Ich hasse meine Freunde - Gerald Hoffmann - E-Book

Ich hasse meine Freunde E-Book

Gerald Hoffmann

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Beschreibung

Julian Pichler hat mehr Fragen an das Leben als Antworten und damit ist er nicht allein. Einfühlsam und mit einem grandiosen Sinn für Komik erzählt Gerald Hoffmann in seinem turbulenten Generationenportrait von drei Mittzwanzigern, die keinen Plan vom Leben haben, aber sehr gern einen hätten. Die große Sinnkrise mit Mitte zwanzig, die Quarterlife-Crisis, hat Julian erwischt: sein Studium nervt, er hat Angst vor dem langweiligen Berufsalltag als Jurist und seine On-Off-Beziehung mit Nele ist kompliziert. Das größenwahnsinnige Projekt seiner besten Freunde, eine Schrottimmobilie in Bad Gastein in ein hippes Hotel zu verwandeln, bietet in diesem Moment genau den richtigen Ausweg. Als die Freunde sich zur Finanzierung ihres Traums auf die Suche nach verschwundenen Bitcoins machen, in einer chaotischen Nacht eine ganze Menge Weed die Toilette heruntergespült wird und die umwerfende Schwester seines besten Freundes in die WG einzieht, wird Julians Leben allerdings erst richtig kompliziert.

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Seitenzahl: 412

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Gerald Hoffmann

Ich hasse meine Freunde

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Gerald Hoffmann

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Inhaltsverzeichnis

Prolog

»Entweder du stirbst oder du kommst ins Gefängnis!«

Thilo rüttelte weiter an der großen Holztür, die langsam nachzugeben schien. Sonny behielt wie vereinbart die obere Anfahrt der Straße im Auge, ich die andere Richtung, talabwärts.

»Hier: ›Eltern haften für ihre Kinder‹. Haft!«

Laura klopfte mit ihrem rechten Zeigefinger vorwurfsvoll auf das gelbe Plastikschild, das auf Augenhöhe neben der Eingangstür angebracht war. Thilo würdigte seine kleine Schwester keines Blickes und versuchte weiter, einen Ast durch den engen Spalt zu schieben, um die Tür mittels Hebelwirkung aufzustemmen.

»Thilo! Was ist, wenn sie Mama mitnehmen?«

Laura hielt ihren Bruder mit beiden Händen am Oberarm fest und versuchte so, ihn vom Aufstemmen der Tür abzuhalten. Ihre Augen waren voller Angst.

»Mann, chill! Du bist so ein nerviges, dummes Kind, keiner kommt ins Gefängnis!«

»Aber hier steht es doch«, rief sie und begann zu weinen.

Thilo löste sich mit einer blitzschnellen Bewegung aus Lauras Griff und warf wutentbrannt den dicken Ast zu Boden. Dann packte er sie fest an beiden Schultern und drückte sie gegen die Hauswand.

»Schrei hier nicht so rum! Das heißt was ganz anderes, du blöde Scheißkuh. Wenn du zu feige bist, mit uns Abenteuer zu erleben, geh doch wieder zu den Erwachsenen ins Hotel!«

»Achtung, da kommt ein Auto!«, rief Sonny plötzlich. Sofort ließ Thilo von seiner Schwester ab, zog mit beiden Händen den Spalt zwischen den Flügeltüren zusammen und kickte geistesgegenwärtig den Ast einige Meter zur Seite. Dann stellte auch er sich so unauffällig wie möglich mit dem Rücken zur Fassade des leer stehenden Grandhotels. Ich begann zu zittern, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wohin mit meinem Blick, meinen Armen, ja, jegliche Körperhaltung schien mir in diesem Moment verdächtig. Ich schielte hinüber zu den anderen, sie standen wie versteinert da, schauten geradeaus ins Leere. Kurzerhand entschied ich mich aufgrund fehlender Alternativen dasselbe zu tun.

Der schwarze Jeep näherte sich im Schritttempo durch die Schneeflocken, das Knirschen unter den Reifen wurde immer lauter, je näher er kam. Wir starrten in den Wagen und sahen einen älteren Herrn mit grauem Vollbart und Hut, der verwirrt zurückblickte, während er langsam an uns vorbeifuhr. Als er außer Sichtweite war, hob Thilo den Ast wieder auf und steckte ihn zurück in den Türspalt. Mit aller Kraft trat er auf ihn ein und hebelte damit die alte Holztür vollständig auf. Im selben Moment rief er: »Schnell rein jetzt!« Sonny, Laura und ich standen wie angewurzelt da. »Hopp! Wenn uns jetzt noch mal jemand sieht, sind wir dran. Kommt jetzt!«

»Mach das nicht, das ist gefährlich! Ich verpetze euch bei den Erwachsenen!«

»Wenn du das machst, dann spreche ich nie mehr ein Wort mit dir, darauf kannst du dich verlassen«, zischte Thilo seiner kleinen Schwester zu und sah mich fragend an. »Was ist los, du Schisser, du bist vierzehn und nicht elf! Du kannst doch nicht genauso feige sein wie eine Elfjährige!« Ich blickte kurz in die verheulten Augen seiner Schwester. »Mann, Julian, dann geh doch mit Laura zurück an den Kindertisch.« Thilo schüttelte gespielt enttäuscht den Kopf und winkte nun Sonny zu sich.

»Okay, ich geh mit rein!«, sagte ich schnell und ging auf ihn zu.

Thilo und ich schlüpften hintereinander durch die Tür und traten ein paar Schritte in einen lichtdurchfluteten Gang hinein. In die großen Fenster gegenüber dem Eingangsbereich waren bunte, fast kirchenartige Mosaike gebrannt. Die untergehende Sonne projizierte lange Lichterformen an die hohen weißen Mauern der Lobby.

Abertausende kleine Staubpartikel wirbelten in der Luft herum, es wirkte, als würden sie herumtanzen zwischen all den zurückgelassenen Holzschränken und den sichtlich in die Jahre gekommenen Sofas, die den Flur entlang an den Wänden standen. Als würden sie darauf warten, dass endlich wieder Leben in dieses Haus käme. Es sah umwerfend aus. So umwerfend, dass mein Adrenalinspiegel beim Betreten des Hauses augenblicklich sank und ich den Moment einfach nur genießen konnte. Nun zwängte sich auch Sonny vorsichtig durch die aufgebrochene Tür.

»Wow … schaut euch das an, Jungs.« Thilos geflüsterte Worte lagen wie ein Echo in der Luft der ruinenhaften Grandhotellobby. Er atmete tief durch. »Fühlt ihr das auch?«

»Ich fühle einen Scheißdreck«, flüsterte Sonny nach einer Weile und ging einen Schritt rückwärts. »Ich gehe wieder raus.«

»Du hast nur Schiss. So wie Laura. Du bist einfach ein elfjähriges Mädchen.« Thilo schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Ich musste kurz lachen.

»Wegen deiner blöden kleinen Schwester gehe ich raus! Weil die uns verpetzen will. Irgendjemand muss die ja aufhalten.«

Thilo winkte ab.

»Die macht das nicht! Ein elfjähriges Mädchen bist du.«

Thilo schlug sich noch mal theatralisch mit der Handfläche auf die Stirn. Es sah so bescheuert aus, wie er sich da immer ins Gesicht schlug, dass ich wieder laut auflachen musste. Sonny sah zuerst ihn und dann mich mit einem derart wütenden Blick an, dass ich das Gefühl hatte, er würde uns jeden Moment anspringen und verprügeln. Dann stapfte er wütend Richtung Eingangstür.

Thilo ignorierte ihn völlig und hielt seinen Blick gerade nach vorne gerichtet. Er ging ein paar Schritte voraus und sagte:

»Lass uns mal gucken, wo die Treppe hinführt.«

Ich folgte ihm vorsichtig hinauf in das obere Geschoss. Er begann laut zu lachen, das Echo hörte man im gesamten Haus.

»Schau dir das an, Mann! Die beste Aussicht der Welt!«

Der Ausblick durch das vor lauter Schmutz schon fast graue Fenster, das sich über die gesamte Gebäudefront der oberen Etage erstreckte, war atemberaubend. Da das Hotel an einen Berg gebaut war, konnte man auf das restliche Tal sehen: all die verschneiten Grandhotels, die kleinen Geschäfte, die weiten, mit schneeweißer Watte überzogenen Skipisten.

»Und jetzt stell dir mal vor, du chillst hier ab, Mann, bei dieser Aussicht. Kommst von einem geilen Tag snowboarden. Und dann …« Thilo hüpfte auf einen verstaubten hölzernen Tisch, der in der Mitte des Raums stand, und ließ seine Beine baumeln, während er in seine Hosentasche griff und einen selbst gedrehten Joint herauszog. »Dann ziehst du erst mal einen durch.« Er lachte, zündete den Joint an und nahm einen ersten tiefen Zug, wobei er den Rauch lange in der Lunge behielt und erst nach einigen Sekunden wieder ausstieß. Ich setzte mich neben ihn auf die Tischkante. »Ich schwöre dir … wir sind mutiger als die alle. Guck sie dir doch an, wie sie sich von so einem blöden Schild abhalten lassen. Wir … wir sind anders.« Thilo legte den rechten Arm um mich und bot mir mit der linken Hand den Joint an. Vorsichtig zog ich daran und musste zum Glück nicht husten. Das wäre mir vor Thilo nun wirklich sehr peinlich gewesen.

»Wir schließen Blutsbrüderschaft, Julian.«

Jetzt lachte ich laut und konnte ein kleines Hüsteln in meinen Lacher einbauen, sodass es nicht auffiel.

»Du bist doch sechzehn! Das machen doch nur Kinder«, gab ich cool zurück, als ich ihm den Joint reichte. Mein Blick fiel durch das große Fenster auf die verschneiten Bergspitzen. Die Sonne ging gerade unter und das Dorf färbte sich golden. Die kleinen Straßenlaternen legten mit ihrem warmen Gelb eine Art Lichtmantel über die schmalen Gehwege.

»Hier, ich gebe dir einen Brandfleck und du mir. Irgendwo, wo ihn niemand sieht.« Ich reagierte nicht sofort, deswegen redete Thilo einfach weiter. »Ist nicht so, dass du deswegen nie wieder eine Frau abkriegst.« Er nahm noch einen kräftigen Zug vom Joint, dann reichte er ihn mir zurück. »Oder was heißt ›wieder‹, bei dir wohl noch nie, was?«

Mein Gesicht färbte sich augenblicklich rot. »Nein, also, einmal fast geküsst, aber sonst noch nichts eigentlich.«

Thilo klopfte mir auf die Schulter. »Dann hast du das ja alles noch vor dir in den nächsten Jahren. Mach dich auf was gefasst. Frauen sind auch einfach mutiger, Mann. Susanne aus dem Feriencamp hat mich einfach so geküsst und ausgezogen. Das war verrückt, sag ich dir.«

»Was, du hattest schon Sex?«

Thilo griff wieder nach dem Joint, ohne dass ich in der Zwischenzeit daran gezogen hatte.

»Na klar! Am klügsten ist, du legst dein erstes Mal Küssen und den ersten Sex einfach gleich zusammen. Am besten auf irgendwelchen Sprachreisen oder im Urlaub.«

»Sprachreisen darf man erst ab sechzehn machen und Urlaub ist auch erst wieder in einem Jahr. Wen soll ich denn hier küssen? Sonny? Deine kleine Schwester?« Ich lachte laut. Der Joint schien wohl erste Wirkung zu zeigen. Das wusste ich aus Filmen: Wer kifft, der lacht viel. Thilos Miene verzog sich augenblicklich.

»Laura ist tabu! Für immer!«

»Ich hab doch nur Spaß gemacht, die ist doch noch ein Kind.« Ich lachte noch lauter.

»Ach ja, ich habe vergessen, dass du ja schon erwachsen bist«, entgegnete Thilo provokant.

»Sollten wir nicht langsam wieder raus hier?«, fragte ich vorsichtig.

»Ach Quatsch, Laura verpetzt uns niemals. Und der Autofahrer hat das auch nicht gesehen, das habe ich gespürt.« Thilo nahm noch einen kräftigen Zug.

»Gespürt? Durch das geschlossene Fenster und durch seinen dicken Bart, ja?«

»Mann, klar. Der wollte einfach heim, Feierabend. Der hat doch keinen Bock, sich lächerlich zu machen, nur weil eine Handvoll Kids ihn komisch …«

»Hallo?«

Plötzlich drang eine laute Männerstimme aus dem unteren Stockwerk.

»Ist hier jemand? Hier ist die Polizei!«

Mein Herz begann zu rasen.

»Hallo? Ist hier jemand? Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief die angsteinflößende Stimme noch einmal. Dann Schritte.

»Wir werden von unseren Schusswaffen Gebrauch machen! Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Mittwoch, 28. Juli, 16:30 Uhr

Es sah wirklich grausam aus. Der Kopf hing, nur gehalten von einigen Fasern, am restlichen Körper. An der Brust war die Haut so abgezogen, dass man den roten, rohen Kadaver und teilweise sogar die dünnen, mit Fleischresten überzogenen Knochen sah. Rundherum war alles blutig. Schnell wendete ich meinen Blick ab und ging Richtung Eingangstür. Es musste ein Krieg toben. Ein schrecklicher Bandenkrieg, über unserem Innenhof. Schon vor einer Woche hatten wir ein Bündel Federn in der halb verdorrten Topfpflanze entdeckt. Wie ein Zeichen, eine Warnung an die restlichen Tauben, ragte es aus den dünnen Ästen heraus. Und jetzt also das erste tatsächliche Opfer. Hatte es die Warnung ignoriert? Oder waren es sogar seine eigenen Federn gewesen? Hatte der spätere Mörder die Taube absichtlich gerupft, sodass sie nicht mehr fliehen konnte, und dann gestern final zugeschlagen?

Mich schüttelte es noch einmal kräftig bei dem Gedanken an die grausam zugerichtete Tierleiche in unserem Innenhof, als ich die Tür zu unserer WG öffnete. Thilo, Sonny, Malik und Caro – »Die Fabrik«, wie Thilo uns liebevoll nannte, wenn wir einmal im Monat zusammenkamen, um alles für den kommenden Mittwoch vorzubereiten – saßen bereits auf der Couch rund um unseren Wohnzimmertisch.

Die Unternehmensstruktur: Thilo – CEO und bester Freund. Sonny – ebenfalls bester Freund. Malik – auf dem Weg, ein bester Freund zu werden. Und Caro – die »Keiner-weiß-so-richtig-was« von Thilo. Mehr als eine Affäre, aber weniger als eine Beziehung.

»Habt ihr die tote Taube vor unserer Haustür gesehen?«, fragte ich, während ich meine Jacke auf die Lehne des Sofas warf.

»Natürlich, wie soll man die denn übersehen?« Thilo drehte konzentriert weiter und schleckte das Paper danach ab, Caro saß daneben und schnitt die Seiten aus alten Lehrbüchern.

Vor etwa einem halben Jahr war Thilo auf eine bahnbrechende Idee gekommen: Der Großteil seiner Kunden war an der Uni. Warum also nicht einfach dort verkaufen?

Jeden letzten Mittwoch im Monat fand in der Aula der Unibibliothek der Bücherflohmarkt statt, bei dem Studenten nach Prüfungen Lehrbücher weiterverkaufen konnten, die sie nicht mehr brauchten. Thilo selbst hatte zwar kaum Bücher zu verkaufen – schließlich dauerte seine Uni-Karriere gerade einmal ein Semester an –, aber seine billig zusammengekauften und später präparierten Bücher und Federmäppchen fanden reißenden Absatz. Kein Wunder, waren darin doch entweder Weed-Bröckchen oder sogar – gegen einen kleinen Aufpreis – fertig gerollte Joints enthalten. Vor allem Letztere erfreuten sich großer Beliebtheit, denn zu seinen Kunden gehörten vor allem Studenten, die nur gelegentlich am Wochenende zu Gras griffen und dadurch gar nicht imstande waren, schöne Joints zu drehen. Das Codewort lautete »Buch plus« oder »Federpennal plus, inklusive Stifte«, dann wusste Thilo Bescheid.

»Na, und was machen wir da?«, fragte ich.

»Also ich habe gerade die Traueranzeige formuliert und stelle nun die Einladungsliste für das Begräbnis zusammen. Hast du vielleicht noch irgendwen, den du einladen willst? Ein paar Plätze haben wir noch«, antwortete Thilo trocken.

Caro schmunzelte kurz.

»Die muss sachgerecht entsorgt werden. Seuchengefahr. Aber irgendjemand macht das schon. Du kennst ja meine Einstellung: Manche Probleme muss man einfach aussitzen«, erklärte Thilo und winkte ab.

Ich setzte mich zu den anderen aufs Sofa, griff nach dem Stanley-Messer und begann vorsichtig die ersten Seiten aus einem der Bücher herauszuschneiden, um es anschließend Stück für Stück aushöhlen zu können. Meine Fabrikschicht hatte also begonnen, schließlich galt es, Geld zu verdienen. Viel Geld.

Es war etwa eine Woche her, dass Thilo mit seinem MacBook neben mir auf der Couch gesessen hatte, plötzlich euphorisch die Arme in die Höhe riss und rief: »Jungs, schaut mal! Das ist perfekt!«

Das Hotel »Bernadette« in Bad Gastein stand zur Pacht frei.

Die Idee, sich nach einer geeigneten Immobilie umzuschauen, war uns gekommen, als wir im Zuge einer eindrucksvollen Silvesterfeier auf der Dachterrasse eines verlassenen Hotels standen, in das ein Partyveranstalter aus Wien zu einem großen Pop-up-Clubbing eingeladen hatte. Wir blickten also von dieser Terrasse auf das verschneite Dorf, das aussah wie in einem Wes-Anderson-Film, philosophierten betrunken herum und stellten fest, dass das alles kein Zufall sein konnte: Wir befanden uns tatsächlich auf dem Dach genau der Ruine, in die wir bei unserem ersten und einzigen gemeinsamen Familienurlaub mit Thilo, Sonny und ihren Familien eingebrochen waren. Dass wir vor neun Jahren genau dieses Gebäude ausgewählt hatten und nun wieder gemeinsam, allen damaligen elterlichen Bemühungen, uns den Umgang miteinander zu verbieten, zum Trotz, dort gelandet waren, erschien uns in diesem Moment absolut unglaublich. Malik war die viele Gefühlsduselei auf der Party etwas unangenehm. Er konnte nicht mit uns gemeinsam in den Erinnerungen an diesen Urlaub schwelgen, weil wir ihn erst Jahre später kennengelernt hatten.

Letzte Woche, etwas mehr als ein halbes Jahr später, waren wir dann tatsächlich frühmorgens aufgestanden, um mit dem Zug ins fünf Stunden entfernte Bad Gastein zu fahren und das leer stehende Hotel, das Thilo online entdeckt hatte, zu besichtigen. Im Gepäck die irrwitzige Schnapsidee, es selber zu betreiben.

Bis dahin hieß es also arbeiten in der Fabrik. Schuften, schuften, schuften. Ich mochte das stupide Basteln an den Büchern. Drehen überließen wir allerdings lieber Thilo, der es mit Abstand am besten konnte.

Es war fast wie Meditieren. Wir bastelten still vor uns hin.

»Bist du heute gar nicht bei Nele?«, fragte Caro plötzlich in meine Richtung.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Mittwoch, 28. Juli, 17:00 Uhr

»Mhm, nein, wir wollten mal wieder getrennt voneinander schlafen«, antwortete ich so beiläufig wie möglich und hoffte, dass die gespielte Lässigkeit meiner Antwort sämtliche drohenden Gegenfragen im Keim ersticken würde. Caro verzog kurz mitleidig ihre Mundwinkel, so als würde sie sofort spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, aber sie schien auch zu merken, dass ich auf keinen Fall darüber sprechen wollte. Malik widmete sich weiter dem Drehen der Joints, Sonny blickte zwar kurz auf, doch sobald sich unsere Augen trafen, schaute er sofort wieder weg. Thilo reichte mir mit der linken Hand die Kiste mit den Federmäppchen und mit der rechten den Schuhkarton mit den fertig gedrehten Joints.

»Umso besser, wir können jede Hilfe gebrauchen. Hier … Kannst die Dinger einsortieren. Zehn Stück in eins, wie immer«, erklärte Thilo.

Kennengelernt hatten wir uns in der Schule. Er war anfangs zwei Klassen über mir, das Jahr darauf nur noch eine und im dritten Jahr waren wir aufgrund seines schulischen Misserfolges sogar in derselben Stufe. Meine erste Begegnung mit ihm war skurril: Thilo hatte sich mit seiner Schulausweis-Fälschungs-Firma zur ersten Anlaufstelle für alle unter Sechzehnjährigen gemausert und erarbeitete sich eine Art Legendenstatus, indem er der gesamten Unterstufe den verfrühten Zugang zu Alkohol, Zigaretten und Großraumdiskotheken ermöglichte.

So stand ich also eines Nachmittags in der großen Pause in seinem »Büro« – dem Spindbereich. Ein mir damals noch völlig unbekannter Thilo reichte mir feierlich meinen neuen Schulausweis und ich ihm im Gegenzug die geforderten dreißig Euro. Als ich bei kurzer Begutachtung den von ihm entworfenen Fantasie-Schulstempel lobte, sagte er: »Ein Mann mit Blick fürs Detail, das gefällt mir!«, und von diesem Moment an wurden wir beste Freunde. Auch fast zehn Jahre später konnte ich mich noch genau an diesen Tag unseres ersten Zusammentreffens erinnern. Ich war so nervös, endlich »T-Low« zu treffen, wie er von meinen Klassenkameraden genannt wurde, dass ich an jenem Morgen sogar ein Taschenmesser in meiner Hosentasche mit mir führte. Wer weiß, was bei einer solchen Übergabe alles schieflaufen konnte. Doch dann stand da dieser gleich große (oder damals treffender: gleich kleine), leicht übergewichtige Bub vor mir, auf seiner Oberlippe der gescheiterte Versuch eines Schnauzbartes, seine Frisur ein Beatles-Gedächtnisschnitt. Im Minutentakt strich er bemüht die Stirnfransen der viel zu voluminösen Topffrisur aus seinem Gesicht, um überhaupt etwas sehen zu können.

Aus »T-Low« wurde wenig später »Thilo«, und auch rein äußerlich hatte er mit seinem sechzehnjährigen Ich kaum mehr Gemeinsamkeiten. Der Oberlippenflaum von damals reifte zu einem hippen Dreitagebart, er hatte eine sportliche Kurzhaarfrisur, und die lässige, übergroße Vintage-Jeansjacke, die er immer trug, täuschte beinah über sein »Wohlstandsbäuchlein« – wie er es immer lächelnd bezeichnete, während er mit seiner flachen Hand stolz darüberstrich – hinweg.

Gedankenverloren begann ich die Joints abzuzählen und sie mit großer Sorgfalt in die Mäppchen zu legen.

»Ich habe mir überlegt, dass wir die Trennwand quer durch diese Ecke beim Essbereich ziehen könnten, dann wäre die Bar groß genug.« Thilo legte den Joint, den er gerade fertiggestellt hatte, zur Seite, klappte sein MacBook auf und zeigte uns am Bildschirm den Grundriss der unteren Etage. Dann skippte er zu einem Foto des Essbereiches, das er bei unserer Führung gemacht hatte.

Auch wenn noch viel Fantasie und – zugegeben – einige Renovierungsarbeiten nötig waren, versetzte uns das Hotel »Bernadette« schon während der Besichtigung in pure Begeisterung. Vier Etagen, die durch eine wunderschöne Wendeltreppe verbunden waren, boten Platz für vierzig Zimmer. Die Decken waren mit Stuck verziert, die offene Fensterfront an der Südseite sorgte für ausreichend Tageslicht im Essbereich und der Lobby, sogar die auf den Fotos im Internet etwas zur Sorge anmutende Großküche wirkte in Realität nicht so schäbig wie befürchtet. Als der Verpächter uns durch die Räumlichkeiten führte, löcherte Thilo ihn mit Fragen. Ob man im Garten etwa eine Holzterrasse für Yoga-Sessions bauen dürfe, inwieweit man das angrenzende Waldstück für Gruppenwanderungen benutzen konnte, ob man im Lobbybereich eine Wand einziehen könne, um Platz für eine kleine Bar zu schaffen, und ob für diese dann eine andere Zulassung nötig sei, wenn sie auch für Besucher von außerhalb des Hotels zugänglich sein sollte. Der Verpächter stand Thilos Wissbegierde anfangs noch skeptisch gegenüber, aber je länger er uns Zimmer für Zimmer durch sein Hotel führte, desto mehr schwappte Thilos Begeisterung auf ihn über. Es wirkte fast so, als würde der alte Mann an seinen eigenen Berufsstart mit dem Hotel zurückdenken und sein damaliges Ich in Thilo wiedererkennen. Er begann sogar, alte Anekdoten auszupacken und Ratschläge zu geben. Es schien wirklich gut zu laufen zwischen den beiden und damit auch zwischen uns allen. Erst seine Aussage ganz zum Schluss der Führung, dass es noch einen anderen Interessenten gebe, versetzte unserer Freude einen Dämpfer. Er wolle sich für den schnelleren und wahrscheinlich auch höher bietenden Interessenten entscheiden, denn lange warten könne er nicht, er würde das Geld wirklich dringend für die Kosten des Heimplatzes seiner Frau benötigen. Die Moral in unserer kleinen Gruppe war augenblicklich gesunken, schließlich sah unser Businessplan den Projektstart erst im nächsten Sommer vor. So lange würden wir noch brauchen, um zu planen und zumindest das Mindestmaß an finanziellen Mitteln für unseren großen Traum aufzutreiben.

»Immer diese scheiß Immobilienhaie!«

Thilo musste kurz selber über die Absurdität seiner Aussage lachen.

»Ist das nicht wieder ein blödes Klischee? Der reiche Investor, der nicht mal Bock auf das Hotel hat, sondern einfach irgendwo sein Geld anlegen will?«, fragte er in die Runde.

»Also wir entsprechen auf jeden Fall nicht dem Klischee. Vier Teenies aus Wien, die mit einem Großinvestor in Konkurrenz stehen.« Sonny schichtete eine Handvoll Joints in ein präpariertes Buch.

»Ach was, wir sind keine Teenies. Weißt du überhaupt, was ›Teenager‹ bedeutet?«, entgegnete Thilo und winkte mit einer Hand ab.

»Na klar, das war doch nur überspitzt ausgedrückt, aber du weißt, was ich meine. Ich meine – wer sind wir?«

»Tweenager«, sagte ich und meine Freunde schauten mich überrascht an. »Ist so. Wegen twentytwo, twentyfour.«

»Seid ihr beide bescheuert? Ihr habt wohl zu viel Gras eingeatmet und seid passiv high.« Thilo musste lachen. »›Wer sind wir?‹ Was ist das denn hier plötzlich für eine philosophische Frage zu dieser Stunde?«, schob er nach.

»Du weißt schon, wie ich das meine. Wie hat das wohl auf den Typen gewirkt, als da plötzlich vier Studenten vor seiner Tür standen?«

»Wir sind doch keine Studenten«, sagte Thilo trocken.

Wir sahen ihn verwirrt an.

»Also ich habe jetzt schon seit einem Jahr keine Uni mehr von innen gesehen und ihr drei seid ja auch eher, ich sag mal, die gemäßigt Motivierten?«, lachte er.

Sonny, Malik und ich schmunzelten, blickten uns dann aber kurz an, als würden wir uns beim jeweils anderen die Bestätigung dafür abholen wollen, dass wir uns durchaus okay fleißig durch unser Studium quälten.

»Aber wie wirkte das denn? Wir vier lassen uns von ihm durch das Gebäude führen. Das war doch schon ein bisschen komisch, nicht?« Sonny blickte, nach Unterstützung suchend, zu Malik und mir. Ich wusste, was er meinte. Auch ich hatte mich wie ein absoluter Blender, wie ein Hochstapler gefühlt.

»Der dachte bestimmt, ihr seid irgendwelche Start-up-Unternehmer«, warf Caro ein und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das ernst oder ironisch meinte.

»Was auch immer er dachte, Mann, der will Geld. Für das Heim seiner Frau. Der Frau, nach der er sein Hotel benannt hat! Ob der jetzt das Geld von einer Gruppe motivierter junger Männer oder von einem Investor bekommt, ist doch völlig egal. Im Gegenteil: Hast du seinen traurigen Blick gesehen, als ich meinte, es wäre echt schade, wenn sein Lebenswerk irgendwann einer unpersönlichen Hotelkette weichen muss?«, fragte Thilo.

Ich hatte den Blick gesehen und er gab mir tatsächlich Hoffnung.

Thilo holte eine Flasche Rotwein aus unserer Küche. Seit einigen Wochen fand sich dort ein schräges Bild wieder: Thilo kaufte zahlreiche höherwertige Weine und sogar unterschiedliche Weingläser. Diese vornehmen Utensilien standen nun inmitten unseres Küchenchaos, zwischen dem dreckigen Geschirr, den unzähligen leeren Plastikpfand- und Bierflaschen. Er griff in seinen neuen Weingläservorrat, die Gläser waren verschieden dünn, die Stiele verschieden lang. Vor einer Woche hatte er ausführlich über Form und Handlichkeit referiert und wie sich beides auf den Geschmack des Weines auswirken würde. Jedes Detail, so betonte er immer wieder, müsste im zukünftigen Barbereich stimmen, denn »glücklich ist, wer glücklich trinkt«, schob er gerne schmunzelnd nach.

Er reichte uns feierlich seine neuen Versuchsgläser und öffnete den Wein. Zuerst goss er sich selbst einen Schluck ein und streckte das Glas leicht geneigt der Deckenlampe entgegen, um dessen Inhalt genau zu inspizieren. Dann roch er daran, schwenkte das Glas und probierte schließlich mit prüfendem Gesichtsausdruck einen kleinen Schluck. Er nickte zufrieden.

»So wie ich das verstanden habe, sind unsere Chancen trotzdem ganz gut«, beruhigte Malik. »Das klang doch eher nach einem Gerücht, dass so ein Investor gerade ein Hotel in Bad Gastein sucht, und es stehen doch so viele Gebäude leer. Den interessiert bestimmt nicht unsere Bernadette.«

»Wir sollten die Bitcoins trotzdem gleich verkaufen«, wechselte Sonny das Thema und sprach damit einen noch heiklen Punkt unseres Vorhabens an: die Finanzierung. »Dann haben wir das Geld zumindest schon mal sicher auf dem Konto, und falls dieser scheiß Investor wirklich jetzt schon ein Angebot abgibt, können wir zumindest sofort mitziehen. Und falls nicht, bleiben wir einfach bei unserem Plan und legen nächsten Sommer los.«

Es herrschte kurzes Schweigen. Wir wussten, dass Malik noch nicht ganz bereit war, seine Bitcoins in unser Projekt zu investieren, denn sämtliche Gewinn- und Teilhaberanteile mussten noch im Detail geklärt werden. Der Konsens war: Gesplittet wird grundsätzlich durch alle gleich, plus/minus ein paar Prozente, die wir ein Jahr nach Eröffnung zwischen uns herumschieben würden, um die tatsächlichen Aufgabenbereiche mit der prozentualen Aufteilung des Gewinnes in der Praxis fair abstimmen zu können. Doch vor der ersten Ausschüttung sollte natürlich jeder, der zu Beginn Geld in das Projekt reingesteckt hatte, sein jeweiliges Investment zurückbezahlt bekommen. Das betraf eigentlich nur Thilo und vor allem Malik, der bei Weitem die größte Summe zuschießen sollte. Zwischen Sonny, Thilo und mir schien dieser Handschlag-Deal kein Problem zu sein, aber Malik war noch nicht so lange Teil unserer eingeschworenen Gruppe und etwas skeptisch. Dumm nur, dass unser Finanzierungsplan maßgeblich von ihm abhängig war – 60.000 Euro betrug die Summe, die er beisteuern sollte.

Es gab also noch einiges zu klären.

»Jetzt zu verkaufen, wäre Irrsinn, der Kurs steigt täglich. Weißt du, wie viel die nächsten Sommer wert sind?«, erklärte Malik.

Vor etwa sieben Jahren hatte er sich Bitcoins in einem Online-Casino erspielt, wo er sich Tag und Nacht auf Poker-Turnieren herumgetrieben hatte. Die Coins waren damals höchstens einige Cent wert gewesen, und somit bewegte sich Malik, der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht volljährig war, in einer Art rechtlichen Grauzone. Als der Kurs in den Monaten darauf langsam, aber sicher stieg, entfernte das Casino die Option, um Bitcoins zu spielen. Spielgeld war für ihn keine Alternative und er verlor die Lust am Zocken. Außerdem, so hatte er uns erzählt, lernte er zu dieser Zeit auch seine erste Freundin kennen und hatte verständlicherweise an sexuellen Erfahrungen mehr Interesse als an einsamen Poker-Nächten vor dem PC. Seine kurze, aber intensive Online-Gambling-Lebensphase endete also und die erspielten Bitcoins gerieten in Vergessenheit. Erst die allgemeine Berichterstattung über Kryptowährungen erinnerte ihn wieder an sein eigenes Wallet, in dem seine Bitcoins online aufbewahrt wurden, und er verstand, welchen Schatz er sich damals erspielt hatte. Mittlerweile waren sie exakt 63.780 Euro wert – Tendenz steigend. An dem Abend in unserer Stammbar, an dem Malik uns in seinen überraschenden Reichtum einweihte, war Sonny mehr als skeptisch und forderte ihn betrunken und wild gestikulierend dazu auf, ihm Einblick in sein Bitcoin-Wallet zu geben. Stolz zeigte er es uns. »Entweder es ist sehr gut gefaked oder du sagst die Wahrheit«, resümierte Sonny nach einem Blick auf das Smartphone theatralisch und schaute Malik dabei eindringlich in die Augen.

»Und was ist, wenn der Kurs total einbricht und sie nächsten Sommer gar nichts mehr wert sind?«, gab Sonny nun zu bedenken.

»Tut er nicht«, versuchte Malik ihn zu beruhigen. »Das hier«, er griff mit beiden Händen in das große Glasbehältnis voller Gras, das mitten auf dem Tisch stand, »haben wir ja auch noch, falls der Kurs bis dahin wirklich wieder fallen sollte. Aber das glaub ich nicht.« Er ließ die getrockneten Bröckchen durch die Finger rieseln.

»Das ist physisch. Schau, das kann ich anfassen. Deine komischen Bytes nicht.« Sonny hob eine Knospe in die Luft. Sofort jedoch riss Thilo sie ihm aus den Fingern, zerbröselte sie in Rekordtempo in sein mit Tabak gefülltes Paper, schleckte es ab und rollte es zusammen.

»Außer ich bekomm das in die Hände, dann kannst du das auch nicht lange anfassen«, lachte er dann laut und zündete sich genüsslich den Joint an.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

Donnerstag, 5. August, 23:30 Uhr

»Vielleicht wirkte es gerade so, als ob mir das gar nicht so wichtig wäre, aber…« Ich hielt inne. Kurz nachdem ich diese dramatischen Worte ins Handy getippt hatte, wanderte mein Finger zwischen »Senden« und »Löschen« hin und her. In meinem Kopf legte ich mir ein paar weitere Worte zurecht, die ich Nele schreiben konnte, aber dann durchbrach eine Stimme meine Gedanken, die mir sagte, dass das nun wirklich keinen Sinn hätte.

Schon seit etwa einer Woche spürte ich, dass unser Ende im Raum stand. Ich quälte mich mit der Frage, ob denn nicht ich den ersten Schritt wagen sollte, um den dicken Elefanten, der mit uns im Raum saß und abends zwischen uns einzuschlafen schien, anzusprechen. Er war mittlerweile so groß, dass ich meine Arme gar nicht mehr bis zu Nele auf der anderen Seite des Bettes ausstrecken konnte, und leider spürte ich deutlich, dass sie das auch gar nicht mehr wollte. Nach der zweiten Nacht, die wir so merkwürdig distanziert verbracht hatten, wachte ich plötzlich mit ungeheuren Bauchschmerzen auf – und bekam Stressdurchfall. Ich tat mein Bestes, um so gut es ging den Schein eines funktionierenden Verdauungssystems aufrechtzuerhalten. Auf ihrer Toilette sitzend, hielt ich das Klopapier so nah wie möglich an den Afterausgang, um das laute Durchfallgeräusch zu absorbieren, und zog es immer dann schnell weg, wenn die austretende Flüssigkeit passieren musste. Lange saß ich so da und hoffte, Nele würde denken, ich würde mich einfach in meinem Smartphone verloren haben. Nach dem Frühstück mit Kaffee hüpfte ich so schnell Richtung Toilette, dass sie bei meiner Rückkehr besorgt fragte: »Alles okay?«, und ich nickte und antwortete kurz: »Nur ein bisschen Bauchweh.« Von den Schmerzen durfte sie wissen, aber dass ich jedes Mal ihre gesamte Toilette durchschoss, dieses Bild sollte sie nicht vor ihrem geistigen Auge haben. Vor allem nicht jetzt, wo vielleicht in ihrem Kopf ein ständiges Abwägen der Vor- und Nachteile einer Beziehung mit mir stattfand.

Es war seltsam. Als ich ihre Wohnung am Morgen verlassen hatte, spürte ich bereits, dass ich das letzte Mal hier gewesen sein würde. Ich fühlte es mit jeder Faser meines Körpers und ein seltsames Gefühl von Trauer und bemühter Gleichgültigkeit stellte sich in mir ein. Dieselbe Art von Gleichgültigkeit, die mir Nele schon seit einigen Tagen entgegengebracht hatte. Ihre abweisende Stimmung konnte ich mir längst nicht mehr mit schlechter Laune, Müdigkeit oder mit unseren Gesprächen bezüglich meines möglichen Umzugs nach Bad Gastein erklären. Gleichzeitig hatte ich die Hoffnung, dass ich die Probleme in meinem Kopf womöglich größer machte, als sie tatsächlich waren. Als ich gestern Abend jedoch die Wohnung betrat, und wir uns, anstatt uns zu küssen, nur kurz umarmten, verflog diese letzte Hoffnung augenblicklichkeit. Ja, sie hatte ihre Tage, das hatte sie mir am Vorabend mit einem gequälten Griff auf ihren Bauch erklärt, aber ich konnte mich nicht länger selbst verarschen: Es war um uns geschehen.

Kurz vor dem Einschlafen versuchte ich es mit einer letzten Rettungsinitiative. Durch einen sanften Gutenachtkuss wollte ich ein Mindestmaß an körperlicher Nähe herstellen, doch Nele zuckte zusammen und gab ein Geräusch von sich, das süß wirken sollte – aber durch die Dramatik der Situation nur wie ein hässliches »Mhmmm«-genervt-sein-Geräusch klang.

»Ist es so schlimm, wenn ich dir einen Gutenachtkuss geben will?«, fragte ich leise, aber sie säuselte nur irgendwas im Halbschlaf vor sich hin, das sich anhörte wie »Dein Bart kratzt«.

In dieser Nacht konnte ich fast nicht schlafen. Am Morgen drückte ich sie etwas länger als sonst an mich, aber verließ die Wohnung, wie ich gekommen war – ohne Kuss.

Etwas früher am Abend hatten wir telefoniert. Mit »Hey, ich wollte mit dir über heute Morgen reden, weil das so komisch war« hatte sie das Gespräch begonnen, um mir dann zu erklären, dass es wirklich an ihr liege. »Bei mir sind in letzter Zeit so viele Dinge hochgekommen, über die ich mir Gedanken machen muss. Und du hast ja auch bald deine große Prüfung. Vielleicht tut es uns ganz gut, wenn sich jetzt mal jeder auf sich konzentriert?« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie sagte: »Ich brauche auf jeden Fall erst mal Abstand, dann kann ich mich ja noch mal melden.«

Vor allem der Teil, dass sie sich »ja noch mal melden« könnte, tat weh. Kühl entgegnete ich, dass sie das gerne machen könne, es aber auch nicht nötig sei, wenn sie sich nicht danach fühle. Für Gefühle könne man nun mal nichts, ich müsse mir ohnehin auch mal über alles Gedanken machen. Ein denkbar schlechter Konter. Es war ein fast zu seriöser Trennungsanruf, es fielen sogar noch ein paar Komplimente über die gemeinsamen drei Monate. Ich hätte von ihrer Spontaneität profitiert und sie von meiner Ruhe. Wir hätten uns eine Zeit lang sehr gutgetan.

»Ich finde es schon traurig, du nicht? Ich muss jetzt ein bisschen weinen«, sagte sie nach einigen Augenblicken der Stille und auch in meinen Augen hatten sich Tränen gebildet.

»Ja«, gab ich nach kurzem Zögern ehrlich zurück. Wieder war es still, bis sie hörbar ein- und wieder ausatmete und dann sagte:

»Okay. Dann tschüss.«

»Tschüss«, murmelte ich leise.

Das hieß wohl, dass es vorbei war. Erst wollte ich kurz »Lebe wohl« sagen, aber das erschien mir doch zu pathetisch. Dann wollte ich ein »Ja, dann erst mal tschüss« sagen, einfach, damit ich mehr als ein Wort entgegnen konnte, aber es war eben nicht »erst mal«.

Noch einmal schaute ich auf die von mir getippten Worte an Nele und schloss die App. Stattdessen scrollte ich ziellos auf meinem Smartphone herum und sah, dass mir plötzlich eine Anzeige für eine Dating-App in meinen Feed gespielt wurde. Der Algorithmus hatte wohl schon entschieden, dass ich ab jetzt Single war. Oder würde er sich diesmal täuschen? Vielleicht, weil ich Nele schon seit einiger Zeit nicht mehr im Messenger geschrieben hatte. Das wäre krass. Oder waren diese Anzeigen schon immer da und ich hatte sie nur nie gesehen? Ich legte mein Handy zur Seite und ließ meinen Blick durch mein Zimmer schweifen. Ich hauste wirklich wie ein Idiot. Seit Jahren lebte ich mit einer Stehlampe im Zimmer, weil ich es nicht auf die Reihe bekam, einen Elektriker zu rufen, der sich um die zuerst flackernde, dann einfach gar nicht mehr funktionierende Deckenleuchte kümmerte. Obwohl: Einmal hatte ich sogar mit einem telefoniert, einen Termin ausgemacht und ihm das Problem erklärt; er diagnostizierte dann aus der Ferne, dass es sich um falsche Spannung handeln müsse und dass das für ihn kein Problem sei, doch er tauchte nie bei mir auf. Damit war die Angelegenheit auch für mich erledigt. Falsche Spannung. Vielleicht war die auch zwischen Nele und mir, und sosehr wir uns bemühten, eine Beziehung würde einfach nicht klappen. Oder doch? Vielleicht müssten wir unsere eigenen Elektriker sein, um uns gegenseitig einzupendeln? So wie bei ihrer Spontanität und meiner Ruhe?

Ich griff nach meinem Notizbuch auf dem Nachtkästchen und begann, darin herumzuschreiben. Es tat mir immer gut, all meine Gedanken auf Papier zu bringen. Meist waren sie negativ. Wenn es mir gut ging, dann verspürte ich seltsamerweise nie das Bedürfnis, zum Stift zu greifen. Aber wenn mein Kopf zu platzen drohte, dann sprudelte es nur so aus mir heraus. Die Gedanken wurden dadurch zwar nicht weniger, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, wenn sie einmal da draußen im Universum waren, nahmen sie in meinem Gehirn nicht mehr ganz so viel Kapazität in Anspruch – und das war ja auch schon einiges wert. Die schönsten Sätze übertrug ich in regelmäßigen Abständen in mein Handy, einfach, um mein persönliches »Best-of« zu digitalisieren. In den vergangenen Wochen waren meine Gedanken fast ausschließlich um Nele gekreist. Ich blätterte durch die Seiten und fand neben zahlreichen sinnlosen Wortfetzen auch den ein oder anderen brauchbaren Satz. Obwohl »brauchbar« wohl das falsche Wort war, denn brauchen konnte sie natürlich absolut niemand für absolut gar nichts.

Ich erinnerte mich daran, wie Nele einen meiner Notizblöcke entdeckt hatte und überrascht sagte, dass das gar nicht mal so übel sei. Eine Woche später leitete sie mir sogar ein Briefing aus der Werbeagentur, in der sie am Empfang arbeitete, per Mail weiter. Es ging um einen sogenannten »Claim«, also einen griffigen Satz, der ein Produkt – in diesem Fall einen Designersessel – beschreiben sollte. Ich scheiterte kläglich. Nicht ein Wort brachte ich zu Papier. Es war wie verhext. Gerade als ich aufgab und Nele über meinen missglückten Versuch informieren wollte, rief sie mich wutentbrannt an und erzählte, dass sie gerade absolut grundlos entlassen worden sei. Wie sich später herausstellen sollte, war ihre Kündigung alles andere als grundlos: Tags zuvor hatte sie einige feierwütige Freunde zur After Hour auf die Dachterrasse der Werbeagentur eingeladen, vergaß dabei aber zu erwähnen, dass keine Fotos oder Videos davon gepostet werden durften. Doch Wien war ein Dorf. So sah eine Arbeitskollegin am nächsten Morgen die Instagram-Story eines sehr betrunkenen After-Hour-Gastes, der vom Geländer der Dachterrasse auf den Balkon ein Stockwerk tiefer urinierte. Auch wenn sie in einer dieser Agenturen jobbte, die sich im »Mitarbeiter«-Menüpunkt der Website durch ein Hundefoto inklusive Namen (»Milo – Feel-good-Manager«) geübt lässig und hip gab – bei so was hörte der Spaß wohl auf und Nele wurde am nächsten Tag fristlos gekündigt.

Vielleicht sollte ich Nele einfach ein Gedicht schreiben? Wenn ich mein angebliches Talent schon nicht zu Geld machen konnte, würde es mir vielleicht in der Liebe helfen. Oder sollte ich lieber schlafen? Immerhin war es nun schon zwei Uhr morgens und ich hatte nur noch knapp eine Woche Zeit bis zu meiner großen Prüfung. Meinem dritten und somit allerletzten regulären Antritt. Mein Herz begann beim Gedanken daran augenblicklich schneller zu schlagen. Es müsste nur wieder irgendeine Kleinigkeit schiefgehen, dann säße ich beim vierten Antritt vor der Kommission, so nervös, dass ich nur noch Schwachsinn stammeln würde, und zack – ich müsste mein Studium beenden. Zumindest in Wien. Meine Mutter würde darauf bestehen, dass ich das Studium in einem anderen Bundesland fortführe – ja, wahrscheinlich der Einfachheit halber in der Heimat. Mein älterer Bruder Peter würde sich wieder als Samariter in Szene setzen, mich in seinem spießbürgerlichen Auffangbecken von Doppelhaushälfte gönnerhaft aufnehmen, und da wäre es auch schon vorbei, mein eigenständiges Leben in Freiheit. Ein Leben, das mein Bruder damals angeblich opfern musste, als unser Vater starb. Studium schmeißen, zurück in die Heimat und Mama helfen. So weit zumindest seine Version des abgebrochenen Lebenswegs in der Großstadt. Mir konnte er natürlich nichts vormachen. Er war gescheitert am selbstständigen Leben, gescheitert an seinem Studium. Der Tod unseres Vaters spielte ihm in die Karten, um eine Ausrede zu haben, sein jetziges dörfliches Vor-sich-hin-Vegetieren zu rechtfertigen. Und mir? Mir würde das Gleiche blühen, würde ich diese Prüfung verhauen – nur ohne den Bonus der heldenhaften Märtyrerrolle.

Mittlerweile lernte ich schon zwei ganze Semester dafür. So war das bei meinem Jurastudium: ein halbes oder sogar ganzes Jahr lernen für eine halbe Stunde mündliche Prüfung, also gerade mal drei Fragen. Wenn einem dann auch nur zu einer nichts einfiel, man einen kleinen Absatz in dem dicken Buch übersehen oder sich einfach eine Stelle nicht genau genug durchgelesen und verinnerlicht hatte, fiel man durch. Ein unfassbarer Druck. Nicht wenige Studenten griffen daher zu Ritalin, um sich besser konzentrieren zu können. In all den Apotheken rund um die Uni waren ritalinhaltige Medikamente in der Prüfungszeit vergriffen. Ich selbst hatte es nie probiert. Nur Koffeintabletten. Davon nahm ich eine am Morgen und eine am späten Nachmittag, sodass ich bis zehn oder elf Uhr abends durchhalten konnte. Kurz vorm Schlafengehen dann eine Schlaftablette. Das ging natürlich nur eine begrenzte Zeit gut. Höchstens ein bis zwei Wochen vor der Prüfung, sonst wäre mit ernsthaften gesundheitlichen Schäden zu rechnen. Soweit zumindest die Ratschläge von Kollegen, die Medizin studierten. Die letzten Lerntage schienen somit nicht nur meine psychische, sondern auch meine physische Unversehrtheit in Mitleidenschaft zu ziehen. Zu all dem Stress jetzt auch noch: Nele. Mein trauriges Herz beruhigte sich bei dem Gedanken daran einfach nicht mehr und klopfte unentwegt weiter. Ich legte mein Notizbuch zur Seite, griff nach den Schlaftabletten und nahm zur Sicherheit gleich zwei.

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Kapitel 4

Freitag, 6. August, 7:00 Uhr

Bei zwei Schlaftabletten am Abend helfen zwei Koffeintabletten am Morgen. So weit meine Logik. In den zehn Minuten snoozen zwischen dem Weckerklingeln, Tabletteneinwerfen und dem tatsächlichen Aufraffen löste ich in meinem Kopf einen juristischen Fall, der sich so unter keinen Umständen jemals irgendwo auf dieser Welt ereignen würde. Aber für mein müdes Ich ergab alles Sinn: Hier, dieser Paragraf und diese Herleitung würden doch zu diesem Ergebnis führen, und damit wäre dann Person X, dem Geschädigten, geholfen. Damit rechtfertigte ich den ausgiebigen Halbschlaf am Morgen: Ich lernte ja bereits. Man musste nicht immer wach dafür sein. Selbstzufrieden drückte ich noch mal die Snooze-Taste. Je länger ich nicht existierende Herleitungen im Kopf herumschob, desto besser begann das Koffein zu wirken, und mir wurde unter immer schneller werdendem Herzklopfen die Absurdität meiner Fantasiesachverhalte bewusst. Also wach werden, Blick aufs Display, ob vielleicht Nele geschrieben hatte, wieder enttäuscht werden, schnell Zähne putzen und die abstehenden Haare mit Wasser glätten. Deo statt Dusche, jede Minute im Bad war eine zu viel, und dann schnell die Wohnung verlassen.

Im Treppenhaus traf ich auf einen Nachbarn im schicken Anzug, der hastig telefonierend die Stufen hinunterlief, sich aber dennoch die Zeit für ein verschwörerisches »Guten Morgen« inklusive Lächeln nahm, als er mich sah. Ich beobachtete ihn gespannt, als er die schwere Eisentür zum Hof öffnete, und konnte erkennen, dass er sich eine Taktik zurechtgelegt hatte, um die tote Taube auf dem Boden nicht sehen zu müssen. Das Kinn streckte er einige Zentimeter höher, den Blick richtete er horizontal zur oberen Torkante – ihm würde der eklige Kadaver nicht den Morgen verderben. Mein Kopf war jedoch zu schwer, zu voll von den sinnlosen Snoozing-Falllösungen, ja, ich war einfach zu undiszipliniert, als dass ich die Neugierde hätte besiegen können: Der Taubenleichnam lag nach so vielen Tagen tatsächlich noch immer auf dem Betongrund unseres Innenhofes. Das verbleibende rohe Fleisch war mittlerweile von schwarzen Ameisen übersät und die Federn schienen sich langsam, aber sicher durch den Wind im gesamten Hof zu verteilen. Mich schüttelte es durch, dann drehte ich um und lief zur U-Bahn-Station. Es zählte immer noch jede Minute.

Ich – ein Student, dessen Leben normalerweise erst gegen elf Uhr vormittags startete – war immer wieder aufs Neue überrascht, wie viele Menschen um diese frühe Uhrzeit schon auf den Beinen waren. Denn ja, es gab auch diese Tage, an denen der in Studentenkreisen zirkulierende Witz »Studenten stehen um fünf Uhr auf, weil um sechs der Lebensmittelladen gegenüber schließt« durchaus einen nicht unerheblichen Wahrheitsgehalt in sich trug. Aber in den Prüfungsphasen wurde mir immer wieder das Behind the Scenes meines durchschnittlichen Tagesanfangs vor Augen geführt. Die roten Kästen der Gratiszeitungen waren um diese Zeit noch gefüllt, der Normalzustand dieser Schmierblätter war also auf diesem Stapel und nicht auf dem Boden der U-Bahn, zerknittert und mit Dreck behaftet. Das Fleisch am Kebabspieß, das man betrunken auf dem Heimweg vom Club durchaus zu schätzen wusste, war um diese Uhrzeit eine unappetitliche rosafarbene Fleischwurst. Der Gedanke daran erinnerte mich augenblicklich an den Taubenkadaver. Es schüttelte mich erneut. Eventuell kam dieses seltsame Zittern aber auch von den vielen Koffeintabletten in den vergangenen Tagen. Doch diese eine Woche bis zur Prüfung musste mein Körper noch durchhalten, danach würde ich ihm eine Pause von dem Zeug gönnen. Und sowieso waren Koffeintabletten ja wohl besser als Ritalin.

Angekommen, warf ich einen schnellen Blick zur U-Bahn-Anzeige: zwei Minuten bis zur nächsten Bahn. Es hatte sich gelohnt, dass ich mich so beeilt hatte. Die schlecht gelaunten Gesichter wirkten zu dieser frühen Stunde auf eine seltsame Art und Weise verbindend.

Die Spindtüren vor dem Lesesaal waren größtenteils noch geöffnet. Ein gutes Zeichen, ich würde tatsächlich zu den Ersten gehören. Es war sogar noch so früh, dass nicht mal der »Spindwart« angekommen war: ein etwas heruntergekommener Mann mit fettigen grauen Haaren, der ständig durch die metallenen Reihen lief und Spind für Spind abklapperte, in der Hoffnung, jemand hätte beim Verlassen sein Zweieurostück darin vergessen. In meinen ersten Tagen im Unihörsaal hielt ich ihn noch für einen Angestellten des Lesesaals, bis mir ein Mitstudent erklärte, dass es sich um einen Obdachlosen handelte. Er profitierte zu Beginn jedes Studienjahres besonders davon, dass gerade die Erstsemester aus mangelnder Gewohnheit ihre Zweieuromünzen in der Spindtüre vergaßen.

Vor dem Lesesaal wartete ein Dutzend Studenten, die Türe war noch geschlossen. Ich atmete tief durch. Keine einzige Minute hatte ich verschwendet, ich würde heute den vollen Tag zum Lernen nutzen können. »Lernen, lernen, popernen«, wie Thilo immer Helge Schneider zitierte. Nach wenigen Minuten wurde die Tür geöffnet und schnell suchte sich jeder einen Platz an den großen, länglichen Tischen, an dem er diesen Tag verbringen würde. Der ein oder andere reservierte mithilfe seiner Lernunterlagen auch einen Sitzplatz für einen Freund oder eine Freundin. Gerade in der Prüfungszeit musste man hierbei sensibel vorgehen: Reichte sonst auch einfach ein Zettel oder ein Buch, so wurde um diese Zeit eine Art Phantomstudierender geschaffen: Ein Pullover wurde über den Stuhl gelegt, Bücher wurden aufgeschlagen, Leuchtstifte danebengelegt, ganz so, als wäre der Kollege nur mal eben auf der Toilette. Dieses Platzfreihalten war nur den ersten Besuchern vorbehalten, denn je voller der Lesesaal wurde, desto böser wurden die Blicke, desto lauter das Räuspern der Mitstudierenden, die das Treiben beobachteten. Und desto wahrscheinlicher wurde es, dass man zu einem späteren Zeitpunkt auf die Frage »Ist der hier wirklich besetzt?« letztlich doch wahrheitsgemäß antwortete und die Bücher zur Seite schob. Dem Platzreservierer blieb dann nichts anderes übrig, als die Unterlagen unter beschämt gesenktem Blick zu verstauen.

Jede Minute zählt, wiederholte ich ein letztes Mal im Kopf. Dann schlug ich das Buch auf. Plötzlich eine Message von Nele: »Heute Abend spontan Bock auf ein Konzert? Mag die Band, kann auch Gästeliste klarmachen.«

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Kapitel 5

Freitag, 6. August, 21:00 Uhr

Die Luft war stickig, und da rauchen in diesem Club noch erlaubt war, fiel das Atmen spürbar schwer. Ich beobachtete den kahlköpfigen Singer dabei, wie er vergeblich dem Tontechniker, der sich gerade mit einem betrunkenen Mädchen unterhielt, wild gestikulierend zu verstehen gab, dass er endlich das Mikrofon lauter stellen sollte. Anfangs war es furchtbar langweilig, aber mit der Zeit fand ich etwas Gefallen an dem schüchternen Sänger der türkischen Synthiepopband in seinem schwarzen Rollkragenpullover.

Neles WhatsApp-Einladung schwebte den restlichen Tag wie eine dunkle Wolke über mir. An Lernen war nicht mehr zu denken, und das, obwohl es in Anbetracht meiner bald anstehenden mündlichen Prüfung absolut tödlich war, einen Tag lang nichts zu schaffen. Mittagessen ging ich mit einem Kumpel aus der Uni, den ich zwar in meine Abendpläne mit Nele einweihte, ihm aber nichts von unserer gestrigen Trennung erzählte. Schließlich bestand nach Neles Message begründete Hoffnung, dass der von ihr geäußerte Wunsch nach »Abstand« vielleicht doch eher als eine unüberlegte Kurzschlusshandlung zu interpretieren war. Nach nur einem Tag schien sie mich zu vermissen. Mein Kumpel erwähnte, dass wir ein »schönes Paar« wären und dass Neles vorheriger Freund nun wirklich nicht zu ihr gepasst hätte. Das sei ihm klar geworden, als er die beiden vor einigen Tagen zusammen an einer Straßenbahnhaltestelle gesehen habe. Mein Körper reagierte sofort, ich spürte meinen Herzschlag immer intensiver. War vielleicht dieser Ex-Freund der Grund für Neles plötzliche Zweifel? Ich wollte mir meine innere Ohnmacht nicht anmerken lassen und fragte ihn so beiläufig wie möglich, was das denn so für ein Typ gewesen war, aber viel Information war nicht zu holen. Er hätte ihn nur mal bei einer kurzen gemeinsamen Taxifahrt zu einer Party kennengelernt. Sein Fazit: »Er ist schön, reich, neutral und konservativ – wie die Schweiz.« Das waren die Worte, die mir daraufhin den gesamten restlichen Tag im Kopf herumschwirrten.

Aus Neles Begrüßung an diesem Abend hatte ich keine richtigen Schlüsse ziehen können. Sie war eher kühl gewesen, aber vielleicht war sie auch nur nervös. Das war ich ja schließlich auch.

Nele wippte im Takt mit und beschwerte sich in regelmäßigen Abständen über den Typen vor uns, der ihr die Sicht versperrte, und darüber, dass der Sound miserabel abgemischt sei. Warum hatte sie mich eingeladen? Als wir mit unseren Bieren anstießen, hielten wir kurz Blickkontakt, aber dann schauten wir schnell wieder Richtung Bühne. Ich ging im Kopf durch, wie der Abend enden könnte, während der Sänger noch immer reserviert, aber mit einer seltsam starken Aura ins Mikrofon sang.

Am liebsten würde ich einfach sofort mit ihr nach Hause fahren, einfach kurz den »Reset«-Button klicken, ja, zurück an den Start. Als wir uns kennengelernt hatten, war es absolut magisch zwischen uns. Eine gemeinsame Freundin hatte mir Nele auf einer Party vorgestellt. Mit ihren blonden Haaren, den zahlreichen Sommersprossen um die Nase und den blauen Augen