Ich glaub, mich trifft der Schlag - Ulrich Dirnagl - E-Book

Ich glaub, mich trifft der Schlag E-Book

Ulrich Dirnagl

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Beschreibung

Professor meets Science Slammer: So wurde das Gehirn noch nie erklärt Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers, das weiß jedes Kind. Doch wie schafft es diese Wunderbox, dass wir sehen, fühlen, sprechen, denken? Professor Ulrich Dirnagl von der Berliner Charité und Science Slammer Jochen Müller haben sich zusammengetan und erklären die Funktionsweise des Gehirns anhand von sechs neurologischen Krankheiten, unter anderem an Demenz, Schlaganfall und Epilepsie. Denn jede Störung, die im Gehirn auftritt, verrät uns, wie das gesunde Organ funktioniert. Der Schlaganfall zum Beispiel zeigt, welch großartiges Organisationstalent das Gehirn ist. Wenn bei einer Attacke das Sprachvermögen ausfällt oder der Bewegungsablauf gestört ist, können wir erkennen, wo diese Funktionen im Gehirn verortet sind. Hirnforschung für alle: Neurologe Ulrich Dirnagl und Science Slammer Jochen Müller erklären unterhaltsam, verständlich und anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie das Gehirn funktioniert und was es jeden Tag für exzellente Arbeit leistet.

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Ulrich Dirnagl / Jochen Müller

Ich glaub, mich trifft der Schlag

Warum das Gehirn tut, was es tun soll oder manchmal auch nicht

Mit Illustrationen von Oliver Wünsch

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers, das weiß jedes Kind. Doch wie schafft es diese Wunderbox, dass wir sehen, fühlen, sprechen, denken? Professor Ulrich Dirnagl von der Berliner Charité und Science Slammer Jochen Müller haben sich zusammengetan und erklären die Funktionsweise des Gehirns anhand von sechs neurologischen Krankheiten, unter anderem an Demenz, Schlaganfall und Epilepsie. Denn jede Störung, die im Gehirn auftritt, verrät uns, wie das gesunde Organ funktioniert.

Der Schlaganfall zum Beispiel zeigt, welch großartiges Organisationstalent das Gehirn ist. Wenn bei einer Attacke das Sprachvermögen ausfällt oder der Bewegungsablauf gestört ist, können wir erkennen, wo diese Funktionen im Gehirn verortet sind.

Hirnforschung für alle: Neurologe Ulrich Dirnagl und Science Slammer Jochen Müller erklären unterhaltsam, verständlich und anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie das Gehirn funktioniert und was es jeden Tag für exzellente Arbeit leistet.

Inhaltsübersicht

EinleitungKopfschmerz und MigräneWas will mein Gehirn mir damit sagen?Kann das Gehirn weh tun?Der Körper – eine FirmaWas sind Rezeptoren?Was sind Nozizeptoren?257 Gründe für KopfschmerzSekundäre KopfschmerzenPrimäre KopfschmerzenWarum wird der Spannungskopfschmerz chronisch?Wie wird aus einem sekundären ein primärer Kopfschmerz?Migräne, die Mutter aller KopfschmerzenKurze Geschichte der MigräneAuslöser und AuraWas sind die Ursachen für Migräne?Ist Migräne also eher eine Gefäßkrankheit?Warum wird Migränikern während einer Attacke übel?Ist der Hypothalamus auch für die Aura verantwortlich?Die Aktivität von Nervenzellen und das SinnesempfindenKann sich die Migräne mit der Zeit verschlimmern?Medikamentöse TherapiemöglichkeitenWie kann man nicht nur den Schmerz bekämpfen, sondern die Attacken in Zahl und Schwere reduzieren?Weiterführende ForschungAlternative TherapiemöglichkeitenGibt es auch eine operative Therapie?SchlaganfallIch glaub, mich trifft der Schlag!Ischämischer und hämorrhagischer SchlaganfallSofort 112 anrufen!Doch was heißt das: Schlaganfall?Test: Wie erkenne ich einen Schlaganfall?Rückschlüsse auf die Funktion des GehirnsHirnfunktionen lassen sich lokalisierenUrsachen und Auswirkungen von GefäßverschlüssenThrombus und EmbolusWie und woraus bilden sich Ablagerungen?Die verschiedenen Zelltypen im GehirnWas sind Gliazellen?Die unmittelbaren Folgen eines GefäßverschlussesDie Folgen des Gefäßverschlusses für die GliazellenWas sind Mikrogliazellen?Warum öffnet sich die Blut-Hirn-Schranke?Die Folgen einer geöffneten Blut-Hirn-SchrankeZellen haben zwei Arten zu sterbenDie Behandlung eines SchlaganfallsAkute Behandlung: Problem (auf)gelöst?Die Lyse-TherapieBehandlung bei hämorrhagischen SchlaganfällenRehabilitationsbehandlung: Hilfe zur SelbsthilfeUnd die Forschung geht weiter!Forschungsergebnis: ganzheitlich denken!EpilepsieDie Krankheit der vielen NamenNesejet, Morbus sacer, Bênu-KrankheitEpilepsie als Sonderfall auch für Gesellschaft und JustizDIE Epilepsie gibt es nichtGründe für epileptische AktivitätZwei Arten von Aktivität im Gehirn – Hemmung und ErregungWie transportieren Nervenzellen elektrische Signale?Was sind Oligodendrozyten?Wie Signalungleichgewichte Krampfanfälle auslösen könnenDie Wahrscheinlichkeit für Anfälle verändert sich altersabhängigDie Faktoren, die Epilepsie auslösen könnenZwei persönliche Erfahrungen mit epileptischer AktivitätWie Rätsel epileptische Anfälle auslösen könnenDie drei EpilepsieartenFokale EpilepsieRückschlüsse aus der epileptischen AuraSekundär generalisierte Epilepsie und RückschlüsseGeneralisierte EpilepsieGefahren epileptischer AnfälleBehandlung, Prävention, ForschungNebenwirkungen der AntiepileptikaBehandlung durch CannabinoidePrävention und ErnährungAuch eine Operation ist möglichWas sind die Voraussetzungen für eine Operation?Die Forschung geht weiterMultiple SkleroseDie Krankheit, die nicht leicht zu entdecken istWer oder was löst die Krankheit aus?Was ist Myelin?Immun-Sonderbehandlung für das GehirnNervenzellen werden kaum ersetztWas tun Mikrogliazellen?Wie Zellen einander identifizierenDie Immunzellen aus dem BlutDie Blut-Hirn-SchrankeDie Sonderbehandlung wird zur GefahrSo entstehen Narben im GehirnEine AutoimmunerkrankungMultiple Sklerose ist eine ZustandsbeschreibungOligodendrozyten sorgen für Geschwindigkeit und PräzisionCharcot und die Entdeckung der MSDie VerlaufsformenWarum versagen die Hüllzellen?MS kann viele Symptome verursachen, verringert aber kaum die LebenserwartungEine verräterische Sonderform, die Marburg-VarianteKönnte MS auch eine Infektionskrankheit sein?Eine hormonelle Beteiligung an der MS verrät wenigWas verrät die regionale Verbreitung der MS?Was verraten uns die Gene?Der große ShowdownDie möglichen Ursachen für MSDie Hygiene-TheorieDiagnose: schwierigSicherheit durch Genomanalyse?Behandlung und ForschungExkurs zu einem schwer lösbaren DilemmaWie beeinflusst die Darmflora das Immunsystem?Die ForschungDie Rückschlüsse auf die Funktion des GehirnsParkinsonEs ist ein KernproblemExkurs: Symptom und SyndromDer Unterschied zwischen Lähmung und gestörter MotorkoordinationWerden die Symptome durch hohes Alter ausgelöst?Erste Rückschlüsse aufs GehirnHistorie: Warum Schüttellähmung heute Parkinson heißtWo und wie Bewegung entstehtWarum braucht es mehrere Kerngebiete?Veränderbarkeit von BewegungDas regulative ElementDer Botenstoff Dopamin vermittelt mehrere BotschaftenWie kommt Dopamin an seinen Einsatzort?Ursachen für das sekundäre Parkinson-SyndromSekundäre Formen geben Hinweise auf die beteiligten MechanismenWo Gifte krank machen könn(t)enEine Droge verrät den MechanismusBehandlung und ForschungVorwiegend medikamentöse BehandlungDie Behandlung durch tiefe Hirnstimulation bringt kaum vorstellbare ErfolgeSkurrile Nebenwirkungen mancher MedikamenteEine Dekade Forschung reicht nichtMusik hilft!Demenz und AlzheimerVon Fliegen und MenschenWas ist der Unterschied zwischen Mensch und Fliege?Hat die Fliege kein Gedächtnis?Heißt das, dass alle Informationen im Hippocampus abgespeichert werden?Die Definition: historisch und heuteHistorie: Am Anfang war die Definition. Und siehe, sie war falschAlois Alzheimer, der Irrenarzt mit dem MikroskopDemenz ist keine KrankheitWann spricht man von Demenz?Welche Symptome zählen zur Demenz?Was heißt Persönlichkeit?Rückschlüsse auf die Funktionsweise des GehirnsWie verbindet das Gehirn zwei Informationen miteinander?So funktioniert Lernen auf zellulärer EbeneSteckt in jeder Synapse eine Erinnerung?Der Hippocampus als Relais zwischen Kurz- und LangzeitgedächtnisWie funktioniert Vergessen?Warum gehen manche Erinnerungen eher verloren als andere?Warum geht die emotionale Reaktion verloren?Ursachen für den Niedergang von NervenzellenWas hat Demenz mit den Gefäßen zu tun?Die Alzheimersche DemenzformWie entstehen Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen?Amyloid und Tau, was ist Henne und was Ei?Was hat Alzheimer mit Acetylcholin zu tun?Die RisikofaktorenDer Mechanismus, mit dem zellulärer Müll entsorgt wirdDie Stadien der DemenzDie Diagnose muss so früh wie möglich erfolgenTherapie(n) und PräventionImpfen gegen Demenz?Prävention kinderleichtSchützt Gehirnjogging?Und was hilft noch?DankLiteraturempfehlungenGlossar
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Einleitung

Wer sich für die Funktionsweise des Gehirns interessiert, dem fallen zwei Dinge auf. Erstens: Es gibt eine schier unendliche Menge an Büchern, die das Gehirn behandeln. Das ist gut, denn das Gehirn ist sehr komplex. Zweitens fällt jedoch auf, dass sie auf bestimmte Fragen keine Antworten liefern. Fachbücher tun es zum Teil, kaum ein Leser versteht sie jedoch, es sei denn, er weiß bereits mindestens so viel wie der Autor.

Wir, die Autoren dieses Buches, beschäftigen uns seit langer Zeit forschend und lehrend mit dem Gehirn, genauer gesagt mit seinen Krankheiten. Dabei stellen wir uns Fragen, die sich auch jeder Leser stellt: Warum brummt der Schädel? Wieso mahnen Ärzte, wenn es um den Schlaganfall geht, immer so ausdrücklich zur Eile? Was ist eigentlich Multiple Sklerose und warum wird sie nur so schwer diagnostiziert? Warum zittern Parkinsonpatienten und auch manche Epileptiker? Warum kann man Alzheimer noch immer nicht heilen? Und, ganz allgemein, warum werden in regelmäßigen Abständen Forschungserfolge verkündet, von denen man dann nie wieder etwas hört?

Um diese und andere Fragen soll es in unserem Buch gehen. Dabei wollen wir Antworten geben, für deren Verständnis man kein Vorwissen braucht. Abgesehen von den genannten Fragen behandelt dieses Buch die sechs bekanntesten Krankheiten des Gehirns: Kopfschmerz, Schlaganfall, Epilepsie, Multiple Sklerose, Parkinson und Alzheimer. Es erklärt aber auch das gesunde Gehirn und seine Funktionsweise. Diese kann man gerade dadurch verstehen, indem man sich anschaut, wie das Gehirn fehlfunktioniert.

Wir laden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, auf eine Reise quer durch die Neurologie und Neurobiologie ein. Fragen Sie sich mit uns, was das Gehirn ist und was es eigentlich den ganzen Tag macht, warum manchmal Fehler in den Abläufen passieren und was daraus folgt. Wir werden versuchen, darauf die richtigen, die befriedigenden Antworten zu finden, und glauben, dass es dabei zu Überraschungen in Form von unerwarteten Antworten kommen kann. Manchmal auch zu neuen Fragen, doch auch die haben Aussagekraft!

Beginnen wir mit der vielleicht grundsätzlichsten Frage der Neurowissenschaften: Wofür braucht man eigentlich ein Gehirn?

Das ist keine Scherzfrage. Jeder weiß, dass die Funktionsweise des Gehirns sehr komplex und zum Teil noch unerforscht ist. Bei all der Komplexität merkt der gesunde Mensch im Alltag nicht einmal, dass er eins hat. Es juckt und rumort nicht, ihm wird nicht zu kalt oder zu warm, man kann sich nicht daran stoßen, es zwickt und zwackt nicht. Quasi unbemerkt verbraucht es aber eine Menge Energie, genauer gesagt etwa ein Viertel des täglich verstoffwechselten Zuckers. Das tut es auch, wenn wir uns keinen Millimeter bewegen. Liegen wir den ganzen Tag im Bett und lösen schwere Denkaufgaben, fühlen wir uns abends genauso erschöpft, als hätten wir einen Garten umgegraben. Denken kostet Kraft, und nicht gerade wenig.

Die Fähigkeit zu denken macht uns zu Menschen. Aus Sicht der Evolution jedoch sind komplexe Gedanken unerheblich. Der Evolution geht es nicht um die Weltformel oder um existenzphilosophische Weisheiten, sondern nur darum, dass Gene in die jeweils nächste Generation weitervererbt werden. Und das geht definitiv auch ohne Gehirn. So gesehen erscheint das Gehirn wie Luxus, und Luxus wird von der Evolution meist rigoros aussortiert. Die Evolution hat aber zur Entwicklung des menschlichen Gehirns geführt, also muss es für etwas gut sein. Nur wofür?

Nun könnte man durch allerlei Untersuchungen und Experimente versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Doch das ist nicht immer nötig, denn manchmal kommt man auf die richtige Antwort, indem man genau beobachtet und korrekt schlussfolgert. Man kann beispielsweise mit der viel einfacheren Frage beginnen: Hat alles, was lebt, ein Gehirn?

Die Antwort ist eindeutig: Nein. Pflanzen leben, haben aber kein Gehirn. Auch Bäume haben nicht einmal ein einfaches Nervensystem. Nur Tiere haben Gehirne, aber – stopp! – nicht alle Tiere. Einen Schwamm zum Beispiel könnte man für eine Pflanze halten, weil er am Meeresgrund festgewachsen ist. Doch der Schwamm ist ein Tier ohne Gehirn. Ist also die Fähigkeit zur Bewegung der Schlüssel?

Um diese Aussage zu überprüfen, muss man ein Tier beobachten, das beides kann: mobil und sesshaft sein. Die Seescheide ist ein solches Tier, sie lebt als Larve frei schwimmend in den Weltmeeren, und am Ende ihrer Entwicklung zum erwachsenen Tier sucht sie sich eine Stelle am Meeresgrund aus, die sie nicht mehr verlässt. Dies ist der Zeitpunkt, an dem die Seescheide ihr Gehirn verliert. Genauer gesagt isst sie es auf. Die Seescheide, die ihr einfaches Gehirn zusammen mit der Fähigkeit, sich zielgerichtet fortzubewegen, aufgibt, stärkt also unser Argument, dass Gehirn und Bewegung untrennbar miteinander verbunden sind.

Eine Pflanze, ein Schwamm oder eine Seescheide sitzen an einer günstigen Stelle, um an Licht oder an Schwebstoffe im Wasser zu kommen. Sie müssen sich daher nicht bewegen und brauchen somit auch keine schnellen und detaillierten Informationen über ihre Umwelt. Alles, was diese Lebewesen interessiert, geschieht so langsam, dass sie kein Gehirn brauchen, um darauf zu reagieren.

Sich bewegende Tiere haben eine alternative Strategie entwickelt, um Nahrung zu suchen oder anderen Tieren auszuweichen, von denen sie für Nahrung gehalten werden könnten, und um Fortpflanzungspartner zu finden. Bei den Tieren geht es hektischer zu als bei den Pflanzen. Sie bewegen sich schnell und zielgerichtet. Und dafür brauchen sie ein Gehirn.

Bewegung bedeutet, auf Informationen angewiesen zu sein. Ist da etwas vor mir, das ich fressen könnte? Oder muss ich mich etwa schützen? Schwimmt, läuft oder fliegt da ein attraktiver Partner? Ist dort ein Abgrund, in den ich fallen könnte? Die Augen alleine helfen hier nicht weiter. Mit ihnen kann man Beute, Jäger oder Partner zwar sehen, aber nicht auf sie reagieren. Das Gehirn hingegen empfängt Informationen aus der und über die Umwelt, verarbeitet sie in Bruchteilen von Sekunden und leitet Handlungsanweisungen ab.

Vor vielen hundert Millionen Jahren haben sich komplizierte, intelligente Systeme entwickelt, bei denen eine Art Computer für die Signalverarbeitung und zielgerichtete Bewegung sorgt. Klingt nach viel Aufwand, dient aber alles der Weitergabe der eigenen Gene. Bakterien, Pilze und Pflanzen können das auch, aber eben ohne ein Nervensystem oder ein Gehirn, und in der Regel läuft dadurch alles ein bisschen einfacher und entschleunigter ab.

Für Bewegung braucht es aber nicht nur ein Gehirn, sondern auch Sinnesorgane, Muskeln und noch mehr. Ein Organismus wird dann nicht nur recht kompliziert, er verbraucht dabei auch jede Menge Energie. Und dafür wiederum braucht es weitere Organe, zur Aufnahme und Verdauung von Nahrung und Sauerstoff sowie zur Ausscheidung dessen, was vom Stoffwechsel übrig bleibt.

Und damit wären wir beim nächsten Problem. Ein solch komplexer Organismus, in dem viele Organe dafür arbeiten, das Gehirn und den Bewegungsapparat zu ernähren, muss auch wissen, was in ihm selbst vorgeht. Zu der Frage: Wie sieht es da draußen aus? gesellt sich die Frage: Wie sieht es in mir aus?

Woher soll ich wissen, dass ich mich bewegen muss, wenn mein Magen mir nicht sagt, dass es an der Zeit ist, sich nach einer Mahlzeit umzusehen? Auch das mit der Fortpflanzung klappt nur beim erfolgreichen Zusammenspiel einer Reihe von Organen. Auch das will koordiniert sein. Und daraus ergibt sich eine weitere Funktion von Gehirn und Nervensystem: die Reizaufnahme aus dem Körperinneren, die Verarbeitung dieser Information und damit die Steuerung der inneren Organe. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtszustandes dieses komplexen, dynamischen Systems wird als Homöostase bezeichnet.

Nun haben wir also eine Vorstellung davon, WAS das Gehirn macht. Aber WIE macht es das?

Um eine Antwort darauf zu finden, reicht es nicht, ein Tier mit Gehirn mit einem Tier ohne Gehirn zu vergleichen. Dazu müsste man ein voll funktionierendes Gehirn mit einem zum Teil funktionierenden Gehirn vergleichen. Wenn infolge des Ausfalls einer Gehirnregion eine Körperfunktion ausfällt, könnte man daraus schlussfolgern, dass die betroffene Gehirnregion für diese Körperfunktion zuständig ist. Aber Vorsicht, denn hierbei kann man in einige Fallen tappen. Der britische Hirnforscher Richard Gregory hat es so ausgedrückt: »Wenn man aus einem Radiogerät irgendeinen von mehreren Widerständen ausbaut, kann dies dazu führen, dass es merkwürdige Geräusche von sich gibt, aber daraus kann man nicht schließen, die Aufgabe der Widerstände sei es, das Pfeifen zu unterdrücken.«[1]

Man muss also schon einige Vorkenntnisse haben, um »reverse engineering« betreiben zu können, also umgekehrte Ingenieurskunst, das heißt, jemand baut ein Gerät auseinander und entfernt Bauteile wie etwa elektrische Widerstände, um zu verstehen, wie das Gerät funktioniert. Das geschieht meist mit dem Zweck, das Gerät nachzubauen, was wir an dieser Stelle nicht versuchen wollen. Aber verstehen wollen wir auf jeden Fall. Und darum soll es in diesem Buch gehen: Wie macht das Gehirn das, was es macht?

Da man vieles erst versteht, wenn etwas nicht mehr richtig funktioniert, haben wir uns entschieden, das, was das Gehirn eigentlich macht, dadurch zu verdeutlichen, indem wir uns genau ansehen, was passiert, wenn das Gehirn einzelne Dinge NICHT mehr machen kann. Aus nachvollziehbaren Gründen ist es schlecht möglich, einem Menschen nacheinander verschiedene Teile seines Gehirns zu entfernen oder einzelne Zellen lahmzulegen, um dann munter Forschungsergebnisse zu generieren. Deshalb haben wir uns für einen anderen Ansatz entschieden: Wir betrachten neurologische Erkrankungen, um daraus über die Funktionsweise des Gehirns zu lernen. Denn wenn infolge einer solchen Krankheit eine Gehirnregion in ihrer Funktion ausfällt, entstehen dadurch ebenfalls Verluste von Körperfunktionen, aus denen wir Rückschlüsse ziehen können.

Wir werden uns also in den nächsten Kapiteln damit befassen, was wir derzeit über einige der wichtigsten Gehirnerkrankungen wissen. Dabei wird so manches zur Sprache kommen, das uns vielleicht schon als eigenes Leiden oder als Leiden von Freunden und Familienangehörigen beschäftigt hat. Wir schreiben jedoch keinen Ratgeber für Patienten, wir sind Forscher und beschäftigen uns mit dem Gehirn als Forschungsobjekt. Nehmen wir also das Organ, das uns in seiner Form zum Menschen macht, gemeinsam unter die Lupe!

Anatomische Darstellung des Gehirns als große Firma

Mehrere Gebiete und ihre Verbindungen (grau) bilden gemeinsam den Schmerzpfad. Dazu gehören: Nozizeptoren (Späher), Nervenzellen, die auf Schadensreize reagieren. Sie sind über den Trigeminusnerv mit dem Hirnstamm (Pförtner) verbunden. Der Thalamus (Vorzimmerdame) liegt relativ mittig im Gehirn. Der Kortex (CEO) ist Sitz höherer Geistesfunktionen und des Bewusstseins. Abseits des Schmerzpfads liegt der Hypothalamus (Hausmeister), er regelt die Homöostase und vegetative Aspekte wie Hunger und Durst. Weitere wichtige Gehirngebiete, die in den folgenden Kapiteln auftauchen werden, sind:

Der Hippocampus (Vermittlung) ist Relaisstation zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis. Die Kerngebiete (Jury) sind mehrere Bereiche unterhalb der Großhirnrinde, die für die Steuerung und Koordination von Bewegung unerlässlich sind. Das Kleinhirn (Trainer) gleicht fortlaufend die geplante mit der tatsächlichen Bewegung ab und greift ein, falls eines vom anderen abweicht.

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Kopfschmerz und Migräne

Steckbrief Kopfschmerz

Klassifizierung: Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft listet 257 Formen von Kopfschmerzen auf, die in primäre und sekundäre Formen unterteilt werden.

Häufigste sekundäre Kopfschmerzform: der Spannungskopfschmerz mit etwa 25 Millionen Betroffenen in Deutschland[2]

 

Steckbrief Migräne

Klassifizierung: primärer Kopfschmerz

Altgriechische Bezeichnung: hemicrania (halber Schädel)

Erste schriftliche Überlieferung: Etwa 200 n. Chr. beschrieb der römische Arzt Galen mit hemicrania einen Kopfschmerz, den wir aus heutiger Sicht als durch Migräne verursacht ansehen.

Weltweit betroffen: etwa 10 Prozent der Menschen

Ursache: Übersensibilität des Nervensystems gegenüber äußeren und inneren Reizen

Berühmte Betroffene: Vincent van Gogh, Charles Darwin, Thomas Jefferson, Albert Einstein, Elvis Presley

Was will mein Gehirn mir damit sagen?

Es gibt kaum jemanden, der noch nie Kopfweh hatte. Tritt der Kopfschmerz anhaltend auf, ist ein Besuch beim Neurologen angeraten. Aber warum tut der Kopf weh? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst ansehen, was Schmerzen eigentlich sind.

Eine Krankheit kann als eine Störung in einem System betrachtet werden. Im »System Gehirn« existiert eine eingebaute Störungs-Meldefunktion: der Schmerz. Wenn also der Schädel brummt, will das Gehirn damit etwas sagen.

Der Kopfschmerz verrät, dass Sinnesempfindungen untrennbar mit der Aktivität von Nervenzellen verknüpft sind. Wer jedoch unter Kopfschmerz leidet, könnte meinen, die Störungsmeldung stört nur, das braucht kein Mensch. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn ohne Schmerzen ginge es uns allen ganz schön schlecht. Drohende Schmerzen halten uns beispielsweise davon ab, Dummheiten zu machen, wie etwa die Hand auf die heiße Herdplatte zu legen, um unseren Freunden zu zeigen, wie lustig das riecht. Wir tun das nicht, weil wir gelernt haben, dass es höllisch weh tut!

Schmerzen sind nichts anderes als ein Warnsignal des Körpers vor drohendem Gewebeschaden. Andere Körpersignale wie Hunger oder Müdigkeit kann überhören, wer abgelenkt ist, keine Lust zu reagieren hat oder meint, es besser zu wissen. Schmerzen kann man nicht so leicht überhören. Daher kann sich jedes Körpersignal zu einem Schmerz steigern oder wandeln. Damit er nicht überhört werden kann, hat die Evolution, nach dem Motto »Wer nicht hören will, muss fühlen«, die Sinnesempfindung Schmerz stets mit einer (negativen) Emotion verbunden, weshalb auch von der »Dualität des Schmerzes« gesprochen wird. Durch die Abnahme des Wohlbefindens wird aus einer Sinnesempfindung etwas Unmissverständliches und aus einem Signal eine Warnung. Nur bringt die Störungsmeldung nichts, wenn man in der Zentrale, wo die Meldung eingeht, nicht weiß, wo sie herkommt. Also kommt zur Meldung über die Störung eine Ortsangabe dazu. Denn es macht keinen Sinn, den Fuß vom Boden zu heben, wenn man sich die Finger verbrennt.

Bedeutet dann Schmerz mit der Ortsangabe »Kopf«, dass etwas auf das Gehirn drückt? Oder anders ausgedrückt:

Kann das Gehirn weh tun?

Ja und nein. Bei manchen Gehirnoperationen müssen die Patienten wach bleiben, spüren aber nicht, wenn der Operateur INS Gehirn schneidet. Das eigentliche Gehirngewebe ist nicht schmerzempfindlich. Andererseits kann man zeigen, dass jeder Schmerz mit dem Gehirn und damit im Gehirn gespürt wird. Wenn ich mir den Finger verbrenne, entsteht das Schmerzsignal zwar im Finger – wahrgenommen wird es aber im Gehirn! Die Ortsangabe »Finger«, die gemeinsam mit dem Schmerzsignal ins Gehirn geschickt und da wahrgenommen wird, ist der Grund, weshalb ich den Finger von der Herdplatte nehme und nicht den Kopf einziehe.

Insofern stimmt es, dass das Gehirn nicht schmerzen kann. Es gibt aber Strukturen am und im Kopf, die sehr wohl Schmerzen produzieren können, deren drohende Schädigung wir also als Kopfschmerz wahrnehmen. Dazu gehören die Kopfhaut auf dem Schädelknochen genauso wie die Hirnhaut darunter, die großen Blutgefäße sowie einige ihrer Ausläufer, aber auch die Spitze des Trigeminusnervs, der diese Strukturen versorgt. Es sind aber nicht nur die Verletzungen dieser Strukturen, die für Kopfschmerzen verantwortlich sind. Müdigkeit, Überanstrengung, Störungen der Homöostase, Entzündungen selbst außerhalb des Gehirns, muskuläre Verspannungen und vieles mehr können Schmerzen auslösen, die wir IM Kopf spüren.

Das Gehirn muss demnach an der Steuerung oder Regelung all dieser Prozesse beteiligt sein. Das klingt vielleicht etwas banal, ist es aber nicht. Hinzu kommt, dass es für den Betroffenen nicht immer möglich ist, selbst zu eruieren, wo genau der Schmerz im Kopf herkommt. Das ist auch weniger wichtig, als dass der Schmerz schnell abgestellt werden kann. Doch die Erkenntnis, an welchen Prozessen das Gehirn wie beteiligt ist, ist die Grundvoraussetzung dafür, diese Prozesse ursächlich zu behandeln, sollten sie Schaden nehmen. Ansonsten wird man nur die Symptome, also die Schmerzen behandeln, nicht die Ursache. Wir werden noch sehen, dass das auf lange Sicht nicht gut ist.

Allerdings beweist, dass man im Gehirn operieren kann, ohne dass es weh tut, was das Gehirn nicht ist: Es ist kein Sensor. Das Gehirn sieht nicht, hört nicht, es fühlt, riecht und schmeckt nicht. Die Sensoren sind an Stellen ausgelagert, wo sie am meisten Sinn machen. Das Gehirn ist hinter dickem Knochen gut geschützt, es schwimmt in einer Flüssigkeit, dem Nervenwasser. Aber alle Informationen aller Körperbereiche gelangen ins Gehirn, es ist der Ort, an dem alle Reize verarbeitet werden, weshalb das Gehirn dann doch irgendwie sieht, hört, fühlt, riecht, schmeckt. Und weh tut.

Der Körper – eine Firma

Man kann sich den Körper als eine große Firma vorstellen. Die Körperzellen sind die Menschen, die in den verschiedenen Abteilungen arbeiten. Sie sind die unermüdlichen Angestellten, die den Betrieb »ich« am Laufen halten. Das Gehirn bildet die Verwaltung, und Nervenzellen sind die Verwaltungsangestellten. Ihre Aufgabe es ist, Informationen sowohl über die Außenbedingungen als auch über die Betriebsabläufe zu empfangen und sie an die richtigen Stellen weiterzuleiten. Durch ihre Arbeit kann sich der Betrieb mit all seinen Abläufen an veränderte Außenbedingungen anpassen oder sie in manchen Fällen gar selbst verändern. Für Informationen über den Betrieb laufen die Angestellten nicht durch die Produktionshallen. Und für Infos über die Außenwelt gehen sie nicht ans Fenster und schauen raus. Außeninformationen zu sammeln ist die Aufgabe anderer Angestellter. Für jede Art von Information gibt es spezielle Angestellte, die diese Information am Ort des Geschehens empfangen und weiter an die Verwaltung schicken. Visuelle Informationen erhält die Verwaltung beispielsweise von Angestellten in der Abteilung »Auge«, chemische Informationen liefern Angestellte aus den Abteilungen »Nase« und »Mund«. Erstere heißen »Photorezeptoren«, Letztere »Chemorezeptoren«.

Was sind Rezeptoren?

Das Wort »Rezeptor« kommt aus dem Lateinischen und heißt »Empfänger«. Es gibt am und im Körper Rezeptoren für alles, was für uns wichtig sein könnte. Es gibt Rezeptoren auf einzelnen Zellen, eine ganze Zelle kann aber ebenso gut ein Rezeptor sein. Eine Zelle in der Netzhaut des Auges empfängt Licht, sie ist ein sogenannter Photorezeptor, ein »Lichtempfänger«. Auf Zellen in Zunge und Nasenschleimhaut sitzen »Chemorezeptoren«, Empfänger für chemische Signale wie Duftstoffe.

Durch die Rezeptoren erhält das Gehirn Informationen über die Außenwelt in Gestalt von elektrischen Nervenimpulsen. Erreichen die Impulse die Verwaltung, nehmen wir diese Informationen als Bild, Geruch beziehungsweise Geschmack wahr. Auch für den Zustand im Betriebsinneren gibt es Angestellte, die melden, was los ist. Die Abteilung »Magen« meldet, wann es Zeit für Energienachschub ist, die Abteilung »Darm« meldet, wenn die Reste der letzten Portion Energie entsorgt werden können oder dringend müssen. Auch das machen Chemorezeptoren. Und, wenn es ganz dringend wird, auch Mechanorezeptoren. Diese Empfänger für mechanische Reize melden zum Beispiel, wenn Magen oder Darm sich nach zu viel Essen dehnen. Bei ersterem Signal wäre die Handlungsanweisung »Hinlegen und bloß nichts mehr essen«, beim zweiten »Aufstehen und ganz schnell auf die Toilette gehen«.

Es gibt also spezialisierte Rezeptoren, die, je nach Spezialisierung, nur an bestimmten Stellen am und im Körper sitzen. Es leuchtet wohl ein, dass Photorezeptoren im Darm wenig Sinn machen, wo die Sonne eher selten scheint.

Alle Abteilungen der Firma liefern pausenlos Informationen an die Verwaltung, also das Gehirn. Das ist der Zustand, in dem wir alle uns tagtäglich befinden. Selbst wenn wir schlafen, ist das so. Wäre es nicht so, wir würden nie mehr aufwachen. Denn auch der Schlaf wird überwacht, und es erfolgt ein Signal, wenn er ausreicht. Daraus generiert das Gehirn die Handlungsanweisung: »Aufwachen!«

Was sind Nozizeptoren?

Zusätzlich zu all diesen Angestellten gibt es noch einen weiteren Angestellten-Typ. Einen, der in fast allen Abteilungen vertreten ist. Ich sage fast, denn dieser Angestellte, auch ein Rezeptor, fehlt im Gehirn. Dieser sogenannte Nozizeptor hat die Aufgabe, Schäden zu melden (von noxe, lateinisch für Schaden). Seine Botschaften nehmen wir als Schmerzen war. Die Nozizeptoren werden dann aktiv, wenn irgendetwas droht, den reibungslosen Ablauf des Betriebs zu behindern. Das können äußere Ereignisse wie Unfälle sein. Oder ein Krankheitserreger, ein Bakterium, das in den Körper eingedrungen ist und randaliert. Ebenso kann es ein Fehler im Ablauf sein oder streikende oder durch Überlastung ausfallende Arbeiter. Die Schadensmeldungen durchlaufen die Hierarchie des Betriebs und landen schlussendlich in der obersten Etage des Rechenzentrums, dem Kortex, der gefalteten Großhirnrinde, die dem Gehirn die Ähnlichkeit mit einer großen Walnuss verleiht. Wenn das Signal da ankommt, dann landet es sozusagen auf dem Schreibtisch des Vorstands. Nur dass der Kortex ein sehr großer Vorstand ist, mit Milliarden Mitgliedern. Hier laufen alle Fäden zusammen. Im Kortex wird entschieden, was mit den Informationen, die er empfängt, zu tun ist, er wertet, verknüpft und fällt Entscheidungen, die er in Form von Handlungsanweisungen zurück in den Betrieb schickt.

Warum ist also das Gehirn nicht schmerzempfindlich? Warum gibt es keinen Nozizeptor, der etwa den Kortex überwacht? Weil der Nozizeptor doch wieder nur an den Kortex meldet! Das wäre, wie wenn meine Wohnung brennt, ich die Feuerwehr rufe und mein eigenes Telefon klingelt! Das macht einfach keinen Sinn! Wenn aber irgendetwas ein Loch in die Außenwand reißt, die Flure einstürzen, das Kabelnetzwerk durchschmort oder der Strom ausfällt, dann beeinträchtigt das die Arbeit der ganzen Verwaltung und behindert sie. Dann macht es Sinn, dass der Vorstand Signale empfängt, die ausdrücken, dass und wo etwas schiefläuft, damit er Alarm schlagen und Abwehrmaßnahmen einleiten kann.

In den vorliegenden Beispielen empfängt der Kortex über den Ort »Kopf« diverse Schadensmeldungen. Also brüllt er laut: »Kopfschmerz«, und Sie fassen sich an die Stirn, weil es weh tut. Aber: Dem Kortex selbst tut nichts weh! Er vermittelt nur die Botschaft! Also kann man sagen: Das Gehirn tut nicht weh, aber es fühlt Schmerz.

Ehre, wem Ehre gebührt!

Sorry, Jochen, dass ich mich hier kurz einmische. Ich denke, wir sollten an dieser Stelle kurz Fritz Kahn (1888–1968) einführen, einen Arzt und internationalen Bestsellerautor mit einem unglaublichen Lebenslauf. Von den Nazis zur Flucht gezwungen, seine Bücher wurden 1938 verbrannt, bereiste er viele Länder. Er wurde berühmt dafür, in seinen reichillustrierten Büchern komplizierte medizinische oder biologische Sachverhalte durch allgemeinverständliche Vergleiche zu veranschaulichen. Am bekanntesten ist sein Bild »Der Mensch als Industriepalast«[3], in dem er die verschiedensten Körperfunktionen mit der Arbeitsteilung in einer Fabrik vergleicht. Wir sollten ihn hier würdigen als den Pionier der »Mensch-Maschine-Analogie« und des Informationsdesigns!

257 Gründe für Kopfschmerz

Wenn es viele mögliche Gründe für Schadensmeldungen gibt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass nicht jeder Kopfschmerz gleich sein kann! Und genau das ist der Fall.

Selbst wenn das Wartezimmer eines Arztes vollbesetzt ist mit Leuten, die scheinbar das gleiche Problem – Kopfschmerzen – haben, kann nach der Untersuchung jeder mit einer anderen Diagnose und Behandlung nach Hause gehen. Auf die Frage, wie das sein kann, lautet die kurze Antwort: Weil es DEN Kopfschmerz nicht gibt. Es gibt aber 257 Gründe, warum der Kopf schmerzen kann. So viele Typen von Kopfschmerzen listet die Internationale Kopfschmerzgesellschaft auf. Darunter fallen unterschiedliche Probleme, aber alle mit demselben Symptom: Kopfschmerz.

Unterteilt werden sie in zwei Kategorien, primäre und sekundäre Kopfschmerzen.

Sekundäre Kopfschmerzen

Als sekundäre Kopfschmerzen werden Kopfschmerzen bezeichnet, die keine Krankheiten an sich sind, sondern Symptome anderer Erkrankungen oder Störungen. So zum Beispiel:

Schädel-Hirn-Traumata (etwa nach einem Sturz auf den Kopf)

Neuralgie (eine Erkrankung oder Schädigung eines Nervs durch Viren wie Herpes oder Verletzungen)

Spannungskopfschmerz (eine verspannte Muskulatur im Nackenbereich sorgt dafür, dass Betroffene das Gefühl haben, ein fester Ring spanne sich um ihren Kopf. Was die Betroffenen leider viel zu oft in die Apotheke und viel zu selten zum Sport oder zum Physiotherapeuten führt)

Hirnhautentzündung

entzündete Nasennebenhöhlen

chronische sekundäre Kopfschmerzen (können ausgerechnet von zu vielen Schmerztabletten stammen, nennen sich auch: medikamenteninduzierte Kopfschmerzen)

Primäre Kopfschmerzen

Bei den primären Kopfschmerzen ist der Kopfschmerz selbst das Problem, zum Beispiel bei:

Cluster-Kopfschmerz (die Schmerzen sind anfallsartig und so heftig, dass er auch als »Selbstmord-Kopfschmerz« bezeichnet wird)

Kopfschmerzformen, die in ihren Ursachen noch völlig unverstanden sind

Migräne

Bevor wir näher auf die Migräne eingehen, folgen noch ein paar Worte zum Spannungskopfschmerz. Denn dieser kann chronisch werden und dann als »chronischer Spannungskopfschmerz« zu den primären Kopfschmerzen gezählt werden. Von allen Kopfschmerzformen ist der Spannungskopfschmerz der häufigste.

Warum wird der Spannungskopfschmerz chronisch?

Ich hatte bereits erwähnt, dass wir Menschen unsere Körpersignale gerne überhören, weil wir meinen, es besser zu wissen. Der chronische Spannungskopfschmerz ist der beste Beweis, dass das nicht immer schlau ist.

Nach acht Stunden verkrampfter Haltung am Computer spüren manche ein Spannungsgefühl im Nacken und einen Schmerz im Kopf. Genau betrachtet ist dies eine Aufforderung des Körpers, sich mal wieder zu bewegen. Es ist die Warnung der Nozizeptoren aus den überlasteten Muskeln, dass es langsam anfängt, schädlich zu werden, in der immer gleichen Haltung zu verharren. Das muss weh tun, sonst stünde mancher Workaholic nie auf! Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Und zur Not hilft Doping. Es ist letztlich nichts anderes als Doping, wenn man nach einem langen Arbeitstag im Büro eine Schmerztablette gegen den Brummschädel nimmt, um noch eine Nachtschicht dranzuhängen. Oder, kaum daheim angekommen, seine Freizeit wieder sitzend verbringt. In solchen Fällen eine Schmerztablette einzuwerfen ist, als würde bei der Feuerwehr die Sirene schellen, die Feuerwehrleute hätten aber keine Lust zu reagieren und stellten die Sirene einfach aus. Deshalb ist das Feuer ja noch nicht gelöscht!

Auf den Mensch übertragen heißt das, dass die Ursache für den Schmerz weiter besteht. Das Signal hingegen wird ausgeschaltet. Nun ist die Situation, wie oben dargestellt, nicht damit zu Ende, dass der Kortex ein Signal empfängt. Nein, in der Bürokratie des Nervensystems geht es ordentlich zu, da gibt es eine Empfangsbestätigung, die zurückgesendet wird.

Was würden Sie, liebe Leser, machen, wenn auf Ihre Meldung, dass es brennt, keine Bestätigung erfolgt? Lassen Sie mich raten: Sie schicken noch eine Meldung, oder? Vielleicht schicken Sie auch zwei. Oder Sie schicken sie in Großbuchstaben. Auf jeden Fall werden Sie versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Und genau das ist es, was der Nozizeptor macht, der vor drohendem Schaden warnt, aber überhört wird. Genau wie alle Stationen zwischen ihm und dem letzten Empfänger, dem Kortex.

Der Körper versucht, sich Gehör zu verschaffen. Wer dann noch eine Tablette nachlegt, macht den ersten Schritt in Richtung chronischer Schmerz. Wir werden im weiteren Verlauf noch auf das Wie eingehen. Doch schon hier wird eines deutlich: Das Nervensystem reagiert nicht starr auf Signale. Es verändert sich, es passt sich an. Der Neurowissenschaftler bezeichnet es als »plastisch«, im Sinne von »formbar«. Man kann auch sagen, es ist lernfähig, was sich netter anhört und gleich erklärt, warum das gut und richtig so ist. Denn die Lernfähigkeit ist die fundamentale Charaktereigenschaft des Nervensystems. Doch wer lernt, kann auch falsch lernen. Und genau das passiert beim Spannungskopfschmerz, wenn er chronisch wird. Dann schmerzt der Kopf, auch wenn formal kein Grund dazu besteht, zum Beispiel schmerzt er dann während eines Spaziergangs oder während man im Bett liegt.

Wie wird aus einem sekundären ein primärer Kopfschmerz?

Beim sekundären Kopfschmerz läuft an sich alles prima, denn der Kortex hat gute Gründe, Alarm zu schlagen. Beim primären Kopfschmerz wird der Alarm jedoch ohne offensichtliche Gründe ausgelöst. Aber der Kortex kann nicht anders, denn er handelt nur auf Anweisung des Nervensystems. Nicht der Kortex ist gestört, es sind diese Anweisungen, die beim primären Kopfschmerz gestört sind. Das bedeutet, noch bevor wir uns mit den Gründen für primäre Kopfschmerzen auseinandersetzen, haben wir schon den Beweis erbracht, dass nicht nur Körpergewebe geschädigt sein kann, sondern auch Körpersignale!

Um zu verstehen, wie es geschehen kann, dass sich ein Schmerzsignal von seiner Ursache löst und grundlos weiterbesteht, wie also aus einem sekundären ein primärer Kopfschmerz werden kann, hilft es, sich in die Position eines Nozizeptors zu versetzen, der in der Kopfhaut sitzt und deren Integrität überwacht. Wenn etwas die Kopfhaut verletzt und der Nozizeptor laut »Schaden!« brüllt, wie soll der Kortex im Schädel davon etwas mitbekommen? Da der Nozizeptor kein Handy hat, teilt er seine Botschaft anderen mit und bittet, sie weiterzuleiten, bis sie in der Verwaltung ankommt. Man könnte nun meinen, die Natur hätte am falschen Ende gespart, wenn sie die »Kabel« so kurz gemacht hat. Doch das Gegenteil ist der Fall. Jeder, der schon einmal stille Post gespielt hat, weiß, was mit Signalen passiert, die man weiterreicht: Sie können sich verändern! Doch im vorliegenden Fall ist genau das erwünscht.

Das Signal des Nozizeptors kommt nur bis in den Hirnstamm, weiter reicht die Verbindung nicht. Wo der Hirnstamm ist, verrät sein Name. Unten, an der Basis des Gehirns. Der Hirnstamm nimmt das Signal auf, moduliert es und gleicht es mit anderen ab, die in Gegenrichtung, nämlich Richtung Körper gehen. Denn nicht alle Nozizeptoren sind gleich empfindlich. Da aber alle Signale aller Nozizeptoren zuerst einmal durch den Hirnstamm müssen, sammelt dieser im Lauf des Lebens Erfahrung. Die er einbringen kann, indem er Signale verstärkt oder abschwächt. Hält ein Nozizeptor viel aus, dann hat der Hirnstamm gelernt, dass der sich wirklich nur im Notfall meldet. Kommt dann mal ein Signal von ihm, wird es verstärkt, wodurch es mit höherer Dringlichkeit weitergeleitet wird, als würde es von Trompetensignalen begleitet. Ist ein anderer Nozizeptor aber eher übersensibel, dann hat der Hirnstamm auch das gelernt und weiß, dass die Mehrheit der »Notfälle« aus dieser Quelle meist keine sind. Also schwächt der Hirnstamm diese Signale ab. Das alles geschieht, damit die nächste Station bloß nichts falsch macht.

Im Thalamus, auch »Tor zum Bewusstsein« genannt, wird entschieden, ob die Meldung wichtig ist. Wenn ja, darf sie in den Kortex, und nur wenn sie da hingelangt, nehmen wir sie wahr und sagen »Aua!«. Das heißt aber auch, das Signal kann vorhanden sein, obwohl wir es gar nicht merken! Dann blieb es unter der Schwelle, die der Thalamus durchlässt. Ein unterschwelliger Reiz ist nicht wichtig genug, um Wahrnehmung zu erzeugen, aber vorhanden. Und löst auf dem Weg andere Prozesse aus. Dieser Weg oder Pfad, den ein Schmerzsignal nimmt, besteht, wie gesagt, aus Nozizeptor, Hirnstamm, Thalamus und Kortex. Man nennt ihn auch – wenig kreativ, aber gut zu merken – den Schmerzpfad. An jeder Stelle dieses Pfades kann ein Prozess ausgelöst werden, der aus einem sekundären einen primären Kopfschmerz machen kann.

Um das Prinzip zu verstehen und im vorliegenden Fall, wie der Spannungskopfschmerz chronisch wird, reicht es, wenn wir den ersten Teil des Pfades betrachten. Den Ort, an dem das Schmerzsignal aufgenommen wird. Zu den anderen Orten kommen wir noch.

Die Nozizeptoren schütten immer ein klein wenig einer Substanz aus, wenn sie Meldung machen. Sie trägt den kryptischen Namen Calcitonin Gene-Related Peptide, weshalb man sie meist als CGRP abkürzt. CGRP funktioniert wie eine Art selbsthaftender Merkzettel. Es wird ziemlich schnell wieder abgebaut, so, wie die Klebenotizen immer wieder schnell abfallen. Aber solange es da ist, erinnert es die Nozizeptoren daran, dass die letzte Meldung noch nicht lang her ist. Das sensibilisiert die Nozizeptoren, und so sorgt diese Substanz dafür, dass Meldungen verstärkt werden, als würden sie mit dem Vermerk »Zweite Mahnung« verschickt.

Doch auch Immunzellen, die in jedem Gewebe still und friedlich auf ihren Einsatz warten, reagieren auf CGRP. Viel CGRP im Gewebe heißt für die Immunzellen, dass hier Ärger droht, und sie beginnen die Fluchtwege frei zu machen. Spätestens dann hat es sich mit still und friedlich.

Daraus entsteht ein bekannter Effekt: Streicheln auf Haut tut gut. Streicheln einer Wunde tut nicht gut, da sind die Nozizeptoren sensibler. Und das macht Sinn, damit wir uns nicht in Wunden herumfingern, die Ruhe zum Heilen brauchen. Das passiert auch unter der intakten Haut und schon im kleinen Maßstab.

Bei Spannungskopfschmerzen versuchen die Nozizeptoren der Nackenmuskulatur mit ihren Signalen zu sagen, dass die Muskeln höflich um eine Pause bitten. Bleibt diese Pause aus, dann häuft sich das CGRP, bis die Immunzellen ihre Arbeit beginnen. Deren Entzündungsreaktion macht die Nozizeptoren aber noch sensibler, sie reagieren noch leichter und schütten folglich noch mehr CGRP aus. Bleibt das eine Weile so, dann merken sich die Nozizeptoren ihre Übersensibilität, da sie lernfähig sind. Und, voilà, die Schwelle, ab der wir ein Signal als Schmerz wahrnehmen, hat sich dauerhaft verstellt, der Schmerz ist chronisch geworden.

Das System ist mit gutem Grund variabel. Doch Variabilität kann schiefgehen. Senkt sich die Schmerzschwelle so weit ab, dass es schmerzt, ohne dass etwas den Schadensmelder reizt, dann ist aus dem Warnsignal ein gestörtes Signal geworden, denn es hat keinen Gewebeschaden als Gegenstand. Und das ist der Unterschied zwischen primärem und sekundärem Kopfschmerz. Der Schmerz nach Verletzungen oder Infektionen ist gut, denn er hat einen Grund! Bei primären Kopfschmerzen ist gar nichts gut, denn hier liegt kein Grund für Schmerz vor. Der Schmerz selbst ist krank geworden.

Der Schmerzpfad (final)

Im Grundzustand signalisieren Nozizeptoren (Späher) Schäden an den Hirnstamm (Pförtner), der an den Thalamus (Vorzimmerdame) signalisiert, welcher das Signal zum Kortex (Boss) weiterleitet, wo wir es als Schmerz wahrnehmen.

Beim chronisch gewordenen Spannungskopfschmerz ist der Nozizeptor sensibilisiert, der Schmerzpfad dauerhaft aktiv. Bei Migräne ist das gesamte System von vornherein hypersensibel. Löst etwas eine Attacke aus, überschießt die Reaktion entlang des Schmerzpfades.

Migräne, die Mutter aller Kopfschmerzen

Um die anderen Orte des Schmerzpfades zu verstehen, kommen wir nun zur Migräne. Einer Krankheit, die ich als die Mutter aller Kopfschmerzerkrankungen bezeichne. Die meisten Kopfschmerzformen lassen sich auf eine oder wenige Ursachen zurückführen. Man kann diese Ursachen an einer oder wenigen Regionen des Schmerzpfades festmachen. Bei der Migräne hingegen kann die Ursache an allen Regionen des Schmerzpfades liegen. Und sogar abseits davon. Darüber hinaus wurde das Wort Migräne lange Zeit synonym mit heftigen Kopfschmerzen verwendet. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird es bis heute oft so verwendet. Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die frühesten Berichte über Kopfschmerzen hauptsächlich unter dem Namen Migräne erfolgten.

Heute weiß man, dass es sich bei der Migräne um eine primäre Kopfschmerzform mit mehreren Unterformen handelt, die durchaus unterschiedliche Ursachen haben können. Doch bevor wir zu den Ursachen kommen, sei gesagt, dass keine davon DIE Ursache für Migräne ist. Wir werden im Folgenden auf einige Ursachen eingehen, die einzeln oder gemeinsam bei Patienten auftreten können. Und natürlich kann auch ein Migräniker beispielsweise einen Spannungskopfschmerz haben, der zusätzlich zu den Migräneattacken auftaucht. Der große Unterschied zwischen Spannungskopfschmerz und Migräne ist, dass Migräne, wie bereits gesagt, zu den primären Kopfschmerzerkrankungen gehört. Im Gegensatz zu den Spannungskopfschmerzen kann sie sich jedoch nicht aus einer sekundären zu einer primären Erkrankung entwickeln. Sie ist eine chronische Schmerzerkrankung, die man entweder hat oder nicht, denn eine wichtige Ursache für Migräne liegt in den Genen. Wer keine Veranlagung dazu hat, der kriegt auch keinen Migräneanfall.

Kurze Geschichte der Migräne

Der römische Arzt Galen beschrieb etwa im Jahr 200 n. Chr. mit hemicrania heftige Schmerzen eines Patienten, die diesen nur auf einer Seite des Kopfes plagten. Da er sich, während er die Schmerzen verspürte, auch übergeben musste, vermutete Galen eine direkte Verbindung zwischen Gehirn und Magen. Der persische Arzt Ibn Sina, in lateinischen Schriften unter dem Namen Avicenna bekannt, beschrieb um 1000 n. Chr., dass sich Migräniker in dunkle Räume zurückziehen, dass Licht, Geräusche, selbst Speisen und Getränke die Pein der Betroffenen nur verschlimmerten.

Was die Therapie angeht, sind die verschiedensten Behandlungen überliefert. Von diversen Kräutern und Tinkturen über das Einnähen von Knoblauchzehen unter die Kopfhaut oder deren Verbrennung mit heißem Eisen bis zum Aufbohren des Schädels.

Schmerzen gibt es, seitdem es Nervensysteme gibt, die diese Signale transportieren können. Die Versuche, sie loszuwerden, gehen folglich zurück bis zu den Anfängen der menschlichen Kultur. In Ausgrabungsstätten fand man jahrtausendealte menschliche Schädel, die Löcher aufwiesen. Doch diese waren nicht durch Unfälle entstanden, im Gegenteil. Die Form der Löcher ließ darauf schließen, dass sie nicht tödlich waren, die Ränder wiesen Vernarbungen auf, die Wunden waren also verheilt. Als Absicht hinter solchen als Trepanation bezeichneten Operationen vermuten heutige Forscher Schmerzlinderung durch den Versuch, einen bösen Geist entweichen zu lassen.

Im Mittelalter war der Aderlass eine übliche Methode. Man öffnete eine Vene und ließ die Patienten eine Weile bluten, da man glaubte, viele Krankheiten, wie auch Kopfschmerzen, entstünden durch ein Ungleichgewicht aus Körpersäften, die man so wieder ins Gleichgewicht zu bringen versuchte.

Erst im Jahr 1712 wurde die »Bibliotheca Anatomica, Medic, Chirurgica« in London veröffentlicht. In dieser Schrift wurden das erste Mal Unterschiede zwischen Formen von Kopfschmerzen gemacht, und das Wort Migräne taucht erstmals als Bezeichnung für einen bestimmten Typus auf. Es dauerte nochmals mehr als 200 Jahre, bis 1930 entdeckt wurde, dass Ergotamin, ein Stoff aus einem Pilz, Migränebeschwerden linderte. Kurze Zeit später fand man heraus, dass Ergotamin dafür sorgt, dass sich Blutgefäße im Gehirn verengen, weshalb man seit Mitte des 20. Jahrhunderts davon ausging, dass die Hauptursache für Migräne in oder an den Gefäßen des Gehirns liegt.

Doch auch wenn bereits Galen Übelkeit und Erbrechen auffielen, wurde Migräne viele Jahrhunderte lang lediglich als Kopfschmerzerkrankung betrachtet. Selbst heute wird sie oftmals noch darauf reduziert. Auch die gerne wiederholte Behauptung, Frauen lehnten den Sexualwunsch ihres Partners wegen Migräne ab, zeigt, wie missverstanden diese Erkrankung ist. Denn sie äußert sich beileibe nicht nur durch Kopfschmerz.

Auslöser und Aura

Bei Migräne tritt der Kopfschmerz in Attacken auf. Diese werden oft durch etwas ausgelöst, man spricht daher auch von einem »Auslöser« oder »Trigger«. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, kann alles Mögliche sein, so zum Beispiel: gleißendes Licht, Geräusche, Hunger, Stress, körperliche Anstrengung, zu wenig oder zu viel Schlaf, Wetterumschwünge, Alkohol oder Drogen.

Und es bleibt nicht beim Kopfschmerz. Während der Attacke ist den Patienten übel, einige müssen sich erbrechen, fühlen sich rundum krank. Licht und Geräusche machen alles nur schlimmer, weshalb sich die Patienten meist zurückziehen und hinlegen. Oft kündigt sich die Attacke einen Tag vorher an. Etwa durch Symptome wie Herzklopfen, starken Appetit oder heftiges Schwitzen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, kommt es bei etwa einem Fünftel der Menschen mit Migräne zu einem Phänomen, das Aura genannt wird.

Als Aura werden neurologische Reiz- und Ausfallerscheinungen benannt, wie zumeist Sehstörungen, die Migränepatienten erleiden, bevor die Schmerzattacke beginnt. Und bei manchen bleibt es bei der Aura, da kommt dann gar kein Kopfschmerz mehr nach!

Im Jahr 2011 berichtete die Reporterin Serene Branson live in den amerikanischen Nachrichten von der Verleihung der Grammy Awards. Man kann die Szene im Internet ansehen, die wenigen Sekunden, die sie in die Kamera sprach, machten sie zu einer Internetberühmtheit. Sie brabbelte völlig unverständliches Zeug. Dabei sah man ihren Gesichtszügen an, dass sie das selbst bemerkte, aber nichts dagegen tun konnte. Doch war die Reporterin weder betrunken noch unter Drogen, und sie hatte auch keinen Schlaganfall vor laufender Kamera erlitten, wie manche spekulierten. Nein, Serene Branson erlitt live im Fernsehen eine Aura und zeigte den Zuschauern damit auf eindrückliche Art und Weise, dass Migräne sich nicht immer nur durch Kopfschmerzen äußert. Durch dieses Beispiel wird klar, dass Migräne nicht nur eine immer mal auftauchende Kopfwehattacke ist. Es ist eine neurologische Krankheit und sollte auch als solche behandelt werden.

Ich möchte nur kurz präzisieren, dass Frau Bransons motorische Aphasie eine sogenannte »atypische Aura« war. Bei den meisten Migränepatienten ist die Aura nicht ganz so dramatisch, sie sehen zunächst sich ausbreitende Lichtblitze und zackige Strukturen in einer Gesichtshälfte, dann folgt ein Gesichtsfeldausfall (Skotom). Nach einer halben Stunde ist alles vorbei, nur beginnt dann leider auch schon der Kopfschmerz. Aber du wirst ja auf die Aura noch näher eingehen, weil wir von ihr viel über das Gehirn lernen können: Lokalisation von Funktion, Erregung und Hemmung.

Ja, darauf komme ich noch. Typisch oder atypisch, die Aura zeigt eindrücklich, dass Migräne mehr ist als nur Kopfweh! Auch dass sie zum Beispiel durch Gerüche ausgelöst werden kann, zeigt, dass da etwas schiefläuft! Die Frage ist nur: Was? Und wieso? Und was hat das zu bedeuten? Kommen wir also zu einer Frage, von der ich jetzt schon verraten kann, dass sie mehrere Antworten hat:

Was sind die Ursachen für Migräne?

Schreiten wir den Schmerzpfad der Reihe nach ab. Schon an der ersten Station, bei den Nozizeptoren, finden wir Auffälligkeiten. Liegt die Ursache für Migräne an den Empfängern für Schmerzreize, den Nozizeptoren?

Teilweise. Wie schon beschrieben, sind die Blutgefäße schmerzempfindlich. Auch dort sitzen Nozizeptoren und überwachen die Situation. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Migräne mit einer Entzündung der Gefäßwände großer Adern im Gehirn einhergeht. Ich sagte ja bereits, man dachte lange Zeit, das sei die Hauptursache für Migräne. Die Entzündung wird »steril« genannt, denn sie hat keine Keime zur Ursache. Die Immunzellen schlagen also Alarm, ohne dass irgendein Erreger da ist. In diesem Fall ist die Nervenfaser zwischen dem Nozizeptor und der nächsten Station des Pfades, dem Hirnstamm, von alleine aktiv, wie eine elektrische Leitung, die jedem einen Schlag verpasst, der ihr zu nahe kommt. Statt auf Attacken durch Erreger reagiert der Nozizeptor nun auf Schläge aus der Leitung.

Wir müssen uns den Nozizeptor als einen übervorsichtigen und schreckhaften kleinen Gesellen vorstellen. Deshalb reagiert dieser auf die Schläge der Leitung genauso wie auf Attacken von Erregern oder durch Wunden: Er meldet dem Hirnstamm einen Schaden, schüttet seine »Merkzettel« CGRP aus und stresst damit die Immunzellen!

Ist Migräne also eher eine Gefäßkrankheit?