Ich geh pilgern – kommst du mit? - Claudia Orth - E-Book

Ich geh pilgern – kommst du mit? E-Book

Claudia Orth

4,6

Beschreibung

Über mir die brennende Sonne, vor mir der lange, weiße, staubige Weg, neben mir meine Mutter und im Kopf viele Fragen. Kann das gutgehen? Ich geh pilgern – kommst du mit?? So meine unbedarfte Frage. Und bevor ich mich versah, standen wir im Kloster von Roncesvalles auf der Schwelle zum Jakobsweg, vor uns insgesamt 800 Kilometer bis Santiago de Compostela. Es folgten beschwerliche Abschnitte, Ratlosigkeit, Schmerzen und Erschöpfung. Das alles aber nahmen wir in Kauf, denn überlagert wurde es von der Faszination des Weges, gespeist durch freundschaftliche und inspirative Begegnungen, die Gemeinschaft der Pilger und immer wieder neu die unglaubliche Freude, am Tagesziel anzukommen. Wie der Jakobsweg selbst präsentiert sich dieser Reisebericht – abwechselnd erzählt von Mutter und Tochter – als buntes Kaleidoskop aus Geschichten, Eindrücken, Stimmungen und Emotionen, tiefem Ernst, Zufriedenheit, Stolz und nicht zuletzt einer guten Portion Humor.

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Der Jakobsweg – seit Jahrhunderten zieht er Pilger aus aller Welt an.

Bereits als Kind, im zarten Alter von zehn Jahren, wurde Katharina von Faszination erfasst, als sie in einer Zeitschrift ein Foto sah, das Pilger auf dem langgestreckten, weißen Jakobsweg zeigte. Sofort beschloss sie, den Weg eines Tages ebenfalls zu laufen. Nach dem Abitur war es so weit, und sie bat ihre Mutter, sie zu begleiten. Ohne groß zu überlegen, sagte diese begeistert zu.

Völlig unbedarft machten sich die beiden auf zu einer Reise, die ihren Blick auf das Leben verändern sollte – einer Reise, die man als Wanderer beginnt und als Pilger fortführt. Und immer wieder tauchte die Frage auf: Warum tut man so etwas? Zumal etliche Anstrengungen und körperliche Probleme zu bewältigen waren. Aber der Weg zog sie vom ersten Schritt an weiter, Santiago de Compostela rief, und so marschierten sie von Ort zu Ort, von Tag zu Tag – bis an Ziel.

Katharina Orth (Jahrgang 1989) studierte Germanistik und Buchwissenschaft, sie lebt bei Stuttgart. Der Weg nach Santiago und Finisterra war ihre erste Pilgerwanderung, aber sicher nicht die letzte.

Claudia Orth wohnt in der Nähe von Kassel, sie ist verheiratet und hat zwei Töchter. Das Pilgern hat sie nicht mehr losgelassen – bis heute ist sie auf vielen anderen Wegen unterwegs.

Den Pfeilen folgend, die Muschel im Blick. Mit einem lieben Menschen an meiner Seite die Erlebnisse, aber auch die Stille teilen. Jeden Tag zusehen, wie die Sonne mich überholt. Pilger kennenlernen und wieder aus den Augen verlieren. Den Weg gehen. Die Zeit genießen. Dankbar sein.

Inhalt

Prolog

Unser Pilgerweg 2008

Anreise

Roncesvalles → Zubiri

Zubiri → Pamplona

Pamplona → Obanos

Obanos → Estella

Estella → Los Arcos

Los Arcos → Logroño

Logroño → Ventosa

Ventosa → Azofra

Azofra → Belorado

Belorado → Agés

Agés → Burgos

Burgos → Hontanas

Hontanas → Boadilla

Boadilla → Carrión de los Condes

Carrión de los Condes → Terradillos de los Templarios

Terradillos de los Templarios → El Burgo Ranero

El Burgo Raneiro → Puente Villarente

Puente Villarente → Virgen del Camino

Virgen del Camino → Villadangos del Páramo → León

León → Bilbao → Frankfurt

Unser Pilgerweg 2009

Anreise

León → Villar de Mazarife

Villar de Mazarife → Hospital de Órbigo

Hospital de Órbigo → Santa Catalina de Somoza

Santa Catalina de Somoza → El Acebo

El Acebo → Ponferrada

Ponferrada → Villafranca del Bierzo

Villafranca del Bierzo → O Cebreiro

O Cebreiro → Triacastela

Triacastela → Barbadelo

Barbadelo → Portomarín

Portomarín → Palas de Rei

Palas de Rei → Ribadiso

Ribadiso → Pedrouzo

Pedrouzo → Santiago de Compostela

Santiago de Compostela → Vilaserío

Vilaserío → Olveiroa

Olveiroa → Corcubion

Corcubion → Finisterra

Danke!

Prolog

„Mama, ich geh pilgern – kommst du mit?“

„Ja, klar. Natürlich. Warum nicht?“

„Super, aber du organisierst! Schließlich bin ich mitten im Abi ...“

Ich hätte wissen müssen, was das für mich bedeutet. Schließlich kenne ich meine Mutter.

~ ~ ~

2. Januar 2008, 7.30 Uhr. Es war noch dunkel, und ich fröstelte vor mich hin, als wir mit einigen weiteren Menschen vor einem Sportgeschäft standen, das an diesem Morgen Sonderverkauf hatte, während der Mann neben mir seinen Kaffee schlürfte und die Zeitung las. Punkt 8 Uhr – kaum waren die Pforten geöffnet, stürmten wir ins Warme. Einige Zeit später waren wir stolze Besitzer zweier Trekkingrucksäcke und sämtlicher benötigter Wanderutensilien. Das Warten hatte sich gelohnt.

Während ich eifrig für die Prüfungen lernte, bereitete meine Mutter das gemeinsame Projekt vor, buchte im Kasseler Reisebüro Kreger Hin- und Rückflug etc. Das war gar nicht so einfach, denn wir wussten ja nicht genau, wo wir am Ende landen würden, deshalb waren wir sehr dankbar für die engagierte und kompetente Unterstützung durch Frau Kreger. Da wir in diesem Sommer nur gute drei Wochen Zeit hatten, in denen aber die 900 Kilometer des gesamten Jakobsweges bis zum Atlantik nicht zu schaffen waren, wollten wir den Weg in zwei Abschnitte teilen und 2008 die erste Hälfte der Strecke pilgern, die uns ungefähr bis nach León führen würde. Im darauffolgenden Jahr sollte dann der zweite Teil bis Santiago de Compostela und weiter nach Finisterra drankommen.

Warum geht man nun pilgern? Sicher gibt es viele mögliche Gründe, und jeder hat seine eigenen. Für mich war der Auslöser ein Foto in einer Zeitschrift. Es zeigte zwei Personen, die mit großen Rucksäcken einen langen, weißen Weg entlangliefen. Ich war zehn Jahre alt und fasziniert: Wer waren die beiden, und wo wollten sie hin? So erfuhr ich vom Pilgerweg zum Grab des Heiligen Jakobus in Santiago und beschloss sogleich, dass auch ich eines Tages den Jakobsweg laufen würde. Mit den Jahren blieb der Wunsch zu pilgern bestehen, weitere Intentionen kamen hinzu, das Mosaik vervollständigte sich. Nun stand ich also kurz davor, dass mein Traum in Erfüllung ging, aber ein wichtiges Steinchen fehlte mir noch: Warum mit meiner Mutter? – Es war einfach naheliegend. Wir verstanden uns gut, und ich fühlte, dass das Pilgern auch sie interessieren könnte. Außerdem beabsichtigte ich im Herbst mein Studium in Erlangen anzufangen. Das Abenteuer mit ihr zu teilen, die gemeinsame Erfahrung – sicherlich würde uns das später auch über die Entfernung verbinden.

Unser Pilgerweg 2008

Anreise

16. Juni 2008

Ein Traum wird wahr

Endlich war es so weit: Nach dem Abiball tauschten wir die eleganten Kleider gegen die Wanderkluft, welche uns die nächsten Wochen begleiten sollte. Die Rucksäcke standen bereit, etwa 10 Kilogramm Gewicht pro Person, Wasserflasche und Verpflegung kamen später noch hinzu. Wie sollten wir es nur schaffen, das alles quer durch Spanien zu tragen? Das Gefühl aber war einzigartig: aufzubrechen zu einer Wanderung, bei der ich letztendlich überhaupt nicht wusste, was mich erwartete. Der Pilgerausweis war neben der am Rucksack befestigten Jakobsmuschel als sichtbares Symbol des Jakobspilgers das Wichtigste, er berechtigte uns, in Pilgerherbergen zu übernachten. Bei unserem Pfarrer ließen wir uns den ersten Stempel hineingeben, er wirkte auf dem jungfräulichen Papier noch ziemlich verloren, aber es würden ja bald viele hinzukommen.

Unsere Familie ließ uns nur ungern ziehen, sie machte sich Sorgen – zwei Frauen, ganz allein auf dem Jakobsweg, der durch dunkle Wälder und menschenverlassene Gegenden führt ... Doch mich kümmerte das nicht. Ich wusste nur, dass ich endlich den Weg in Angriff nehmen würde. Wie ich das letztendlich schaffte, war mir egal.

Nach Zwischenstationen in Bilbao und Hendaye erreichten wir am folgenden Tag Saint-Jean-Pied-de-Port, wo der Camino Francés, der klassische Jakobsweg, offiziell startet. Es liegt noch in Frankreich, die Grenze ist aber nah. Als wir aus dem Bus stiegen, war ich ziemlich erschöpft. Die Reise war lang gewesen und der Rucksack wahnsinnig schwer. Darüber hinaus hatten wir nicht die geringste Ahnung, wo wir eine Schlafmöglichkeit finden konnten. So stolperten wir den anderen Reisenden einfach hinterher, die sich zielstrebig Richtung Dorf aufmachten. Als wir ein Schild sahen, das auf freie Zimmer in einer Pension hinwies, schlugen wir sofort zu – sozusagen ein kleiner Luxus vor dem kargen Leben in den Pilgerherbergen.

Im ganzen Ort sahen wir die Pfeile an den Häusern, die den Jakobsweg markieren, sogar auf dem Essbesteck waren Muschelsymbole abgebildet, wie sie uns auf den nächsten Kilometern begleiten würden. Wir überlegten hin und her, ob wir wirklich gleich den Ibañetapass mit 1200 Höhenmetern überqueren sollten, eigentlich die erste Etappe. Auf der einen Seite wollten wir den Weg ungern damit beginnen, mit einem Bus etliche Kilometer zu überspringen – also gleichsam zu mogeln, wie man auch sagt. Auf der anderen Seite ist der Pass zwischen Frankreich und Spanien berühmt-berüchtigt. Es heißt, er sei eine Feuerprobe und strapaziere den Körper aufs Extreme. Für etliche Pilger war der Weg bereits nach der Überquerung beendet. Zudem waren wir ja überhaupt nicht vorbereitet für solch lange Strecken, wie sie vor uns lagen ... Als wir das Höhenprofil sichteten, das wir von der Pilgerinformation des Ortes bekommen hatten, entschieden wir uns schließlich schweren Herzens dafür, eine Fahrgelegenheit zu suchen. Ich hatte schon seit Jahren Probleme mit den Knien, und vermutlich würde ich sie mir sonst komplett ruinieren, wodurch der Weg auch für mich vorzeitig beendet wäre.

So standen wir am nächsten Tag an der Bushaltestelle und fuhren mit einem kleinen Van, der normalerweise Rucksäcke von Herberge zu Herberge transportierte, über den Pass. Während der Fahrt unterhielten wir uns mit Iván, dem Fahrer, über den Jakobsweg. Er wollte uns weismachen, dass wir im Schnitt 20 bis 25 Kilometer am Tag laufen würden. Meine Mutter und ich schauten uns an und versuchten, nicht loszulachen. 25 Kilometer! 20 waren in meinen Augen das absolute Maximum, was wir jemals schaffen könnten. Schließlich hatten mir bei einer Testwanderung mit fünf Kilo Gepäck im Rucksack schon acht Kilometer gereicht. Sollte er aber recht behalten ... Das kann ja was werden!

Um 10 Uhr erreichten wir Roncesvalles in den spanischen Pyrenäen, unseren Startort am Jakobsweg, dem Camino, wie sie ihn hier nennen. Der Himmel zeigte sich bedeckt, und es war ziemlich kalt. Im klösterlichen Pilgerbüro holten wir uns den nächsten Stempel. Dort lag ein Fragebogen aus, der sich nach den Gründen für die Pilgerschaft erkundigte: Sind es religiöse Motive, kulturelle oder sportliche? Es gibt ja so viele, individuell ganz unterschiedliche! Jeder hat seine Geschichte zu erzählen, wie er auf den Weg gefunden hat, und jede Geschichte ist es wert, gehört zu werden.

Schließlich reihten meine Mutter und ich uns ein in die lange Reihe der Pilger auf dem Weg zum Grab des Heiligen Jakobus, die neben ihrem Rucksack auch ihre Geschichte im Gepäck hatten.

Roncesvalles → Zubiri

17. Juni 2008 | 23 km

Alles ist neu, alles unbekannt. Der Weg wartet. Geh los.

Nun denn, das Abenteuer kann beginnen. Glücklich, aber auch mit etwas Angst vor der eigenen Courage traten wir aus dem Kloster und stellten uns der Herausforderung. Wir schauten uns um, wussten aber nicht, in welche Richtung wir gehen sollten, und liefen die Straße hinunter. Als wir einen Einheimischen erblickten, fragten wir nach dem Weg und folgten seinem ausgestreckten Zeigefinger, der direkt auf ein riesiges Straßenschild zeigte (siehe folgende Seite).

Mittlerweile war es halb elf, als ich meinen ersten Pfeil entdeckte. Es war ein großes Schild, nicht zu übersehen. Der Pfeil leitete uns auf einen Waldweg, der sich immer weiter von der Straße entfernte. Der etwas romantisch anmutende Anfang fand jedoch nach 500 Metern sein Ende, als meine Mutter sich über einen Stein beschwerte, der irgendwie den Weg in ihren Schuh gefunden hatte. Nun ja, jeder weiß, wie man einen Schuh ausleert und dass man danach nochmals in die Knie geht, um ihn wieder zuzubinden. Nur hat man normalerweise keinen Rucksack auf dem Rücken, der gefühlte 20 Kilo wiegt. Dieses Problem fiel uns auf, als meine Mutter sich wieder aufrichten wollte. Mit großem Geächze und meiner Hilfe schaffte sie schließlich den Kraftakt. Ob das jetzt wohl immer eine so große Aktion wird, einen Stein zu entfernen, der mit dem bloßen Auge fast nicht zu erkennen ist ...?

Nachdem wir dieses erste Hindernis überwunden hatten, ließ das nächste nicht lange auf sich warten: eine Kreuzung. Wo soll es langgehen? Wir waren aufgeschmissen. Da war zwar ein Stein mit einem Muschelzeichen drauf, aber wie soll man es interpretieren? Auf gut Glück wanderten wir einfach weiter und hofften, bald weitere Zeichen zu finden.

Wir brauchten einige Kilometer und die Erklärung unseres Pilgerhandbuchs, um zu lernen: Pfeilen folgt man am besten in die Richtung, in die sie zeigen. Die Muscheln haben eine symbolische Bedeutung. Die Strahlen zeigen die verschiedenen Wege, die in einem Punkt, Santiago, zusammenlaufen. Also darf man keinesfalls den Strahlen folgen, sondern muss auf den Punkt zugehen. (Kleiner Tipp am Rande: Lesen Sie das Vorwort Ihres Reisehandbuchs! Da stehen oft sehr nützliche Informationen drin, die einem das Leben deutlich erleichtern können. Quellenangabe unseres Pilgerhandbuchs: Spanien: Jakobsweg Camino Francés. Outdoor-Handbuch aus dem Conrad Stein Verlag, Reihe „Der Weg ist das Ziel“.)

Nachdem wir uns nun endlich auf dem richtigen Weg befanden, hörten wir Regen auf die Blätter der Bäume prasseln und packten unsere Regencapes aus. Schließlich waren wir ja gerüstet. Doch wie zieht man die an? Das erwies sich als die dritte Hürde, denn unsere Versuche erinnerten eher an das Aufstellen eines Klappliegestuhls aus den 60er-Jahren. Schließlich durchstiegen wir die hochkomplexe Konstruktion, zogen die Capes über den Kopf – und sahen beide aus wie Quasimodo. Bald darauf verließen wir den schützenden Wald und wanderten entlang einiger Felder. Zwar war es kalt und nass, aber ich fühlte mich so lebendig und motiviert wie schon lange nicht mehr. Der Wind zerrte an mir, als ich mir meinen Weg durch den Regen bahnte und dabei bedächtig meine Füße voreinander setzte, denn ich wollte nicht so auszusehen wie meine Mutter, die auf dem schlammigen Weg ausgerutscht und der Länge nach hingefallen war. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, als sich die erdfarbene Schildkröte, die meine Mutter nun war, wieder erhob.

Wir durchquerten die kleinen Pyrenäendörfer Burguete und Espinal, deren Straßen im strömenden Regen menschenleer vor uns lagen, und erklommen bald darauf einen kleinen Berg, von dem aus wir eine grandiose Aussicht über die grünen Anhöhen der Pyrenäen hatten. Andere Pilger trafen wir nicht, die hatten wahrscheinlich Roncesvalles schon vor 8 Uhr verlassen und waren bereits Stunden vor uns hier durchgewandert. Links und rechts des Weges standen immer wieder kleine Steinhaufen Spalier, von Pilgern aufgeschichtet, um Spuren zu hinterlassen. Durch wochenlangen starken Regen waren die Wege arg aufgeweicht und mit tiefen Pfützen übersät. Bei jedem Schritt saugten sich unsere Schuhe im weichen Untergrund fest, zudem blieb der Matsch an den Schuhen hängen. Als wir schließlich auch noch glitschige Abstiege im Wald erreichten, kam meine Mutter ins Zweifeln, ob es noch freie Betten in der Herberge gäbe, wenn wir erst so spät ankämen, denn unser Tempo war schneckenmäßig langsam. Gut, dass wir unsere Stöcke dabei hatten, mit denen wir Halt suchend im Schlamm herumstocherten. Über deren Nutzen hatten wir auf dem Frankfurter Flughafen noch gegrübelt, jetzt waren wir dankbar für die Hilfe.

Am frühen Nachmittag blies ein leichter Wind die Wolkendecke Richtung Osten davon, die Sonne kam hervor, und schlagartig wurde es warm. Erleichtert zogen wir die Capes aus und liefen unverdrossen weiter über Wurzeln und Bachläufe, auf den Pfaden, die schon Tausende Pilger vor uns genommen hatten. Die Eindrücke überrollten mich. Die unmittelbare Naturerfahrung war grandios, doch mein Körper schien für das Abenteuer noch nicht bereit: Die Hüften waren durch den Beckengurt wundgescheuert, meine Schultern und Füße brannten. Wo ist die Zivilisation, wenn man sie braucht? Hinter jeder nächsten Biegung oder Kuppe hoffte ich unser Tagesziel zu erblicken. Da, endlich eine Häuseransammlung vor uns: Zubiri. Über die sogenannte Tollwutbrücke betraten wir den Ort und hielten Ausschau nach der kommunalen Pilgerherberge, denn nun wollten wir uns auf das Leben auf dem Weg einstimmen. Nach einhundert Metern sahen wir das Schild: Albergue de Peregrinos. Es ist schwer zu beschreiben, was ich in jenem Moment gefühlt habe. Zum einen war es Erleichterung, weil ich kaum mehr laufen konnte, zum anderen Neugier auf meine erste Pilgerherberge. Stolz war nicht dabei, vielleicht aber ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, weil ich keine Ahnung hatte, was nun auf mich zukam. Geduldig warteten wir auf die Herbergsmutter, die Hospitalera, um einzuchecken. Als eine Mitpilgerin uns sah, empfahl sie uns, die Rucksäcke auszuziehen. Das war die beste Idee des Tages! Ich fühlte mich gleich so viel leichter. Die Herbergsmutter gab uns den Stempel unserer ersten Herberge und wies uns zwei Betten zu. Kurze Zeit später betraten wir einen schlichten Schlafsaal, meiner Mutter fiel die Kinnlade runter: 14 Stockbetten mit blau gemusterten Matratzen, ganz im Stile der 50er-Jahre. Den Boden bedeckten Erdklumpen, die von den Schuhen unserer Mitpilger abgebröckelt waren, und es roch nach feuchter Kleidung – kein Wunder. Nun, es war recht einfach, aber so ist das Leben auf dem Weg.

Nachdem wir ein paar Sachen auf unsere Betten gelegt hatten, um sie zu reservieren, gingen wir zu den Sanitäranlagen – und wurden dort von einem älteren Mann begrüßt, der bei offener Tür geräuschvoll in eine der Damentoiletten strullerte ... Die Waschbecken erwiesen sich eher als großer Trog, worin die Pilger die Kleidung waschen und die Schuhe säubern konnten. Dementsprechend sah es auch aus. Die Duschen waren Gemeinschaftsduschen, immerhin nach Männlein und Weiblein getrennt, aber es waren trotzdem Gemeinschaftsduschen! Sind hier alle Herbergen so? Auf was hatte ich mich da nur eingelassen! Vielleicht hätte ich mich doch vorher mal informieren sollen, was es überhaupt bedeutet, den Jakobsweg zu laufen. Aber jetzt war ich da, hier in Zubiri, die Würfel waren gefallen. Nun ja, dachte ich, vielleicht könnten wir ja doch ab und an in einer Pension schlafen ...

Die Essensplanung für den nächsten Tag stand an, so suchten wir eine Möglichkeit, um einzukaufen, fanden einen kleinen Laden und holten dort Schinken, Käse und Brot sowie Saft und natürlich Obst für den kleinen Hunger zwischendurch. Als wir aus dem Geschäft heraustraten, kam ein Pilger auf uns zu und fragte: „Hey folks, how can you eat this ham?“ Ich glaubte zuerst, einen militanten Vegetarier vor mir zu haben, und erwiderte, dass wir ihn ganz normal essen würden, in Gedanken ergänzte ich: „ohne schlechtes Gewissen“. Doch dann ging mir auf, dass er es ernst meinte und einfach nur wissen wollte, ob er den Schinken zubereiten müsse. Also erklärte ich ihm, dass er den Schinken roh essen könne, ohne ihn kochen zu müssen. Während des Gesprächs teilte er uns mit, dass er Tim heiße und aus Ohio käme. Wir stellten uns ebenfalls vor, woraufhin er freudig erzählte, dass er Vorfahren aus Westpreußen hätte. Anschließend kaufte er ebenfalls etwas von dem Schinken.

Abends gingen wir in ein Restaurant, setzten uns zu zwei Pilgerinnen aus Oklahoma, Tony und Melissa, und bestellten das Pilgermenü. Es bestand aus drei Gängen, wobei wir jeweils zwischen drei bis fünf Gerichten auswählen konnten. Gemeinsam schlenderten wir wieder zurück zur Herberge und machten uns fertig für die erste Nacht. Vorsichtshalber hievte meine Mutter ihren Rucksack auf das Stockbett und legte ihn ans Fußende, denn sie fürchtete um die wichtigen Dokumente darin. Das ist nachvollziehbar, wenn man noch nie auf dem Jakobsweg unterwegs war. Normalerweise bringt man fremden Menschen ja nicht sein vollstes Vertrauen entgegen, vor allem wenn es um Wertsachen geht. Aber im Laufe der Zeit lernten wir den Menschen, die mit uns nach Santiago gingen, Vertrauen entgegenzubringen, ebenso wie sie uns vertrauten. Und wenn man es von der pragmatischen Seite sieht: Wenn man irgendwo etwas mitgehen ließe, müsste man es auch tragen. Und wir merkten bald, dass jedes Gramm zählte ...

Zubiri → Pamplona

18. Juni 2008 | 21 km

Der Weg des Schmerzes und des Staunens.

Am nächsten Morgen brauchten wir ewig, bis wir endlich zum Aufbruch bereit waren. Die meisten Mitpilger waren schon um 6 Uhr aufgestanden, was wir nur im Halbschlaf mitbekommen hatten. Nachdem wir noch gemütlich in der kleinen Küche im Nebengebäude zusammen mit ein paar spanischen Nachzüglern gefrühstückt hatten, machten wir uns um 8 Uhr endlich auf in Richtung Pamplona. Es war recht warm für diese frühe Morgenstunde, und ein wolkenloser Himmel versprach einen schönen Tag. Voller Elan wandten wir uns nach Westen, die wärmende Sonne im Rücken, und hörten das Lied der Vögel hoch oben in der Luft. Was kostet die Welt? Uns ging es gut. Dieses Gefühl überkam mich in dem Augenblick. Kurz hinter der Ortschaft passierten wir ein Industriegebiet, dahinter führte uns der Weg in einen Wald. Die kunterbunte Randbepflanzung wucherte wild: Heckenrosen, Orchideen und vieles andere an Büschen und Blumen. Plötzlich ertönte Glockengebimmel, als erwartete uns eine Almwiese voller Kühe. Doch hier waren es Pferde, denen Kuhglocken am Hals baumelten. Unsere erste Pause des Tages machten wir am Brunnen eines kleinen Dorfes, um uns herum viele Katzen, von denen einige lädiert waren: Der einen fehlte ein Auge, der anderen der Schwanz, und eine weitere humpelte. Nach der kurzen Rast gingen wir unternehmungslustig weiter, entlang murmelnder Bäche und durch lichte Wälder, welche uns vor der heißen Sonne schützten. Alles war neu, die Eindrücke purzelten wild durcheinander. Unsere Wasserflaschen füllten wir an den Brunnen am Wegesrand auf, die meistens trinkbares Wasser anboten. Einheimische und Mitpilger grüßten mit dem üblichen „Buen Camino“ – einen guten Weg –, Worte, die uns nun bis Santiago begleiten würden.

Im Laufe des Tages kletterten die Temperaturen auf über 30 Grad. Meine Fußsohlen brannten wie Feuer, ein Schmerz, wie ich ihn bis jetzt noch nicht kannte, hinzu kamen große Schmerzen in meinen Knien, sodass ich bald kaum noch die Beine bewegen konnte. Ich hatte zwar befürchtet, dass ich damit Probleme bekommen würde, aber mit solch großen Schmerzen hatte ich nicht gerechnet. Wie soll ich so noch meilenweit laufen ...? Das war es dann wohl, dachte ich. Weit bin ich ja nicht gekommen. Meine Mutter dagegen hatte überhaupt keine Probleme. Sie stiefelte neben mir her, es ging ihr gut, aber sie hatte ja auch 30 Jahre breitere Füße. Ich wurde traurig und auch ziemlich mutlos. Als wir endlich Pamplona vor uns sahen, dauerte es dennoch endlos lange, bis wir die Vororte durchquert hatten. Die Pfeile führten uns kreuz und quer durch Gartenanlagen und Straßen, bis wir schließlich einen Park erreichten. Bänke standen an den Wegrändern, am liebsten hätte ich mich einfach darauf niedergelassen. Die Gedanken meiner Mutter konnte ich wie ein Spruchband auf ihrer Stirn lesen: „Ich kann Katharina gar nicht beim Laufen zusehen. Wenn ich ihr doch nur helfen könnte!“

Auf den Wegen waren zwar gelbe Pfeile aufgemalt, doch sie zeigten in die verkehrte Richtung! Irritiert schauten wir im Pilgerhandbuch nach, welches unsere Richtung bestätigte. Was tun? Ich fragte schließlich jemanden nach dem Weg, denn meine Mutter schob Panik, dass wir uns verlaufen hätten. Für sie war es sehr fraglich, ob und wie ich überhaupt die nächste Herberge erreichen würde. Umwege jedenfalls wollte sie mir ersparen. Doch jeder kleine Schritt brachte die Erlösung näher. Nach einer Ewigkeit erblickten wir die Puente Magdalena, eine alte Römerbrücke, die uns ins Zentrum Pamplonas führte. Und endlich, endlich ein Schild: Casa Paderborn 100 Meter. Nur noch einhundert Meter! Auch meine Mutter atmete auf. „Egal, wie die Herberge ist, die nehmen wir, wenn Betten frei sind! Hoffentlich kannst du morgen weitergehen. Ich hätte nicht gedacht, dass deine Knie so viel Ärger bereiten würden. Mit 19!“

Der restliche Weg raubte mir die letzte Kraft, diese einhundert Meter schienen die längsten in meinem ganzen Leben zu sein. Ich schlich durch die weit offen stehende Tür, ließ meinen Rucksack zu Boden fallen und sank auf den nächstbesten Stuhl. Die netten deutschen Herbergseltern boten uns Kekse und Orangensaft an. Welch ein Luxus! Leider konnte ich nicht sitzen bleiben, sondern musste mich noch irgendwie bis in den ersten Stock schleppen. Die Treppe aber stand wie eine Mauer vor mir, wie sollten das meine Knie schaffen? Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und im Flur deponiert hatte, schulterte ich noch einmal den Rucksack und folgte der Hospitalera mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Frauenschlafzimmer mit vier Stockbetten – hier gab es tatsächlich noch Geschlechtertrennung. Meine Mutter nahm das obere Bett, um mir die Leiter zu ersparen, und brach dann zu einer Erkundungstour durch das Haus auf, von der sie freudestrahlend zurückkam und mir von Einzelduschen berichtete. Sofort rappelte ich mich auf, ohne Rucksack ging das bedeutend leichter. Die Dusche war herrlich und belebte mich, sodass ich mich wieder in der Lage sah, die Stadt zu besichtigen.

Die Schmerzen quälten mich noch immer, als wir Richtung Innenstadt loszogen. Vermutlich war es etwas verrückt, kaum laufen zu können, aber zu einer Stadtbesichtigung aufzubrechen; ein gewisser Grad an Verrücktheit muss allerdings vorhanden sein, um sich auf den Weg einzulassen ... In der Innenstadt fiel uns eine rückwärtsgehende Uhr auf, die an einer Hauswand befestigt war: In 17 Tagen und 4 Stunden sollte die Stierhatz hier in der Stadt beginnen. Pamplona, die Stadt der Stierkämpfe! Wir liefen durch die typisch spanische Fußgängerzone, wo das Spektakel der besonderen Art stattfinden würde. Die Gebäude hatten vor allen Fenstern kleine Balkone. Einige der Arkadenhäuser waren bereits wegen der Stierhatz durch dicke Holzbalustraden geschützt. Links und rechts befanden sich Geschäfte und kleine Cafés, die zum Eintreten einluden. Doch mein einziger Wunsch war eine geöffnete Apotheke, um meinen Vorrat an Schmerzgel auffüllen zu können …

Die Stierkampfarena wollten wir natürlich auch besichtigen, aber lange Schlangen vor dem Eingang schreckten uns ab. Außerdem hätte das bedeutet, längere Zeit stehen bzw. laufen zu müssen, und das wollte ich mir nicht antun. So schlichen wir weiter durch die Fußgängerzone. Meine Mutter lief staunend voraus, ihre Augen wurden sogar noch größer, als sie in eine Schinkenbar hineinblickte, wo riesige Serranoschinken in enormer Anzahl an der Decke hingen und Schweinefüße in der Auslage angeboten wurden. Sofort beauftragte sie mich zu fragen, ob sie diese fotografieren dürfe. Aber wer könnte einer so begeisterten Pilgerin diesen einfachen Wunsch abschlagen? Während ich durch die Straßen humpelte, überkam mich trotz allem ein Hochgefühl, so als hätten wir schon viel geschafft, immerhin war die erste große Stadt erreicht. Doch waren es ja erst 40 Kilometer von insgesamt 800 bis Santiago ...

Erschöpft, aber zufrieden kehrten wir abends in die Herberge zurück. In unserem Zimmer wurden wir begrüßt von Maja aus Bremen, Maria aus Österreich, Tamara aus der Schweiz, die schon seit Le Puy in Frankreich unterwegs war, und Silvia aus Bochum. Mit ihnen plauderten wir bis spät in die Nacht, ehe wir in einen tiefen und erholsamen Schlaf fielen.

Pamplona → Obanos

19. Juni 2008 | 24 km

Da vorn ist ein Dorf. Da gibt es Wasser.

Den folgenden Tag wurden wir sanft von Mönchsgesang geweckt, der aus kleinen Lautsprechern in unser Zimmer drang. Sofort dachte ich an meine Knie, ohne große Hoffnungen zog ich sie vorsichtig an, doch zum Glück ließen sie sich bewegen. Die Schmerzen waren zwar noch da, hielten sich aber in Grenzen. Zuversichtlich robbte ich aus dem Schlafsack. Zu dem Mönchsgesang gesellte sich leckerer Kaffeeduft, der durchs Haus zog und mich augenblicklich stimulierte. Hunger stellte sich ein. Erwartungsvoll erkundigte sich meine Mutter nach meinem Befinden und freute sich riesig, als ich meinte, dass wir weitergehen konnten. Bald hatten wir die Sachen gepackt und stiefelten runter in den Frühstücksraum, wo uns liebevoll und reichhaltig gedeckte Tische erwarteten, um uns für die Anforderungen des Tages zu stärken. Am Nachbartisch saßen Fahrradpilger aus Deutschland, die sich für den gesamten Jakobsweg zwölf Tage Zeit genommen hatten. In diesem Moment war ich sehr stolz, den Jakobsweg zu Fuß erleben zu können, mit all seinen schwierigen und schönen Seiten.

Nach dem Frühstück verabschiedeten uns die Herbergseltern mit einer herzlichen Umarmung und gaben uns einen Satz mit auf den Weg: „Ihr werdet euch noch wundern, was ihr alles erleben werdet!“ Voller Dankbarkeit über so viel Herzlichkeit schnürten wir unsere Schuhe und schulterten die Rucksäcke, um uns dem Abenteuer zu stellen. Aus verschiedenen Richtungen strömten die Pilger an diesem frühen Morgen auf den Camino, der entlang einer Straße aus der Stadt herausführte. Einer überholte uns zügig mit großen Schritten. Spontan tauften wir ihn „die Muschel“, weil an seinem tannengrünen Rucksack eine große Jakobsmuschel wie festgenagelt befestigt war. Nachdem wir endlich die Vororte Pamplonas hinter uns gelassen hatten, erblickten wir am Horizont die Herausforderung des Tages: den Alto de Perdón, eine Anhöhe mit 400 Höhenmetern. Schlagartig kam ich ins Zweifeln, ob meine Knie mir diese Anstrengung wirklich verzeihen würden. Durch kleine Dörfer und entlang großer Flecken voller Wildblumen, deren Duft in der Luft hing, sahen wir den Weg, der sich den Berg hochschlängelte. Es war unser erster Aufstieg, und mir fiel das Lied von Xavier Naidoo ein: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.”

Und der Weg war steinig und schwer. Auf halber Strecke fingen meine Knie an, sich heftig zu beschweren, was ich aber ignorierte. Zum einen blieb mir nichts anderes übrig, zum anderen wollte ich sie an die Belastung gewöhnen. Meine Mutter konnte sich das Humpeln nicht länger mit ansehen und nahm mir den Schlafsack von immerhin 650 Gramm ab, damit ich den Aufstieg überhaupt durchstand. Sie quälten weder Knie- noch Hüftbeschwerden. Meine ach so gepriesene Jugend half mir gerade überhaupt nicht. Wie sollte ich es jemals bis Santiago schaffen, wenn ich schon nach 50 Kilometern so viele Probleme hatte? Doch ein Seitenblick auf meine Mutter sagte mir, dass ich es schaffen würde, egal wie. Der Ginster am Wegesrand roch wunderbar und begleitete uns wie ein gelber Fluss den Berg hinauf. Sobald ich den Blick hob, sah ich die Windräder auf dem Plateau, die mir zeigten, wie weit ich noch zu gehen hatte. Hin und wieder saßen erschöpfte Pilger mit hochrotem Gesicht am Wegesrand, die versuchten, wieder zu Atem zu kommen. Etwas abseits des Weges erkannten wir Tamara im Schatten eines Baumes. Behutsam rieb sie ihren Fuß mit Schmerzgel ein. Heute Morgen hatte sie uns von ihrer Sehnenentzündung erzählt, die ihr große Schwierigkeiten bereitete. Trotzdem hoffte sie bis Santiago zu kommen.

Pünktlich zum Mittag hatten wir den Berg endlich bewältigt und waren auf dem Grat angelangt. Ungläubig betrachtete ich meine Knie, die mich bis hierher getragen hatten. Als ich in das Gesicht meiner Mutter blickte, erkannte ich mein eigenes im Spiegelbild ihrer Sonnenbrille: zerzauste Haare, verschwitztes Gesicht und Ränder unter den Augen. Abgekämpft setzten wir uns auf die Stufen eines Monuments, für eine wohlverdiente Pause wie geschaffen, und aßen unser karges Mittagsmahl: trockenes Brot, das wir mit Leitungswasser aus der Flasche hinunterspülten, und durch die Hitze geschmolzenen Käse, den wir am Vorabend in Pamplona gekauft hatten. Die Aussicht aber war atemberaubend und entschädigte uns für alles. Zur einen Seite konnten wir Pamplona im leichten Dunst erkennen, ein Blick in die andere Richtung zeigte uns ein weitläufiges Tal, in dem sich kleine Dörfer versteckten, eines davon war unser Tagesziel: Obanos. Erst einmal genossen wir es, hier oben zu sein, und betrachteten die Eisenfiguren, ein Symbol für die vielen Pilger unterwegs gen Santiago. Darunter war ein Schild angebracht, auf dem folgender Satz stand: Donde se cruza el camino del viento con el de las estrellas – Wo sich der Weg des Windes mit dem der Sterne kreuzt. Augenblicklich bekam ich eine Gänsehaut, und auch meine Mutter kämpfte mit den Tränen. Es mag nur ein Satz auf einer Eisentafel sein, aber allein das Gefühl, hier auf dem Berg mit den vielen anderen Jakobspilgern zu sein, war doch sehr bewegend. Ein Pärchen, das wir am Vorabend in Pamplona in einem Café gesehen hatten, saß etwas abseits unter den Eisenfiguren und schien sich selbst genug zu sein.

Endlich bekam ich auch die Möglichkeit, meine eingerosteten Spanischkenntnisse wieder auf Vordermann zu bringen, denn ich machte die Bekanntschaft von drei Frauen aus Barcelona, die sich gemeinsam auf den Weg gemacht hatten und die ich „Die Drei von der Tankstelle“ taufte. Eine von ihnen zeigte verständnisvoll auf meine Kniebandage und erzählte mir von selbigen Problemen. Spontan beschlossen wir, den steilen Abstieg auf dem losen Gerölluntergrund gemeinsam zu bewerkstelligen, denn geteiltes Leid ist ja bekanntlich halbes Leid, oder? Wahrscheinlich boten wir dann ein amüsantes Spektakel für die anderen Pilger, welche schnell an uns vorbeizogen. Für mich aber war es das Wichtigste, mit meinen wackeligen Knien überhaupt hinunterzukommen und nicht auf einem der großen Geröllbrocken auszurutschen, was sicherlich das Ende meiner Reise bedeutet hätte. Wieder einmal fragte ich mich, was mich wohl geritten hatte, den Jakobsweg laufen zu wollen.

Doch all meine schmerzenden Körperteile, die Gemeinschaftsduschen, die Hitze und das karge Essen wurden wettgemacht durch etwas viel Wichtigeres: die Gemeinschaft mit den anderen Pilgern, die Freude, in der Herberge anzukommen, die Neugier auf den Weg und das Kommende, von dem die Herbergsmutter gesprochen hatte. In meine Gedanken brachen die Worte der Spanierin ein, die neben mir versuchte, den Abstieg einigermaßen heil zu überstehen. Hochkonzentriert versuchte ich nun, dem Gesagten zu folgen, von dem ich leider nicht allzu viel verstand. Aber ich genoss es, wieder mit der spanischen Sprache in Kontakt zu sein, die mir schon immer viel bedeutet hat. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir wohlbehalten im Tal an. Ich verabschiedete mich mit einem Adiós von meiner netten Begleiterin, die von ihren Freundinnen erwartet wurde, und gesellte mich wieder zu meiner Mutter.

Gelbe Pfeile wiesen uns nun den Weg durch die Ebene. Unser Wasservorrat war mittlerweile aufgebraucht, und uns plagte großer Durst. Endlich: Vor uns waren Dächer zu sehen, und mir rutschte der Satz raus: „Da vorn ist ein Dorf, da gibt es Wasser!“ Ich dachte nicht an Cola, Saft oder Kaffee, sondern nur an das Nötigste: Wasser. Tatsächlich konnten wir bald unsere Flaschen an einem Brunnen mit klarem Wasser auffüllen, Vorrat für die verbleibenden Kilometer bis Obanos, das wir eine gute Stunde später mit brennenden Füßen erreichten. Wie stolz waren wir, dass wir an diesem Tag sogar 25 Kilometer gelaufen waren!

Die Herberge fanden wir zum Glück gleich, denn sie lag pilgerfreundlich direkt am Weg, ein hübsches, weiß verputztes Haus, dessen Fensternischen mit Natursteinen ummauert und mit roten Geranien verziert waren. Ein großes, weit geöffnetes Holztor lud uns ein. Ich konnte kaum noch auftreten, aber meine Hüften und Schultern hatten sich zum Glück mit dem schweren Rucksack abgefunden. Im Vorraum standen ein Regal, in das wir unsere Wanderschuhe stellen konnten, und eine alte Milchkanne für die Wanderstöcke. Der große Schlafraum war mit 18 Stockbetten aus hellem Holz bestückt. Durch zwei große Glastüren gelangte man in den Hof, wo Wäscheständer in der Sonne und Bänke im Schatten standen. Was wollten wir mehr?

Nachdem wir zwei Betten ausgesucht hatten, besichtigten wir die Sanitäranlagen. Für Männlein und Weiblein standen je eine Toilette und eine Dusche zur Verfügung. Wie das wohl gehen sollte mit 36 Personen? Schnell sprangen wir unter die Dusche, bevor die nächsten Pilger eintrudelten. Tatsächlich kamen kurze Zeit später Tony und Melissa mit hochrotem Kopf angestolpert. Sie waren beide so abgekämpft, dass sich Tony mitsamt ihrem Rucksack auf das nächste freie Bett warf und Melissa sich langsam an der kühlen Wand herunterrutschen ließ. Über das gesamte Gesicht grinsend kam ein Pilger, eine Plastiktüte in der Hand schwenkend, auf uns zu. Meine Mutter schaute mich fragend an, doch ich wusste auch nicht, wer das war. Erst als er uns die halbleere Schinkenpackung zeigte, erkannten wir ihn: Es war Tim, der Westpreußen-Amerikaner aus Ohio. Spontan beschlossen wir, zusammen mit Tim zu einer Dorfbesichtigung aufzubrechen und danach eine Pilgergaststätte aufzusuchen. Als wir am Abend in die Herberge zurückkehrten, waren alle Betten durch Schlafsäcke oder Kleidung belegt: 36 Pilger aus verschiedenen Nationen, Männer, Frauen, alle zusammen in einem Schlafsaal. Ich hoffte, dass unter ihnen kein Schnarcher war, der uns den wohlverdienten Schlaf rauben würde.

Obanos → Estella

20. Juni 2008 | 25 km

Folge dem Weg, auch wenn es dir schwerfällt.

Irgendwann mitten in der Nacht zupfte jemand an meinem Schlafsack, anfangs hielt ich es für einen Traum. Gern hätte ich noch länger geschlafen, so unsäglich müde war ich. Also drehte ich mich einfach auf die andere Seite in der Hoffnung, dass das Zupfen dann aufhören würde. Doch das Gegenteil war der Fall. „Mama! Es ist 6 Uhr, wach auf, wir wollten doch heute früh losgehen!“, drang Katharinas Stimme an mein Ohr. Sie stand fertig angezogen neben meinem Bett und sah mich aufmunternd an.

Sofort war meine Müdigkeit wie weggeblasen. Unternehmungslustig befreite ich mich leise aus dem Schlafsack – in der Annahme, dass alle anderen Pilger noch schlafen würden. Dem war aber nicht so, einige Betten waren bereits leer. Tim, Melissa und Tony rieben sich müde die Augen und ließen den neuen Tag langsam angehen. Dank der erholsamen Nachtruhe packten wir mit neuem Elan unsere Sachen zusammen und verschwanden aus dem Schlafraum. Aufs Frühstück wollten wir zunächst verzichten. Gut gelaunt zogen wir unsere Schuhe an, nahmen die Stöcke und verließen die Herberge in der Morgendämmerung. An einer Straßenlaterne gegenüber entdeckten wir den ersten gelben Pfeil.

Ganz allein wanderten wir durch die hügelige Landschaft, in der uns die Vögel mit vielfältigem Gezwitscher ein Gratiskonzert gaben. Der Mond verblasste langsam, und die Sonne erhob sich hinter uns am Horizont, als wir den Ort Puente la Reina durchquerten und auf eine alte Pilgerbrücke aus dem 11. Jahrhundert zugingen, die über den Fluss Arga führt. Außer einer jungen Frau mit einem frischen, wunderbar duftenden Brot in der Hand, was uns sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, begegneten wir keiner Menschenseele. Mit lautem Knurren machte mein Magen auf sich aufmerksam. Katharina grinste mich an, es war unüberhörbar gewesen. Fröhlich gestand sie mir, dass es ihr nicht anders erging. Eine Steinbank am Flussufer mit einer wundervollen Sicht auf das klare Wasser, in dem sich das alte Gemäuer im Morgenlicht spiegelte, kam gerade recht. Wir nahmen Platz und muffelten unser Brot vom Vortag, mit Brunnenwasser als Dreingabe. Allein waren wir bald nicht mehr, denn einige Pilger zogen mit freundlichem Buen Camino oder Que Aproveche, was Guten Appetit bedeutet, an uns vorbei. Andere waren so in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Welt um sich herum gar nicht wahrzunehmen schienen. Auch zwei Bekannte passierten: einen Wanderstock in der einen Hand, eine Tüte in der anderen, Schlendergang – das konnte nur Tim sein! Zusammen mit einem anderen Pilger steuerte er direkt auf uns zu. Natürlich, das war „die Muschel“.

Das karge Frühstück war schnell vertilgt, Katharina und ich machten uns wieder auf den Weg. Es dauerte nicht lange, da holten wir Tim mit seinem Pilgerkollegen ein. Nun wünschten wir Buen Camino und überholten sie. Über die alte Römerstraße, über die schon Millionen von Pilgern auf ihrem Weg nach Westen gegangen sind, gelangten wir in das Dorf Mañeru, wo uns wiederum „die Muschel“ einholte und sich als Richard vorstellte. Einige Zeit gingen wir zusammen, und er erzählte, dass er sehr viel über den Jakobsweg gelesen und Spaß bekommen habe, ihn selber zu laufen, um sich mal eine Auszeit zu gönnen. Wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut.