. Meine Herangehensweise schien mir plausibel und vernünftig. Schließlich musste ich ja wissen, wie die Liebe meines Lebens so wäre. Mit dem Rémy Martin, einem neuen Notizbuch und einem Filzschreiber, den ich mir übers Wochenende aus dem Büro geborgt hatte, siedelte ich aufs Sofa über und begann meinen Plan auszuarbeiten. Ab und an stärkte ich mich mit einem Schluck Brandy, der angenehm wärmte und zugleich beruhigte.

Als ich aufwachte, war es drei Uhr morgens, Filzschreiber und Notizbuch lagen auf dem Boden. Mir wurde langsam wieder bewusst, wie meine Gedanken im Laufe des Abends etwas auf Abwege geraten waren: Auf meine Hände waren mit schwarzem Filzschreiber immer wieder sein Name und lauter kleine Herzchen gekritzelt. In der Rémy-Martin-Flasche befand sich noch ein Fingerbreit Brandy. Ich trank ihn aus und ging zu Bett.

3

Warum ausgerechnet er? Warum gerade jetzt? Am Montagmorgen, während ich geduldig an der Bushaltestelle saß und auf meinen Bus wartete, versuchte ich eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Ich ging es wie ein Puzzle an, versuchte mich Stückchen für Stückchen an des Rätsels Lösung heranzutasten. Aber es war kompliziert. Wer kann schon das Walten des Schicksals begreifen? Größere Geister als der meine haben sich darüber den Kopf zerbrochen, ohne zu einer letztgültigen Einsicht zu gelangen. Der untere Westenknopf war es, der mir zuerst ins Auge gefallen war, damit hatte es angefangen, und alles Weitere war vermutlich in logischer Konsequenz daraus gefolgt. Plötzlich war er da gewesen, wie vom Himmel gefallen, ein Geschenk der Götter. Konnte es wirklich so einfach sein? Ein Mann wie er, mit diesem Aussehen, dieser Eleganz, diesem Talent? Mummy wäre gewiss mit ihm einverstanden.

Denn, dieser Gedanke war mir ganz plötzlich gekommen, wenn ich jemanden hätte – einen Lebensgefährten, vielleicht sogar einen Ehemann –, würde sie mich möglicherweise endlich in Frieden lassen. Nicht dass es darauf ankam, jemanden zu haben, nein, ich kam bestens allein zurecht. Andererseits hatte es noch nie geschadet, Mummy bei Laune zu halten. Einen Versuch war es wert, auch wenn ich, wie gesagt, im Grunde niemand anderen brauchte.

Nachdem ich über das Wochenende sämtliches Bildmaterial gesichtet hatte, war mir etwas aufgefallen. Etwas an seinen Augen, dieses warme, helle Braun. Meine haben fast dieselbe Farbe, wenngleich längst nicht so schön wie seine, es fehlt ihnen diese bronzene Tiefe. Und während ich so in seine Augen versunken war, tauchte plötzlich eine Erinnerung auf, ganz vage nur, wie ein Gesicht unter Wasser, unter Eis, verschwommen und allenfalls als schwache Ahnung zu erkennen. Es war, als erinnere ich mich an jemanden, den ich längst vergessen glaubte, jemanden, der mich irgendwann einmal aus genau solchen Augen angeschaut hatte, und in dessen Augen ich ebenso hatte versinken können wie nun in denen des Musikers.

So ein Unsinn. Ich seufzte schwer und war enttäuscht von mir, dass ich, wenn auch nur kurz, solch sentimentalen Schwachsinn hatte denken können. Was glaubte ich eigentlich, wer ich war? Viele Menschen hatten schließlich hellbraune Augen, das war kein Schicksal, sondern eine wissenschaftlich belegte Tatsache. Dass ich im Laufe meines Lebens irgendwann einmal einem Menschen mit einer ähnlichen Augenfarbe wie der meinen begegnen würde, lag im Rahmen der statistischen Wahrscheinlichkeit. Ebenso wahrscheinlich war, dass dies mehr als nur einmal der Fall wäre und wir im Laufe einer nicht weiter relevanten sozialen Interaktion sogar Blickkontakt miteinander hätten.

Was mich weitaus mehr beschäftigte, war etwas anderes: Studien belegen, dass Menschen meist einen Partner wählen, dessen Attraktivität in etwa der eigenen entspricht. Gleich und gleich gesellt sich gern, das ist die Norm.

Ich gab mich keinen Illusionen hin. Auf einer Skala von eins bis zehn war er eine zehn, und ich … Ich weiß nicht, was ich war. Definitiv keine zehn. Aber es stand zu hoffen, dass er sich nicht vom schönen Schein blenden ließe und innere Werte zu schätzen wüsste. Andererseits war mir natürlich bewusst, dass er eine Partnerin brauchte, die zumindest vorzeigbar war. Was im Musikgeschäft, im Showbusiness, zählt, ist das Image, und er könnte sich wohl kaum mit einer Frau zeigen, deren Erscheinungsbild ihm, zumindest in den Augen schlichterer Gemüter, nicht zum Vorteil gereichte – und deren gab es reichlich. Schlichte Gemüter, meine ich. All dessen war ich mir somit bewusst, und ich wusste auch, was das letztlich bedeutete: Ich würde mich anstrengen müssen, um meiner neuen Rolle auch äußerlich gerecht zu werden.

Er hatte einige neue Fotos gepostet, Profilbilder, einmal von links aufgenommen, einmal von rechts. Auf beiden sah er perfekt aus, ich wüsste nicht, welcher Seite ich den Vorzug geben würde, sie wirkten auf mich völlig identisch. An ihm gab es rein objektiv betrachtet keine schlechte Seite. Nicht umsonst gilt Symmetrie als eines der entscheidenden Definitionskriterien von Schönheit, auch darin sind sich alle Studien einig. Ich wüsste zu gern, wie seine Eltern aussahen, aus welchen Genen so gutaussehender Nachwuchs entstanden war. Ob er Geschwister hatte? Sollten wir jemals zusammenkommen, würde ich sie vermutlich kennenlernen. Eltern haben für mich den Reiz des Unbekannten, bin ich selbst doch eher … nun ja, unkonventionell aufgewachsen.

Im Grunde tun schöne Menschen mir leid. Schönheit muss eine permanente Herausforderung sein, nicht zuletzt, da sie von Beginn an immer schon im Schwinden begriffen ist, ewig vergänglich. Wie quälend, wie zermürbend ich mir das vorstelle. Selbst wenn man noch im Vollbesitz seiner Reize ist, muss ständig dieser Druck auf einem lasten, allen zu beweisen, dass man mehr als nur sein Äußeres zu bieten hat. Es ist bestimmt nicht leicht, nie genau zu wissen, ob man um seiner selbst willen geliebt wird oder doch nur seines perfekten Körpers wegen, der strahlenden Augen oder der seidig schimmernden Löwenmähne. Wie bringt man andere dazu, hinter die Fassade zu sehen? Und beginnt es einen nicht irgendwann zu langweilen, wenn man sich nie anstrengen muss?

In den meisten Berufen ist Älterwerden von Vorteil, weil man mit jedem Jahr besser wird. Alter und Erfahrung bringen einem Respekt ein. Verdient man sein Geld jedoch mit seinem Aussehen, verhält es sich genau umgekehrt. Wie deprimierend zu wissen, dass es nur abwärtsgehen kann! Von den Vorurteilen ganz zu schweigen, denn bestimmt haben schöne Menschen mit Ressentiments zu kämpfen, mit dem Neid weniger attraktiver Menschen, die ihnen ihr gutes Aussehen zum Vorwurf machen. Furchtbar unfair, wie ich finde, haben sie doch nicht darum gebeten, so geboren zu werden. Einen Menschen seiner Schönheit wegen nicht zu mögen, erscheint mir ähnlich gemein, wie ihn eines Makels wegen abzulehnen.

Ich habe mich an die Reaktionen auf mein Gesicht, auf die harten, weißen Linien des Narbengewebes, das sich von der Schläfe bis zum Kinn über meine rechte Wange zieht, gewöhnt; sie machen mir nichts mehr aus. Man starrt mich an, wendet sich ab, tuschelt über mich. In gewisser Weise bin ich ein Hingucker. Es stimmte mich zuversichtlich, dass er mich verstehen würde, zog doch auch er alle Blicke auf sich, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen.

Heute verzichtete ich ausnahmsweise auf den Telegraph und gab anderer Lektüre den Vorzug. Ich investierte eine fast schon obszöne Summe in ein buntes Sortiment an Frauenzeitschriften: dünne, grell aufgemachte Hefte und gewichtig daherkommende, auf Hochglanzpapier gedruckte Magazine, die neben allerlei Enthüllungen voller Versprechungen waren, wie man sein Leben in wenigen Schritten wundersam zum Besseren wenden könne. Ich hatte mir solche Zeitschriften nie gekauft, wohl aber in Wartezimmern oder ähnlicher Umgebung in der einen oder anderen geblättert. Etwas enttäuscht stellte ich fest, dass keine einzige ein Um-die-Ecke-gedacht-Rätsel hatte; in der Bella gab es dafür eine »Stars-und-Sternchen-Wortsuche«, die selbst die Intelligenz einer Siebenjährigen beleidigt hätte. Für das Geld, das mich dieser kleine, bunt bebilderte Stapel gekostet hatte, hätte ich drei Flaschen Wein oder einen erstklassigen Wodka kaufen können. Aber vermutlich heiligt der Zweck die Mittel, war ich doch nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gelangt, dass es für mich gar keine bessere und zuverlässigere Informationsquelle geben konnte. Diese Zeitschriften würden mir sagen, was ich tragen, wie ich mir die Haare machen musste, um dazuzugehören. Es gab Tipps, wie man sich schminken und welche Kosmetikprodukte man kaufen sollte. Wenn ich mich so zurechtmachte wie alle anderen auch, könnte ich in der Masse der Durchschnittsfrauen verschwinden. Unsichtbar werden. Niemand würde mich anstarren, mich auslachen oder mich seltsam finden. Das Ziel war einfach und klar definiert: nett anzusehende Uniformität, erfolgreiche Tarnung als sozial unauffällige Frau.

Von Mummy bekam ich immer zu hören, dass ich hässlich sei. Böse. Verrückt. Das hat sie mir von klein auf an gesagt, sogar noch ehe ich die Narben bekam. Es wurde mir regelrecht eingetrichtert. Umso mehr freute ich mich jetzt über die anstehenden Veränderungen. Ich war ganz aufgeregt. Alles schien plötzlich voller Möglichkeiten, als wäre ich wie eine weiße Leinwand, als könnte ich mich komplett neu erfinden.

An diesem Abend musterte ich mich während des Händewaschens eingehend in dem Spiegel über dem Waschbecken. Da war ich also, Eleanor Oliphant: langes, hellbraunes Haar, das mir fast bis zur Taille reichte, blasse Haut, die Nase zu klein und die Augen zu groß für ein Gesicht, dessen rechte Hälfte von Narben entstellt ist. Ohren: unauffällig. Größe und Gewicht: durchschnittlich. Durchschnittlich zu sein ist mein erklärtes Lebensziel, nachdem ich für meinen Geschmack schon viel zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen habe. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen. Ich sollte es mir auf die Stirn prägen lassen.