Ich küss dich tot - Ellen Berg - E-Book
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Ich küss dich tot E-Book

Ellen Berg

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Beschreibung

Endlich wird gemordet! Hotelmanagerin Annabelle hat gerade einen Superjob in Singapur ergattert, als sie das Alpenhotel ihrer Eltern retten soll. Fest entschlossen, den maroden Familienbetrieb zu verkaufen, reist sie in die verschneite Heimat – und findet eine Leiche im Straßengraben. Ist es einer der Investoren, die das verträumte Bergdorf touristisch aufmöbeln wollen? Welche Rolle spielt Andi, der charmante Sohn der Nachbarn, mit denen ihre Eltern eine alte Fehde verbindet? Als eine weitere Leiche auftaucht, beginnt für Annabelle ein Wettlauf um Liebe und familiäres Glück. Ein mörderisch komischer Roman über die Tücken des Familienlebens und die wahre Liebe am falschen Ort.

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Über Ellen Berg

Ellen Berg, geboren 1969, studierte Germanistik und arbeitete als Reiseleiterin und in der Gastronomie. Heute schreibt und lebt sie mit ihrer Tochter auf einem kleinen Bauernhof im Allgäu. Ihre Romane »Du mich auch. (K)ein Rache Roman«, »Das bisschen Kuchen. (K)ein Diät-Roman«, »Den lass ich gleich an. (K)ein Single-Roman«, »Ich koch dich tot. (K)ein Liebes-Roman«, »Gib’s mir, Schatz! (K)ein Fessel-Roman«, »Zur Hölle mit Seniorentellern! (K)ein Rentner-Roman«, »Ich will es doch auch! (K)ein Beziehungs-Roman«, »Alles Tofu, oder was? (K)ein Koch-Roman«, »Blonder wird’s nicht. (K)ein Friseur-Roman«, »Ich schenk dir die Hölle auf Erden. (K)ein Trennungs-Roman, »Manche mögen’s steil. (K)ein Liebes-Roman« und »Wie heiß ist das denn? (K)ein Liebes-Roman« liegen im Aufbau Taschenbuch vor und sind große Erfolge.

Besuchen Sie die Autorin auch auf www.ellen-berg.de.

Informationen zum Buch

Endlich wird gemordet!

Hotelmanagerin Annabelle hat gerade einen Superjob in Singapur ergattert, als sie das Alpenhotel ihrer Eltern retten soll. Fest entschlossen, den maroden Familienbetrieb zu verkaufen, reist sie in die verschneite Heimat – und findet eine Leiche im Straßengraben. Ist es einer der Investoren, die das verträumte Bergdorf touristisch aufmöbeln wollen? Welche Rolle spielt Andi, der charmante Sohn der Nachbarn, mit denen ihre Eltern eine alte Fehde verbindet? Als eine weitere Leiche auftaucht, beginnt für Annabelle ein Wettlauf um Liebe und familiäres Glück.

Ein mörderisch komischer Roman über die Tücken des Familienlebens und die wahre Liebe am falschen Ort.

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Ellen Berg

Ich küss dich tot

(K)ein Familien-Roman

Inhaltsübersicht

Über Ellen Berg

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Dank

Impressum

Prolog

19. Dezember, noch fünf Tage bis Heiligabend

»Über-raaaa-schung!«, schallte es Annabelle entgegen.

Schock. Ihr Puls schnellte in schwindelerregende Höhen. Mit einer Hand umklammerte sie die Klinke der Wohnungstür, mit der anderen raffte sie ihr feuchtes Badetuch vor der Brust zusammen. Gut, jeder mochte Überraschungen, zumal in Gestalt fröhlicher Menschen, die Luftballons und bunt verpackte Flaschen schwenkten. Dumm nur, wenn man gerade aus der Dusche kam, tropfnass, notdürftig in ein schlappes Stück Frottee gewickelt, und die Wohnung aussah, als hätte ein übereifriges FBI-Team jeden Schrank, jede Schublade, jedes Wäschefach durchwühlt.

Aber das war längst nicht alles. Am nächsten Morgen um sieben würde ihr Flieger nach Singapur abheben. Annabelle musste noch packen, das Appartement auf Vordermann bringen, ihren Pass suchen (nein, das hatte sie schon getan, ausgiebig, sie musste ihn finden), dringend mit Simon telefonieren (ja, es gab einen Mann in ihrem hektischen Leben, fragte sich nur, wie lange noch). Und, hm, erst mal was anziehen vielleicht?

Ratlos starrte sie in die Gesichter ihrer Freunde, die sich auf dem Treppenabsatz drängelten. Durch das kleine Loch des Spions hatte sie lediglich Sommersprossen und jadegrüne Augen erspäht: ihre beste Freundin Mary-Jo. Dass dahinter eine unternehmungslustige Partytruppe stehen würde, wild entschlossen, jede Menge guter Laune über ihr auszukippen, darauf wäre sie nicht im Traum gekommen. Und doch bestand kein Zweifel: Sämtliche New Yorker Freunde, hauptsächlich Kollegen aus dem Hotel Imperial Ambassador, standen Schlange, um ihr Lebewohl zu sagen.

Du lieber Himmel, was sollte sie bloß tun?

Für die Schildkrötentaktik (ich bin gar nicht zu Hause, haha) war es nun zu spät, für einen kurzen, schmerzlosen Abschied definitiv zu früh. Zehn Uhr abends. In New York, der Stadt, die niemals schlief, bedeutete das quasi Nachmittag.

»Du sagst ja gar nichts«, schmollte Mary-Jo.

Sie sah so herzzerreißend enttäuscht aus, dass Annabelle sich zu einem Lächeln durchrang.

»Äh – jaha, also, ich freu mich schon irgendwie …«

»Jippiiee«, rief Marcus, seines Zeichens Barkeeper im Imperial Ambassador und Annabelles bester Kumpel. »Leute, es geht lo-hooos!«

Die anderen johlten begeistert. Bevor Annabelle noch irgendwelche Bedenken hervorstammeln konnte, stürmten auch schon alle an ihr vorbei in das winzige, hoffnungslos verkramte Appartement mit der atemberaubenden Aussicht auf die Skyline Manhattans. Annabelle liebte diesen Blick, vor allem nachts – ein Gebirge aus Wolkenkratzern, deren hell erleuchtete Fenster wie würfelförmige Sterne auf dem samtschwarzen Himmel glitzerten. Auch ihre Gäste waren hingerissen, dem vielstimmigen »Wow!« nach zu schließen. Die peinliche Unordnung schien niemanden zu stören. Irgendwer stellte Musik an, Gelächter flutete die Wohnung, aus der Küche hörte Annabelle Gläserklirren und das Rumpeln des Eiswürfelautomaten. Yo. Das nannte man wohl, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

»Hey, alles in Ordnung?« Mary-Jo hielt eine hübsch verpackte Schachtel hoch, deren blaue Schleife perfekt auf ihr kobaltblaues Strickkleid abgestimmt war. »Entschuldige bitte den kleinen Überfall. Wir dachten halt, dein neuer Job muss gefeiert werden. Und wer weiß, wann wir uns wiedersehen, wenn du demnächst in Singapur durchstartest. Apropos«, sie musterte die ringsum verstreuten Kleidungsstücke und Schuhe, »das sieht nicht gerade nach einer strukturierten Reisevorbereitung aus. Kommen wir ungelegen?«

Annabelle schloss erst die Wohnungstür, dann die Augen, vor denen leuchtende Punkte tanzten wie beschwipste Glühwürmchen. Kein Wunder, wenn man einen leeren Magen und den Kopf randvoll hatte. Komm runter, redete sie sich gut zu. Das Ganze ist schließlich total nett gemeint. Da darf man kein Spielverderber sein, da freut man sich, basta.

»Also, nein, das ist, hm, wirklich, eine, äh, tolle Idee«, wechselte sie ins Deutsche.

Ihre Freundin, deren Vater aus Wien stammte, war zweisprachig aufgewachsen, und Annabelle genoss es, wenn sie sich hier in Amerika in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.

»Bist ein bisschen hibbelig, was?«, erkundigte sich Mary-Jo mitfühlend.

»Ich bin nicht hibbelig, ich bin kurz vorm Durchdrehen«, hauchte Annabelle.

»Wegen deiner Aviaphobie?«

Ja, Annabelle litt unter Flugangst, immer schon, doch das war es nicht. Sie schüttelte den Kopf.

»Wegen des neuen Jobs?« Mary-Jo ließ nicht locker. »Ist es das? Komm schon, erzähl.«

Annabelle wand sich innerlich. Niederschmetternde Neuigkeiten zu erhalten war das eine. Sie laut auszusprechen machte hingegen irgendwie, nun ja, unumstößliche Tatsachen daraus. Aber es half ja nichts.

»Simon kommt nicht mit nach Singapur«, platzte sie heraus.

Na, super. Jetzt war es eine Tatsache. Eine sehr beunruhigende, wie sie Mary-Jos Miene entnehmen konnte.

»Alles war perfekt mit Simon, wirklich perfekt«, beteuerte sie. »Und dann? Als ob du einen Ikea-Schrank fast fertig aufgebaut hast, dann fehlt die letzte Schraube, und das Ding kracht in sich zusammen.«

»Die letzte Schraube«, wiederholte Mary-Jo mit hochgezogenen Augenbrauen. »So siehst du Simon also?«

»Wie soll ich ihn denn sonst sehen? Als den ganzen Werkzeugkasten? Er ist ein sehr, sehr wichtiger Teil meines Lebens, aber er ist nicht mein Leben. Keine Frau sollte sich ausschließlich über einen Mann definieren – mit freundlichen Grüßen, Ihre Emanzipationsbeauftragte.«

»Ladys? Braucht ihr Hilfe?«, ging Marcus dazwischen. Er war Berliner und wie Annabelle nach New York gezogen, um hier sein Glück zu machen. Lachend hielt er ein Glas mit einer bläulichen Flüssigkeit hoch, in der Eiswürfel klimperten. »Hier kommt was Kaltes, Belle, sexy auf der Zunge, frech im Abgang. Mary-Jo, möchtest du auch einen Drink?«

»Später, ich ermittle gerade an einer emotionalen Unfallstelle«, winkte Annabelles Freundin ab.

»Typisch Psychorette«, grinste Marcus.

»Na hör mal, ich bin staatlich geprüfte Therapeutin!«, hielt Mary-Jo dagegen.

»Ja, genau, deine Klienten bauen Luftschlösser, und du kassierst die Miete dafür.«

Annabelle nutzte die kleine Kabbelei, um ins Bad zu huschen, wo sie Slip und BH anzog und einen hüftlangen buntbedruckten Seidenkimono darüberwarf. Die schwarze Lederleggings, die noch über dem Badewannenrand hing, komplettierte ihr Outfit. Während sie ihr kurzes hellblondes Haar frottierte, beschloss sie beim Blick in den Spiegel, auf zeitraubende Verschönerungsaktionen zu verzichten. Ein bisschen Wimperntusche musste reichen, für ihre fünfunddreißig war sie schließlich noch ganz gut erhalten. Ihr zarter Porzellanteint zeigte kaum eine Falte, ihre hellbraunen, fast bernsteinfarbenen Augen leuchteten auch ohne großes Make-up. Nur das mit dem Lächeln sollte sie besser mal üben. Nach wie vor stand ihr der Schock deutlich ins Gesicht geschrieben. Und der Depri wegen Simon.

Gedankenverloren strich sie eine vorwitzige blonde Strähne aus ihrer Stirn. Seit zwei Jahren war sie mit dem Chefkoch des Imperial Ambassador zusammen. Eine Liebe, die buchstäblich durch den Magen gegangen war, denn der magische Moment hatte sich ereignet, als Simon ihr während einer Nachtschicht das beste Bœuf bourguignon aller Zeiten ins Büro gebracht hatte. Dekoriert mit einer roten Rose und seinem verführerischsten Lächeln. Das köstliche Essen war nicht die einzige Sünde dieser Nacht geblieben …

Vorbei. Da hatte sie gedacht, sie wüsste, wie der Hase läuft, und nun hoppelte die Realität ganz woandershin.

Als Annabelle wenige Minuten später aus dem Badezimmer trat, wurde sie mit großem Hallo empfangen. Jeder wollte ihr persönlich Glück wünschen, und es verstand sich von selbst, dass jeder mit ihr anstoßen wollte. Generalmanagerin des Mandalay Bay Hotels in Singapur zu werden war schließlich nicht irgendwas. Da sollte man es ordentlich krachen lassen, so die einhellige Meinung.

Sie gab sich einen Ruck. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, hatte ihre lebenskluge Oma immer gesagt. Zwar hatte Oma Martha dabei an runde Geburtstage, Kindstaufen und Schützenfeste gedacht – was halt so anstand in einem winzigen bayerischen Bergbauerndorf. Doch es stimmte schon: Man konnte nicht alles perfekt planen. Obwohl Annabelle ein echtes Organisationstalent war (einer der Gründe, warum sie als Hotelmanagerin eine beachtliche Karriere hingelegt hatte), gehörte Improvisation eben auch zum Leben. Und war sie nicht die geborene Gastgeberin, aus Überzeugung und aus Leidenschaft? Na los, dann improvisier mal schön!

In der proppenvollen Küche, wo Marcus Cocktails in den unglaublichsten Farben fabrizierte, checkte sie blitzschnell die Bestände von Kühlschrank und Kühltruhe. Der Rest war ein Kinderspiel. Unter den Augen ihrer staunenden Freunde mixte sie aus mehreren Packungen passierter Tomaten, zwei Salatgurken, vier Knoblauchzehen, etwas Instant-Rinderbrühe sowie zwei Handvoll tiefgefrorener Kräuter eine Gazpacho. Dazu gab es Cracker mit Frischkäse und dem Inhalt mehrerer Gläschen Lachskaviar. Danach verwandelte sie Tortilla-Chips mit Hilfe von Käse und tiefgefrorenen Shrimps in überbackene Leckereien. Erst als sie eine Nudeltüte aufriss, wurde sie von Mary-Jo gestoppt.

»Liebes, es ist wirklich phantastisch, was du hier im Handumdrehen zauberst, ehrlich, ich kenne niemanden, der sich so rührend um seine Gäste kümmert. Doch jetzt genieß einfach den Abend. Wir können ja Pizza bestellen, falls jemand ohnmächtig wird. Apropos: Du siehst aus, als ob du dich mal setzen müsstest. Was ist eigentlich passiert?«

Annabelle ließ die Nudeltüte sinken und lehnte sich an die Spüle. Wo anfangen, wo aufhören? Simon war ja nur das schmerzliche Tüpfelchen auf einem wackeligen i. Die letzten fünfzehn Jahre hatten ihr einiges abverlangt. Seit der Lehre als Hotelkauffrau in einem Münchner Nobelhotel war ihr Leben ein atemloses Stakkato stetiger Beförderungen und Umzüge gewesen. Nach Stationen in Düsseldorf, Dubai, London und Rom hatte sie in New York Quartier bezogen, nun stand der nächste Ortswechsel bevor. Doch neuerdings bezweifelte sie, ob dieses Höher-Schneller-Weiter wirklich das Gelbe vom Ei war. Schön, sie hatte unfassbar viel erreicht. Beruflich. Privat lief es eher mau. Sie wusste nicht mehr, wo sie hingehörte. Langsam stellte sich auch die Frage, wie eigentlich ihre Zukunft aussah. Beziehungstechnisch zum Beispiel.

»Na ja, ich hab ganz schön Fracksausen«, gab sie zu.

»Normal.« Mary-Jo legte ihre sommersprossige Stirn unter dem rötlichen Pony in Falten. »Es sei denn, das sind erste Anzeichen einer Cainophobie.«

Du lieber Himmel. Mary-Jo und ihre Phobien. Annabelle musste sich manchmal das Lachen verkneifen, wenn ihre Freundin mit diesem komischen Fachvokabular um die Ecke kam.

»Ist das was Tödliches, oder kann man damit alt werden?«, gluckste sie.

»Das ist die Furcht vor Neuem, eine sehr verbreitete Angststörung«, erläuterte Mary-Jo todernst. »Übrigens nicht zu verwechseln mit der Canophobie, der Angst vor Hunden.«

Manchmal fragte sich Annabelle ernsthaft, von welchem Stern Mary-Jo gefallen war. Ihre diplomierte Psychofreundin hatte ein goldenes Herz (und sogar in aller Eile Annabelles Wohnung aufgeräumt), war immer für sie da und für jeden Unsinn zu haben. Allerdings hatte sie auch die Manie, in jedem Menschen Sollbruchstellen zu wittern. Bei Annabelle hatte sie bereits eine Cheimaphobie diagnostiziert (die Angst vor Kälte, weil Annabelle bereits im Frühherbst mit Schal und Mütze herumlief). Außerdem eine Atelophobie (die Angst vor Unvollkommenheit, wegen Annabelles unübersehbaren Perfektionsdrangs). Beim letzten gemeinsamen Spaziergang im Central Park war dann noch eine Anatidaephobie hinzugekommen (die Angst, von Enten beobachtet zu werden, ein unsäglicher Quatsch).

»Ich habe mich auf Singapur gefreut, ehrlich«, beteuerte Annabelle. »Unbändig gefreut, so wie Simon.«

»Aha. Und warum kommt er dann nicht mit?«

Schulterzuckend betrachtete sie das Cocktailglas, das ihr Marcus im Vorbeigehen in die Hand gedrückt hatte.

»Eigentlich wollte Simon mir zuliebe einen schlechteren Job akzeptieren, in der Küchencrew des Mandalay Bay Hotels. Jetzt hat er sich’s im letzten Moment anders überlegt.«

Nachdenklich zupfte Mary-Jo an ihrem kobaltblauen Strickkleid herum. Sie hatte sich einen respektablen Namen als Paartherapeutin gemacht und fühlte sich deshalb auch in professioneller Hinsicht bemüßigt, ein Auge auf Annabelles Herzensangelegenheiten zu haben.

»Aha. Verstehe. Das Ganze entwickelt sich also in Richtung Fernbeziehung.«

»Fern – ja. Beziehung? Wohl kaum.«

»Ach Schatz. Heutzutage läuft das anders als früher. Schon mal von coevolutionärer Partnerschaft gehört?«

»Nee, was soll das nun wieder sein?«, fragte Annabelle skeptisch.

»Dabei entwickeln sich beide Partner stetig weiter und akzeptieren die Veränderung des anderen jeweils.«

»Klingt genial.« Annabelle zog einen Flunsch. »Und was ist, wenn man sich auseinanderentwickelt? Ganz ohne co, nur mit go?«

Mary-Jo fixierte irgendeinen Punkt zwischen Annabelles Augenbrauen. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterwusste. Was im Übrigen selten vorkam.

»Apropos go, lass uns rübergehen, ja?«

»Gern«, willigte Annabelle ein. »Und danke, dass du aufgeräumt hast.«

»Viel lieber würde ich deine Seele aufräumen. Es gibt da so einige dunkle Ecken, befürchte ich, die man mal entrümpeln müsste. Vor allem, was deine Beziehungen betrifft.«

»Nein, danke.« Annabelle versteifte sich unwillkürlich. Dieser ganze Psychokrempel war ihr noch nie geheuer gewesen. »Vielleicht im nächsten Leben.«

Sie hakte Mary-Jo unter und führte sie in das gepackt volle winzige Wohnzimmer, das als Arbeitszimmer und Schlafzimmer zugleich diente. Annabelle hatte das Appartement günstig möbliert gemietet (ein Glücksgriff, denn bezahlbare Wohnungen, die die Größe einer Flugzeugtoilette überschritten, bildeten in New York die Ausnahme). Doch so sah das Appartement halt auch aus: möbliert. Nicht gerade das warme Nest für Menschen wie Annabelle, die in einem urgemütlichen bayerischen Landhotel aufgewachsen waren. Richtig heimisch konnte man nicht werden in dem formatierten Allerweltsstil von weißer Schlafcouch, beigefarbenem Teppichboden und weißen Schleiflackmöbeln. Die Wohnung war eine Wartezone bis zum nächsten Job gewesen, mehr nicht. Ein Zuhause mit eingebautem Abschied. Dennoch erfasste Annabelle tiefe Melancholie. Sie war die Abschiede leid. Dieser fiel ihr besonders schwer, weil er die Trennung von Simon bedeutete.

Nun, wenigstens amüsierten sich ihre Gäste prächtig. Stimmengewirr erfüllte den Raum, fetzige Swingklänge ließen die Wände vibrieren, überall wurde geredet und gelacht. Eine aufgekratzte Stimmung lag in der Luft, eine quirlige, elektrisierende Aufbruchsstimmung.

Zu schade aber auch, dachte Annabelle. Alle freuen sich für mich, nur ich blase Trübsal, weil es nun ganz anders kommt als gedacht. Womit mal wieder bewiesen wäre, dass selbstgemachte Prognosen so verlässlich sind wie Wettervorhersagen und Horoskope.

Mit dem Handballen rieb sie sich über die Stirn, etwas durcheinander, vor allem aber wehmütig. Das hier war zwei Jahre lang ihr Leben gewesen. Nicht das winzige Ein-Zimmer-Appartement, nein, dieser bunt zusammengewürfelte liebenswürdige Haufen, die meisten von ihnen Kollegen. Alle waren sie Annabelle ans Herz gewachsen, und das nicht von ungefähr. Jedes Hotel bildete einen speziellen Mikrokosmos, bevölkert von den außergewöhnlichsten Menschen, die sich für die Gäste abrackerten. Um wirklich gut zu sein, musste man allerdings fachliche und charakterliche Qualitäten mitbringen. So wie Marcus, der auch noch morgens um fünf ein Ohr für einsame Barbesucher hatte, wenn sie ihm nach viel zu vielen Drinks ihre Sorgen aufdrängten. Oder wie Simon, der selbst den verwöhntesten und mit den eigenartigsten Allergien ausgestatteten Restaurantbesuchern eine Haute-Cuisine-Extrawurst nach der anderen briet. Annabelle wurde ganz schwummrig bei dem Gedanken, dass sie all das hinter sich lassen würde. Und Mary-Jo, ihre herzenswarme, teilverrückte Freundin.

Die Musik wechselte zu den Disco-Hits der Achtziger. You’re the first, the last, my everything, gurrte Barry White mit seiner kehligen Samtstimme. Ein Paar stand von der Couch auf, um zu tanzen, und Annabelle ließ sich mit Mary-Jo auf die frei gewordenen Plätze fallen. Du bist die Erste, die Letzte, mein Ein und Alles. Wo waren sie geblieben, die Männer, die einer Frau so was Wunderbares ins Ohr raunten? Wo blieb Simon?

»Ihr könnt telefonieren, skypen, whatsappen, Mails schreiben oder Fotos posten, es gibt so viele Möglichkeiten«, plapperte Mary-Jo drauflos, als hätte sie Annabelles Gedanken erraten.

»Ja, wir leben in interessanten Zeiten.«

Es klang resigniert, was Mary-Jo nicht entging. Beschwörend formte sie mit Daumen und Zeigefingern ein Herz.

»Erstens steht Simon gleich vor der Tür, weil ich ihn natürlich eingeladen habe. Zweitens: Ein paar tausend Kilometer sind heutzutage gar nichts. Liebe überwindet alles.«

Annabelle hätte so gern daran geglaubt. Ihr reicher Erfahrungsschatz legte jedoch das Gegenteil nahe. Sie arbeitete zu lange in der Hotelbranche, um sich noch irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Unmögliche Arbeitszeiten, Dauerstress und häufige Jobwechsel waren sowieso schon die ultimativen Beziehungskiller. Eine Liebe auf Distanz obendrauf hielt so lange wie ein Eiswürfel in der Hölle. Nämlich gar nicht. Hätte sie auf Singapur verzichten sollen? Einen Rückzieher machen, Simon zuliebe?

»Hier kommt der staatlich diplomierte Depressionsbetreuer!« Hüftwackelnd tänzelte Marcus heran und zog sie von der Couch hoch. »Los, Belle, jetzt wird abgehottet!«

Seine gutgelaunte Entschlossenheit wirkte ansteckend. Im Grunde war Annabelle ihm sogar dankbar. Wird schon irgendwie, sagte sie sich. Wenn es keine guten Antworten gibt, ergeben sich vielleicht demnächst bessere Fragen.

Etwas ungelenk zunächst, dann immer lockerer, überließ sie sich dem Rhythmus der Musik, zumal Marcus ein begnadeter Tänzer war, der es einfach draufhatte, seine Partnerin zu den aberwitzigsten Moves zu motivieren.

»You’re the first, the last …«, trällerte sie.

»Darling, bitteeee«, lachend drehte Marcus sie an einem Finger im Kreis. »Du kannst fast alles. Nur nicht singen!«

»Ja, deine Stimme hat das gewisse Kreissägen-Etwas«, kicherte Mary-Jo, die sich ebenfalls unter die Tanzenden gemischt hatte.

Auch gut. Annabelle tanzte, Annabelle lachte, Annabelle versuchte, sich in den Moment fallen zu lassen (ein Tipp von Mary-Jo, was sonst). Hauptsache, sie erwischte am nächsten Morgen ihren Flieger. Und fand vorher ihren Pass. Was allerdings ihr Liebesleben betraf, war sie weder the first, the last noch the everything von irgendwem. Nur Anna Elisabeth Maria Stadlmair, die in irgendetwas reingescheitert war, das sie immer noch nicht ganz verstand.

*

Es war halb drei Uhr morgens, als die letzten Gäste sich trollten und Annabelle zurück auf die Couch sank, todmüde und innerlich leer. Wieder und wieder hatte sie ihr Handy gecheckt, doch Simon war weder erschienen, noch hatte er auf ihre Anrufe reagiert. Auch jetzt griff sie wieder zu ihrem Smartphone. Nichts. Simon hüllte sich in verletzendes Schweigen.

»Das ist übrigens kein Handy, das ist ein legales Suchtmittel«, erklärte Mary-Jo, die geblieben war, um beim Aufräumen zu helfen, und gerade einen Rotweinfleck aus dem hochflorigen hellbeigen Teppichboden rieb.

»Er hat gesagt, dass er mich liebt. Für immer und ewig, das war die Ansage.« Annabelle seufzte tief. »Hab ich da irgendwas verpasst? Bedeutet für immer und ewig neuerdings bis Probleme auftauchen?«

»In unseren schnelllebigen Zeiten ist die Ewigkeit womöglich kürzer als früher«, philosophierte Mary-Jo.

Deprimiert schaute Annabelle durchs Fenster in den dunklen Nachthimmel hinaus. So schnelllebig konnte keine Epoche sein, dass zwei popelige Jahre als Ewigkeit durchgingen. Nanu? Warum verschwammen die leuchtenden Rechtecke in den Wolkenkratzern auf einmal? Weil es regnete? Oder weil sich ihre Augen mit Tränen füllten?

»Alle sagen: Veränderungen sind super, man sollte immer neue Herausforderungen annehmen«, schniefte sie. »Aber mittlerweile beschleicht mich der Verdacht, dass Veränderungen nicht automatisch was Positives bringen.«

Mary-Jo hörte auf, mit dem Lappen auf dem Teppich herumzureiben. Langsam erhob sie sich und richtete ihre Augen forschend auf Annabelle.

»Was möchtest du? Mann, Kind, trautes Heim? Die große weite Welt, attraktive Jobs? Oder alles auf einmal?«

»Wenn ich das wüsste …«

»Dann freu dich auf die Reise.« Ein verschmitzter Ausdruck trat in Mary-Jos Züge. »Fliegen ist ein Traum für Entscheidungsschwache, auch Menschen mit Dezidophobie genannt: Du musst lediglich zwischen zwei Menüs wählen und hast selten mehr als zwei halbwegs vernünftige Filme zur Auswahl.«

Ein gutgemeinter Aufheiterungsversuch, der Annabelles Stimmung nicht wesentlich heben konnte.

»Hm, ja.« Sie warf einen verstohlenen Blick auf das Handydisplay. »Das ist mal eine echt positive Perspektive.«

Mit einer sanften Geste nahm Mary-Jo ihr das Smartphone aus der Hand und setzte sich ebenfalls auf die Couch.

»Seit fünf Stunden hat Simon Feierabend. Aber nicht genügend Mumm, seinen hübschen Po hierherzubewegen, um dir persönlich die Zweifel wegzuküssen? Und da wartest du noch auf Messages?«

Annabelle starrte wieder nach draußen.

»Ja, ich weiß, das ist so doof, wie dem Weihnachtsbaum beim Nadeln zuzusehen.«

»Apropos: Fliegst du Weihnachten nach Hause?«

Mary-Jo und ihre »Apropos«. Der abrupte Themenwechsel stimmte Annabelle auch nicht froher.

»Keine Chance. Weihnachten und Silvester sind der absolute Extremsport in der Hotellerie. Heute ist der neunzehnte Dezember. Übermorgen trete ich den neuen Job an, danach muss ich erst mal zwei, drei Monate durchziehen, bevor ich mir so was wie ein paar Urlaubstage erlauben kann. Möglicherweise schaffe ich es irgendwann nach Ostern.«

Verständnislos schaute Mary-Jo in ihr Gesicht.

»Und deine Eltern? Nehmen das einfach so hin? Weihnachten ganz ohne ihre über alles geliebte Tochter?«

»Die sind doch selber Hoteliers«, erklärte Annabelle. »Die wissen, wie das läuft.«

»Ja, aber was ist mit dem Empty-Nest-Syndrom?« Mary-Jo wiegte bedenklich ihren Kopf hin und her. »Du bist das einzige Kind, trotzdem mussten sie dich gehen lassen. So was hinterlässt bei Eltern eine empfindliche emotionale Lücke, die an Weihnachten leicht zum Abgrund werden kann.«

Jetzt war es Annabelle, die ihre Freundin verständnislos anschaute. Gut, Mary-Jo galt als ebenso versierte wie erfolgreiche Psychologin, halb New York gab sich bei ihr die Klinke in die Hand. Andererseits lag es außerhalb von Annabelles Vorstellungskraft, dass ihre bodenständigen Eltern je über solche Dinge nachdachten.

»Empty – Nest?«, wiederholte sie gedehnt, als wäre das etwas Unanständiges. »Bei dem Trubel? Nein, das Nest ist keineswegs leer. Die beiden führen ein gutgehendes Hotel in den Alpen, und jetzt im Winter ist Hochsaison. Jedes Zimmer, jedes Bett, sogar Keller und Dachboden sind ausgebucht. Da gibt’s auch keine besinnlichen Weihnachten. Nur mit etwas Glück nette Gäste, die den zünftigen Weihnachtszauber zu schätzen wissen, statt sturzbetrunken im Tiefschnee zu landen. Alles schon vorgekommen. Du glaubst gar nicht, was Weihnachten abgeht im Hotel. Paare zerstreiten sich, Singles kriegen einen Moralischen, Kinder drehen durch, weil das Christkind die falschen Geschenke bringt. Und das alles musst du servicemäßig auffangen.«

»Hört sich an, als bräuchte man nicht nur Schulpsychologen, sondern auch Hotelpsychologen«, kicherte Mary-Jo.

»Ich hätte eindeutig Bedarf.« Annabelle stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. »Diese Weihnachten verbringe ich nämlich als Leider-Single-und-das-bleibt-auch-so.«

Wieder schielte sie auf das Handydisplay, und Mary-Jo folgte ihrem Blick.

»Wahrscheinlich war Simon nicht der heißersehnte Mann fürs Leben, Belle, nur eine exquisite kulinarische Erfahrung«, sagte sie leise.

»Du meinst, er war das Sahnehäubchen, nicht der Kuchen?«

»Ja, aber der Richtige kommt noch. Ganz bestimmt. Ich wünsche dir von Herzen, dass du bald einen Mann triffst, bei dem du dich öffnen kannst.«

»Simon sagte immer: Öffne mal dein Herz, ich möchte meinen Drink kalt stellen.«

Mary-Jo kicherte wie ein Schulmädchen.

»Dann war’s eben nicht der Richtige. Du bist nicht unterkühlt, Belle, du bist der warmherzigste Mensch, den ich kenne. Doch den meisten Männern fällt es vermutlich schwer, hinter deine toughe Fassade zu schauen. Du wirkst selbstbewusst, eigenständig. Das schüchtert Männer ein. Wart’s ab. Eines Tages steht einer vor dir, der das alles durchschaut und unbeirrt dein liebendes Herz erobert.«

»Sag jetzt bloß nicht, für jeden Topf gibt es einen Deckel«, brummte Annabelle. »Bei mir funktioniert das nicht. Bin wohl eine Pfanne.«

Jetzt lachte Mary-Jo lauthals, Annabelle nagte an ihrer Unterlippe. Falls ihr der Mann fürs Leben vorherbestimmt war, machte er sich ganz schön rar. Sie war fünfunddreißig. Was, wenn sie ihn verpasste? Was, wenn sie frohgemut an ihm vorbeirannte und er aus lauter Verzweiflung eine andere heiratete? Simon hatte sich jedenfalls als der Falsche entpuppt. Oder lag es doch an ihr? An ihrer toughen Art? War ihr womöglich gerade der Mann fürs Leben durch die Lappen gegangen? Ruf mich an, bat sie stumm. Ruf mich bitte, bitte an.

»Im Imperial Ambassador erzählt man sich, Simon hätte vielleicht eine andere«, seufzte sie.

»Ach, auf den Hotelklatsch würde ich nichts geben«, winkte Mary-Jo ab. »Die Leute hören die Hälfte, verstehen ein Viertel und reden das Doppelte.«

»Soll ich ihn einfach anrufen? Vielleicht ist ja etwas passiert?«

»Wenn ein Mann dich ignoriert, solltest du ihn auf keinen Fall dabei stören!«, widersprach Mary-Jo. »In neunundneunzig Prozent aller Fälle ist das Absicht. Also kein defektes Handy, kein Autounfall und ein Erdbeben schon gar nicht.« Sie legte einen Arm um Annabelle. »Ich weiß, es tut höllisch weh, wenn eine Beziehung endet.«

»Oder er kann sich nicht entscheiden. Dezimalphobie, oder wie du das nennst.«

»Dezidophobie. Dazu muss ich aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung leider sagen: Wenn sich jemand nicht für dich entscheiden kann, hat er sich bereits gegen dich entschieden. Grausam, aber wahr. Dein Handy zu hypnotisieren ist jedenfalls keine Lösung. Lass uns lieber die Partyfotos anschauen, ja?«

Mary-Jo tippte den Fotospeicher an, und die beiden Freundinnen beugten sich übers Display. Lauter schräge Selfies von Annabelle mit ihren Überraschungsgästen erschienen. Momentaufnahmen, die einiges über die cocktailselige Atmosphäre des Abends und über ein ungeschminktes Gesicht im Ausnahmezustand erzählten.

»Ich sehe ja furchtbar aus!«, entfuhr es ihr.

»Tja, du denkst, das Handy ist dein bester Freund, doch in Wahrheit hasst es dich«, stöhnte Mary-Jo. »Liegt auf dem Frühstückstisch und nervt, bis der Kaffee kalt wird. Starrt dich vorwurfsvoll an, wenn du arbeiten willst. Stört dich beim Mittagessen, vermasselt deine Dates und quengelt nachts so lange rum, bis es mit ins Bett darf.«

»Redet ihr von Kindern?«, fragte Marcus, der mit einem Handtuch über dem Arm aus der Küche geschlendert kam.

Herrje. Auch so ein neuralgisches Thema. Abgesehen davon, dass Langzeitbeziehungen in der Hotelbranche so wahrscheinlich waren wie ortskundige Taxifahrer in New York, gehörten Kinder eindeutig zu den karrierefeindlichen Komplikationen. Wer wie Annabelle im Schichtdienst arbeitete und allzeit bereit sein musste, konnte sich kein Baby leisten. Es sei denn, sie nahm eine Auszeit. Komplett. Ach ja, und ein Vater gehörte wohl auch dazu.

»Ladys, ich warne euch«, brummte Marcus. »Kinder – zehn Sekunden Spaß, dreißig Jahre Ärger. Nein. Blödsinn. Hab ja selber zwei, und die sind Zucker.«

»Gut, dass dir das noch eingefallen ist«, erwiderte Mary-Jo mit deutlichem Tadel in der Stimme.

Um von seinem Ausrutscher abzulenken, wirbelte Marcus das feuchte Geschirrtuch durch die Luft.

»In der Küche ist klar Schiff. Alles gespült und weggeräumt.« Er schaute von Mary-Jo zu Annabelle. »Störe ich? Habt ihr gerade so was wie ein … äh, Frauengespräch?«

Mary-Jo schlug die Beine übereinander. Sehr abgezirkelt, sehr kontrolliert, so wie sie es vermutlich auch bei ihren Klienten tat, um selbst angesichts der größten Dramen Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen.

»Unsere Freundin zeigt deutliche Symptome einer beginnenden Anuptaphobie.«

Annabelle riss die Augen auf.

»Anup… – bitte, was?«

»Anuptaphobie. Die Angst, für immer Single zu bleiben. Und das bloß, weil Simon dich im Stich lässt.«

»So eine naturtrübe Untertasse!« Missbilligend verzog Marcus den Mund. »Wusstet ihr, dass Menschen in festen Beziehungen eine höhere Lebenserwartung haben als Singles? Also ist dieser Mistkerl so was wie ein fieser Lebensverkürzer. Es sei denn, Annabelle verliebt sich ganz schnell neu, für immer und ewig. Belle? Botschaft angekommen?«

Sie seufzte so vernehmlich, als würde ihr jemand die Luft rauslassen.

»Gegenfrage: Glaubst du an die ewige Liebe?«

Marcus ließ sich neben sie auf die Couchlehne sinken.

»Natürlich gibt es sie, die ewige Liebe. Die Frage ist nur: Wie weit ist sie von unserem Sonnensystem entfernt, und hat sie überhaupt durchgehend geöffnet?«

Annabelle schlang ihre Finger ineinander. Das war ja nur ein typischer Marcus-Spruch. In Wirklichkeit hatte er die Liebe seines Lebens längst gefunden und ging ganz selbstverständlich davon aus, dass erst der vielzitierte Tod diese Bilderbuchehe scheiden würde.

»Warum hat Simon überhaupt gesagt, dass er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann?«, dachte sie laut nach.

»Es gibt eine Menge, was Männer sagen und nicht so meinen«, entgegnete Marcus. »Zum Beispiel: Eine Frau wie dich habe ich noch nie getroffen, es war wunderschön, ich ruf dich an.«

»Das ist alles andere als zielführend«, wurde er von Mary-Jo gerügt.

Marcus biss sich schuldbewusst auf die Lippen, dann stupste er Annabelle an.

»Was kann ich dir anbieten, damit deine Lebensgeister zurückkehren? Einen Moscow Mule? Ein Glas Champagner? Eine Bloody Mary?«

»Nein, danke. Ich hatte schon fünf Drinks, das sollte reichen.«

»Sieben, aber ich würde natürlich niemals mitzählen.« Schmunzelnd legte sich Marcus das Handtuch um den Hals. »Weißt du, was dich wirklich aufbaut? Sende jeden Morgen die Nachricht Du bist eine wunderbare Frau an dein Handy, auf diese Weise bekommst du täglich ein Gratiskompliment.«

»Kannst du bitte mal ernst bleiben?«, fauchte Mary-Jo ihn an. »Annabelle braucht keine albernen Sprüche, sie ist eine gestandene Frau. Und wahnsinnig erfolgreich. Warum hat man sie denn nach Singapur abgeworben? Na? Weil sie die Beste ist. Sie hat dem Imperial Ambassador einen neuen zeitgemäßen Look gegeben, die organisatorischen Abläufe gestrafft, die Internetpräsenz perfektioniert, das kulinarische Angebot verfeinert, Erlebnispakete erfunden, die Übernachtungszahlen verdreifacht. Das muss ihr erst mal jemand nachmachen.«

Marcus hob zustimmend einen Daumen.

»Vergiss nicht die Single hour zwischen sieben und acht, mit einem Drink aufs Haus für jeden Beziehungsversehrten. Das hat eingeschlagen wie Bombe.«

»Annabelle ist unglaublich«, schwärmte Mary-Jo.

»Sag ich doch: eine Knallerfrau«, nickte Marcus.

Warum konnte sie sich nicht über die Komplimente freuen? Leicht abwesend zog Annabelle ihren Glücksbringer aus der Spalte zwischen den Rückenpolstern der Couch: einen kleinen Teddybären in bayerischer Tracht, stilecht mit Lederhose, kariertem Hemd und Gamsbarthut im Miniaturformat. Sie nannte ihn Herrn Huber. Seit sie ihr Heimatdorf verlassen hatte, war Herr Huber immer dabei gewesen. Er hatte so einiges mitgemacht, und das sah man ihm auch an. Sein braunes Fell hatte sich stark gelichtet, die einst schwarzglänzende Stupsnase wies ein stumpfes Grau auf. Dennoch hätte sich Annabelle niemals von ihm getrennt. Herr Huber war ein äußerst geduldiger Zuhörer. Ihm konnte sie alles anvertrauen. Auch jetzt sprach sie eher zu dem Teddybären als zu ihren Freunden.

»Mein Leben lang habe ich Gästeseifen abgezählt, Abflüsse auf Haare kontrolliert, Betthupferl auf Kopfkissen gelegt. Ich habe Einstellungsgespräche geführt, Mitarbeiter gecoacht und abends an originellen Konzepten gebastelt, um Hotels attraktiver zu machen. Aber die Gäste kommen und gehen. So wie meine Lover. Was bleibt am Ende des Tages?«

Als keine Antwort kam (Herr Huber enthielt sich jedes Kommentars), sah sie zur Uhr. Kurz vor drei. Für tiefschürfende Grübeleien war jetzt absolut der falsche Zeitpunkt. Koch dir einen starken Kaffee, sagte sie sich, und dann erledige alles, was noch auf deiner To-do-Liste steht.

»Was ist das eigentlich für ein komisches Klopfen?«, fragte Marcus in die Stille hinein, die entstanden war.

»Das Pochen meines einsamen Herzens«, scherzte Annabelle düster.

»Nee, ein Anruf.« Mary-Jo deutete auf das Handy, das rhythmische Klopfzeichen von sich gab. »Mitten in der Nacht? Willst du trotzdem rangehen?«

Annabelles Herz vollführte einen doppelten Salto bei dem Gedanken, dass es Simon sein könnte. Vielleicht hatte er sich ja doch noch dazu durchgerungen, die Liebe siegen zu lassen. Oder kam wenigstens für eine Abschiedsvorstellung mit romantischen Treueschwüren vorbei. Behutsam legte sie Herrn Huber beiseite und schnappte sich das Handy. Ihre Augen weiteten sich, als sie die vertraute Nummer auf dem Display erkannte. Nicht Simons, nein, eine deutsche Nummer.

»Kind?« Die Stimme ihrer Mutter klang ungewohnt zittrig. »Es ist was Schreckliches passiert.«

Mit einem Schlag war Annabelle hellwach – so wach, wie man frühmorgens nach einer ausgelassenen Party und fünf, nein, sieben Drinks eben sein konnte. Ein eiskalter Schauer überlief ihren Rücken.

»Was denn, Mama? Was ist passiert?«

»Papa hatte einen Schlaganfall. Er liegt im Koma, wir befürchten das Schlimmste. Du musst sofort herkommen, Kind, bitte, ich weiß nicht, wie ich das sonst schaffen soll.«

Großer Gott, Papa? Im Koma? Wie betäubt saß Annabelle auf der Couch, hin und her gerissen zwischen widersprüchlichsten Gefühlen, die sich einfach selbständig machten und einen wahren Höllentanz aufführten. Erschütterung, Panik, Entsetzen, Mitgefühl, aber auch Bedauern und eine winzige Spur Abwehr rangen miteinander und kämpften erbittert um Aufmerksamkeit.

»Oje, Mama, ich fliege in wenigen Stunden nach Singapur, deshalb …«

»Kind, ich sage das nur ungern«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort, »doch ich bin völlig am Ende. Du wirst hier gebraucht. Dringend.«

Annabelles Herz krampfte sich zusammen. Vor ihrem geistigen Auge erschien das »Edelweiß«, jenes urgemütliche kleine Hotel in Puxdorf, Oberbayern, das sich seit Generationen in Familienbesitz befand. Dort hatte sie gelernt, was gastgeberische Qualitäten bedeuteten – und der eiserne Zusammenhalt einer Familie, die gemeinsam durch dick und dünn ging. Andere Bilder schoben sich dazwischen. Das Mandalay Bay Hotel in Singapur, ein gigantischer Glaskasten im Hochglanzdesign, mondän, luxuriös, mit der Verheißung auf einen Traumjob.

»Du bist ja weiß wie die Wand, was ist denn?«, fragte Mary-Jo besorgt.

Annabelle legte eine Hand auf das Smartphone.

»Mein Vater hatte einen Schlaganfall«, flüsterte sie. »Daheim bricht gerade alles zusammen.«

Moment mal – daheim? Hatte sie wirklich daheim gesagt? Seit vielen Jahren antwortete sie auf die Frage, wo sie zu Hause sei: »Da, wo mein Bett steht und wo sich mein Handy automatisch mit dem WLAN verbindet.« Aber jetzt hatte sie dieses Wort ausgesprochen, das etwas in ihr berührte, etwas Halbvergessenes zum Klingen brachte, ganz, ganz tief in ihrer Herzgrube: daheim. Im selben Augenblick wusste sie, was zu tun war.

Kapitel 1

20. Dezember, noch vier Tage bis Heiligabend

Hundemüde und beladen mit einem schweren Rucksack, zog Annabelle ihren riesigen Rollkoffer durch die Gepäckhalle des Münchner Flughafens. Währenddessen überlegte sie beklommen, was sie wohl in Puxdorf erwartete. Chaos? Dramen? Katastrophen? Sie fürchtete sich ein wenig vor diesem Besuch. Ihr Vater, ein baumstarker Hüne, war nie ernstlich krank gewesen, ihre äußerst patente Mutter hatte noch nie so furchtbar kläglich geklungen wie gestern am Telefon. Dunkel schwante Annabelle, dass die Kindheit endgültig vorbei war, wenn die Eltern Hilfe brauchten.

Na, wenigstens hast du eine ganze Woche eingeplant, mehr als sonst, beruhigte sie sich. Das sollte reichen, um Trost zu spenden, Unterstützung zu organisieren und mit dem guten Gefühl abzureisen, dass du deine Tochterpflichten erfüllt hast. Anständig. Wie es sich gehört.

Jemand schob sich grob an ihr vorbei und warf sie dabei fast um. Frechheit. Ohnehin ging es in der Gepäckhalle zu wie beim Oktoberfest. Überall wurde munter ausgeteilt: ein Rempeln hier, ein Drängeln dort, hinzu kam der beherzte Einsatz von Gepäckstücken, denen Annabelle gar nicht so schnell ausweichen konnte, wie die Dinger auftauchten. Zack, und schon wieder hatte sie eine Reisetasche in den Kniekehlen. Der dazugehörige Mann, Typ arroganter Anzugträger, entschuldigte sich nicht einmal, sondern eilte zielstrebig davon.

Na toll. Kopfschüttelnd bahnte sich Annabelle weiter einen Weg durchs Gewühl, hielt jedoch im Gegensatz zu ihren lieben Mitmenschen die Regeln der Höflichkeit ein. Für ihr wiederholtes »Excuse me« erntete sie allerdings verwunderte Blicke. Ach so. Sie hatte fast vergessen, wie es war, wenn alle ihre Muttersprache beherrschten. Um ein Haar hätte sie sogar den uniformierten Beamten auf Englisch begrüßt, der sie mit einer knappen Geste aufforderte stehen zu bleiben.

»Grüß Gott, junge Frau. Haben Sie zollpflichtige Waren im Gepäck?«

»Nein, nur Dinge für den persönlichen Gebrauch.«

»Bitte den Koffer öffnen«, befahl der Zollbeamte.

Mit dem Kinn deutete er auf einen länglichen Stahltisch. Ächzend hievte Annabelle ihr Ungetüm von Koffer darauf und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Die Reise in die heimatlichen Gefilde ging ja super los. Erst das Gedrängel, und nun auch noch eine hochoffizielle Durchsuchungsaktion.

Als sie sich wieder aufrichtete, schwankte sie leicht. Im Grunde konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten nach den Strapazen, die hinter ihr lagen. Beim Mandalay Bay um eine Woche Aufschub zu ersuchen (Wie bitte? Sie kommen erst an Silvester? Das ist nicht Ihr Ernst!), den Flug nach Singapur zu canceln (eine Entscheidung, die Unsummen verbrannt hatte) und einen Last-Minute-Flug nach München zu ergattern (eine nicht minder teure, dazu äußerst aufreibende Sache) waren noch die einfacheren Herausforderungen gewesen. Schwerer wog, dass sie emotional auf der letzten Rille surfte.

Während des gesamten Flugs hatte sie kein Auge zugetan. Liebend gern hätte sie ihre Aviaphobie, diese höchst lästige Flugangst, gegen das Ding mit den Enten eingetauscht. So hatte sie nur zitternd in ihrem Sitz gekauert, Herrn Huber durchgeknetet und für ihren Vater ein Stoßgebet nach dem anderen himmelwärts geschickt. Neben der Sorge wegen seines Schlaganfalls belasteten sie Schuldgefühle. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr in Puxdorf gewesen. Zwei lange Jahre, die dennoch irrwitzig schnell vorübergeflogen waren, angefüllt mit Arbeit, nochmals Arbeit, neuen Freunden und, tja, mit Simon.

Kurz vor dem Boarding hatte er sich dann doch noch gemeldet. Per WhatsApp, mit einem komplett unromantischen Gute Reise, viel Erfolg. Annabelle war keine Antwort eingefallen. Zu distanziert hatte das geklungen, zu endgültig. Simon war Geschichte. Und nun musste sie sich auch noch eingestehen, dass es keine nachvollziehbare Begründung gab, warum sie ihrer Familie nicht eher einen Besuch abgestattet hatte. Was war nur mit ihr los gewesen? Aus dem Auge, aus dem Sinn? Nein, sie liebte ihre Eltern, und ganz besonders liebte sie Oma Martha, die immer für sie dagewesen war, wenn ihre vielbeschäftigten Eltern keine Zeit gehabt hatten.

»Was ist das da?«, fragte der Zollbeamte, womit er Annabelle unsanft in die Gegenwart zurückholte.

»Excuse me? Ich meine: Wie bitte?«

Einigermaßen verdattert schaute sie in den geöffneten Koffer. Zwischen Pullovern, Strümpfen und Schuhsäckchen lag eine XXL-Packung ihres Lieblingsparfums. Vor einiger Zeit hatte sie den kleinen Laden in Soho entdeckt, wo man für jeden Kunden einen individuellen Duft mixte. Ihrer hieß Night Fever, mit warmen, würzigen Kopfnoten und einer spritzigen Spur Orange. Ob Mary-Jo das Parfum in den Koffer geschmuggelt hatte? Als Abschiedsgeschenk? Es war alles so schnell gegangen: online nach Flügen fahnden, hektisches Packen, Passsuche, zum Flughafen rasen. Annabelle spürte einen dicken Kloß im Hals.

»Das ist Night Fever, mein ganz persönliches Parfum aus New York, wissen Sie …«

»Persönlich oder nicht – was hat das gekostet?«

»Hm, da muss ich mal nachdenken …«

Sie schämte sich ein bisschen, ihm den schwindelerregenden Preis zu nennen. Ohnehin war es ein teurer Duft, und hier handelte es sich um die Luxusversion in einem aufwendig geschliffenen dunkelvioletten Kristallflakon, der unter Zellophanfolie auf einem weißseidenen Kissen ruhte. Mary-Jo war vollkommen verrückt. Nein, unglaublich lieb und großzügig. Die beste Freundin, die man sich wünschen konnte.

Der Kloß in Annabelles Hals wurde stetig dicker. Wie konntest du nur alles in New York aufgeben? Für einen besseren Job deine Freunde zurücklassen, richtig gute Freunde, und sogar deine Beziehung auf dem Altar der heiligen Karriere opfern? All das erschien ihr auf einmal so absurd wie die Tatsache, dass sie seit zwei Jahren nicht bei ihren Eltern gewesen war. Als hätte sie unter Drogen gestanden. Ja, vermutlich war Ehrgeiz eine Art Droge.

»Ich brauche den Preis«, knurrte der Beamte.

»Nur ein paar Dollar«, schwindelte sie, weil ihr allmählich aufging, dass dieses Präsent finanziell heftig zu Buche schlagen könnte.

»Die Quittung, bitte.«

Verflixt, auch das noch. Annabelle stützte sich mit beiden Händen auf den Stahltisch. Sofern dieser gestrenge Beamte sie nicht vom Fleck weg verhaftete (eine realistische Option, so unerbittlich, wie der rüberkam), würde sie entweder umkippen oder im Stehen einschlafen, was so ziemlich aufs Selbe hinauslief.

»Sehr geehrter Herr Zolloberkommissar«, murmelte sie mit letzter Kraft, »ich habe neuneinhalb Stunden Flug hinter mir, seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen, mein Vater liegt im Koma, mein Freund hat mich verlassen, und meine beste Freundin …«

Der Rest ging in einem halb erstickten Schluchzen unter.

»Dies ist eine intakte Verpackung ohne erkennbare Gebrauchsspuren, kann also prinzipiell weiterveräußert werden«, spulte der Beamte seinen offenkundig auswendig gelernten Text ab. »Deshalb müssen Sie das Parfum – es sieht kostspielig aus, nebenbei gesagt – bei der Einfuhr unter Vorlage einer korrekten Quittung verzollen. Ausnahmen sind nicht gestattet.«

»Ach nein?«, ertönte plötzlich eine sonore Männerstimme.

Annabelle fuhr herum. Hinter ihr stand der schnöselige Anzugträger. Genau der, der ihr seine Reisetasche in die Kniekehlen gerammt hatte.

»Ich habe meiner Freundin das Parfum gekauft, am New Yorker Flughafen«, behauptete er, fischte einen Kassenzettel aus seiner Anzugjacke und hielt ihn dem Beamten vor die Nase. »Bitte sehr, hier ist die Quittung. Es war übrigens ein Geschenk und muss daher nicht verzollt werden.«

Der Beamte studierte eine Weile den Zettel, bevor er sich wieder Annabelle zuwandte.

»Dann nehmen Sie in Gottes Namen Ihr Gepäck, und gehen Sie weiter.«

Hui. Das war ja gerade noch mal gutgegangen. Mit klammen Fingern schloss sie den Koffer und wuchtete ihn herunter vom Tisch. Furchtsam spielte sie mit dem Gurt des Rucksacks, in dem Weihnachtsgeschenke für ihre Familie lagerten, gut bewacht von Herrn Huber: eine Armbanduhr mit Freiheitsstatue für ihren Vater, ein edles Seidentuch für ihre Mutter, eine bestickte Bluse für Oma Martha. Falls jetzt auch noch der Rucksack gefilzt wurde, musste sie sich auf weitere nervtötende Diskussionen einstellen.

Nichts dergleichen geschah. Der Beamte beschäftigte sich bereits mit dem Herrn hinter ihr, und so konnte sie unbehelligt in Richtung Ankunftshalle trotten. Sie näherte sich schon den Glastüren, die nach draußen führten, als der Anzugträger sie einholte.

»Gern geschehen – auch wenn ich wohl ewig auf ein Dankeschön warten muss.«

Wie bitte? Annabelle blieb stehen und musterte das sonnenbankgetoastete Gesicht unter dem akkurat gestutzten dunklen Haar. Gut, es stimmte, der Typ hatte sie am Zoll aus einer misslichen Lage befreit. Andererseits konnte sie so gar nichts mit dieser Sorte Mann anfangen. In den Nobelherbergen, in denen sie arbeitete, wimmelte es von derartigen Alphatieren, die mit teuren Maßanzügen auftrumpften, elastisch in den Knien wippten und ein forderndes Selbstbewusstsein zur Schau trugen, als gehörte ihnen der ganze Bumms.

»Was sind Sie?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Eine Art Schutzengel im Nadelstreifen?«

Lässig fingerte er ein Stückchen elfenbeinfarbener Pappe aus seinem Jackett.

»Peter McDormand Enterprises, New York, München, Kapstadt. Sie sind mir schon beim Abflug in New York aufgefallen. Hier, meine Karte. Falls Sie mal wieder in Schwierigkeiten stecken.«

»Ach, und dann schnallen Sie Ihre Flügel um und kommen einfach so angeflogen?«

»Probieren Sie’s aus«, grinste er. »Wer mich erst einmal näher kennt, hält mich für unentbehrlich.«

Ja, dachte Annabelle, so unentbehrlich wie ein Moskitonetz am Nordpol.

»Für Sie würde ich sogar einen Helikopter mieten«, trumpfte er weiter auf. »Oder einen Privatjet. Hab gerade meinen Pilotenschein gemacht, damit ich jederzeit nach Südafrika fliegen kann, wo ich ein komfortables Strandhaus mein Eigen nenne.«

Herr im Himmel, musste der Typ so angeben? Was versprach er sich davon? Dass sie in Ohnmacht fiel, nur weil er einen auf dicke Hose machte? Ist doch immer dasselbe, stöhnte Annabelle innerlich. Männer, die betrunken sind, denken, sie könnten super tanzen, Männer, die ein fettes Bankkonto haben, sind überzeugt, sie hätten damit zugleich die Don-Juan-Lizenz erworben.

»Tut mir leid«, erwiderte sie, »ich bin nicht käuflich.«

Wieder grinste er, auf diese siegesgewisse Art eines Mannes, der sich für unwiderstehlich hielt.

»Mal unter uns: Wer sagt, er sei nicht käuflich, den hat nur noch keiner gewollt.«

Unverschämtheit. Was nahm sich dieser Kerl heraus? Annabelle stopfte seine Visitenkarte derart achtlos in ihre Daunenjacke, dass noch dem Begriffsstutzigsten klarwerden musste, wo das blöde Ding landen würde: im nächsten Papierkorb.

»Viel Glück noch beim Menschenshopping«, nuschelte sie unter Aufbietung ihrer gesamten Contenance, um naheliegende Kraftausdrücke zu vermeiden.

»Sie kann man wohl nur ironiefrei bespaßen«, grummelte er verstimmt. »Könnte es sein, dass Sie gerade sehr uncharmant auftreten?«

Annabelle blies die Backen auf.

»Da täuschen Sie sich. Heutzutage ist es schwer, richtig uncharmant zu sein. Die männliche Konkurrenz ist zu groß.«

Damit ließ sie ihren aufdringlichen Retter stehen und machte sich auf den Weg nach draußen. Sie hatte wahrlich keine Zeit zu verlieren. Vor ihr lag eine längere Zugfahrt in die Berge, danach würde sie einen Bus nehmen müssen, der sie in die Nähe von Puxdorf brachte. Der Ort selbst war so winzig und lag so abgeschieden hoch im Gebirge, dass es keine öffentlichen Verkehrsmittel dorthin gab. Deshalb hoffte sie auf Max, den langjährigen Hoteldiener, ein Puxdorfer Urgestein und dem »Edelweiß« trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch mit Leib und Seele verbunden. Ja, ganz sicher würde er sie abholen. So sicher, wie ein klappriger alter Mercedes sein konnte, der von einem ebenso klapprigen alten Herrn gesteuert wurde.

»Vergessen Sie mich nicht!«, rief ihr der Anzugträger hinterher. »Wie heißen Sie überhaupt?«

Anna Elisabeth Maria Stadlmair, hätte sie antworten können. Belle für meine guten Freunde, Anna bei meinen Eltern, Anni bei Oma Martha. Annabelle ist der Name, den ich mir selbst gegeben habe, weil er am besten zu mir passt. Sie unterließ es jedoch wohlweislich, ihm all das auf die Nase zu binden. Und er? Setzte noch eins drauf.

»Kleiner Tipp, junge Dame: Sie müssen langsam mal nett werden, Sie bleiben nämlich nicht ewig hübsch.«

So’n Zäpfchen. Falls er hoffte, sie würde sich daraufhin doch noch einmal umdrehen, irrte er sich gewaltig. Warum sollte sie sich auch weiter mit einem Mann abgeben, der die soziale Intelligenz eines rabaukigen Drittklässlers aufwies? Annabelle beschleunigte ihren Schritt. Sie brauchte dringend frische Luft.

Draußen wirbelte ihr Schneegestöber entgegen. Der Boden war mit einer gefrorenen matschig weißen Schicht bedeckt, die unter ihren Lederstiefeletten knirschte. Offenbar hatte es der bayerische Winter ziemlich eilig in diesem Jahr. Viel zu eilig für Annabelles Geschmack. Fröstelnd schloss sie ihre beigefarbene Daunenjacke und fischte eine Wollmütze, zwei dicke Schals sowie geringelte Fausthandschuhe aus ihrem Rucksack (ja, zwei Schals, sie fror nun einmal leicht, litt aber definitiv nicht unter diesem Dings, dieser Cheimaphobie).

In New York hatten noch recht milde Temperaturen geherrscht … Was Mary-Jo wohl in diesem Moment machte? Beglückte sie gerade einen Klienten mit ihren »Apropos«? Annabelle vermisste sie jetzt schon. Rasch schrieb sie ihrer Freundin eine Nachricht, in der sie sich für das Parfum bedankte. Danach rief sie ihre Mutter an.

»Mama? Ja, ich bin gut gelandet. Wie geht es Papa?«

»Ach Kind, wir freuen uns alle so auf dich!« Therese Stadlmairs Stimme rutschte eine halbe Oktave höher. »Bist du auch warm genug angezogen?«

Mütter. Mit fünfunddreißig war man natürlich viel zu jung und unbedarft, um sich witterungsgerecht zu kleiden.

»Eingepackt bis Unterkante Oberlippe, Mama. Was ist denn nun mit Papa?«

»Stell dir vor, er ist heute Morgen aus dem Koma erwacht! Und völlig aus dem Häuschen, dass du kommst!«

Endlich gute Nachrichten. Annabelle fiel ein Stein vom Herzen.

»Gott sei Dank, dass es Papa bessergeht. Offen gestanden würde ich ihn gern als Erstes besuchen. In welchem Krankenhaus liegt er denn? In Tannstadt?«

»Krankenhaus?«, kam es entrüstet aus dem Handy. »Jessas, ich würde meinen Alois doch niemals in eine Klinik abschieben! Er ist hier. Bei uns.«

»Mama.« Annabelle schluckte. »So ein Schlaganfall ist keine harmlose Magenverstimmung. Papa muss ständig unter ärztlicher Kontrolle bleiben, sonst kann es mordsgefährlich werden.«

»Keine Sorge, Doktor Mergentheimer schaut jeden Tag vorbei. Morgens und abends.«

Wie vom Donner gerührt starrte Annabelle in das Schneegestöber. Ja, sie lebte im einundzwanzigsten Jahrhundert. Nein, die moderne Zivilisation war noch nicht bis Puxdorf vorgedrungen. Mit den behandschuhten Fingern trommelte sie gegen ihren Koffer.

»Herrje, Mama! Doktor Mergentheimer weiß, wie man Hunde von Flöhen befreit und Kälber auf die Welt bringt, aber …«

»Hunger ist der beste Koch, Erfahrung macht einen guten Arzt«, befand ihre Mutter derart resolut, dass jeder weitere Widerspruch zwecklos schien. »Und Krankenhäuser heißen so, weil man da erst richtig krank wird. Hier bei uns ist Papa bestens aufgehoben. Du siehst ja, er hat sich schon recht gut erholt.«

Herrschaftszeiten. Annabelle umklammerte das Handy, aus dem nun ein wahrer Redeschwall über die Wunderkräfte von Blutegeln, Pferdesalbe und Brennnesseltee quoll. Allerhöchste Zeit, dass sie eingriff. Vor ihrer Abreise hatte sie ein paar Fakten über Schlaganfälle gegoogelt, deshalb wusste sie, welche Risiken so etwas mit sich brachte: Sehstörungen, Taubheit, Lähmungen, die Liste war erschreckend lang. Und da legte ihre Mutter das Leben ihres Mannes in die Hände des örtlichen Tierarztes?

»Also, dann spute dich, damit du pünktlich zum Abendessen hier bist«, schloss Therese Stadlmair ihren kleinen medizinischen Vortrag. »Bring ordentlich Hunger mit. Oma Martha wird dir dein Leibgericht auftischen: knusprige Schweinshaxe mit Semmelknödeln.«

»Oh, äh …«, stotterte Annabelle.

»Und zum Nachtisch macht sie dir Kaiserschmarrn mit Zwetschgenkompott«, ergänzte ihre Mutter den kulinarischen Ausblick. »Mit viel Butter und gerösteten Mandeln, so wie du es gern hast. Bis später!«

Puh. Nachdem Annabelle das Gespräch beendet hatte, atmete sie einmal tief durch. Schweinshaxe? Kaiserschmarrn? Einst waren das tatsächlich ihre Leibgerichte gewesen, damals, zu Kinderzeiten. Seither hatten sich ihre Geschmacksknospen allerdings beträchtlich weiterentwickelt. Fünfzehn Jahre in den besten Hotels, das bedeutete auch, dass man die Freuden der gehobenen Küche schätzen lernte. Nicht zuletzt durch Simons exquisite Kochkünste war ihr Gaumen an leichte, raffinierte Genüsse gewöhnt statt an die fettreiche bayerische Kost. Ach Simon.

Zaudernd drehte sie das Smartphone in den Händen. Tu’s nicht. Und wenn doch? Wie von einem geheimen Sog gesteuert, wählte sie Simons Nummer. Die Mailbox sprang an. Ohne groß zu überlegen, sprudelte Annabelle los, betont munter, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, dies sei ein Bettelanruf.

»Hi, wollte dir nur sagen, dass ich richtig super ohne dich klarkomme. Echt jetzt. Mir geht’s total super. Ich bin auch gar nicht in Singapur, sondern bei meinen Eltern in Bayern, da bekomme ich zünftige Schweinshaxen, superlecker, und die paar Kilo mehr auf den Rippen werden mir super stehen. Du musst mich auch gar nicht zurückrufen, weil ich jetzt sowieso mein Handy ausstelle. Na ja, so in zehn Minuten.«

Als sie fertig war, fühlte sie sich auf einmal nur noch elend. Hatte sie wirklich viermal super gesagt? Und von Schweinshaxen geschwärmt? Neuneinhalb Minuten wartete sie auf eine Reaktion. Vergeblich. Simon würde nicht anrufen. Nie mehr. Es tat verdammt weh.

Tapfer stiefelte Annabelle weiter durch den knisternden Matsch, die Augen blind vor Schneeflocken. Oder waren es Tränen? Wenn du dein Schicksal nicht ändern kannst, dann mach es zu deinem besten Freund, sagte Mary-Jo immer. Annabelle straffte ihre Schultern unter dem schweren Rucksack. Schon geschehen, Mary-Jo. Keine störenden Sentimentalitäten mehr. Jetzt konzentriere ich mich voll und ganz auf meinen neuen Job. Ich werde das Ding in Singapur rocken, aber so was von! Und mich nie wieder in einen Mann verlieben, der mich hängenlässt, jawohl!

Kapitel 2

Dummerweise war Annabelle nicht gerade mit einem brillanten Orientierungssinn gesegnet. Erst nach einigem Umherirren im heftigen Schneetreiben fiel ihr wieder ein, dass der S-Bahnhof im Untergeschoss des Flughafengebäudes lag. Immerhin hatte sie Glück mit der S-Bahn-Fahrt. Ein gütiges Schicksal bescherte ihr ein leeres Abteil, wo sie sogleich die Beine ausstreckte und in bleiernen Tiefschlaf fiel. Leider träumte sie von Simon. Als er in einen riesigen Kochtopf hüpfte, wachte sie schweißgebadet auf. Was um Gottes willen hatte das zu bedeuten? Mary-Jo hätte es ihr sagen können. Aber Mary-Jo war weit, weit weg, und Herr Huber, den Annabelle aus dem Rucksack holte, hörte sich zwar alles bereitwillig an, fühlte sich jedoch für ein komplexes Thema wie Traumdeutung nicht zuständig.

Am Münchner Hauptbahnhof musste Annabelle umsteigen, ein ziemlich schweißtreibendes Unterfangen mit schwerem Gepäck. Die Regionalbahn erwies sich als gepackt voll und roch nach feuchten Klamotten sowie weiteren Duftphänomenen, die Annabelle lieber nicht genauer ergründen wollte. Trotz äußerst lebhafter Unterhaltungen ringsum, untermalt von den zischenden Sounds diverser Handys, schlief sie sofort wieder ein, an ihren unförmigen Rucksack gelehnt. Fast hätte sie sogar ihre Station verschlafen. Erst im letzten Moment registrierte sie, dass der Zug quietschend abbremste, und raffte eilig ihr Gepäck zusammen.

Als sie auf den Bahnsteig von Tannstadt, Oberbayern, trat, stellte sie fest, dass der Schnee hier um einiges höher lag als in München. Noch immer schneite es dicke Flocken. Alles versank in endloser Weiße, nicht einmal die Berge konnte man erkennen. Von der eisigen Kälte ganz zu schweigen, die gnadenlos unter Annabelles Daunenjacke kroch und ihre Zehen binnen Sekunden in Eiswürfel verwandelte. Wie sehr sehnte sie sich nach der tropischen Wärme Singapurs, nach Sonne auf der Haut und Palmwedeln, die sich im warmen Wind bewegten. Eine Woche noch. Dann würde sie die bayerische Kältekammer mit dem Zauber Asiens vertauschen und ihr wundes Herz heilen lassen.

Als sie wenig später ihren Koffer durch die verschneiten Straßen der kleinen Kreisstadt zuppelte, machte sie die eigenartige Erfahrung, dass alles viel kleiner aussah als in ihrer Erinnerung. Die niedrigen, bunt gestrichenen Häuser mit den blitzblank geputzten Butzenscheiben wirkten nahezu puppenstubenhaft. Kaum zu glauben, dass sie dieses Städtchen einst für die große Welt gehalten hatte. Hier war sie zum Gymnasium gegangen (mit passablen Erfolgen), hier hatte sie auf einer Teenagerparty die ersten Alkoholexperimente angestellt (mit desaströsen Folgen). Gerührt schlurfte sie am Eiscafé Venezia vorbei, wo sie im zarten Alter von vierzehn ihre ersten heißen Tränen wegen Liebeskummers gekühlt hatte (Vanille, Schokolade, Pistazie, zwei Kleidergrößen mehr in einem einzigen Sommer).

So ist das wohl mit der Heimat, dachte Annabelle. Eine Zeitreise ins Ungewisse, mit bekannten Bildern und gemischten Gefühlen. Seltsam vertraut und doch so fern wie Timbuktu. In jedem Fall war es für sie komplett unvorstellbar, jemals wieder hier zu leben. Sie wusste ja, wie engstirnig es manchmal zuging, trotz der gemütvollen Freundlichkeit, von der die Feriengäste schwärmten. In Wahrheit schaute jeder hochnotpeinlich genau hin, was der andere machte. Und wer sich nicht anpasste, wurde leicht zum Außenseiter abgestempelt.

Auch Annabelle hatte sich gelegentlich als Außenseiterin gefühlt. Der Storch hat sich wohl verflogen, als er dich brachte, hatte ihr Vater oft gelacht. Dann war sie auf das Dach des Heuschobers gestiegen, um sich in ferne Länder zu träumen – nach Italien oder Indien oder Kanada, nur weit, weit weg. Einmal, als sie sich über die Enge des Dorfes beklagt hatte, war ihr der Nachbarssohn Andi Oberleitner über den Mund gefahren: »Unser Dorf soll schöner werden? Dann zieh doch weg!« Was Annabelle schlussendlich und konsequenterweise ja auch getan hatte.

Glücklicherweise gab es aber auch gute Erinnerungen. Sie rankten sich um das »Puxdorfer Sixpack«, ihre Clique von einst: Betty, Fanny, Mitzi, Toni und Ferdi waren Annabelles engste Freunde gewesen. Mit ihnen konnte sie damals die sprichwörtlichen Pferde stehlen (und heimlich das eine oder andere Sixpack wegzischen). Nach dem Motto Gemeinsam sind wir unausstehlich hatten sie so sinnreiche Aktionen gestartet, wie den Wetterhahn der kleinen Puxdorfer Kapelle mit Klopapier zu umwickeln oder einen Zettel mit der Aufschrift Heute nur Blödchen an die Tür der Dorfbäckerei zu kleben. Was man eben so anstellte, wenn man jung war und mehr Flausen im Kopf als Synapsen im Hirn hatte.

Für Annabelle war das alles weit, weit weg. Auch jetzt kehrte sie nur als Zaungast in die fremdvertraute Welt ihrer Heimat zurück. Sie war gespannt, auch ein bisschen aufgeregt. Eine ganze Woche, so lange hatte sie es seit ihrem Auszug aus Puxdorf nur selten daheim ausgehalten. Und das Puxdorfer Sixpack war nie wieder vollzählig zusammengekommen. Ob ihre Freunde überhaupt noch dort lebten?

Im Bus, den sie eine halbe Stunde später völlig durchfroren bestieg, saßen schwatzende Einheimische mit vollen Einkaufstüten und Touristen in bunten Daunenanzügen nebst ihrer gesamten Skiausrüstung. Annabelle wurde fast von einem Skistock aufgespießt, als sie ihren Koffer durch den Gang schleifte. Müde drückte sie sich auf eine freie Sitzbank, wo sie auch Platz für ihr Gepäck fand. Uff. Sie fühlte sich wie Akku alle. Und Puxdorf war noch weit, weit entfernt.

Der Bus setzte sich schaukelnd in Bewegung. Bald ließ er Tannstadt mit seinen schmucken Häusern hinter sich. Höher und höher ging es ins Gebirge, über schmale gewundene Straßen, vorbei an verschneiten Gehöften und malerisch überzuckerten Tannenwäldern. Während Annabelle aus dem Fenster schaute, stiegen Kindheitserinnerungen in ihr hoch. Lustige Rodelpartien mit viel Gebrüll und Gekreisch, ausgedehnte Schneeballschlachten, halsbrecherische Abfahrten auf eisglatten Skipisten, und danach der heiße Holundertee bei Oma Martha. Sie tastete nach ihrem Handy.

»Mama? Ja, ich sitze schon im Bus. Könnte mich der Max vielleicht von der Endstation abholen?«

»Das wird schwierig«, antwortete ihre Mutter bedauernd. »Wir sind vollkommen eingeschneit. Die Räumfahrzeuge schaffen es nicht über die kleine Brücke, unsere Straßen sind quasi unpassierbar.«

Die kleine Brücke. Seit Jahrzehnten wurde darüber debattiert, ob man die schmale Holzkonstruktion durch eine solide asphaltierte Version ersetzen sollte. Ergebnislos. Weder der Landkreis noch der bayerische Staat wollten die Kosten übernehmen, deshalb blieb es dabei: Sobald der Winter hereinbrach, war Puxdorf quasi von der Außenwelt abgeschnitten. Als Kind hatte Annabelle diese Isolation geliebt, weil sie dann nicht zur Schule musste und nach Herzenslust Winterfreuden genießen durfte. Jetzt hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen.

»Oha. Na ja, ich schaff das schon irgendwie zu euch«, versicherte sie, während sie zweifelnd ihre Stiefeletten musterte – schicke Ankleboots aus hauchdünnem schokobraunem Leder, denkbar ungeeignet fürs Herumstapfen im Tiefschnee. Schon der kleine Spaziergang zur Bushaltestelle hatte die Dinger fast ruiniert und ihre Füße brutal tiefgekühlt.

»Mal sehen, was wir tun können«, fügte ihre Mutter hinzu. »Bis später!«

Hm. Annabelle seufzte. Was hatte sie erwartet? Kutsche, Blasmusik, Konfettiparade? Nein, bei Familie Stadlmair ging es bodenständig zu.

»Wohin wollen Sie denn?«, fragte ein Mann ihres Alters, der auf der anderen Seite des Ganges saß. »Entschuldigung, aber ich konnte nicht umhin zuzuhören.«

Dem ersten flüchtigen Eindruck nach wirkte er durchaus sympathisch, fand Annabelle: offenes Gesicht mit warmen olivfarbenen Augen, die interessiert, aber nicht indiskret auf ihr ruhten, dunkelblondes Strubbelhaar, gewinnendes Lächeln. Er trug eine dicke cognacfarbene Lederjacke mit Fellbesatz zu seinen Jeans sowie schicke Schnürstiefel im selben Farbton. Ihr Leben in großen Städten hatte Annabelle allerdings gelehrt, nicht zu offenherzig zu sein. Man konnte nie wissen, wen man vor sich hatte. Deshalb war sie gewohnt, sich bei Wildfremden bedeckt zu halten.

»Ist nur ein kleines Kaff, total abgelegen im Hochgebirge, das kennen Sie bestimmt nicht«, erwiderte sie vage.

»Aha. Ach so.« Sein Lächeln gefror zu einer unverbindlichen Miene. Offenbar hatte er begriffen, dass sie nichts preisgeben wollte. »Na, dann gute Reise.«

»Danke schön«, erwiderte sie schmallippig.

»Bitte schön. Hoffentlich gibt’s einen anständigen Kaffee in Ihrem Kaff. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Jetlag.«

»Dann passen Sie gut auf sich auf. Unbetreute, koffeinunterversorgte Frauen sind leichte Beute für Männer, die ja eigentlich nur höflich sein wollten.«

Schwang da etwa Amüsement in seiner Stimme mit? Sie schaute noch einmal genauer hin. Ja, in seinen Augenwinkeln lauerte eine vergnügte Schalkhaftigkeit, ein Wesenszug, der Annabelle immer schon an Männern gefallen hatte.

»Danke für den Tipp«, lächelte sie. »Ebenfalls gute Reise. Ein Navi brauchen Sie ja nicht mehr – Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Ziel, meine Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Oh, tut mir leid, dass ich Sie sympathisch finde.« Auch er lächelte jetzt, aus funkensprühenden Augen. »Nun, dann will ich Ihre Aufmerksamkeit nicht länger strapazieren.«

Auf einmal bedauerte Annabelle fast, dass sie ihn anfangs so cool abgebügelt hatte. Aber jetzt war es zu spät. Demonstrativ steckte er sich die Earphones seines Handys in die Ohrmuscheln, schloss die Augen und stellte sich quasi tot. Auch gut, dachte sie. Warum mit jemandem flirten, den ich nie wiedersehen werde, wenn ich erst mal in Singapur bin?

Zwei Stunden später saß sie in einem Taxi, das sie nach Puxdorf bringen sollte. Soweit der Plan. Der Fahrer, ein untersetzter Herr mit Seehundschnauzer, hatte seine liebe Not auf der eisglatten Straße – trotz der Hybridschneeketten mit textilen Seitenteilen, die er nach wenigen Kilometern aufmontierte und deren Vorteile er so verzückt in den Himmel hob, als hätte er sie dem Herrgott persönlich abgekauft. In Wirklichkeit waren die Dinger wenig hilfreich. Der Wagen bewegte sich allenfalls mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne vorwärts, immer wieder drehten die Räder durch, immer wieder schlitterte das Taxi gefährlich nah auf die steil abfallende Schlucht zu, die sich rechts der Straße auftat.

Kurz vor Puxdorf hielt der Fahrer an, direkt vor einer hohen Schneewehe, die die Weiterfahrt versperrte. Er zwinkerte Annabelle im Rückspiegel zu.

»So, junge Frau, macht achtzehn fünfzig.«

Vollkommen entgeistert schaute sie in das gutmütige Gesicht mit dem Seehundschnauzer.

»Sie wollen mich hier aussetzen? Mitten im Nirgendwo?«

Der Fahrer kratzte sich am Ohr.

»Ja mei, Sie sehen doch selbst, dass man nicht durchkommt.«

»Aber wie soll ich denn … Hallo? Sie können mich doch nicht einfach abladen wie einen Sack Mehl!«

Ohne weiter auf Annabelles Lamento zu achten, stieg der gute Mann aus, öffnete die Heckklappe und schmiss sie wieder zu, dass es schepperte. Also so was. Annabelle stieg ebenfalls aus und sank schon beim ersten Schritt bis zu den Hüften im Schnee ein. Ungerührt pflanzte sich der Fahrer vor ihr auf, die schwielige rechte Hand ausgestreckt.

»Wär schön, wenn Sie’s passend hätten.«