Ich habe ja gewusst, dass ich fliegen kann - Senta Berger - E-Book
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Ich habe ja gewusst, dass ich fliegen kann E-Book

Senta Berger

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Beschreibung

Senta Bergers Erinnerungen – ein Glücksfall für den Leser Sensibel, leidenschaftlich, mit viel Witz und voller Elan erzählt Senta Berger über ihr abenteuerliches Leben – über ihre Wiener Herkunft, ihre ersten Schritte in die Welt des Theaters und des Films und über viele Etappen einer einzigartigen Karriere. Seit Langem hat man darauf gewartet: Senta Berger, Deutschlands beliebteste und populärste Schauspielerin, hat ein Buch über ihr Leben geschrieben: über ihre Kindheit und Jugend im Wien der Nachkriegszeit, über ihre Familie, über ihre Karriere als Schauspielerin in Österreich, Deutschland, in Hollywood und Italien. Über das Theater, den Film und das Fernsehen. Über Freunde und Kollegen. Aber das Schönste an diesem Buch ist: Mit Senta Berger ist eine Erzählerin zu entdecken, bei der man sofort spürt, wie sehr sie die Literatur liebt und in sich trägt. So sind ihre Geschichten etwa über ihre erste Berührung mit dem Film als Komparsin in Das doppelte Lottchen, über ihre Aufnahmeprüfung und ihren späteren Rauswurf am Max-Reinhart-Seminar nicht nur Dokumente eines höchst abenteuerlichen Lebenswegs, sondern auch ein großes Lesevergnügen. Mit Wehmut und Liebe blickt Senta Berger zurück auf das Leben ihrer Eltern und Großeltern. Mit trockenem Humor und Tempo erzählt sie, wie es ihr gelang, alle Hindernisse zu überwinden und den Traum vom Schauspielerleben zu verwirklichen. Mit scharfem Blick schaut sie hinter die Kulissen des deutschen und internationalen Filmgeschäfts und erzählt von den wunderbaren Kollegen, mit denen sie gearbeitet hat: Hans Moser und O.W. Fischer, Heinz Rühmann und Mario Adorf, Elke Sommer und Romy Schneider, Yul Brunner, Frank Sinatra und vielen anderen.

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Seitenzahl: 514

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Senta Berger

Ich habe ja gewußt, daß ich fliegen kann

Erinnerungen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Senta Berger

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

Als Kind träumte ich …Lainzer Straße 148Vater Mutter KindDie Geschichte der Familie Jany, wie meine Mutter sie mir erzählt hatDie Geschichte der Familie meines Vaters, wie mein Vater sie mir erzählt hatKinderlandDas doppelte LottchenSechzehnDie unentschuldigten StundenAlles oder nichtsDie Lindenwirtin vom DonaustrandKindheit in der TascheIch fliegeGeheime WegeWien Berlin London Rom HollywoodAmerika AmerikaLeben und TodAbschied[Bildteil]Fräulein Else
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Als Kind träumte ich oft und auch noch lange bis in mein Erwachsenenleben hinein, daß ich fliegen könne.

Ich stehe am offenen Fenster auf der Fensterbank und hebe mich mit einem kleinen leichten Sprung in die Luft. Die Luft ist ganz weich und warm. Ich teile sie mit meinem Körper, mit meinen Armen wie beim Schwimmen und fliege über unseren Garten hinweg, über die Baumkronen, die Alleen entlang. Manchmal stehen Nachbarskinder unter mir und schauen staunend zu mir herauf. Sie winken. Aber ich winke nicht zurück. Ich fliege. Ich bin ganz leicht. Losgelöst. Ich habe keine Angst. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl.

Schon lange habe ich diesen Traum verloren. Ich sehne mich danach, ihn wiederzufinden. Aber er kommt nicht mehr zu mir.

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Lainzer Straße 148

Im Januar 1964 holte mich von meiner Wohnung in Hietzing ein Cadillac ab. Schwarz glänzend. Mein Agent Paul Kohner hatte meine Abreise aus Wien nach Amerika organisiert. In drei Stunden ging mein Flugzeug nach Los Angeles. Wien-Frankfurt, Frankfurt-New York, New York-Los Angeles. Gut zwanzig Stunden. Aus irgendwelchen Gründen begleitete mich niemand zum Flughafen. Wahrscheinlich wollte ich es so. Michael hatte eine wichtige Prüfung in München. Das weiß ich noch. Ich mußte wegen meines Visums und der vorläufigen Arbeitserlaubnis, die mir die amerikanische Botschaft in Wien erteilte, aus Wien in die USA einreisen. Von meinen Eltern verabschiedete ich mich in meiner Wohnung. Meine Mutter hatte mir geholfen, die zwei Koffer zu packen. Nun weinte sie und sagte nur immer wieder: »Sei g’scheit, sei g’scheit«, mein Vater drückte meinen Kopf schmerzhaft an seine Schulter und flüsterte heiser: »Du weißt ja, was wir dir wünschen, du weißt es ja.« Dann brach er völlig zusammen, und während meine Mutter sich um ihn kümmern und ihn trösten mußte, hupte der Chauffeur der schwarzen Limousine mehrmals nervös vor dem Haus. Nachbarn standen neugierig um den Cadillac, als ich einstieg. Meine Koffer waren schon eingeladen. Weiße Koffer. Ein Geschenk meines amerikanischen Agenten. Meine Mutter stand auf dem kleinen Balkon meiner ersten eigenen Wohnung und winkte verzweifelt, wie früher, wenn ich im Sommer ins Kinderlager fahren mußte. Mein Vater stand hinter ihr und rief hinunter: »Hast alles? Hast den Paß?«, eine Frage, die er mir in der letzten halben Stunde etwa zwanzigmal gestellt hatte.

Dann fuhr das Auto los.

Als wir an der Lainzer Kirche vorbeifuhren und ich das Haus meiner Kindheit sah, wußte ich, daß ich Abschied nehmen mußte. Von diesem Haus. Von meiner Kindheit.

»Bitte. Es dauert nicht lange.«

Der Chauffeur wartete auf dem Kirchenplatz, auf dem ich radfahren gelernt hatte.

Ich rannte die Stufen vom Platz hinauf. Lainzer Straße 148. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Die Haustüre war verschlossen. Wie konnte das sein? Nie war die Türe tagsüber versperrt gewesen! Ich rüttelte an der schmiedeeisernen Klinke, ich trommelte auf die Fenster. Jemand kam. »Was is denn, was is denn!«

Es war die Frau Neumann. Die Küchenhilfe im Kindergarten. Nach dem Krieg hatte sie uns Kindern den Löffel mit Lebertran in den Mund gepreßt. Ich hatte sie nicht gleich erkannt. So weiß war sie geworden.

Sie erkannte mich auch nicht gleich – aber dann, mit einem »Jessas, die Senta!«, ließ sie mich ins Haus.

»Ich will nichts, Frau Neumann, ich will nur einmal durchs Haus laufen, ich flieg gleich nach Amerika …«

»Jessas, nach Amerika!«

»Ja, Frau Neumann, und ich weiß nicht, ob ich wiederkomme.« Wirklich? Was sagte ich da? Natürlich würde ich wiederkommen. Wie dumm ich war! Ich wußte doch, daß ich ohne Wien nicht leben konnte. Warum sagte ich das?

»Ja, kumm nur, kumm, wart’, i sperr dir zum Hof auf. Wir müssen jetzt immer alles zusperren, wegen der Kinder, is alles a bisserl strenger worden.«

Ich lief an ihr vorbei, in den Hof, mein verlorenes Paradies. So klein? So klein alles? Der Holzschuppen, die Waschküche. »Wo ist der Flieder?«

»Der war scho so alt, i glaub, den haben’s z’sammg’schnitten, die Leut, die jetzt da wohnen.«

Es war alles so aufgeräumt, begradigt, beängstigend ordentlich.

Ich lief am Kohlenkeller vorbei, aus dem es immer noch feucht und süß roch, nach Erdäpfeln und Schimmel und Kohlen. Ein unvergleichlicher Geruch. Da unten saßen wir, die Kinder des Hauses mit unseren Müttern. Die Väter waren im Krieg oder eingezogen beim Volkssturm, der Kindergarten schon lange geschlossen. Und als die Kaserne am Küniglberg, zwei, drei Kilometer von uns entfernt, bombardiert wurde, rieselte der Putz von den Wänden im Kohlenkeller, die Erde bebte, und das Regal mit den Kompott- und Marmeladegläsern stürzte auf uns. Das Licht ging aus, und wir schrien. Aber es war nichts. Es war nichts. Das Haus stand. Sogar die Fensterscheiben waren ganz.

Ich lief die breiten, steinernen Stufen hinauf in den ersten Stock. Wo waren die schönen alten Türen? Dunkelbraun, schwer, mit Türfüllungen, die ihnen ein Gesicht gaben.

Alles neu, alles häßlich, alles renoviert, aber der Steinboden roch noch so wie früher – wie soll ich es beschreiben? Wie riechen Steine?

Vom Gangfenster sah ich hinunter auf den kleinen Hof, hinüber zu meiner Volksschule, damals stand noch die riesige Kastanie im Schulhof, die im Frühling wie ein wildes weißes Meer blühte, und ich mußte plötzlich würgen und wild schluchzen.

»Senta«, rief die Frau Neumann hinauf, »der Mann mit’m Auto sagt, wannst jetzt net fahrst, kummst nie nach Amerika.«

Und als ich an ihr vorbeistürzte und »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« schrie, wußte ich, daß ich nie mehr heimkehren würde.

Das Auto fuhr langsam die Lainzer Straße hinunter, das weiße Haus wurde immer kleiner, verschwand hinter der Kirche, und dann verschwand auch die Kirche, und während ich in meine Zukunft fuhr, dachte ich an meine Kindheit und knüpfte aus den Bildern meiner Erinnerungen ein festes Netz, in das ich mich zu jeder Zeit fallen lassen konnte.

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Vater Mutter Kind

In dem weißen Haus hinter der großen Kirche bin ich geboren. Nein, geboren bin ich natürlich im Lainzer Krankenhaus, zwei, drei Kilometer entfernt, schon nahe dem Wienerwald. Der 13. Mai ist mein Geburtstag. Mein Vater, der sich niemals – nicht in der Oper, nicht im Theater, nicht im Kino – auf einen Sitz mit der Nummer 13 gesetzt hätte, drängte meine Mutter am 12. Mai zu langen, schnellen Spaziergängen, am besten in hohen Stöckelschuhen. Er hatte gehört, daß diese besondere Dynamik des Gehens Wehen auslösen würde. Meine Mutter zog also ihre besten Schuhe an, aus schwarzem Wildleder, und ging den ganzen Tag die sanft ansteigende Camillianergasse in der Nähe des Krankenhauses auf und ab. Am Abend hatte mein abergläubischer Vater ein Einsehen und holte sie zum Essen nach Hause. Es gab Schwarzbrot und Speck. Meine Mutter war nach diesem Wandertag in der Camillianergasse recht ausgehungert und griff tüchtig zu. Plötzlich wurde ihr übel, und die Wehen setzten ein. Sie hatte eine schwere Geburt. Sie mußte sich lange quälen. Der Ton im Krankenhaus war militärisch. Die Hebamme sagte, sie möge sich nicht so anstellen, und meine Mutter biß sich den Handrücken blutig. Morgens um sieben bin ich geboren, also etwa um sieben, wie meine Mutter sagt. »Da war doch Krieg, da hat man net so auf’m Aszendenten geschaut, sondern darauf, daß man genug Milch hat.« Vormittags kam mein Vater. Er legte mir ein Kettchen um mit einer winzigen silbernen Dreizehn. Die habe ich noch.

Ein paar Tage später brachten sie mich nach Hause. Es war der kälteste Mai seit Jahrzehnten, und Elly, die Schwester meiner Mutter, hatte den kleinen Eisenofen angeheizt.

Meine Mutter war damals 38, mein Vater 39. Ich war ihr erstes Kind und blieb ihr einziges.

 

Die Lainzer Straße 148 war mein Kinderparadies. Früher war das Haus hinter der breiten bäuerlichen Kirche die Volksschule gewesen, dann wurde am anschließenden Grundstück eine große Volks- und Hauptschule gebaut, und in die kleine alte Schule zog der Städtische Kindergarten ein. Die Klassenzimmer im ersten Stock wurden zu Wohnungen umgewidmet. Wände wurden eingezogen und die großen Räume gedrittelt. Im ersten Teil die Küche, im zweiten Wohn- und Schlafzimmer, im letzten, dem kleinsten Raum, das sogenannte Kabinett, in dem zumeist die Kinder schliefen. Meine Mutter hatte sich beim Wohnungsamt unsere kleine Wohnung erkämpft. Es herrschte große Wohnungsnot in Wien, vor allem für Leute, die kein Geld hatten, und meine Eltern hatten keines. Die wenigen Wohnungen, die zu verteilen waren, gingen an Familien mit Kindern. Und meine Eltern hatten damals keine.

Sie hatten keine Kinder, weil sie keine Wohnung hatten. Und sie bekamen keine Wohnung, weil sie kein Kind hatten.

Kennengelernt haben meine Eltern sich im Winter 1920 im Stadtpark. 1929 haben sie geheiratet. Die Eltern meines Vaters waren gegen diese Braut.

»Weil ich nix g’habt hab. Der Peperl hätt eine nehmen sollen mit Geld«, sagte meine Mutter.

Dabei hatten sie damals doch selber Geld, die Bergers. Josef Carl Berger, Metallschleiferei und Verchromung, so stand über dem Eingang des Geschäftes in der Münzgasse 1. Die Familie Berger war damals wohlhabend. Der kleine Betrieb mit fünf, sechs Arbeitern und einem Lehrbuben, die alle »Masta« zu meinem Opa sagten, florierte, trotz der schlechten Zeiten. Vom verchromten Kotflügel eines Autos bis zum neu vermessingten Lüster machte mein Opa alles. Im Taufschein meines Vaters ist der Beruf seines Vaters sogar mit »Fabrikant« angegeben. Aber dem Sohn, dem Peperl, haben sie nicht einen Groschen gegeben, weil er nicht die Tochter des Apothekers aus der Ungargasse genommen, sondern sich in diese kleine, weiche Lachtaube verguckt hatte.

So blieb meine Mutter weiter bei ihrem Vater wohnen, in der Schulwartswohnung einer Schule in Meidling. In der Ortnergasse. Und mein Vater blieb weiterhin bei seinen Eltern wohnen. Wie und wann sie sich in dieser Zeit gesehen haben und miteinander alleine sein konnten, weiß ich nicht. Nach und nach zogen die Geschwister meiner Mutter, die allesamt noch in dieser Schulwartswohnung wohnten, aus. Sie gründeten eigene Familien und hatten das Glück, von der Gemeinde Wien Wohnungen zugewiesen zu bekommen.

In Lainz, dem dörflichen Teil des Nobelbezirkes Hietzing. So wohnten die Geschwister meiner Mutter, alle meine Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen ganz in unserer Nähe. Ich bin in der Sicherheit einer Großfamilie aufgewachsen.

Doch erst blieb meine Mutter bei ihrem Vater zurück. Der schlief nun in der Küche, mein Vater und meine Mutter im Wohn- und Schlafraum.

»Es waren so schlechte Zeiten, Senta, des kannst dir nicht vorstellen, wir haben g’spart und g’spart, aber wir haben uns ka Wohnung leisten können. Die Bergers hab’m uns nix geben. Die haben den Peperl bestrafen wollen. Na, und da hab ich g’hört, die alte Schule in Lainz wird ein Wohnhaus! Und weil wir keine Kinder g’habt haben, haben’s uns schließlich das ehemalige Lehrmittelzimmer geben, haben eine Wand aufgestellt, und so wars eine Küche-Zimmer-Wohnung. Jeder Raum elf Quadratmeter. Ohne fließend Wasser. Das war draußen am Gang. ‘S Klo natürlich auch. Was glaubst du, wie glücklich wir waren! Der kleine Garten noch dazu, jeder hat sich a Eckerl nehmen dürfen und Blumen setzen und an Salat. Jetzt hätt ma endlich a Kind haben können, aber jetzt haben wir keines bekommen. Ich war schon ganz verzweifelt. Sieben Jahre haben wir auf dich gewartet, dann bist endlich kommen.«

So erzählte meine Mutter.

Der Vater meines Vaters war mein Opa.

Der Vater meiner Mutter war der Großvater.

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Die Geschichte der Familie Jany, wie meine Mutter sie mir erzählt hat

Der Großvater Franz Jany war ein hochgewachsener, schöner Mann. Seine Familie war Anfang des 19. Jahrhunderts aus Ungarn in die k. und k. Hauptstadt, nach Wien gezogen. Mein Großvater sah immer noch wie ein Ungar aus. Wenn er plötzlich bei uns in der Küche stand – er klopfte nie, und die Türe war immer unversperrt –, erinnerte er mich an Johann Strauss, wie er als Denkmal verewigt im Stadtpark steht.

Er hatte jahraus, jahrein einen dreiteiligen, dunklen Kammgarnanzug an, dessen Stoff im Laufe der Jahre immer abgewetzter und glänzender wurde. Im Mund hing ihm eine kalte Virginia, an der er herumkaute, in der Hand hielt er einen langen, schmalen Zweig, den er sich in der Art einer Gerte zurechtgeschnitzt hatte, oft ein Fliederzweig, dessen Spitze ein einziges Blatt schmückte. Meine Mutter sprach respektvoll und nachsichtig mit ihm. Er trank oft zu viel. Dann wurde meine Mutter eisig und setzte ihn vor die Türe. Er wohnte mit seiner zweiten Frau Marie in einer dunklen Kellerwohnung. Heute ist dieser Raum richtigerweise die Garage des Hauses in der Münichreiterstraße in Hietzing. In dem feuchten, unbeheizbaren Schlafraum hatte mein Großvater die schönsten, fremdesten grünen Pflanzen in Töpfen. Er wußte genau, welche in diesem dunklen Zimmer dennoch gedeihen würden. »Mein Schattengarten«, sagte er. In dem Kämmerchen, das als Küche diente, stand unter dem Fenster ein mannshoher Käfig mit Singvögeln. Abends kam ein großes Tuch über den Käfig. Tagsüber unterhielt er sich mit seinen »Vogerln«. Mein Großvater konnte wunderbar pfeifen und jede Vogelstimme nachmachen. Er pfiff, und aus dem Käfig antwortete der Zeisig, das Rotkehlchen, die Meise. Nach seinem Tod holte ein Wagen des Tierparks Schönbrunn den Vogelkäfig ab. Ich habe so geheult.

Als mein Großvater die junge Amalie Knott zur Frau nahm, müssen sie nicht nur sehr verliebt ineinander gewesen sein, sondern auch einigermaßen wohlhabend. Amalie bekam als Aussteuer, sie war eine der vielen Töchter eines Meiereibesitzers, ein fertig eingerichtetes Friseurgeschäft geschenkt. Auf der Mariahilfer Straße. Denn mein Großvater war Friseur.

»Er war viel mehr«, erzählte meine Mutter, »er war ein Künstler! Der geschickteste Perückenmacher, den man sich nur denken kann. Für die Theater hat er gearbeitet! Frauen sind von überall herkommen für ihre falschen Knoten und Zöpfe.«

Alle eineinhalb Jahre kam ein Kind. Das erste starb bald nach der Geburt. Dann kam der Oscar, dann die Therese, »das Reserl«, meine Mutter, dann Gabriele, die Elly, dann Margarete, die Greti und dann der Fritzi, der kleine Bruder. Die Amalie wurde immer schmaler, nicht nur der vielen Geburten wegen. Sie hatte auch Kummer mit dem Franz, ihrem Mann. Der hatte zu spielen angefangen, zu wetten, Pferderennen waren seine Leidenschaft, er hatte zu trinken begonnen, er hielt seine Freunde frei. »Schöne Freunderln waren das, die waren sein Untergang, die Freund«, sagte meine Mutter.

Sie mußten aus der großen Wohnung in eine kleinere ziehen und von dort wieder in eine noch kleinere.

Und dann geschah die Tragödie. Mein Großvater bekam schwere Tuberkulose. Er lag zu Hause auf einem Sofa in der Küche und spuckte Blut. Es gab keine Krankenversicherung, kein Arbeitslosengeld, keine Überbrückungshilfe. Das Geld schmolz zusammen. Das Friseurgeschäft mußte er zu einem Spottpreis an den Gesellen verkaufen. Amalie setzte sich an die Nähmaschine und hielt die Familie über Wasser.

Sie mußten wieder einmal umziehen, es gab ja auch keinen Mieterschutz, die Familie flog innerhalb weniger Stunden aus der Wohnung, wenn Amalie nicht pünktlich bezahlen konnte. Die Hausherrin der nächsten Wohnung, einer Erdgeschoßwohnung, fragte: »Wie viele Kinder?«, und die schmale Amalie, an der Hand die jüngsten Kinder, Greti und Fritzi, sagte: »Zwei.« Die anderen drei durften sich erst nach Einbruch der Dunkelheit sehen lassen, wenn man gewiß sein konnte, daß die Hausbesitzerin sich schon zurückgezogen hatte. Die ausgesperrten Kinder schlichen gebückt an der Wohnung der Vermieterin vorbei und stiegen durchs Fenster in die elterliche Wohnung ein. »Manchmal war uns schon so kalt«, erzählte meine Mutter.

Gott sei Dank hatte die Hausbesitzerin ein Herz. »Gehen’s, Frau Jany, lassens die Tanz. Man ist doch kein Unmensch.« Mein Großvater lag auf der Küchenbank und spuckte sein Blut in einen Kübel.

Er steckt seine beiden kleinen Kinder mit Tuberkulose an. Die Greti hat es überlebt. Auch dank eines jüdischen Arztes, der durchsetzte, daß sie, Geld oder nicht, in ein Lungenheim kam.

»Jüdischer Arzt? Resi, was redest du da? Würdest du auch sagen ›katholischer‹ Arzt, ›protestantischer‹ Arzt?«

»Nein, würd ich nicht sagen, hast recht, Senta, aber ich würd’ immer betonen ›jüdischer‹ Arzt. Ist das schlecht, Senta?« »Ach nein, Resi, es ist nicht schlecht.«

 

Fritzi, der kleine Bruder, ist gestorben. Sein geschwächter kleiner Körper hatte eine Grippe und die darauf folgende Lungenentzündung nicht überlebt.

»Am Ostersonntag in der Früh ist er gestorben, der Fritzi. Fünf Jahr war er alt. Alle Glocken haben geläutet, weil ja Ostern war. Wir haben zwei Küchenstühle zusammengeschoben und ihn aufgebahrt. S’ ganze Haus ist kommen, alle haben ihn ja so geliebt. Wir haben die Gebete gesprochen und gesungen. Ich hab geglaubt, meine Mutter überlebts nicht.«

Dem Vater geht’s langsam besser. Er bekommt eine Stelle als Schulwart angeboten im Dritten Bezirk Landstraße-Hauptstraße. Die Familie zieht in die Schulwartswohnung der Schule hinter der Rochuskirche. Wenn ich mit der »Resi«, wie ich als erwachsene Frau meine Mutter oft nannte, durch Wien fuhr, kam alle Viertelstunde: »Da hamma gewohnt. Und da … und da auch …« Penzing, Meidling, Mariahilf, Landstraße-Hauptstraße, das waren die Bezirke, in denen die Familie bei jedem Umzug noch tiefer steigen mußte.

»Wir kommen in die Schulwartswohnung und machen die Tür auf, es war dunkel, wir habens Licht nicht gefunden, war noch Gaslicht – und ich spür, wie auf mich was runterregnet, der Vater finds Licht, und stell dir vor, waren das alles Wanzen, die aus dem Türrahmen gefallen sind! Meine Mutter hat so geschrien und so geweint. Sie war doch auch so etepetete. So schlecht hat’s uns gar net gehen können, daß wir net mit gestärkte Schürzen in die Schule gegangen sind. Der Schuldirektor hat sich entschuldigt und g’sagt, wir sollen im Lehrerzimmer schlafen, bis der Kammerjäger da war. Also haben wir dort geschlafen. Die Kinder auf’m Konferenztisch, die Eltern drunter am Fußboden.«

Die Töchter halten das Schulhaus sauber, die Mutter näht Tag und Nacht. »Wenn die Mutter nicht mehr die Nähmaschin hat treten können, weil sie einfach keine Kraft mehr gehabt hat, dann haben wir das gemacht, der Oskar und ich, sie hat genäht, und wir haben getreten.« Der Vater geht wieder ins Wirtshaus. »Und wenn er dann heimkommen ist, spät, und er hat was trunken g’habt, dann hat die Mutter mit ihm schlafen müssen. Sie hat immer leise g’sagt: ›Bitte nicht, Franz, bitte nicht‹, ganz leise, sie hat Angst gehabt, wir Kinder wachen auf. Wir haben ja alle in einem Zimmer geschlafen. Aber ich war schon wach und hab net gewußt, wie ich ihr helfen kann, meiner Mutter. Und ihn, ihn hab ich gehaßt.«

Und dann kommt der Tag, an dem die Mutter dem Reserl sagt: »Mußt mich begleiten, hinüber zur Nachbarin, mußt dort warten auf mich, weil ich nicht weiß, ob ich dann alleine nach Hause gehen kann.«

Wenn meine Mutter mir diesen Tag und die nächsten erzählte, und sie tat es oft, weinte sie manchmal dabei, lautlos und ohne es zu merken. Immer wieder trocknete sie sich die Augen mit ihrem verknüllten Taschentuch, das sie immer in ihrer Schürzentasche hatte.

»Wir sind also zu der Nachbarin gegangen. Es war nicht zum ersten Mal. Ich war vierzehn, aber ich hab gewußt, was die Nachbarin mit der Mutter macht, nur damit wir in unserem Unglück nicht noch ein Kind zu Hause haben. Die Nachbarin war eine ›Engelmacherin‹, wie man in Wien sagt.

Ich hab auf die Mutter gewartet, vor der Wohnung. Das war so ein kalter Steinboden. Dann ist sie gekommen und war so weiß wie die Wand. Sie hat kaum stehen können. Ganz langsam sind wir nach Hause. Sie hat sich ganz schwer auf mich gestützt und immer gesagt: ›Hilf mir bitte. Hilf mir.‹ Aber ich weiß gar nicht, ob sie mich damit gemeint hat oder den Herrgott. Vierundzwanzig Stunden später war sie tot. Der Vater hat den Arzt viel zu spät geholt, weil er sich geschämt hat, weil er ja hätt sagen müssen …, erklären … Blutvergiftung. Sepsis.

Wie sie tot war, meine Mutter, vierzig Jahre ist sie gerade geworden, da sind’s dann alle gekommen, die ganze Verwandtschaft, die sich längst um uns hätten kümmern müssen, und haben uns über’m Kopf gestrichen. Wir haben’s aber gar nicht glauben können, daß sie nicht mehr da sein soll, unsere Mutter. Erst wie sie den Sarg hinunterlassen haben in die Grube – da war so viel Wasser drin, daß es nur so geklatscht hat –, da haben wir begriffen und zum Weinen angefangen. Und die Greti, die war ja grad erst elf, die hat geschrien, daß ihre Mutter da unten keine Luft bekommt, und der Vater hat sie wegtragen müssen.

Wie dann alles vorbei war und wir wieder in der Wohnung waren, da war’s ganz still. Keiner hat geredet. Wir Kinder sind am leeren Tisch gesessen, und der Vater ist am Fenster gestanden und hat seinen Kopf immer wieder gegen das Fensterkreuz geschlagen. Das war das einzige furchtbare Geräusch.«

Nach ein paar Tagen ist die kleine Resi, meine Mutter, wieder in die Schule gegangen. Für den Religionsunterricht hätte sie eine Aufgabe mitbringen sollen. Sie entschuldigte sich. Der Religionslehrer sagte: »Es ist gut, Jany. Für dieses Mal bekommst du keine Strafe. Gott hat dich schon genug gestraft mit dem Tode deiner Mutter.«

Das war ein furchtbarer Satz, an dem meine Mutter ihr Leben lang herumgedacht hat.

Was hatte sie getan, was ihre kleinen Geschwister, daß sie so bestraft werden mußten?

Welcher grausame Gott war das?

War es die Strafe für Mutters Abtreibung? War es die Strafe für die körperliche Liebe der Eltern?

Und da sie mit niemandem darüber sprechen konnte, bekam der unsichtbare, grausame Gott das Gesicht des Religionslehrers, das sie nicht mehr sehen wollte.

Meine Mutter war vierzehn, es gab keine Schulpflicht mehr über dieses Alter hinaus, und so beendete sie von einem Tag auf den anderen den Schulbesuch.

Es war ohnehin so, daß man sie zu Hause dringend brauchte. Wer sollte denn kochen und waschen und das Schulhaus sauberhalten?

Der Schule gegenüber, auf der Landstraße Hauptstraße, lag der Rochusmarkt.

»Dort war a Kräutlerin, die hat mir’s Kochen beibracht.«

Es war immer noch Krieg. Meine Mutter hat ja zwei Weltkriege erlebt. Es gab wenig zum Essen. Für Brot stellte sich die Familie schichtweise nachts um 3 Uhr an. Der Gemüsefrau haben die kleinen Halbwaisen leid getan. Sie steckte ihnen immer irgend etwas zu. »Kumm her, Reserl, da hast an Spinat. Weißt, wie du den kochst? Also paß auf, ich sag das. Und morgen frag i dein Vatern, wie’s war.« So hat meine Mutter kochen gelernt und aus nichts etwas zu machen: verlängerte Suppen, Wassersuppen, falsche »Einbrenn«, »falsches« Gulasch mit viel Zwiebel und Paprika ohne Fleisch.

Der älteste Bruder, also der einzige Sohn, wurde von jeder Arbeit verschont und hatte trotzdem das Sagen. Das kränkte die Schwestern, obschon sie ihn liebten und auf ihn stolz waren, denn der Oskar arbeitete jetzt auf der Post. Also im Staatsdienst. Ein Beamter! Das war was Feines.

Der Oskar war immer ungemein elegant. Dafür sorgte schon die mittlere Schwester, die Elly. Ab ihrem 14. Lebensjahr arbeitete sie in einem vornehmen Schneidersalon, der im Sommer nach Karlsbad ging, um dort den reichen Damen, die es nach dem ersten Weltkrieg schon wieder gab, die Sommergarderobe anzumessen. »Na, da waren Frauen von Kriegsgewinnlern, Gattinnen von Industriellen, Weißrussinnen, Jüdinnen«, erzählte die Elly von Karlsbad, »alle von oben bis unten mit Schmuck behängt.« Frühe Vorurteile wurden genährt. Die kleine Elly, die die Kleider, seidenpapierverpackt, in großen Kartons zu den Damen in das Hotel Pup brachte und jeden Tag 14 Stunden säumen und sticken mußte, bekam dafür kein Geld, aber das reichliche Essen umsonst. »Wenn’s dann zurückkommen ist, die Elly, nach zwei Monat, hammas am Bahnhof gar net erkannt. So dick is da gewesen.«

Nach ihrer Arbeit im Haushalt und im Schulhaus setzte sich Resi, meist mit Elly, abends zu ihrem Vater an den Tisch, um Haare zu sortieren. Der Vater, der wegen seiner Tuberkulose nicht schwer arbeiten durfte, hatte in Heimarbeit das Perückenmachen wieder aufgenommen. Die Frauen der Nachbarschaft brachten ihm abgeschnittene Zöpfe, die er zu neuen Chignons knüpfte, sie brachten ihm auch, gesammelt in Papiertüten, ihre ausgekämmten Haare.

»Das war eine furchtbare Arbeit. Erst haben wir die Haar nach Länge sortieren müssen. Und die haben gerochen, die Haar. Die waren ja net frisch g’waschen. Dann hammas auf ein Tüllband befestigen müssen, dann erst hammas waschen können, und dann erst hat der Vater sagen können, welche Haar er davon wieder verwenden kann.«

Die kleine Grete darf da nicht mitmachen, wegen ihrer schweren Tuberkulose. Und der Oskar braucht nicht.

»Trotzdem: die Elly und ich, wir haben viel gesungen dabei. Und mit der Zeit haben wir auch Freundinnen gehabt, die uns geholfen haben, und Freunde, die haben dann Musik gemacht. Irgendeiner hat immer auf der Gitarr oder auf der Ziehharmonika spielen können. Dann hamma auch Feste g’macht. Im Turnsaal. Ja, war verboten. Aber von Samstag mittag bis Montag in der Früh war das Schulhaus leer und hat uns g’hört. Die Marie, so a ganz entfernte Verwandte aus Gumpoldskirchen, die uns ab und zu im Haushalt geholfen hat – obwohl wirklich, sie hat gar nichts können, nicht kochen, nicht nähen, rein gar nichts –, die hat einen Grammophon gehabt. Das war eine Sensation. Und wie der Vater gesagt hat, er muß sich doch wieder eine Frau nehmen, er braucht doch wieder ein Frau, da haben wir gesagt, nimm die Marie! Die Marie hat einen Grammophon!«

Mit siebzehn lernt die Resi den Peperl kennen.

»Ja, der Vater hat g’sagt, die Elly, die kommt jetzt immer so spät nach Haus, also uma achte hamma z’Haus sein müssen, wenn ma um Viertel nach achte kommen sind, wars schon spät – geh, schau amal Reserl, was deine Schwester so macht. Na, ich hab’s eh g’wußt. Troffen hat sie sich mit so an ganz an großen, feschen Kerl mit ganz schwarze Haar und schwarze – wie soll ich sagen –, ja, mit so glühende Augen, na, des war der Pepsch. Das war sein Spitzname. Josef hat er geheißen. Und sie hat ihn ja auch dann geheiratet, den Pepsch. Das war so eine nette Gruppe von jungen Männern um den Pepsch. Die haben sich vom Eislaufen gekannt am Wiener Eislaufverein, na und nachher sinds halt noch ein bissl in Stadtpark. Und da war auch dein Vater dabei, der Peperl. Er war ganz anders als die andern. Nicht so übermütig. Stiller. Irgendwie einsam. Schön war er. Blond, blaue Augen. Er hat mich eingeladen zu einem Liederabend ins Wiener Konzerthaus. Schubert. An dem Abend haben mir meine Hände so weh getan. Vom Stiegenhaus-Waschen mit dem kalten Wasser.

Und rot waren meine Hände. Aber dann hat der Peperl meine Hand genommen und gestreichelt. Dann war es gut.«

Von da an spielt jetzt der Peperl bei den Festen in der Schule auf dem Klavier. Von da an geht meine Mutter öfter in die Oper.

»Ich hab immer die Angst g’habt, ich schlaf ein.«

Sie gehen gemeinsam ins Theater.

Meiner Mutter wird eine neue Welt eröffnet. Sie beginnt zu lesen. Die Bücher werden aus der Städtischen Bibliothek geliehen. Mein Vater nimmt sie an der Hand.

»Natürlich war er völlig unsportlich, dein Vater. Wenn wir alle im Sommer im Arbeiterstrandbad waren, ist er immer auf der Decke sitzen blieben. Glaubst, der wär ins Wasser gangen? Gut, schwimmen hat er ja net können, sein Lebtag nicht, aber er hätt doch mit der kleinen Zeh einmal reingehen können. Nix zu machen.«

Seinen Eltern stellt Peperl sein Reserl lange nicht vor. Jahrelang nicht. Nach sieben, acht Jahren des »Miteinandergehens« soll sie am Weihnachtsabend um sechs Uhr zu einem kleinen Essen kommen.

»Bescherung gibt’s bei uns keine. Baum auch nicht. Wir essen halt miteinander. Und dann gehen wir zu euch in die Schule zum Feiern.«

An diesem Tag muß das Schulhaus noch saubergemacht werden. Der Vater kontrolliert. Es ist schon lange dunkel, als er zufrieden ist. Dann läßt er meine Mutter alleine in der Küche, damit sie sich in der Waschschüssel waschen kann.

»Ja, und dann, dann hab ich einen Fehler gemacht. Der Peperl hat g’wußt, mir g’fallt ein türkiser Seidenschal in einer Auslage auf der Mariahilfer Straßen. Er hat aber da net reingehen wollen, das war so ein Damengeschäft, mit Strümpfen und Wäsche, und da hat er sich geniert. Also hat er mirs Geld geben. Ich soll ihn kaufen, den Schal, sein Geschenk. Also bin ich von der Ortnergassen in Meidling zur Mariahilfer Straßen natürlich zu Fuß, und am Westbahnhof hab ich erst gesehen, daß schon 6 Uhr ist. Na ja, und bis ich dann drüben war in der Ungargassen, wars 7 Uhr abend«, erzählte sie mir.

»Ich bin in eine Eisgrube gekommen. Der Peperl war bis zu Tränen verärgert. Den türkisen Schal, den ich umgehabt hab, den hat er nicht einmal beachtet. Seine Mutter hat nicht gesprochen und mit mir schon gleich gar nicht. Sein Vater hat sich bemüht. ›Alles nicht so tragisch, Fräulein Jany‹, hat er gesagt. Beim Essen ist nicht geredet worden. Wahrscheinlich ist das a so bei den feineren Leut, hab ich mir denkt. Und daß die Bergers was Feineres waren, das hat man gleich gesehen. Schwere geschnitzte Möbel. Bilder an der Wand. Der Flügel vom Peperl.

Das Essen war wunderbar, Kochen hats ja wirklich können, seine Mutter, aber immer, bei jedem Gang, wenn ich gesagt hab ›Wunderbar, ganz wunderbar‹, dann hat sie nur gesagt ›Verkocht. Jetzt ist’s verkocht‹.

Wie’s vorbei war, sind der Peperl und ich wie die Kinder auf der Ungargasse gehupft und gesprungen, wir waren wie befreit. Im Stadtpark hab ich ihm mein Geschenk gegeben, Handschuh aus Leder. Der Vater hat mir ja eine Kleinigkeit bezahlt fürs Saubermachen vom Schulhaus. Und dann haben wir Weihnachten in der Schule gefeiert, alle waren da. Meine Geschwister. Unsere Freunde. Gesungen haben wir und getanzt. Wir waren glücklich. Wir brauchen deine Eltern nicht, Peperl, hab ich zu ihm gesagt, wir brauchen nur uns zwei. Na, und ein Jahr später waren wir verheiratet. Aber seine Eltern hab ich erst wiedergesehen, da warst du schon ein paar Monate alt. Und weißt du was, die haben sich in dich verliebt. Sogar dem Peperl seine böse Mutter mit dem schmalen Mund. Und der Opa, der war ja völlig vernarrt in dich.«

Mein Opa.

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Die Geschichte der Familie meines Vaters, wie mein Vater sie mir erzählt hat

Mein Opa, der Josef Carl Berger, ist in Wien geboren. Sein Vater hieß noch Josef Carl Reichenberger. Er kam aus der Stadt Reichenberg in Tschechien, die heute Liberec heißt. Der Name Reichenberger und der tschechische Akzent wurden im Laufe der Jahrzehnte in Wien abgelegt. Mein Opa lernte Metallschleifer.

Er hatte einen untrüglichen Geschäftssinn. Eine Zeitlang hatte er feste Aufträge vom Heeres- und Kriegsministerium. Dann wurde die beginnende Autoindustrie sein bester Kunde. Er war klein, aber kräftig und drahtig. Er konnte diese riesigen schweren Kotflügel der Autos gegen den Schleifstein halten, mit dem Fuß trat er den Antriebsriemen und verschwand in einem Funkenregen.

Der Josef Carl Berger heiratete die Wilhelmine Guth. Mein Vater wußte fast nichts über seine Eltern. Als Kind fiel mir das nicht auf. Aber als junges Mädchen bedrängte ich ihn, und all die Jahre, Jahrzehnte danach immer wieder:

»Du mußt doch etwas wissen von deinem Vater, was hat er denn erzählt? Hat er noch Tschechisch gesprochen? Sag doch!« Mein Vater antwortete immer sehr einsilbig, unwillig, mürrisch.

»Ich weiß nix. Gar nix. Das Bügeleisen hat er mir nachgeworfen, als ich einmal widersprochen habe. Da, schau, am Aug die Narbe.« Mein Vater war auf diesem Auge fast blind. »Deswegen Papa? Siehst du deswegen nichts mit diesem Auge?«

»Ich weiß nicht, ich weiß es nicht Senta, laß mich in Ruhe!«

»Aber deine Mutter! Du hast sie doch sehr geliebt?«

»Ja.«

»Was ja, Papa? Ihr wart euch doch nahe?«

»Na ja, nahe …«

»Was hat sie dir denn erzählt? Sie muß dir doch irgend etwas erzählt haben?«

»Sie hat nie etwas erzählt. Ihr Vater oder der Großvater, ich weiß nicht, ist aus Ungarn gekommen. Also aus Ödenburg. Das ist Sopron heute. Schneider waren sie alle. Sie hat sich nicht mit ihrer Familie verstanden. Einen Cousin hats noch gegeben. Der hat mir einmal erzählt, daß der Großvater oder der Urgroßvater meiner Mutter ein getaufter Jud war. Gut hat er geheißen. Das H ist dann später daran gehängt worden. Aber ich weiß nicht. Ariernachweis? Ich weiß nicht, ob wir den haben bringen müssen. Sie hat ja nie etwas über sich erzählt, meine Mutter.«

»Hast du denn nie Fragen gestellt?«

»Nein. Schau, Senta, wir haben nicht so viel geredet zu Hause.«

In jungen Jahren sah meine Großmutter wie eine Spanierin aus. Oder eben wie eine Spaniolin. Eine sephardische Jüdin. Sie war Schneiderin.

Die Schleiferei meines Opas war sehr erfolgreich, das junge Paar zog in eine Wohnung in einem Biedermeierhaus, das wie ein Schiff mit seinem Bug in die Ungargasse hineinragt, auf der Südseite von der Beatrixgasse begrenzt und an der ewig zugigen Nordseite von der dunklen Münzgasse. Auf Essen wurde großen Wert gelegt. In der Wohnung im vierten Stock gab es ein Haustelefon hinunter ins Geschäft. Wenn das Essen auf dem Tisch stand, wurde telefoniert. Dann kam der »Masta« zum Essen und zu einem Mittagsschläfchen. Am Freitagabend gab es Suppe und Frankfurter mit Senf und Kren für alle Arbeiter. Der Vorarbeiter, der Geselle, zwei Hilfsarbeiter und zwei Lehrlinge kamen dann mit rotgeschrubbten Händen und wassergekämmten Haaren zum Essen. Auch ihre Privatkleidung roch nach Metallstaub. Ich erinnere mich noch gut an diese Freitagabende. Bis zum Tode meines Opas wurde dieser alte Brauch eingehalten. Der große Jugendstillüster aus Messing, den mein Opa als Gesellenstück hatte machen müssen, riesig, pompös, war tief über den großen, schön gedeckten Tisch gezogen, beleuchtete die dampfende Schüssel, die weißen dicken Porzellanteller, das schwere Silber besteck, die Hände meiner Großmutter, die die Suppe austeilte. Die Gesichter über die Teller gebeugt, verschwammen schon im Dunkeln.

»Erzähl doch, Papa, an was du dich in deiner Kindheit erinnern kannst!«

»An gar nichts, ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber du mußt dich doch an etwas erinnern können.«

»Ja, daß ich Angst gehabt habe, wenn die Mutter mit dem Vater ausgegangen ist.«

»Haben sie dich denn oft allein gelassen?«

»Ja. Schon. Sie sind halt oft zum Heurigen gegangen. Sie waren ja jung.«

»Warst du denn einmal mit deinen Eltern in den Ferien?«

»Warum willst du denn das wissen, Senta? Das ist doch ganz uninteressant!«

»Für mich nicht. Ich will wissen, wie du als Kind warst. Ich will mir dich vorstellen können. Hast du denn gar keine Fotos von dir als Kind?«

»Die hab ich alle weggeworfen.«

»Aber warum denn? Papa! Sag!«

»Ich weiß nicht, Senta, ich weiß es nicht. Schau, laß mich in Ruh.« Ich habe ihn nicht in Ruhe gelassen. Ich konnte es nicht. Durch all die Jahre habe ich meinen Vater gesucht. Ich wollte meinen Vater kennenlernen!

Ich stellte Fragen. Ganz einfache. Nochmals:

»Hast du denn nie mit deinen Eltern Ferien gemacht?«

»Doch. Einmal. Mit der Mutter. Auf dem Land. Aber ich weiß nicht mehr wo. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Dort bin ich dann am dritten Tag von einem Apfelbaum runtergefallen, da ist die Mutter wieder mit mir nach Wien zurückgefahren. Das waren meine einzigen Ferien mit ihr.«

»Und Freunde? Hast du denn Freunde gehabt?« »Kaum. Doch später. Wie ich eislaufen hab gehen dürfen. Und dann, wie ich am Musikkonservatorium Klavier studiert habe. Den Kurz Ernstl. Der hat Gesang studiert. Später war er an der Semper-Oper in Dresden engagiert. Aber er ist dann in Stalingrad gefallen. Wir haben oft musiziert, zu Haus bei ihm. Ich hätte ja niemals Freunde nach Hause bringen dürfen. Niemals.«

»Warum denn nicht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warst du einsam?«

»Schau, Senta … Laß mich. Also ja. Ich war ein sehr einsames Kind. Sehr.«

Am leichtesten fiel ihm das Erzählen im Auto, neben mir. Da mußte er mich nicht ansehen.

Als ich am Burgtheater in Wien engagiert war, 1979, 1980, bin ich nach den Vorstellungen noch oft nach München gefahren zu meiner Familie. Zu meinen kleinen Kindern. Mein Vater wohnte damals schon in unserem Haus in München, aber er pendelte gerne zwischen den beiden Städten, um in Wien in seiner winzigen Gemeindewohnung nach dem Rechten zu sehen. Um die Gasrechnung zu überprüfen. Die Telefonrechnung.

»Keiner ist in der Wohnung, keiner telefoniert, und ich muß trotzdem 150 Schilling im Monat zahlen.«

»Das ist die Grundgebühr, Papa.«

»Eine Frechheit ist das, eine Frechheit!«

Wenn wir dann durch die Nacht fuhren, beide schon ein wenig müde, konnte ich ihn gut locken: »Komm erzähl mir Papa, damit ich nicht einschlafe. Erzähl, wie bist du denn zu der Musik gekommen?«

»Da kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Bitte Papa.«

»Na ja. Die Osterrieders, die Nachbarn, du weißt doch, er war blind, die haben ein Klavier gehabt, und da hab ich öfter so geklimpert. Der Herr Osterrieder – das waren Deutsche, Preußen – hat gesagt, dieser Junge ist eine musikalische Begabung, lassen Sie ihm Klavierunterricht geben. ›Ja, freilich, sonst noch was?‹ hat mein Vater gesagt. Er hat ja leider gar nichts übrig gehabt für Musik oder Theater. So hat mir der Herr Osterrieder selber Unterricht gegeben, da war ich so sechs, sieben Jahre alt. Dann habe ich für meine Mutter ein Lied komponiert zum Muttertag, da war ich so acht, und dann ist sie dem Vater so lange in die Ohren gelegen, bis der Flügel gekauft worden ist. Es ist doch auch eine Investition, so ein Flügel, hat die Mutter gesagt. Dann ist ein Klavierlehrer ins Haus gekommen, und der hat gemeint, ich soll auf das Konservatorium. Natürlich hat das meinem Vater gar nicht gefallen. Ich sollte ja Schleifer werden, so wie er. Aber die Mutter hat durchgesetzt, daß ich jeden Nachmittag drei, vier Stunden im Konservatorium in der Johannesgasse Musik studiere. Also nicht nur Klavier. Auch Geige. Da war ich schlecht. Und Orgel. Da war ich gut. Und Kompositionslehre. Und Musikgeschichte. Ich war glücklich. Die anderen Buben sind halt auf den Fußballplatz gegangen oder in den Turnverein. Aber ich bin in die Johannesgasse gegangen. Dann kamen die schlechten Zeiten. Der erste Weltkrieg. Im Krieg haben wir keine Not gelitten. Der Vater hat ja die Aufträge vom Kriegsministerium gehabt, zum Essen war immer genug da. Sogar ein Auto hat der Vater gehabt, ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Tauschgeschäfte vielleicht. Aber als der Krieg zu Ende und alles zusammengebrochen war, ging das Geschäft ganz schlecht. Der Vater hat seine Arbeiter entlassen müssen, und dann hat er mich von der Schule genommen, also vom Gymnasium und vom Konservatorium, und ich mußte eine Schleiferlehre bei ihm machen. Ich habe ihn gehaßt dafür. Und ich habe mich gehaßt, daß ich nicht den Mut gehabt habe, einfach zu gehen. Wegzugehen. Mich durchzuschlagen. Meine Mutter hat gesagt, wenn ich gehe, springt sie aus dem vierten Stock. Und so habe ich mich gefügt. Immer habe ich mich gefügt. Aus Angst vor dem Vater. Aus Angst, daß die Mutter tut, was sie sagt. Und aus Bequemlichkeit. Ja, auch aus Bequemlichkeit. Das sehe ich jetzt ganz deutlich. Ich bin kein Kämpfer. Ich bin ein Feigling.«

»Ach, Papa …«

»Du, jetzt hörma auf zum reden, schau lieber nach vorn und mach dir das Radio an.«

»Ja, deine Mutter!«, sagte er dann nach einer Weile des Nachdenkens in die Dunkelheit hinein, »die ist eine Kämpferin.«

Wenn er von meiner Mutter sprach, wurde er meistens laut, als wolle er sie verteidigen oder sich selbst: »Aber wir waren ja so jung, wie wir uns kennengelernt haben. Sie siebzehn. Ich achtzehn. Sie hat diese große Verantwortung für ihre Familie getragen. Sie hat Sicherheit gesucht. Musik, das war für sie Vergnügen, Zerstreuung, aber kein Beruf! Aber sie wäre natürlich mit mir überall hingegangen. Nur, ich habe es gar nicht von ihr verlangt.

Meine Eltern haben die Resel nicht wollen. Die Tochter von einem Schulwart. Eine arme Halbwaise. Kein Beruf. Ich sollte möglichst reich heiraten. Und die Mädeln, die haben mich schon beachtet. Das haben sogar meine Eltern bemerkt, die sonst recht wenig von mir wußten. Also, ich hab die Resel nicht nach Hause bringen dürfen. Geld hat mir der Vater keines gegeben. Wohnst ja umsonst zu Hause, hat es geheißen. Wenn ich Geld gebraucht habe, dann mußte ich zu der Mutter gehen. Aber davon konnte ich mir keine Wohnung kaufen, nicht einmal mieten. Dabei ging es mit dem Geschäft wieder aufwärts. Die Mutter hat in ihrem ganzen Leben die Wäsche immer außer Haus gegeben, gestärkt und gebügelt ist sie ihr dann wieder gebracht worden. Die Fenster sind geputzt worden, der Teppich geklopft. Meine Mutter hat nur gekocht. Wenn sie schon einmal Staub wischen mußte, dann hat sie sich Handschuhe dazu angezogen. Und dann habe ich die Resel kennengelernt und gesehen, wie schwer dieses Mädchen arbeitet und wie gut aufgelegt sie immer ist, das Lachen hat sie mir beigebracht, was eine Familie ist, hat sie mir gezeigt, und ich hätte ihr so gerne ein gutes Leben bieten wollen, aber ich hab mich nicht getraut, meinen Eltern gegenüberzutreten und zu sagen, zahlt mich aus, ich gehe. Ich bin kein Kämpfer, Senta.

Einmal haben meine Eltern die Resel eingeladen. Zu Weihnachten. Es war eine Katastrophe. Deine Mutter ist – wie immer – zu spät gekommen. Sie war ganz atemlos und verschwitzt, die Schneerosen, die sie für meine Mutter gekauft hatte, waren in dem Papier ganz verdrückt, und sie hat ihr die Blumen im Papier überreicht. IM Papier, verstehst du? Und beim Nachschenken vom Kaffee hat die Resel meiner Mutter die Tasse hingehalten, anstatt die Tasse auf der Untertasse.

Meinem Vater war das egal. Letztlich war er ja doch nur ein Schleifermeister. Aber meiner Mutter. Die hat ja ein Leben lang gedacht, sie sei was Besseres. Eine Fabrikantengattin.

Meine Eltern haben die Resel erst wieder gesehen, als wir schon lange verheiratet waren und du ein paar Monate alt. Und dann ist ein Wunder geschehen. Meine Eltern haben sich in dich verliebt. Ich hab es nicht für möglich gehalten. Sogar meine Mutter, die Kinder nicht ausstehen konnte. Sie hat Hoppe Hoppe Reiter mit dir gemacht, und den Kinderwagen hat sie bezahlen wollen. Aber deine Mutter, kennst sie ja, hat gesagt: ›Danke, Frau Berger, wir brauchen nichts von Ihnen, gar nichts.‹ Aber dein Opa hat, wenn sie uns besucht haben in der Lainzer Straße 148, immer ein bißchen Geld irgendwo liegenlassen. Versteckt. In der Brotdose. In der Bestecklade. In deinem Kinderbettchen. ›Du brauchst gar nicht zu protestieren, Resi‹, hat er dann gesagt, ›das ist nicht für dich, das ist für die Senta.‹«

Mein Opa.

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Kinderland

Mein Kinderbett stand in einer Zimmerecke des Wohn- und Schlafzimmers meiner Eltern, neben dem Klavier, unter einem dicken schwarzen Ofenrohr, das aus dem gußeisernen Öfchen in der Küche durch ein Loch in der Wand ein bißchen Wärme auf mein Bettchen abgab, bevor es in der Zimmerdecke hoch über mir in einem Kamin verschwand. Meine Eltern schliefen an der gegenüberliegenden Wand auf einer ausziehbaren Liege. Als ich für das ein Meter kleine Kinderbett zu groß geworden war, bekam ich eine Art Sofa von einem meiner älteren Cousins vererbt. Um Platz dafür zu schaffen, kauften meine Eltern Klappbetten für sich, deren ganze Häßlichkeit hinter einem phantasievollen Vorhang mit Weinblättern verborgen bleiben sollte. Vor dem Weinblättervorhang standen ein hübscher kleiner runder Tisch mit vier Beinen, der meinen Vater zur Wut brachte, weil er immer, trotz aller untergeschobenen Bierfilzeln, wackelte, und drei kleine hübsche Sessel. Abends wurde der Tisch zum Fenster getragen, die drei Stühle, wie zur Sperrstunde in einem Lokal, darauf verkehrt herum abgestellt, der kleine billige Teppich zurückgerollt und die Klappbetten heruntergelassen. Ich brauchte nur ein wenig meine Hand auszustrecken und spürte schon den warmen Körper meiner Mutter. Das gab mir unendliche Sicherheit. Was es für meine Eltern bedeutet haben mag, so hautnah an ihrem Kind zu liegen, habe ich mich erst sehr viel später gefragt.

Nun sah ich in meiner neuen Zimmerecke direkt auf das Fenster und die gelbroten durchsichtigen Vorhänge, die nach brüchiger Seide rochen. Ich konnte das hohe Schulhaus sehen, ganz nahe, das später meine Volksschule sein würde, davor der Schulhof mit der riesigen alten Kastanie und in der Ferne die ersten sanften Hügel des Wienerwalds. Seit meiner Kindheit muß ich deshalb immer ein Zimmer mit Aussicht haben, eine Weite vor meinen Fenstern. Immer suche ich das Licht meiner Kindheit. Südwest. Ja, Osten ist auch gut. Aber reiner Osten ist traurig.

Das Licht verläßt die Räume am Vormittag. Ich fühle mich alleine. Ausgeschlossen.

In demselben kleinen Zimmer stand noch ein dreiteiliger Schrank, in dem alles war, was meine Eltern besaßen an Wäsche, Kleidern, Schuhen. Oben auf dem Schrank lagen noch zwei kleine braune Koffer. Und auf Zeitungspapier ausgebreitet die Winteräpfel, die in dem ungeheizten Raum wunderbar dufteten. Das allerunterste Fach wurde später, als ich in die Volksschule kam, nur für mich eingerichtet, um mir Selbständigkeit beizubringen bei der Wahl meiner spärlichen Garderobe, beim Anziehen und überhaupt. Aber ich erinnere mich nicht, mich auch nur einmal morgens alleine angezogen zu haben. Vielmehr weckte mich meine Mutter mit einer Umarmung, hob mich aus dem Bett, trug mich in die Küche, in der sie am frühen Morgen meist schon den dreiflammigen Gasherd angezündet hatte, stellte mich auf einen Küchenstuhl und zog mich von oben bis unten an. Ich schlief dabei immer noch ein bißchen. Dann setzte sie mich auf den Stuhl, schob mir eine große Schale Kakao unter die Nase und begann meine Zöpfe neu zu flechten. Dazu sang sie oder erzählte mir ihren Traum oder fragte mich nach meinem Tag in der Schule, und langsam wurde ich wach. In der vierten Klasse Volksschule war ich fast so groß geworden wie meine Mutter, meine dünnen Beine hingen schon am Boden, und meine Mutter konnte mich nicht mehr tragen. Notwendigerweise wurde ich nun etwas selbständiger, und wiederum zwei Jahre später duldete ich nicht mehr ihre morgendliche Auswahl meiner Garderobe.

Fast alle meine ersten Erinnerungen haben mit dem Krieg zu tun. Mit der Ausnahme von wenigen Bildern: Durch die Stäbe meines Gitterbettes sehe ich einen kleinen Buben in einem dunklen Trainingsanzug. Er will mich zum Lachen bringen. Er hüpft und springt, schneidet Gesichter und krault mich hinter den Ohren. Er singt und pfeift, er darf mich aus dem Bettchen nehmen und herumtragen, obwohl er selbst nur wenig größer ist und nur eineinhalb Jahre älter. Er ist mein Freund und der Held meiner Kindheit: Karli Rauschmeier, der Sohn unserer Hausmeisterin.

Ein Bild ist der Blick auf meinen Geburtstagstisch, als ich drei Jahre alt werde. Es ist Nachmittag. Ich muß geschlafen haben, denn nun, nach dem Aufwachen in der späten Sonne, ist der Tisch überraschend mit Blumen geschmückt und mit einer Puppe. Einer richtigen Puppe mit echtem Haar und braunen Glasaugen. Die Puppenperücke hat mein Großvater gemacht, erfahre ich später. »Sie heißt Rosa«, erkläre ich. Wahrscheinlich, weil meine Mutter ihr einziges Seidenunterhemd geopfert hat, um daraus ein romantisches Puppenkleid zu schneidern, in einem matten Puderrosa.

Rosa und Dieter sind die Puppen meiner Kindheit. Dieter hat nur einen Zelluloidkopf auf einem ausgestopften Strumpf, den ich aber gar nicht wahrnehme, denn Dieter ist immer in eine Windel gewickelt, wie das Baby Dieter unserer Nachbarn, den jungen Gradwohls. Dann gibt es noch die Fetzenpuppe, die ich besonders liebe, meine Mutter hat sie aus Stoffresten zusammengenäht. Auch den Kopf hat sie genäht, aus Leinen, mit Wolle und Watte gepolstert und darauf ein Gesicht gemalt. Das ist die Lila. Ihre Kleider sind veilchenblau und dunkelviolett. Im Estherhazybunker in Mariahilf hat sie mir einer an einem Nachmittag, während draußen die Bomben fielen, im panischen Gedränge vom Arm gerissen. Ich hab geschrien und geweint, »Lila! Lila!«. Meine Mutter hat mir den Mund zugehalten. Die Leute im Bunker waren so hysterisch, sie vertrugen kein schreiendes Kind. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen: »Ich mach dir eine neue Lila, schschsch, eine neue Lila, schsch.«

Sie hat mir aber keine neue Lila mehr gemacht, und später hat mir der Karli gesagt, daß die Lila ein Gesicht gehabt hat wie ein Truthahn, der schielt.

Dieses Bild meines Geburtstagstisches, die Blumen, die Puppe, ein Kuchen mit drei Kerzen, ist eines der letzten friedlichen Bilder.

 

Dann kommt der Krieg, und damit ganz andere, scharfe Bilder.

 

Wir sind alle in der kleinen Küche meiner Tante Elly versammelt. Es ist eine weiß-rote Küche, Zwanzigerjahre. Über dem Küchentisch hängt eine Lampe mit Muster. Wir sitzen alle auf der Küchenbank. Meine Tante Elly weint. Ich sitze auf den Knien meines Onkels Pepsch, dem Mann meiner liebsten Elly, hoch oben sitze ich, tief unter mir ist der Linoleumboden. Mein Onkel wiegt mich auf den Knien und sagt immer wieder zärtlich: »Du bist mein Sonnenschein!«, und er singt »Sentalein, Sonnenschein!«.

Im Türrahmen steht Norbert, der hochaufgeschossene, magere Sohn von Elly und Pepsch. Er lacht verlegen. Er ist vierzehn und kommt langsam in die Pubertät.

Meine Mutter und mein Onkel Oskar, der Bruder von Elly, versuchen zu trösten. Es ist so ein Gemurmel. Ein Flüstern.

Später, viel später erzählt mir meine Mutter, daß das der Abschied war.

Niemand hat ihn, den großen, starken, feschen Kerl, den Pepsch, wiedergesehen.

Das muß 1944 gewesen sein, der Pepsch hatte einen Tag Heimaturlaub bekommen, um seiner Familie zu sagen, seine Einheit würde nach Jugoslawien verlegt. Dort ging es gegen die Russen, wie er sagte.

Seine Einheit sammelte sich in einer Kaserne in Enns, in Oberösterreich. Über einen Freund erfuhr Elly, daß die Truppe doch noch nicht abkommandiert, sondern noch in Enns war. Elly fuhr mit dem nächsten Zug nach Enns, um ihren Mann noch einmal zu sehen. Aber Pepsch war mit dem Gedanken, seine Frau noch einmal zu umarmen, nach Wien gefahren und stand nun vor der versperrten Wohnung. Er wartete, und als er nicht mehr warten konnte, er mußte ja wieder pünktlich in die Kaserne einrücken, nahm er den nächsten Zug zurück nach Enns. Dort aber hatte ein befreundeter Soldat Elly gesagt: »Ja, ich glaub, der ist zu Ihnen gefahren, nach Wien!«, worauf sie sich in den nächsten Zug stürzte, der von Enns nach Wien fuhr.

Sie fuhren in ihren Zügen aneinander vorbei.

Sie haben sich nicht mehr wiedergesehen.

Der Pepsch kam dann in Gefangenschaft in Jugoslawien, in ein großes Lager. Sie bekamen wenig zu essen. Die Frauen aus den Dörfern warfen ihnen Brot über den Zaun. Es gab nichts zu trinken. Der Sommer war heiß. Der Krieg zu Ende.

Pepsch schrieb: Macht Euch keine Sorgen. Ich komme nach Hause. In russische Gefangenschaft gehe ich nicht. Ich werde fliehen. Ich orientiere mich an den Sternen. Ich weiß genau, wie ich nach Kärnten komme. Über welche Berge ich gehen muß. Vielleicht könnt Ihr mir aus Angorawolle ganz dünne Socken stricken, die kann man vielleicht in einem Brief verstecken. Meine Schuhe sind voller Löcher, ich habe keine Socken mehr, und da oben auf den Bergen ist es immer noch sehr kalt. Aber macht Euch keine Sorgen, ich komme nach Hause.

Mit den dünnsten Stricknadeln strickten Elly und meine Mutter feingewebte Socken.

Eines Tages, daran erinnere ich mich so genau, es war ein wunderbarer frischer Sommermorgen, lief ich an der Hand meiner Mutter die Jagdschloßgasse hinauf, die Seelosgasse entlang, bis zu dem Gemeindebau in der Faistauergasse 63. Im verdunkelten Schlafzimmer saß meine Tante Elly in einem hellen seidenen Morgenmantel und weinte sich die Augen aus. Sie verbarg ihr Gesicht immer wieder in ihren Händen und schrie »Nein, nein, nein!«. Meine Mutter kniete vor ihr und umarmte sie, hielt sie fest. Ich stand staunend daneben.

Dieses Bild der beiden Frauenköpfe mit den aufgelösten Haaren und den vielen Tränen, die geflüsterten Beschwörungen meiner Mutter, die Schreie ihrer Schwester, es ist ein schmerzhaftes, unvergeßliches Bild.

Der Pepsch hatte Wasser aus einer Pfütze getrunken. Im Lager. Er war elendiglich gestorben. An der Ruhr.

 

Nach Wien kam der Krieg recht spät. Ich glaube, ab 1944 wurde regelmäßig bombardiert.

Wenn die Sirenen anfingen zu kreischen, wurde ich nachts aus dem Bett gerissen – wir schliefen alle angezogen, um keine Zeit zu verlieren – und in den kleinen Kohlenkeller getragen. Meine Mutter machte mit mir Fingerspiele »Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen …« und hielt mich und die anderen Kinder des Hauses bei Laune, während über uns die Bomber dröhnten. Ab Winter 1945 war uns verboten worden, Schutz in dem kleinen Hauskeller zu suchen. Wir mußten in den großen Keller unter der Kirche, in dem viele Stockbetten und Liegen standen für die Kinder des Kindergartens. Meine Mutter ging dort ungern hin – das Weinen der Kinder, ihre Angst und die ihrer Mütter, das hysterische Rufen und Schreien im Halbdunkel, der Gedanke, daß die riesige Kirche über uns einstürzen könnte – meine Mutter ging da nur ungern hin. Manchmal ging sie mit mir während der nächtlichen Fliegerangriffe hinauf auf den Dachboden. Durch die schrägen Dachluken konnte ich die glitzernden »Christbäume« sehen, die Aluminiumstreifen, die die Flugzeuge abwarfen, um die Radarschirme außer Kraft zu setzen. Oft kam der Blockwart und holte uns aus unserer Wohnung: »Wollen’s, daß ich Ihnen anzeig, Frau Berger?«

Einmal nachts weckten mich die Sirenen und die Kuckucksrufe im Radio, die die nahenden Bomberverbände anzeigten. Von meinem Bett aus konnte ich meine Mutter sehen, die über der mageren Gasflamme des Herdes und mit immer wieder neu angestrichenen Streichhölzern ein kleines weinrotes Bücherl zu verbrennen suchte. Es stank nach Chemie. Die Glühbirne über dem Herd war dunkelblau angestrichen, es war ja Verdunklung. Ein unheimliches Bild.

Später hörte ich, daß es das Parteibuch meines Vaters gewesen war. Die Russen standen schon 100 Kilometer vor Wien.

»Na freilich war er in der Partei, der Papa«, hat meine Mutter später gesagt, viel später, als ich mit dreizehn, vierzehn Jahren begann Fragen zu stellen, die meine Eltern zögernd und ausweichend beantworteten, »er hätt ja sonst nirgends a Arbeit bekommen und im Rundfunk net spielen dürfen. So war das halt unter’m Hitler!«

Meine Mutter war nie in der Partei. In keiner Partei. Auch später nicht. Sie fühlte eine Nähe zu den »Sozis«. Eigentlich merkwürdig als einzige in ihrer Familie. Sie hatte ein Zeitungsabonnement für eine sozialistische Frauenzeitung, »die Unzufriedene«. Und meine Mutter war unzufrieden. Sie war unzufrieden mit unserer winzigen Wohnung, sie war unzufrieden mit der Behandlung der Frauen, die nach dem Krieg selbständig so viel geleistet hatten und danach nun wieder zurückfallen sollten in ein überholtes Gesellschaftsbild. »Die Unzufriedene« war auf weichem, dünnem Zeitungspapier gedruckt. Meine Mutter schnitt die unbedruckten Zeitungsränder ab. Ich zeichnete meine Geschichten darauf, meine ersten Geschichten, Comic strips.

 

Mein Vater war seit 1944 bei der Heimwehr eingezogen. Er war 42 Jahre alt, auf einem Auge fast blind und tat Dienst in einer Schreibstube in der Kaserne in Hainburg an der Donau.

Meine Mutter und ich besuchten ihn. An einem warmen Nachmittag im Winter, der Schnee fing an zu tauen, warteten wir vor der Kaserne auf ihn. Mein Vater kam totenblaß durch das Tor. Als er uns sah, begann er zu weinen. Er führte uns in eine kleine, ungeheizte Konditorei. Ich saß die ganze Zeit über auf seinen Knien, er drückte meinen Kopf gegen seine Brust. Der rauhe Stoff der Uniform tat mir weh und all die harten Knöpfe. Er rauchte eine Zigarette. Plötzlich hatte er einen Zahn in der Hand. Es war sein Vorderzahn. Ich bin erschrocken, aber er wischte den blutigen Zahn mit seinem Taschentuch sauber und gab ihn meiner Mutter. »Ein Talismann, Resel! Heb ihn auf. Die andern wackeln auch schon alle.«

Er begann wieder zu weinen.

Auf der Heimfahrt im Zug standen so viele Menschen in den Abteilen, in den Gängen, sie hingen in Trauben auf den Trittbrettern, meine Mutter hielt mich auf dem Arm. Plötzlich sagte sie halblaut: »O je, Entschuldigung, ich glaub, ich werd ohnmächtig«, und dann fiel sie auch schon zusammen. Sie konnte aber nicht fallen, dazu standen die Menschen zu dicht, und der Nachbar, auf dem sie mit ihrem ganzen Gewicht und mit meinem noch dazu nun lastete, hielt sie fest und mich auch und schrie: »Einen Sitzplatz für die Frau da! Ja Hergott, machts an Platz für die Frau und des Kind da!« Dann wurden wir geschoben und in ein Abteil getragen, und ein Soldat gab meiner Mutter einen Schluck Schnaps.

 

Ab Februar, März 1945 wurde Wien schwer und regelmäßig bombardiert. Mein Opa sagte, die Familie muß zusammenbleiben, meine Mutter und ich da draußen in Lainz alleine, das macht ihm angst. Der Keller unter der Münzgasse 1 sei tief und stabil und sicher.

Ich verstehe heute noch nicht, warum meine Mutter mit mir zu meinen Großeltern in die Stadt gefahren ist. Jeder Mensch wußte doch, daß die Flugzeuge ihre Bomben auf die Bahnhöfe, auf die Schienen warfen, und die Bahn fuhr nur hundert Meter von der Münzgasse entfernt. Der große Stadtbahnbahnhof Hauptzollamt, wo so viele Stadtbahnen sich kreuzten, lag nur zwei, drei Kilometer entfernt.

Am 11. März 1945 kam meine Mutter mit mir an der Hand und dem unvermeidlichen kleinen Pappkoffer bei meinen Großeltern an. Wir mußten sofort in den Keller. Die Sirenen schrien schon. Das war ein großer, gewölbter Keller mit Nischen und Stützmauern. Eine schwache Glühlampe brannte in jedem der ineinandergehenden Räume. Über der kleinen eisernen Kellertüre war ein breiter weißer Streifen mit Leuchtfarbe gemalt. Offenes Feuer war ja verboten, wegen der Gasexplosionen, aber viele hatten dennoch Kerzen bei sich, die immer wieder angezündet wurden. Ich fand es geheimnisvoll schön. Die Frauen und Kinder durften unter den gemauerten Durchgängen stehen, und der blinde Herr Osterrieder saß ganz vorne bei der Kellertüre, gleich neben dem Luftschutzwart. Von dem Angriff auf die Innenstadt wußte ich damals natürlich nichts. Es war nur so ein Sausen in der Luft, ein Dröhnen. Im Keller war es ganz still. Meine Oma und der Opa saßen weiter hinten auf einer Holzbank. Meine Oma hielt die Tasche mit dem Silber fest. Ab und zu stöhnte sie. Plötzlich war da so ein hoher Ton wie ein Singen und ein Luftzug, eine Welle aus Luft drückte uns nieder, wirbelte Staub und Erde auf, und dann kam ein Einschlag. »Nicht unser Haus, es ist nicht unser Haus«, schrie der Luftschutzwart, »ruhig bleiben!« Dann kam die Entwarnung. Wir krochen aus dem Keller. Es hatte ein großes Zinshaus erwischt in der Beatrixgasse, gleich vis-à-vis von uns. Die Wohnung meiner Großeltern im vierten Stock war mit Glasscherben übersät. Es glitzerte nur so. Ich durfte nirgends hintreten, sondern mußte auf einem Sessel still sitzen. Alles war zerbrochen, auch die Gläser in der Kredenz, die meine Oma noch nicht mit Zeitungspapier in Kartons gepackt hatte.

Warum wir trotzdem in der Stadt geblieben sind – ich weiß es nicht mehr. Möglicherweise waren noch andere Fliegerangriffe angekündigt. Möglicherweise hatte meine Mutter Angst, nicht mehr rechtzeitig vor den nächsten Bombardierungen nach Hause zu kommen. Sie haßte es, wie viele Frauen damals, Schutz in den öffentlichen Kellern suchen zu müssen, dichtgedrängt an fremde Menschen, oftmals in der Dunkelheit betatscht von Händen zudringlicher Unbekannter.

Wir blieben in der Münzgasse. Ich sehe von meinem Stühlchen das Bild meiner Großeltern und meiner Mutter, die sich bücken und die Glasscherben in einem Kübel sammeln, den Kübel unten im Hof ausleeren und wieder füllen und ausleeren. Ich sehe sie kehren und wischen, und zuletzt nagelt mein Großvater mit schon vorbereitetem Kistenholz die Fenster zu.

Geschlafen haben wir bei den Nachbarn, bei den Osterrieders. Deren Wohnung ging auf die andere Straßenseite, einige Fenster waren ganz geblieben. Ich schlief mit meiner Mutter im Zimmer der Tochter Mimi, die ein Mädchen, ein Fräuleinchen geblieben war, sich falsche blondgelbe Ringellocken mit einer Schleife ins Haar steckte und immer wie zur Erstkommunion angezogen war, obwohl sie schon an die Sechzig war. Im Zimmer standen viele getrocknete Blumensträuße und ein goldgerahmtes Foto mit Trauerflor. Das war der Bräutigam, der aus dem ersten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt war aus Südtirol. Die Italiener hatten die Österreicher in einen verminten Stollen hineingetrieben – in den Dolomiten – und sie dann in die Luft gejagt, erzählte die Mimi. Ein Bruderkrieg, weinte die Mimi ganz leise, ein Bruderkrieg …

Ich sollte es wohl nicht hören.

Am nächsten Morgen schrie wild der Kuckuck im Radio, und diese schnarrende Stimme, die ich jetzt schon kannte und fürchtete, sagte: »Ein großer Flugzeugverband ist aus dem Raume Norditalien in Anflug auf Wien …«