Ich, Lilith - Gabriele M. Göbel - E-Book

Ich, Lilith E-Book

Gabriele M Göbel

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Beschreibung

Der jungen Elisa ist das Leben in ihrer Provinzstadt viel zu klein und spießig. Da entdeckt sie eines Tages die geheime Geschichte von Lilith, der ersten Frau Adams, die sich ihrem Mann entzog, weil sie sich nicht unterwerfen wollte. Fortan ist Elisa auf der Suche nach Spuren von Lilith, der Nachthexe, der Dämonin und ewigen Verführerin ... Märchenhaft realistisch und magisch tiefgründig: Die erfolgreiche Autorin Gabriele M. Göbel ("Die Mystikerin - Hildegard von Bingen") erzählt mitreißend von einer faszinierenden Frau, die etwas sucht, das größer ist als das eigene Leben.

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Seitenzahl: 583

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Gabriele M. Göbel

Ich, Lilith

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 1999 by Gabriele M. Göbel

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Eine frühere Ausgabe erschien bereits unter dem Titel „Hexen der Nacht“.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-170-5

edel.com
facebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Über das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Literatur

Über das Buch
Der jungen Elisa ist das Leben in ihrer Provinzstadt viel zu klein und spießig. Da entdeckt sie eines Tages die geheime Geschichte von Lilith, der ersten Frau Adams, die sich ihrem Mann entzog, weil sie sich nicht unterwerfen wollte. Fortan ist Elisa auf der Suche nach Spuren von Lilith, der Nachthexe, der Dämonin und ewigen Verführerin... Märchenhaft realistisch und magisch tiefgründig: Die erfolgreiche Autorin Gabriele M. Göbel ("Die Mystikerin - Hildegard von Bingen") erzählt mitreißend von einer faszinierenden Frau, die etwas sucht, das größer ist als das eigene Leben.

Wenn der Weg zu Ende und das Ziel erreicht ist,

erkennt der Pilger,

daß er von sich selbst zum Selbst gewandert ist.

(Sai Avatar)

1. Kapitel

Genoveva im Schnee

Am Anfang war Lilith. Ich erinnere mich noch an den Ort – ein verwahrloster Park hinter einem düsteren Gebäude – und die Jahreszeit, zu der ich diese Worte erst dachte, dann in den frischgefallenen Schnee auf dem Brunnenrand schrieb, dann neunmal laut vor mich hinsprach. Ich hatte den Text einer vergessen geglaubten Schöpfungsgeschichte wiederentdeckt und brauchte irgendein Ritual, um ihn der Menschheit zurückzugeben. Ein Ritual unter Zeugen.

Die heidnische Genoveva auf ihrem Sockel über den zugefrorenen Wassern schien mir genau die richtige zu sein. Sie war auch nicht allein. Ihre Linke ruhte auf dem Hals eines Fabeltieres; weißhäuptig vom nächtlichen Neuschnee, schaute es ergebenen Blickes zu ihr auf. Sie war eine Magierin aus den Wäldern Galliens und konnte sich in eine Hirschkuh verwandeln, wenn sie eine Jagdgesellschaft zum Narren halten wollte. Tagelang, so wollte es die Sage, ließ sie sich von der Meute jagen, fangen jedoch niemals ...

Auch die Geschichte drohte in Vergessenheit zu geraten, dabei hatte die Figur der Genoveva schon an ihrem Platz in der Brunnenmitte gestanden, als Park und Gebäude noch nicht der Kirche gehörten. Eiszapfen unter dem Kinn ließen die weiße Hindin an jenem Tag wie eine ganz gewöhnliche Ziege aussehen.

Trotz des Frostes trug ich nur ein ausgefranstes Wolltuch über dem vorgeschriebenen Schulkleid. Mäntel mochte ich nicht. Auch meine stumme Schwester aus Stein besaß nicht mehr als ein Lumpenhemd und langes Haar, das ihr die Schultern wärmte. Ich war froh, daß unsere Schule wenigstens Genovevas Namen trug. Zuvor hatten anonyme Kirchenväter oder deren fromme Töchter ihr allerdings eine andere Legende auf den bloßen Leib geschrieben: An eine keusche Pfalzgräfin, der die eheliche Treue mehr bedeutete als ihr Leben, wollten sie uns glauben machen. An eine »heilige« Genoveva, die in ihrem Versteck im Wald ein heiliges Kind gebar, das sie Tristan nannte. Eine heilige Hirschkuh, die es nährte.

Das Denkmal draußen im Brunnen paßte ganz und gar nicht zu dieser Version, doch das störte niemanden drüben im Haus. Man durfte den Nonnen keinen Glauben schenken. Sie waren geradezu versessen auf jungfräuliche Gemahlinnen und schmerzensreiche Mütter. Ich aber wußte es besser: Eine Göttin wie Genoveva verkannte und verbannte man nicht. Niemals wäre sie das Opfer einer höfischen Intrige geworden, kein armer Schelm namens Golo hätte es gewagt, sie aus verschmähter Liebe in ein Drama zu verwickeln. Genoveva war wie Lilith, unantastbar und nicht allein von dieser Welt. Durch mein Ritual hatte ich nur zusammengeführt, was zusammengehörte. Ich bewunderte Lilith, wäre aber nicht weniger gern eine Zauberin wie Genoveva gewesen, mit nichts als Luft bekleidet sein und die Haare hängen lassen. In einem Land leben, in dem es keinen Winter gab ...

Was ich jenem Frosttag sonst noch draußen im Park wollte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nur ungehorsam sein; mit einer Zigarette im Mund Rosen unter dem Schnee suchen und mir dabei frühreife Spiele für meinen ersten Liebhaber ausdenken. Es kann auch alles ganz anders gewesen sein. Die Erinnerung ist der größte Dichter. Der Schule, dem ödesten Ort auf dieser Erde, fühlte ich mich zu der Zeit längst entwachsen. Zehn lange Jahre hatte ich es geduldet, daß man uns Gebote lehrte, ohne sie zu begründen, Gebete, bei denen wir nichts empfanden, und Theorien, die abstrakt blieben, weil es uns nicht erlaubt war, sie mit Erfahrungen zu füllen. Die Hoffnung, daß wir noch einmal zum Wesentlichen kommen würden, hatte ich schon in den unteren Klassen aufgegeben. Die anderen brauchten einfach zu lange, um zu verstehen. Sie kannten wichtige Worte ihrer eigenen Sprache noch nicht, übten aber wie die Papageien, in fremden Zungen zu reden, was man ihnen vorsprach. Sie gehorchten den obszönen Befehlen der einzigen weltlichen Person im Haus des Erzbischofs, einer magersüchtigen Turnlehrerin, die das Tamburin schlug und mit brüchiger Stimme zum Beinegrätschen und Bockspringen einlud. Im Spagat den staubigen Fußboden küssen oder wenigstens mit der Stirn berühren. Quälten ihren armen Geist mit mathematischen Gleichungen, die ein Verrückter sich ausgedacht hatte, Zeichen der Willkür ohne sinnlich wahrnehmbare Bedeutung. Die wirklichen Abenteuer hatten in den Köpfen stattzufinden; diese Spielregel kannten wir alle. Wer sich nicht darin hielt, wurde in ein abgegriffenes Buch eingetragen, eine Art Pranger für Unbelehrbare. »Elisa gibt laufend Widerworte, hat grundlos gelacht, unter dem Tisch fragwürdige Lektüre gelesen.« Eine Chronik pädagogischer Hilflosigkeit.

Ich habe nie verstanden, was sie sich davon versprachen, und sammelte Tadel wie andere Briefmarken oder Heiligenbildchen. Wagte ich es dann immer noch, den Dämmerschlaf im Klassenraum durch Gelächter oder vorlaute Fragen zu stören, durfte ich draußen im Flur auf und ab gehen, bis mich der elende Geruch der Feuchtigkeit und Küchenmief ausdünstenden Schulmäntel wieder reumütig an meinen Platz zurücktrieb oder ganz hinaus in den Park. Das allerdings kam einer Todsünde gleich. »Schülerin E. hat das Haus ohne Erlaubnis verlassen. Eigenmächtig.« – eine ganz und gar nicht erwünschte Fähigkeit.

»›Herr, dein Wille geschehe‹, heißt unser tägliches Gebet«, behaupteten seine selbsternannten Stellvertreter. »Ob es dir nun gefällt oder nicht, Elisa! Wo kämen wir denn hin, wenn jeder täte, was ihm in den Sinn kommt?«

Jawohl, Herr Pastor, Fräulein Doktor, ehrwürdige Mutter. Behaltet eure Worte, ich kenne sie schon alle. Nicht nur Genoveva konnte sich in eine andere verwandeln, um ihren Peinigern zu entkommen. Ich konnte es auch.

Am Anfang war Lilith. Ich allein hatte das herausgefunden und damit den letzten Akt einer Kindheit eingeleitet, deren Ende ich herbeisehnte wie die Erlösung von einem Übel. Es ging dann auch alles sehr schnell. Wenige Wochen nachdem ich unseren Abiturientinnen die frohe Botschaft in aller Öffentlichkeit kundgetan hatte, durfte ich die Schule mit dem schönen Namen für immer verlassen. Die großherzige Genoveva hätte sich zweifellos mit einer Ketzerin verbündet, statt sie zu vertreiben, nicht so die frommen Frauen auf der anderen Seite des Parks, darunter meine Lieblingslehrerin Laetitia, die jedes Jahr zu Karneval mit soviel Inbrunst das Lied vom »treuen Husar« schmetterte. Immer hatte ich dahinter einen nie verwundenen Schmerz vermutet, von dem sie womöglich selbst nichts mehr wußte und der nur einmal im Jahr zum Vorschein kam. In allen übrigen Tagen zeigte sie eine andere Seite: Vollkommen entrückt sah sie aus, wenn sie zusammen mit den Schwestern Psalmen sang; es war unmöglich, ihre Stimme aus denen der anderen herauszuhören. Im Chor legten sie Wert darauf, wie aus einem Mund zu singen, dezent und verhalten. Niemand durfte sich besonders hervortun. »Ave Maria« ... Vokale wie Weihrauch. Sie stiegen himmelwärts und vergingen.

Ich liebte Laetitia wegen dieses Geheimnisses, das sie vermutlich hütete. Eine Zeitlang hatte ich sogar um ihre Freundschaft gebuhlt, in der Hoffnung, daß sie sich mir eines Tages anvertrauen werde. Sie aber wich mir aus, als würde der kostbare Schatz, der im Herzen einer Klosterfrau begraben war, zu Staub zerfallen, wenn man ihn berührte.

Laetitia fand kein Wort zu meiner Verteidigung. Stumm stand sie neben der Schwester Oberin und sah mich an wie eine Fremde.

»Wie konntest du die Schöpfungsgeschichte so entstellen, Elisa? Gott lästern und unseren Glauben verraten?«

Die Brillengläser der Oberin funkelten im heiligen Zorn.

»Sollten wir die Texte nicht wenigstens kennen, die man im Laufe der Zeit aus dem Alten Testament entfernt hat? Nicht einmal fragen, wann und in wessen Interesse sie gestrichen wurden? Wenn Sie eine Frau wären, ehrwürdige Mutter, würden Sie es wissen wollen!«

Nein, so antwortete ich ihr nicht, nicht mit diesen Worten und mit anderen auch nicht. Ich lachte nur auf dreierlei Weise, verführerisch, dämonisch und göttlich, so wie die Lilith in meiner Geschichte.

»Was bist du nur für ein Menschenkind, Elisa?«

Die Frage meiner ratlosen Mutter aus dem Mund dieser Schwester.

Es war einmal und ist noch nicht vorüber. Die Ereignisse wiederholen sich so lange, bis wir ihren Sinn erkennen.

2. Kapitel

Elisa, das Kind und der Garten Eden

Als Lilith noch Elisa, das Kind, war, wartete sie voller Ungeduld darauf, daß etwas geschah, was die Dinge wieder zurechtrückte. Dann endlich würden sich Wahrheiten zeigen, die nicht auf ewig verborgen bleiben konnten: Sie hatte das Licht der Welt am verkehrten Ort erblickt, unter Menschen, die nicht zu ihr paßten. Und war zu Unrecht in einen Kinderkörper eingesperrt worden. Sämtliche Schwierigkeiten, in die sie geriet, verdankte sie nicht etwa sich selbst, sondern dieser Kette von Irrtümern.

In Wirklichkeit gehörte sie zu den Erwachsenen und mußte sich weder beschimpfen noch dafür strafen lassen, daß Gefühl und Handlung nur selten übereinstimmten. Wenn Elisa schrie, dann nicht vor Wut; wenn sie tanzte, dann nicht vor Freude; wenn sie lachte, dann nicht, weil sie irgend etwas komisch fand, sondern weil sie, wie jedermann, nur so tat als ob. Der Unterschied war, daß sie es wußte und die anderen nicht.

Ihre Mutter hielt die Tragödie, zu der sie ihr Dasein gemacht hatte, für das Leben selbst, und der Vater, ein Häusermakler und Hasardeur, brauchte den Nervenkitzel der Spielbanken, um sich und seine Gefühle mit einer Intensität zu spüren, die er nirgendwo sonst gefunden hatte und die ihn auf die Dauer süchtig machte.

Elisa, die Erstgeborene, sah keinen Grund, so schwachen Naturen zu gehorchen. Um in deren Welt Fuß zu fassen, hätte sie vergessen müssen, was sie schon wußte: daß die Wirklichkeit nicht das war, was sie zu sein schien. Von Kindheit an lebte Elisa in einer leuchtenden Welt jenseits der äußeren Sinne, zu der sie den Zugang nie ganz verlor, da für sie der Schleier ein Leben lang durchsichtig blieb, der ihr eigenes Reich von dem aller anderen trennte.

Die sieben ersten Jahre, als die Großeltern noch über das Wohlergehen ihrer Kinder und Kindeskinder wachten, kamen ihr später trotz allem paradiesisch vor. Da bewohnten sie zu acht ein rosa gestrichenes Haus in einem ehemaligen Weinberg mitten auf dem Land und doch unweit der Stadt, wo der Vater seine Geschäfte abwickelte. Hinter dem Haus führte ein Trampelpfad durch einen Obstgarten in einen kleinen Wald mit uralten Bäumen, in denen es niemals zu rauschen aufhörte. Unterhalb des Weinberghauses grasten Schafe und Pferde auf einem Wiesenhang, und ganz unten in der Tiefe glitzerte der Fluß, der im Frühling zur Schneeschmelze mächtig anschwoll, sich wälzte und wichtig machte, während er sommers in seinem viel zu großen sandigen Bett ertrank.

Elisa, das Kind, hielt es nie lange im Haus. Immer wurde sie irgendwo hingezogen, wußte nicht, woher und warum, und konnte keine Erklärung geben. Es lockten sie Stimmen im Wind, Wesen in den Wolken und über Wassern, in der Nähe des alten Brunnens vor allem, den sie hartnäckig belagerten wie die Wespen ein Honigglas, wenn sein Deckel zu lange geschlossen blieb. Die Riesen in den alten Bäumen waren Elisa ebenso vertraut wie das kleine Volk zwischen den Baumwurzeln. Wer sich gut mit ihm stand, wurde auch schon einmal ins Erdinnere eingeladen, in eine seiner verborgenen Höhlen, die aus funkelnden Edelsteinen bestanden.

Elisas Lieblingsplatz aber war ein Hochplateau zur Linken des großelterlichen Weinbergs. Stundenlang konnte sie allein unter einer der drei Eichen im Zentrum eines frühgeschichtlichen Steinkreises sitzen, der von einem zweiten Kreis aus Weißdorn und Wildrosen umsäumt war, und vor sich hinträumen oder nachdenken. Zu jedem der achtzehn Steine hatte die Großmutter etwas Besonderes zu sagen gewußt; je öfter Elisa das Gehörte wiederholte, desto weniger würde sie es vergessen: Der dritte und sechste Stein markierten Stellen am Horizont, wo zur Sommer- oder Wintersonnenwende die Sonne aufging, der siebte war durch eine gedachte Linie mit dem benachbarten Burgberg verbunden, in dem ein tausendjähriges Ungeheuer hauste, und der fünfzehnte Stein zeigte zur städtischen Münsterkirche auf der anderen Seite des Flusses ...

Nicht nur über Steine konnte man mit der Großmutter reden. Sie konnte auch die Namen sämtlicher Sterne auswendig; sie wußte, wo die besten Heilpflanzen wuchsen, und sie schimpfte nicht wie die Eltern, wenn Elisa immer wieder ihre Sätze mit: »Als ich früher groß war und Lolaga Singh hieß«, beginnen ließ.

Nur einmal, als das Kind von einer »Babanonna« sprach, die ihm immer so schöne Lieder in einer anderen Sprache vorgesungen habe und nun gar nicht mehr komme, legte die Großmutter ihren Zeigefinger zwischen Elisas Nase und Oberlippe und fragte: »Weißt du denn auch, woher du dieses hübsche Grübchen hast?«

»Nein.«

»Nun, es stammt von dem Engel, der bei deiner Geburt dabei war und dir die Lippen versiegelt hat.«

Lächelnd wartete sie, bis Elisa ihr »Und wozu?« fragte. Diese Enkeltochter wollte niemals wissen, warum etwas geschah, wie andere Kinder ihres Alters. Sie interessierte allein der Zweck einer Handlung.

»Vor seiner Geburt weiß ein Kind alles über sich und die Welt«, antwortete die Großmutter. »Dann aber kommt ein Engel und legt ihm einen Finger über die Lippen, damit es von nun an schweigt und wieder vergißt, was es einmal wußte.«

Elisa schüttelte energisch den Kopf. »Lilis Engel will das aber gar nicht.«

Das Kind hatte schon damals gern das letzte Wort.

Ich weiß nur, daß zu der Zeit noch alles im Gleichgewicht war.

Wenn die Mama bei strahlendem Sonnenschein mit einem Eisbeutel auf der Stirn im verdunkelten Zimmer lag und die Frage »wozu?« mit Verwünschungen beantwortete, knüpfte mir die Großmutter ein Lederband mit einem Amulett gegen den bösen Blick um den Hals. Hatte der Papa unser Haushaltsgeld beim Spiel verloren, schlachtete der Großvater zwei seiner Hühner, und wir lebten bis zum Monatsende von Suppeneintopf. Gegen alles fanden sie ein Mittel, nur nicht gegen Onkel Benno, der auch bei uns wohnte. Bei Onkel Benno mußte ich mir selbst helfen.

Er war zehn Jahre jünger als Papa und genauso ein Luftikus wie er und alle Nachkommen dieser tadellosen Großeltern. Bei ihm lernte ich, daß sich das wenigste von dem, was geschieht, in Worte fassen läßt. Die Sprachlosigkeit des Kindes begünstigt die Willkür der Erwachsenen. Später in der Nonnenschule sagten sie, ich sei eine notorische Lügnerin, und meine Mutter, die nie etwas von mir gewußt hat, beeilte sich, ihnen nach dem Mund zu reden, wie immer, wenn jemand schlecht über ihre Tochter sprach.

»Ja, leider. Elisa lügt sogar beim Beten.«

Als ob sie jemals dabei gewesen wäre! Hätte ich ihr von Vaters Bruder erzählt, sie hätte mir nicht geglaubt. Szenen wie die mit Onkel Benno kann man nicht erfinden, nur erinnern: Elisa, das Kind, saß auf dem einzigen Stein außerhalb des Kreises und versuchte zu erfühlen, was diesen neunzehnten von den anderen unterschied, als es hinter ihr in der Wildrosenhecke auf eine Weise lebendig wurde, die weder zu dem herumhuschenden Getier auf dem Boden noch zu den flatterhaften Spielgespenstern über Elisas Kopf passen wollten. Aber was war es dann? Es knackte und keuchte und gehörte nicht hierher. Noch ehe sie sich umdrehen konnte, hielt ihr jemand die Augen zu.

Elisa hatte ihren Onkel Benno lange nicht gesehen. Seine Finger rochen nach Zigaretten und etwas, für das sie noch keinen Namen hatte, obwohl es ihr bekannt vorkam. Es mußte an der Zahl liegen, daß der Stein soviel Unruhe ausstrahlte, dachte sie. An der neunzehn. Dann biß sie dem Onkel, so fest sie konnte, in den kleinen Finger. Fluchend zog er seine Hände zurück. Sie lachte, bis er sich wieder beruhigt hatte und sie verstehen wollte, was er sagte.

Warum flüsterte Benno denn auf einmal so, als wären in der Rosenhecke lauter kleine Ohren versteckt? »Wer flüstert, der lügt«, sagte die Mama.

Er habe heute morgen zufällig mit angesehen, wie sie ein sterbendes Küken wieder zum Leben erweckte, entnahm sie seinem Geraune, und ob sie noch wüßte, wie sie das gemacht hätte.

»Ich habe es in meine Hand genommen, lange gestreichelt und ihm mit meinem Atem Leben eingeblasen«, entsann sich Elisa. »Großpapa sagt, nur ich brächte das fertig, aber wir sollten es lieber nicht jedem erzählen.«

Zufrieden strich Benno ihr über den Kopf.

»Ich habe dir noch ein Küken mitgebracht«, sagte er. »Man darf es aber nicht erschrecken. Es ist so klein und schwach, daß ich es unter meinem Regenmantel verstecken mußte. Am besten schließt du die Augen. Ich gebe es dir dann in die Hand, und du machst mit ihm dasselbe wie heute morgen mit den anderen.«

Elisa zögerte. Irgend etwas stimmte daran nicht.

»Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?«

»Das weiß doch jeder. – Nun mach schon, sonst stirbt das Küken noch, und du bist schuld.«

Elisa hörte das Rascheln von Stoff und das Geräusch eines Reißverschlusses, dann bekam sie etwas in ihre ausgestreckten Hände gelegt und fühlte, wie es unter ihren Fingern stark wurde.

»Mach jetzt die Augen wieder auf, und sieh es dir an!« Der Onkel konnte kaum sprechen vor Erregung.

»Wozu?« sagte Elisa, ohne eine Antwort zu erwarten.

Sie kniff die Augen noch fester zusammen, tat aber, was Benno verlangte, weil sie sicher war, damit einem Erwachsenengeheimnis auf die Spur zu kommen. Was sie da streichelte und mit ihrem Atem wiederbeleben sollte, war viel zu fleischig, zu nackt und zu groß für ein Küken. Wofür hielt der Onkel sie nur? Elisa kicherte. Es machte ihr aber nichts aus, so zu tun als ob. Und sie biß nicht einmal zu, obwohl sie das gerne getan hätte.

Einen ganzen Sommer lang erweckte sie fleißig das Küken ihres Onkels zum Leben und machte sich einen Spaß daraus, ihn oft auf Knien darum bitten zu lassen. Dann aber wurde ihr das Spiel langweilig, und sie hörte auf, sich dumm zu stellen. Eines Tages, als die Zeit, da die Hühner Nachwuchs hatten, längst vorbei war, verlangte Elisa Geld und Geschenke dafür, daß sie das Geheimnis ihres Onkels nicht verriet.

»Was bist du doch für ein ausgekochtes kleines Luder!« schimpfte Benno und kam nie wieder zum neunzehnten Stein.

Elisa war enttäuscht. Sie liebte Geschenke über alles, und sie hätte ihren Onkel ohnedies nicht verraten. Was er mit ihr tat, stand ihm im Gesicht geschrieben. Jeder, der wollte, hätte es lesen können.

Als ich meine Mutter ein Jahrzehnt später um ihren Liebhaber brachte und die Genovevaschule, so wurde behauptet, um ihren guten Ruf und beide sich in ihrer Rachsucht lächerlich machten, war Benno der einzige, der einfühlsame Worte zu meinen Gunsten fand. Ich allein kannte den Grund und wußte: Wegen dieser Kleinigkeit die Lippen zu bewegen, war das mindeste, was er für mich tun konnte, nachdem er jahrelang geschwiegen hatte, wo er hätte reden müssen. Um meinen exhibitionistischen Onkel nicht unnötig bloßzustellen, hatte ich es zugelassen, daß meine Mutter mich für die Mörderin meines kleinen Bruders hielt, den ich liebte, obwohl alle anderen das auch taten. Benno hätte mit dem Vorwurf nicht leben können, und für mich machte es damals schon keinen Unterschied mehr.

Nur die Großmutter hatte es kommen sehen.

»Man gibt seinem Sohn nicht den Namen eines Engels, wenn man ihn auf dieser Erde halten will«, hatte sie von Anfang an zu Elisas Mutter gesagt.

In ihrer Familie hießen die ältesten Söhne »Hans« mit Bindestrich und einem zweiten Namen dahinter. Aber doch nicht »Camael«.

Hört sich an wie Kamel, dachte Elisa, hatte es aber schon gelernt, solche Einfälle für sich zu behalten.

»Camael bedeutet ›Engel der Freude‹«, erklärte Elisas Mutter. Sie hatte vor ihrer Heirat Sprachen studiert, insofern durfte man ihr glauben. »Mein Sohn schlägt ohnehin nach unserer Familie.«

»Wozu schlägt er euch denn?« fragte Elisa und betrachtete ratlos die winzigen wächsernen Hände des neugeborenen Bruders, sein schütteres Haar über dem ausladenden Hinterkopf, seine lichtblauen Augen und sein zielloses Lächeln.

Wie immer war es die Großmutter, die ihr antwortete.

»Weil er kein rotes Haar hat, unser Enkelsohn, keine einzige Sommersprosse«, sagte sie bedauernd. »Kein breites Kreuz und gewiß keine heilenden Hände. – Was habt ihr euch bloß dabei gedacht? Man muß sich doch auf die Seele einstellen, die man anziehen will.«

Elisas Mutter verstand kein Wort. »Er ist unser Versöhnungskind«, sprach sie und mußte es wissen.

Der Knabe Camael ließ niemanden in der Familie unbeeinflußt. Alle schienen auf einmal das Bedürfnis zu haben, alte Gewohnheiten aufzugeben und etwas Neues anzufangen. Der Großvater vernachlässigte sogar seine Hühner, weil er viel lieber bunte Windräder für seinen Enkel baute, die er zu Dutzenden auf den frischgestrichenen Zaun um das Weinberghaus pflanzte, während seine Frau es sich in den Kopf gesetzt hatte, den verwilderten Weinberg von Grund auf zu bereinigen. Man hörte sie von besonderen Lagen und Jahrhundertweinen reden, dabei hatte sie ihr Lebtag nie etwas anderes als Wasser oder Buttermilch getrunken und nur, wenn es sein mußte, einmal an Großvaters Selbstgebranntem genippt.

Elisas Mutter, der jede Hausarbeit lästig war, begann plötzlich Brot zu backen und Kinderpullover zu stricken, und ihr Vater gab sein Nachtleben auf und kam eine Zeitlang pünktlich wie ein Postbeamter nach Hause, um seinen Sohn noch bei Tageslicht zu sehen.

Nur den Küken-Benno ließ der kleine Camael kalt. »Der Junge wird nie so hübsch wie seine Schwester«, prophezeite er, »zumal er scheel ist.«

Alle außer Elisa, die sich gerade in einem Dosendeckel spiegelte, widersprachen heftig und redeten durcheinander, bis die Großmutter eine Erklärung fand.

»Alle Säuglinge schielen«, sagte sie leise. »Sie schauen mit einem Auge noch in die andere Welt.«

Elisa legte den Dosendeckel aus der Hand. Wozu hatte die Großmutter ihre Stimme so gesenkt? Wollte sie ihr etwas verschweigen? Jetzt war sie erst recht hellhörig geworden. Eine Welt »neben« der sichtbaren Welt, ein Leben »vor« diesem Leben, alles Wunderbare und Verbotene entzündete Elisas Phantasie und führte zu immer neuen Fragen.

»Können Blinde Engel sehen?« begann sie und hatte es überhaupt nicht so gemeint, wie ihre Mutter es wieder verstehen wollte.

»Typisch Elisa! Sie muß immer noch eins draufsetzen! Ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer«, klagte sie. »Aber hier in diesem Haus kann sich ja jeder alles erlauben.«

Ihre scharfen Augen wanderten von der Tochter zur Schwiegermutter, und keine von beiden fand Gnade darin.

Erschrocken breitete die Großmutter ihre Schürze über Elisas Kopf, als müsse sie das Kind vor den mütterlichen Blicken bewahren.

»Aber sie weiß doch gar nicht, wovon sie spricht.«

»Weiß ich wohl«, sagte Elisa und hob sich ihre Frage für ein andermal auf.

Wenn es sein mußte, konnte sie sich gedulden. Auch, was den kleinen Bruder betraf. Die Mutter würde ihn nicht auf immer für sich behalten wollen, das paßte nicht zu ihr. Am Ende, wenn er nicht mehr so neu war auf der Welt, würde sie die Lust an ihm verlieren und ihn anderen überlassen. Wie alles, was Arbeit machte. Elisa erfand solange die schönsten Spiele ihrer Kindheit, geheimnisvolle und auch gefährliche, von denen niemand etwas wissen durfte. Wenn sie schon nach fünf Jahren noch einen Bruder bekam, wollte sie ihn das Staunen lehren.

Über ein Jahr lang schaute sie von weitem zu, wie sich alles um ihn drehte. Eines Morgens aber, nach einem Ehestreit, der jeden im Weinberghaus um den Schlaf gebracht hatte, zog die Mutter ihre Hand zurück, als Camael haltsuchend danach griff. Für einen kurzen Augenblick schwankte ihr Sohn, dann hielt er sich an seinem linken Ohrläppchen fest und lief tapfer weiter.

»Ist er nicht ein Tausendsassa?« frohlockte die Mutter unter Tränen.

Elisa hatte das Wort noch nie gehört. Was würde geschehen, wenn sie sich ebenfalls am Ohr festhielt, während sie lief? Sie versuchte es und erntete nur Kopfschütteln.

»Paßt auf die Kleine auf«, warnte der Großvater. »Eifersucht unter Geschwistern ist eine tödliche Krankheit.«

Er irrte. Worauf hätte Elisa eifersüchtig sein sollen? Ihr Wünschen hatte ja geholfen. Der Bruder gehörte ihr allein, nachdem die Mutter ihn losgelassen hatte. Sie konnte nun mit ihm machen, was ihr gefiel: ihn zum Weinen bringen oder zum Lachen, ihn Huckepack auf ihrem Rücken tragen oder in dem kleinen grünen Bollerwagen hinter sich herziehen, den der Großvater ihnen gebaut hatte.

Camael äußerte selten eigene Wünsche. Am liebsten blieb er breitbeinig auf der Wiese sitzen, geradeso, wie seine Schwester ihn hingesetzt hatte, und ließ sich von ihr betrachten. Wozu war er hier? Wer war dieses Bruderkind mit seinem wirren Haar und den feuchten Ringellocken, die ihm auf der Stirn klebten, seinen lichtblauen, immer noch schielenden Augen, die so ungewohnt weit auseinander standen, seinem halboffenen Mund, von dem man nicht wußte, ob er lachen oder beißen wollte? Wie ein seltenes Tier erschien ihr Camael, das gekommen war, der Schwester die Spielgespenster und Naturgeister zu ersetzen.

Einander tief in den ungleichen Augenpaaren liegend, ließen sie ihre Blicke verschwimmen, um sich wortlos in ein Land jenseits von Zeit und Raum zu begeben, in dem sie beide schon gewesen waren und wo sie Dinge erlebten, die sie für immer verband. Die Kinder hatten eine Art, miteinander zu spielen, die es den Leuten im Weinberghaus verbot, sich einzumischen. Wer sie eine Weile beobachtete, fühlte sich geradezu erleichtert, wenn er sie endlich aus ihrer Versunkenheit erwachen sah und sie kreischend ums Haus tobten wie andere ihres Alters. Niemand mochte sie dann zur Ordnung rufen. Sie durften sich sogar auf der Wäschewiese herumwälzen und auf den Laken, die dort zum Bleichen ausgebreitet waren, Landeplätze für Engel bauen.

Elisa war die Hüterin ihres Bruders, die beste, die man sich denken konnte.

»Wer hätte ihr soviel Geduld zugetraut!« staunten die Eltern.

»Ihr dürft sie aber nicht überfordern«, warnte der Großvater. »Elisa kann auch ganz schön leichtsinnig sein.«

Zwei Jahre verbrachte sie jede Stunde mit dem Bruder. Zwei Jahre, in denen er kaum wachsen wollte und auch nicht sprechen lernte, obwohl er seiner Schwester unermüdlich zuhörte und sie ihm gerne das eine oder andere Wort entlockt hätte. Ihm zuliebe wurde Elisa zur Geschichtenerzählerin und Sängerin. Sie dachte in Bildern und versuchte ihm alles, was sie sah, zu beschreiben. Mehrteilige Balladen, von denen sie nicht wußte, wer sie ihr in den Mund gelegt hatte, sang sie Camael in sein ausdrucksloses Gesicht. Oft spielten fremde Küsten auf der anderen Seite der Erde eine Rolle oder untermeerische Höhlen, und auch ein Fluß unter dem Fluß. Im Winter erfand die Schwester dem Bruder gar einen zugefrorenen Himmel, an dem zwei Schlittschuhläufer kopfunter ihre Schleifen malten. Zu gern hätte sie ihnen durch Camaels Augen dabei zugesehen, um zu wissen, wie das für ihn war.

»Du kannst dir die Mühe sparen«, flüsterte Onkel Benno ihr zu, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. »Siehst du denn nicht, daß dein Bruder mit Idiotie geschlagen ist?«

Wie unrecht er ihm tat! Camael schien sich vor aller Augen langsam aufzulösen, das war es, was Elisa sah. Sein Haar wurde immer heller, seine Haut trotz der Sommersonne so transparent, daß man darunter die fein verästelten Blutgefäße erkennen konnte. Auch wollten seine Füße ihn nicht mehr tragen. Täglich stolperte er und fiel hin, ohne den geringsten Schmerz zu empfinden, wenn er sich Kopf und Knie blutig schlug. Elisa wußte nicht, ob sie ihn deswegen bedauern oder beneiden sollte.

»Er ist schafssichtig«, vermutete die Großmutter und meinte damit, daß Camael Doppelbilder sah, die ihn zu Fall brachten.

Bei anderen besaß er indessen einen sechsten Sinn für Gefahren, der seiner Schwester fehlte. Sah er sie einbeinig auf Zaunpfählen balancieren, so gellte er mit seiner hohen Tierstimme, daß ihr das Blut in den Adern stockte. Sie mußte herunterkommen und ihn schütteln, damit er wieder still war. Elisa kannte keine körperliche Angst, doch niemals hätte sie verlangt, daß er nachahmte, was sie tat. Sie war die Akteurin, er der Zuschauer.

Wozu hätte sie ihn ertrinken lassen sollen?

Eines Tages aber war er verschwunden, und man gab ihr die Schuld. Selbst die Großmutter schrie: »Wie konntest du nur?« und sah dabei ihre Enkelin an, als sie nach langer Suche, an der Elisa sich nicht beteiligt hatte, Camaels leblosen kleinen Körper aus dem Brunnen zogen.

Daß Elisa gar nicht stark genug gewesen wäre, den schweren Deckel hin- und herzubewegen, bedachten sie nicht. Und daß der einzige, der sich dauernd am Brunnen zu schaffen machte, weil ihn nach Abkühlung lechzte, Küken-Benno war, auch nicht.

»Elisa hat schon immer eine Vorliebe für Wasser gehabt«, entsann sich die Mutter, nachdem sie aufgehört hatte, ihren Schmerz mit Schlaftabletten zu betäuben, und wieder zu denken begann. »Sie ist ja so eitel: Jede Pfütze, jede Fensterscheibe, jeden Silberknopf macht sie zum Spiegel. – Elisas Eitelkeit hat den Jungen das Leben gekostet.«

Aber das war, wie immer, nicht einmal die halbe Wahrheit. Wer brauchte schon einen Spiegel, um sein eigenes Bild darin zu sehen? Elisa jedenfalls nicht. Bei ihr waren es die Gesichter anderer Mädchen und Frauen von irgendwoher, die sich aus einem dichten weißen Nebel über der Spiegeloberfläche formten, wenn sie nur lange genug wartete. Um diese Gesichter, und was sie wohl zu bedeuten hatten, ging es ihr. Doch wie hätte sie das erklären wollen und wem? Der Großmutter mit ihrem: »Wie konntest du nur«? Die mußte es besser wissen. Als ob es etwas zu tun oder zu lassen gegeben hätte, damit Camael am Leben blieb! Einer mit einem Engelnamen, der nichts fühlte und sich nichts wünschte, mußte früher oder später dahin zurück, wo er hergekommen war. Die Großmutter hatte es selbst gesagt. Elisa versuchte gar nicht erst, sich mit Worten zu rechtfertigen. Und mit der Zeit fand sie sogar Gefallen daran, für die Mörderin ihres Bruders gehalten zu werden, den sie geliebt hatte, obwohl alle anderen das auch taten.

Mein Bruder war tot, mir aber sollte das nicht so gehen.

Ein Ortswechsel, so dachten sie, würde das Unglück vergessen lassen. Doch damit fing es erst richtig an. Zu dritt tauschten »Vater-Mutter-Kind« die Enge im rosaroten Weinberghaus gegen den Lärm einer lichtlosen Stadtwohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad mündeten in einen langen, spinatgrün gestrichenen Flur. Viel Raum, aber kein Landeplatz für Engel.

Die Eltern kauften Spitzengardinen, Polstermöbel, großgemusterte Teppiche und richteten sich ein in ihrer neuen Welt, jeder in der seinen. Elisa kam darin nicht vor. Nachdem Camael sich aufgelöst hatte, in Wasser oder Luft, beschloß sie, sich zu wappnen. Keiner sollte ihr mehr zu nahe kommen, um dann wortlos das Weite zu suchen. Schon gar nicht die beiden Störenfriede im Haus, an deren Elternschaft sie ernsthaft zu zweifeln begann. Die Frau war so schwach, wie konnte sie es wagen, ihre Mutter sein zu wollen? Der Vater so fern, was hatte er mit ihr zu tun? Rotes Haar und weiße Haut reichten nicht aus, die Blutsverwandtschaft zu bezeugen. Den Körper mochte sie vielleicht von ihm geerbt haben, den Geist aber hatte sie von sich selbst. Und dieser Geist forderte Widerstand. Elisa beschloß, den Eltern zu mißraten. Die Zeit, in der sie ihnen gefallen wollte, aber nicht konnte, war vergangen, bevor einer von beiden etwas davon gemerkt hatte. In Zukunft sollten sie Grund zur Klage haben. Die Mutter würde der Tochter den Tod ihres »Versöhnungskindes« niemals verzeihen, das stand schon fest.

»Wenn man mir den einzigen Sohn nicht genommen hätte, wäre mein Leben wenigstens ein halber Erfolg geworden«, pflegte sie zu sagen, und meist fügte sie hinzu: »Und wenn mir der Mann nicht fremdginge, ein ganzer Erfolg.«

»Fremd-gehen«, ein Wort, das allerlei Gefühle in Elisa weckte, obwohl sie nicht wirklich etwas damit anfangen konnte.

In den ersten Tagen ihrer Dreisamkeit hatte die Mutter versucht, dem Kind das Ausmaß der Kränkungen vor Augen zu führen, das für sie mit diesem Wort verbunden war. Während sie die Tochter mit ihren scharfen Augen betrachtete, mit ihrem roten Mund auf sie einredete, mit ihren harten Händen nach ihr griff, begann Elisa sich heftig zu langweilen. Geduldverloren trat sie von einem Fuß auf den anderen und lief davon, sobald die Mutter ihren Griff lockerte. Wozu sollte sie nun noch deren Komplizin werden, nachdem sie es gerade anders beschlossen hatte?

Die Mutter beließ es bei diesem einen Versuch, die Tochter auf ihre Seite zu ziehen. Wer nicht bereit war, sich mit ihr gegen den treulosen Ehemann zu verschwören, mußte gegen sie sein.

Es bleibt nun nicht mehr viel, was Elisa, das Kind, von der Schuleschwänzerin am Genovevabrunnen trennt. Den sieben friedlichen Jahren auf dem Land folgten sieben turbulente in der Großstadt, wo ich die Rolle des Mädchens, das bei jeder Gelegenheit absichtlich aus der Reihe tanzt, übte, bis sie mir in Fleisch und Blut überging. Flammendes Rot – obgleich unpassend zum Kupferton des Haars – wurde meine Farbe und die Wölfin das Tier, mit dessen Natur ich mich identifizierte. Ich brauchte solche Marotten, um meine Selbstliebe zu entwickeln. Beim Spielen auf der Straße steckte ich meinen Rock in die Unterhose, um die Gruppe der Mädchen, die sich gegen eine wilde Jungenbande behaupten mußte, besser anführen zu können. Beim sonntäglichen Kirchgang mit den Eltern knöpfte ich mein Kleid falsch herum; ich knurrte und fletschte die Zähne, damit jedermann sehen konnte, daß ich ein Kind der Wölfin war und keine Tochter aus gutem Haus.

Zur selben Zeit begann mir das Haar unbändig zu wachsen. Es wurde so lockig, daß man es nur noch schneiden konnte, nicht aber kämmen. Wie eine Ballonmütze aus rotem Persianerfell umgab es meinen Kopf. Auch meine Füße veränderten sich; sie waren viel größer als die anderer Siebenjähriger, und die Sohlenhaut wurde so empfindlich, daß ich die Beschaffenheit des Bodens bis in alle Einzelheiten fühlen konnte, ohne hinzusehen.

Die leichtesten Schuhe wurden mir zur Qual, sie störten mich so, als hätte man mir die Augen verbunden. Wahrscheinlich war es auch so. Am liebsten lief ich barfuß wie in den Sommern auf dem Land. Selbst in der Schule, der idealen Probebühne für meine Spielchen und Talente, zog ich unter dem Tisch Schuhe und Strümpfe aus.

Der Unterricht langweilte mich meistens, und es half auch nicht viel, daß mir die erste Klasse erspart blieb. Obwohl ein ganzes Jahr zu spät eingeschult, schien ich schon zu wissen, was man dort lernte. Meine Lehrer hielten dies für ein Zeichen von Intelligenz; dabei hatte ich mich nur zu erinnern brauchen. Um sie zu foppen, begann ich in Spiegelschrift zu schreiben, und auch das bewunderten sie, bis es einem von ihnen einfiel, daß man mir das schnell abgewöhnen sollte, bevor die anderen Kinder es nachmachten.

Man setzte mich neben ein stilles, blasses Mädchen, dessen hellblaue Augen und flaumiges Blondhaar an meinen Bruder erinnerten. Sie hieß Rosemarie, einen schöneren Namen hatte ich noch nie gehört: »Rose Marie«.

Von ihr lernte ich gleich am ersten Tag, daß sich Falschheit gern durch Sanftmut tarnte. Ein Lieblingssport der Lehrerinnen bestand nämlich darin, daß wir uns mehrmals am Tag in Zweierreihen auf dem Schulhof aufstellen mußten. Glücklich wie in den Tagen mit Camael hielt ich Rosemaries zartes Händchen in meiner viel derberen sommersprossigen Wolfspfote. Sie warf mir scheue Blicke aus den Augenwinkeln zu und lächelte versonnen. Sekunden später aber schrie sie auf, als hätte eine Wespe sie gestochen. Alle Köpfe wandten sich nach uns um. Das gefiel mir.

»Elisa tut mir weh! Sie hat mich gekniffen!« ließ Rosemarie unter Tränen jeden wissen, der es hören wollte.

Das gefiel mir nicht. Lügen sollten meinem eigenen Repertoire vorbehalten bleiben.

Man befahl mir, weniger grob zu sein. Ich nickte irritiert und berührte Rosemarie nur noch mit den Fingerspitzen. Trotzdem wiederholte sich das Spiel zwei- oder dreimal, bis man mich von meiner Nachbarin wegzerrte und zur Strafe allein auf dem Hof stehen ließ. Zutiefst empört über das kleine Biest, das mich vor aller Welt zum Trampel degradiert hatte, hielt ich es für an der Zeit, ihr die verborgenen Kräfte meiner Hände vorzuführen: Ich konzentrierte mich auf Rosemaries kleine Stupsnase – nicht einmal dort hatte sie Sommersprossen – und sorgte dafür, daß sie tüchtig zu bluten begann, sobald wir wieder nebeneinander an unseren Plätzen saßen. Erst als sich auf ihrem himmelblauen Kleid von oben bis unten ein Fliegenpilzmuster gebildet hatte, legte ich ihr eine Hand in den Nacken und eine auf die Stirn. Ich ließ meine Hände eiskalt werden, und das Blut versiegte auf der Stelle.

Am nächsten Tag wiederholte ich den Versuch, auch am übernächsten. Als eine gewisse Inge sich beim Turnen Holzsplitter in den Fuß trat, bat unsere Lehrerin mich freundlichst um Hilfe. Ich tat mein Bestes, und der Ruf meiner Hände, der einzige, auf den ich Wert legte, war wiederhergestellt.

Rosemarie versuchte weiterhin, ihre kleinen gemeinen Tricks anzuwenden, allerdings nie mehr bei mir. Sie war eine Musterschülerin, konnte Gedichte auswendig aufsagen und zu jedem Lied die zweite Stimme singen; nur draußen auf dem Schulhof war sie die Schwächste von allen. Wenn ihr ein Ball zugeworfen wurde, ließ sie ihn fallen; wollten wir uns verstecken, wurde sie als erste gefunden; spielten wir die »Reise nach Jerusalem«, blieb sie jedesmal übrig. Eine wie sie konnte nicht gewinnen.

Einmal hantierten wir nach Schulschluß auf dem Hof der Jungen mit Pfeil und Bogen, was natürlich nicht erlaubt war. Wir schossen auf Blechdosen und bunte Luftballons. Rosemarie, die Verbotenes sonst nur heimlich tat, war aus irgendeinem Grund auch mit dabei. Eine Weile ging alles gut, doch dann sah ich, wie ein Pfeil genau auf ihren Kopf zuflog. Was tun? Zum Eingreifen war es zu spät. Blitzschnell stellte ich mir eine Art Heilgenschein vor, der Rosemaries Kopf wie ein Schutzschild umgab, und tatsächlich wurde der Pfeil kurz vor dem Auftreffen abgelenkt.

»Wahnsinn! Habt ihr das gesehen?« rief die Bogenschützin.

Rosemarie selbst wußte von nichts.

»Warst du das, Elisa?« fragte sie, nachdem die anderen sie aufgeklärt hatten.

»Gewiß.«

Sie nahm meine Hand, und wir wurden endlich Freundinnen. Wer weiß, ob ich ohne sie meine magischen Fähigkeiten und meine Vorliebe für religiöse Dispute so früh kennengelernt hätte. Die scheinheilige kleine Rosemarie war ein frommes Kind, das fleißig betete und ein silbernes Marienmedaillon um den Hals trug.

»Wenn ich es am Abend abgenommen habe, küsse ich es, und bevor ich es mir morgens wieder umbinde, küsse ich es noch mal«, erzählte sie.

Ich wollte auch so ein Medaillon haben, doch meine ungläubige Mutter, die Vater und mich nur gelegentlich, und um mit ihm gesehen zu werden, zur Sonntagsmesse begleitete, verbot mir den »Götzendienst«. Was blieb mir anderes übrig, als Rosemarie das Medaillon flinkerhand zu stehlen. Ich küßte es zweimal täglich und versteckte es in meinen Kleidern. Um den Hals meiner Freundin baumelte schon nach einer Woche ein neues Kettchen mit einer noch schöneren, weil bunt emaillierten Madonna. Diesmal gönnte ich es ihr, und so war uns beiden geholfen.

Am meisten Spaß machte uns der Religionsunterricht. Rosemarie, weil sie unseren jungen Herrn Kaplan anhimmeln konnte, und mir, weil ich mit ihm streiten wollte. Einmal in der Woche kam er in unsere Klasse, um uns mit seiner biblischen Geschichte zu beglücken, bei der mir beinah jedes Wort falsch vorkam.

Bei Adam und Eva fing es schon an. Kaplan Kückelmann belehrte uns, die ersten Menschen seien als Ebenbilder Gottes geschaffen worden, und zwar Adam, der Mann, aus Erde, sein Weib Eva dagegen aus Adams Rippe.

Ich stieß Rosemarie in die Seite, sie rührte sich nicht. Verzückt hing sie an des Kaplans feuchten Lippen und wartete auf die nächste Lüge. Und die anderen? Hörten sie überhaupt zu? Sie dösten, schwätzten oder malten. Keines der dreißig braven kleinen Mädchen zuckte zusammen, keines wehrte sich gegen die Märchen, die uns da erzählt wurden.

»Wenn Eva aus Adams Rippe geschaffen wurde«, rief ich, wie immer, ohne mich vorher gemeldet zu haben, in die Klasse, »dann hat sie ja gar keine Seele!«

Kückelmann schwieg. Seine Zungenspitze beulte erst die rechte Wange, dann die linke.

»Und wenn sie keine Seele hat, wie kann sie dann das Ebenbild Gottes sein?«

Nach einer milden Rüge über »Elisas ewige Disziplinlosigkeit« klopfte der Kaplan auf seine Bibel und sagte: »So steht es geschrieben. – Und Adams Seele wird der Allmächtige geteilt haben: Die eine Hälfte für den Mann, die andere für seine Frau.«

»Das habe ich aber anders gehört!« beharrte ich.

»So? – wie denn, mein Kind?«

»Adams Frau wurde ebenfalls aus Erde geschaffen.«

»Wer sagt das?«

»Die Gerechtigkeit.«

Kaplan Kückelmann zuckte die Schultern – endlich wußte ich, an wen er mich erinnerte: an »Küken-Benno«; nicht nur wegen seines Namens –, dann wechselte er schnell das Thema. Zur nächsten Stunde sollte ihm jedes Kind »den Garten Eden mit den ersten Menschen und dem ›Baum der Erkenntnis‹« malen.

Ich wählte den Obstgarten meiner Großmutter für mein Bild, denn einen anderen kannte ich nicht. Unter einem kerzengeraden Apfelbäumchen ruhte der schlafende Adam-Riese; ihm zu Füßen hockte Eva, sein Weib, in Gestalt einer Barbie-Puppe. Die Seele in ihrer Brust war mitten durchgerissen. Statt einer Schlange versteckte ich in der Baumkrone einen rosaroten Phallus mit des Kaplans Gesicht. Kückelmann aber erkannte sich nicht.

»Und die Gerechtigkeit«, sagte er, indem er mir ungelenk über den Kopf fuhr, was bewirkte, daß seine Finger sich in meinen verfilzten Locken verfingen, »die Gerechtigkeit, kleine Elisa, die sieht bei unserem Herrgott auch anders aus.«

Er hätte es sich so gerne leicht gemacht, der Kaplan Kückelmann, ich aber ließ das nicht zu. Viele Religionsstunden lang stritten wir über den Sinn der Erbsünde und meine Beschuldigung, der Gott aus seiner biblischen Geschichte sei ein Schurke, der Adam und Eva am Ende nur verflucht hätte, weil er ihnen ihr Glück zu zweit nicht gönnte. Er war schließlich allein.

Monate später vergoß ich Tränen der Empörung über den Kreuzestod Jesu. An einen so blutrünstigen Vatergott wollte ich nicht glauben. Er sollte die reine Menschenliebe sein oder sich aus allem raushalten. Wieso benötigte er ein Opfer, um seinen Kindern ihre Sünden vergeben zu können? »Der Vater und ich sind eins«, sollte Jesus gesagt haben. Wieso konnte man ihn dann überhaupt kreuzigen?

Sosehr der Kaplan sich auch mühte, er fand nicht die Worte, meinen Zorn zu besänftigen, und litt sichtlich darunter.

Für die anderen kleinen Mädchen war ein Kreuz an der Wand nicht ungewöhnlicher als ein Bild oder eine Lampe, für mich aber war es zum Zeichen der Grausamkeit geworden. Mit Abscheu stellte ich fest, daß es kaum ein Haus in dieser Stadt zu geben schien, in dem nicht eines hing.

Als das Schuljahr vorüber war, sollten wir bei unserem Herrn Kaplan zur ersten Beichte gehen. Mir war gleich klar, daß es keine Sünde gab, die ich noch nicht begangen hatte, und erst recht keine, die ich nicht wieder tun würde. Womit sollte ich also anfangen? Meine fromme Freundin fand »Unkeuschheit« am schlimmsten, vor allem »mit anderen, denn allein sieht es ja keiner«. Typisch Rosemarie, dachte ich und erzählte Kückelmann, was ich damals am neunzehnten Stein mit meinem Onkel erlebt hatte. Ich vergaß auch nicht, Bennos Ähnlichkeit mit ihm zu erwähnen, weil ich hoffte, es würde dem Kaplan gefallen, daß ich so freimütig war.

Kaplan Kückelmann aber bekam einen Schluckauf und wischte sich mit seinem Mundtuch den Schweiß von der Stirn. Als er wieder Herr seiner Stimme war, ließ er mich zur Buße so viele »Vaterunser« beten, daß ich mein Lebtag genug davon hatte.

Auch meine erste Kommunion, die sie die »heilige« nannten, verlief nicht ohne Zwischenfall. Abgesehen davon, daß mir, und nur mir, während der Prozession zum »Tisch des Herrn« durch einen Luftzug Satans die Kerze ausgeblasen wurde und das Myrtenkränzchen auf meinem störrischen Haar nicht halten wollte, hatte man mir die Füße in enge schwarze Lackschuhe gesperrt. Meine empfindliche Sohlenhaut, deren Poren in Wirklichkeit Augen waren, brannten so höllisch, daß sich die ersehnte Ekstase, der ich seit Tagen entgegenfieberte, nicht einstellen wollte. Nicht einmal, als mir die Hostie in den Mund geschoben wurde, streifte mich der Hauch des Wunderbaren, dabei sollte sie durch eine Zauberei des Priesters gerade eben zum »Fleische Jesu« geworden sein. Um den Augenblick bis ins Letzte auszukosten und so vielleicht doch noch in den Genuß himmlischer Seligkeit zu kommen, wollte ich mein hauchdünnes Scheibchen vom Lamm Gottes so lange bei mir behalten wie nur irgend möglich. Ich balancierte es auf der Spitze meiner ausgestreckten Zunge, dabei angestrengt nach unten schielend, um zu ergründen, woraus es denn nun bestand. Doch anscheinend war meine Nase zu lang für derlei Akrobatik; soviel ich auch züngelte und äugte, ich sah nicht viel. Statt dessen drohte mir die heilige Hostie herunterzurutschen. Erschrocken fing ich sie mit den Händen auf, denn sie zu Boden fallen zu lassen, wäre ein Sakrileg gewesen, das selbst hundert Vaterunser nicht hätten wiedergutmachen können. Mit zwei Fingern hielt ich die kleine verwandelte Oblate gegen das Licht und betrachtete sie von allen Seiten, bevor ich sie den Weg jeder irdischen Speise nehmen ließ. Durchsichtig weiß war das Fleisch Jesu gewesen, so wie die Haut von Camael, aber ohne eine Spur von Blut.

Natürlich hatten alle gesehen, was Elisa, das Kind, sich da schon wieder herausnahm. Die Meßdiener grinsten, die Blicke des Herrn Pastor schickten mich in die ewige Verdammnis, und hinterher hieß es, ich habe mit Absicht gefrevelt.

»Du liebst es, Gott zu versuchen«, sprach auch der Kaplan mit betrübter Miene.

Ich lachte. Die Kommunionkerze ohne Licht, der rutschende Kranz, die Schmerzen unter den Füßen ...

»Und wenn es Gott ist, der mich versucht, Kükenmann?«

»Deine armen Eltern!« seufzte der Herr Kaplan.

Damit hatte er zweifellos recht.

Mit den Worten: »Unsere Tochter erfindet die Religion neu, das darf man doch nicht so ernst nehmen«, versuchten meine Eltern, die Bedenken der beiden Geistlichen zu zerstreuen. Mehr wollte ihnen dazu nicht einfallen.

Sie dauerten mich beinahe, diese Eltern, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Sie wurden, was sie von sich dachten. Im Gegensatz zu mir hatten sie ihre Hoffnungen, die mit dem Neuanfang in der Stadt verbunden waren, schon begraben, und zu originelleren Visionen fehlte ihnen die Phantasie oder gemeinsame Kraft.

Wir selbst sind die Schöpfer unserer Welt, das war es, was ich von ihnen lernte. Wenn ich die Mimik meiner Mutter studierte, wozu ich allerdings nur selten Lust hatte, sah ich, wie es hinter ihrer gefurchten Stirn arbeitete, wie ihre Gedanken, die fast ausschließlich dem Tun und Lassen ihres Ehemannes galten, sich, ungefiltert zum Wortschwall aufgebläht, über meinen Vater, den Spieler und Meister der Ironie, ergossen, sobald er des Nachts über die Türschwelle trat. Worte wie Luftballons, die kleinste spitze Bemerkung aus seinem Mund ließ sie zerplatzen. Den Worten würden Szenen folgen, Handlungen, eine noch törichter als die andere, die Handlungen zu Gewohnheiten werden – waren es längst geworden – und die Gewohnheiten zu dem, was sie ihr »Schicksal« nannte. Und all dies nur, weil meine Mutter jedem ihrer Gedanken unkontrolliert seinen Lauf ließ. Ich dankte ihr für die Lektion, und ich verachtete sie dafür.

Mein Vater ließ sich weniger gut beobachten; meist glänzte er durch Abwesenheit. Er sei liebestoll geworden, behauptete seine Frau, ein streunender Kater. Sie hielt es nicht aus mit ihm und ertrug es trotzdem viele lange Jahre. Meinen Lieblingssatz: »Genug ist genug!« – sie sprach ihn nie.

Nachts weinte sie lange und laut und genoß es, tagsüber schlief sie oder las Ratgeberbücher, die ihr nicht halfen. Es war nur gut, daß mein Engelbruder sich davongestohlen hatte, denn bei uns zu Hause wurde nur noch selten saubergemacht oder gekocht, und auch die Großeltern auf dem Land, zu denen man sich hätte flüchten können, gab es nicht mehr. Sie waren kurz hintereinander gestorben, im Abstand von wenigen Wochen, so, wie es nur Menschen fertigbringen, die einander sehr lieben.

Eine Weile hatte Benno noch im Weinberghaus gewohnt und sich um nichts gekümmert, dann wurde es verkauft und der Erlös unter den Geschwistern geteilt.

Ein Jahr später war meinem Vater sein Erbe zwischen den Fingern zerronnen, ohne daß wir ihm dabei hätten helfen dürfen. Um es wieder zurückzugewinnen, spielte er seither Abend für Abend in irgendeinem Club – »Hölle« nannte es meine Mutter. Wenn er spät in der Nacht heimfand, hörte ich sie auf ihn einreden. Ihre Stimme hatte mit der Zeit eine Schärfe bekommen, die nicht nur in den Ohren schmerzte; mir tat das Atmen weh, sobald sie erklang.

Auf warmes Essen und saubere Kleidung konnte ich zur Not verzichten, mein Schlaf aber war mir heilig, seitdem die Visionen der frühen Kindheit allmählich an Leuchtkraft verloren. Die Bilder der Nacht mußten mir nun die einstigen Tagträume ersetzen; ich brauchte die Stille, damit sich der Nachhall aus der Vergangenheit so richtig entfaltete. Dann flog ich noch einmal über Städte und Landschaften, in denen ich schon gewesen war, und wußte, ich würde sie auch in diesem Leben irgendwann aufsuchen und wiedererkennen. Niemand hatte das Recht, mich durch sein Lärmen davon abzuhalten, schon gar nicht die eigene Mutter.

Ich besann mich auf meine magischen Fähigkeiten und versuchte es zum erstenmal in meinem Leben mit einem Schadenzauber. Jener unbeherrschten Lady, so wünschte ich, sollte die Spucke versiegen, die Zunge verdorren, die Kehle austrocknen. Und für den Fall, daß Wünschen allein diesmal nicht genügte, bastelte ich eine Puppe, die ihr ähnlich sah, und schneiderte ihr Kostüme aus den Lieblingskleidern der Lady. Vielleicht tat ich des Guten zuviel, und der Schmerz über die verschandelten Textilien wäre ohne weitere Verwünschungen schon Schaden genug gewesen, jedenfalls verbrühte meine Mutter sich lediglich den Unterarm, weil ein Kessel mit kochendheißem Teewasser, den ich aufgesetzt hatte, wie von Geisterhand bewegt vom Herd rutschte, als sie daran vorbeiging. Sonst geschah nichts. Brandblasen auf der Haut lähmten tagelang die Aktivitäten ihres linken Armes, die Lippen aber waren unversehrt geblieben und produzierten um so fleißiger Sprechblasen.

Als der nächtliche Wahnsinn nicht mehr auszuhalten war, schrieb ich eines Nachmittags mein »Genug ist genug!« auf den Badezimmerspiegel, bevor ich unsere Wohnung verließ, um die Nacht woanders zu verbringen. Was mein Vater tat, konnte ich ebenso gut, auch ohne Spielbank und die weichen Kissen einer Geliebten.

Ich ließ mich einfach in meinem Lieblingskaufhaus einschließen und sagte hinterher, es sei aus Versehen passiert. Im Schein einer Taschenlampe versorgte ich mich mit allem, was ich sonst entbehren mußte. Ich plünderte die Delikatessenabteilung, schaute mir Bücher und Spielzeug an und verkroch mich nach ausgiebigen Streifzügen in einem Zelt der Campingabteilung. Niemand würde mich dort finden, selbst dann nicht, wenn ich bei Tagesanbruch verschlafen sollte. In einen Schlafsack eingehüllt wie in einen schützenden Kokon, dämmerte ich dem Morgen entgegen. Die Stille ringsum war so groß, daß ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte. Ich fühlte mich wie auf einem anderen Planeten ausgesetzt, an einem Ort außerhalb der Zeit. Vollkommen allein und vollkommen geborgen. Kein Wunder, daß der Schlaf mich in dieser ersten Nacht floh und ich ihn auch nicht suchte. Meine Traumbegegnungen, dachte ich, mußten warten, bis ich mich an die neue Kulisse gewöhnt hatte. Nach dem Gefühl, mich in einem Ausnahmezustand zu befinden, schien mich vor allem der Geruch all dieser unbenutzten Dinge in meiner Nähe an das Wachbewußtsein zu fesseln. Zum Fliegen brauchte ich vertrautere Düfte.

»Beim nächstenmal«, flüsterte ich in den rauhen Stoff des synthetischen Schlafsacks, »wirst du mein fliegender Teppich sein.«

Das Kaufhaus war ein Ort des Wunderbaren, und ich suchte es einen Monat lang jeden Freitagabend auf, bevor die alltäglichen Streitereien zu Hause zur Wochenendschlacht ausarteten.

Leider wurde ich schon in der fünften Nacht von dem Schäferhund eines Wachmannes aufgespürt und meinen Eltern zurückgegeben. Sie hatten mich diesmal zwar als »vermißt« gemeldet, scheuten dann aber jede Mühe, mich zum Sprechen zu bringen. Sie konnten, so redete ich mir ein, meine wahren Eltern nicht sein.

Als Gras über die Kaufhaus-Eskapaden gewachsen war, erschloß ich mir weiteres Neuland für abwechslungsreiche Streifzüge und friedvolle Nachtlager: das Mineralienmuseum mit seiner Sammlung im Kerzenlicht schimmernder Edelsteine, den Hochzeitssaal des Rathauses, nebenan die unverschlossene Cafeteria, und im Winter den labyrinthischen Heizungskeller der alten Universität. Die Obdachlosen der Stadt hätten von mir lernen können, aber nur eine von ihnen schloß sich mir an: Friederika, meine unbehauste Freundin aus der Bahnhofsszene. Sie war lesbisch, trug immer Männerkleidung und wollte Frieder genannt werden. Die Freundschaft mit ihr ging nach einigen Monaten zu Ende, weil sie mich, ein Jahrfünft älter als ich, nicht weiblich genug fand und ich überdies ihr Lebensziel, Jungfrau zu bleiben, nicht teilte, sondern diesen Zustand so bald wie möglich beenden wollte.

Zu der Zeit führte ich bereits ein Doppelleben wie mein Vater. Morgens besuchte ich, der Grundschule endlich entwachsen, das Haus der Nonnen und nachmittags die Straßenecken in einem Stadtviertel, das in keinem guten Ruf stand, mich aber magisch anzog. Dort vertrieben sich die »Freudenmädchen« – wie vielversprechend klang allein dieses Wort – die Wartezeit, indem sie einander Geschichten über ihre Freier erzählten. Von ihnen lernte ich, worauf es im weltlichen Leben ankam, während sich die Nonnen um die Rettung meiner Seele bemühten. Die Schwestern und die Straßenmädchen ... ich mochte sie beide. Einmal sollten wir ein auswendig zu lernendes Gedicht von der Tafel abschreiben.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenhuren, stand hinterher, wie von fremder Hand geschrieben, in meinem Heft, und ich hatte es nicht einmal böse gemeint. Trotzdem sollte ich zu meiner Besinnung mit bunter Kreide eine Sonnenuhr auf den Schulhof malen – eine Strafe, die ich sehr genoß, weil sie einmal nicht mit Beten und Stillsitzen verbunden war. Obwohl die Schwestern mir nie so ganz trauten, hatte ich mir ihr Wohlwollen noch nicht verscherzt. Meine nicht einmal geheuchelte Leidenschaft für ihre Religion schien sie zu beeindrucken. Jedenfalls nahmen sie alles ernst, was ich sagte, und wenn ich ihnen erzählte, ich hätte ausgerechnet zu Pfingsten einen Dornbusch brennen sehen, schauten sie auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß und unterschieden mit holder Stimme die Berufenen von den Auserwählten. Sie hatten meinen Eltern versprochen, mich auf den rechten Weg zu bringen; das war ja kein großes Geheimnis. Ich aber erwartete mehr von ihnen. Und wieder fing es mit Adam und Eva an.

»Das Fundament unserer Religion«, schrieb die dreizehnjährige Elisa zum Thema Woran wir glauben in ihr Heft, »ist die Schöpfungsgeschichte. Aber vielleicht wurde sie ja nur erfunden. Wie alle Geschichten. Ohne den Apfelbaum und die Schlange und Adams Frau in dem Bild, das wir uns vom Paradies gemacht haben, gäbe es keinen Sündenfall. Und ohne Sündenfall müßten wir nicht erlöst werden. Der Tod am Kreuz erübrigte sich, und die Kirche wäre dann auch überflüssig. Darum sollen wir lieber an die Schöpfungsgeschichte glauben.«

Die Schwester, die den Religionsunterricht gab, zog eine zweite zu Rat. Über Elisas Kopf hinweg suchten sie nach einer Erklärung.

»Wenn sie nicht so jung wäre«, sagte die eine – ich glaube, es war Laetitia –, »könnte man sie für eine Ketzerin halten.«

Ich hörte das Wort »Ketzerin« zum erstenmal.

»Zu jung gibt es nicht«, sagte Elisa.

Später schlug ich das Wort, das so ähnlich wie »Kätzin« klang, im Lexikon nach: Bezeichnung für Menschen mit abweichender religiöser Meinung, abgeleitet von Katharer (gr. die Reinen), vermutlich im 12. Jahrhundert vom Balkan her eingewanderte religiöse Sekte, stand da.

Das mit der abweichenden religiösen Meinung stimmte ja. Also konnte es nichts Schlimmes sein, zu den »Ketzern« zu gehören. Irgend etwas in mir reagierte auf dieses Wort, aber ich wußte noch nicht, was. Eines Tages würde ich es bestimmt herausfinden.

Die besorgten Schwestern schickten mich mit gemischten Gefühlen hinaus zu den anderen. »Elisa ist ja noch ein Kind«, glaubten sie.

3. Kapitel

Hexen der Nacht

Wochen darauf kam so viel Bewegung in unsere häusliche Szenerie, daß ich die Schöpfungsgeschichte für eine Weile vergaß.

Mein Vater machte den zwanghaften Ritualen von Schuldzuweisungen und Hysterie ein Ende, indem er einfach von zu Hause fortblieb. Er hatte uns verlassen, das ließ sich bald nicht mehr übersehen. Er konnte mein wirklicher Vater nicht sein, wiederholte mein kindlicher Gerechtigkeitssinn. Da er nur sporadisch Geld schickte, sah sich meine Mutter, die nie in ihrem Leben berufstätig gewesen war, gezwungen, ihren Teil selbst zu verdienen. Sie erledigte Schreibarbeiten in einer Ohrenarztpraxis und vermietete eines unserer drei Zimmer an einen Studenten der Theologie.

Ich sah gleich, daß er gut zu mir paßte. Karl-Otto besaß nichts außer einem Goldfischglas, einer Gitarre und einer Sammlung heiliger Schriften. Er hatte hellrotes Haar wie ich als kleines Kind. Ich nannte ihn »Karotto« und ließ ihm Zeit. Zeit, mit meiner Mutter die lang entbehrten Freuden der Liebe zu teilen. Zeit, sich auf das vorzubereiten, was ich eines Tages mit ihm anstellen würde. Denn die Künste meiner prüden Mutter, da war ich mir sicher, würden ihn bald langweilen.

»Alle Ehefrauen sind schlecht im Bett«, hatten mir meine Sonnenhuren verraten, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Der Engel, den die Großmutter bei meiner Geburt gesehen haben wollte, mochte mir möglicherweise die Lippen versiegelt haben – die Kerbe unter meiner Nase war wirklich ausgeprägt genug –, nicht aber die Quelle des Wissens jenseits der Worte. Jedenfalls konnte ich mir die Spielarten der körperlichen Liebe noch sehr gut vorstellen. Der Student Karotto, den meine Mutter hofierte, als wäre er der Mann ihres Lebens, sollte mein erstes Versuchsobjekt werden. Dazu war er ausersehen worden, und nicht nur von mir, denn an den Zufall glaubte ich schon damals nicht.

Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, saß ich, noch ganz das brave kleine Mädchen, auf seinem Schoß und blätterte in seinen Büchern. Mehr als die Evangelien, die ich ja zum Teil aus der Schule kannte, interessierten mich Schriften mit dem geheimnisvollen Namen »Die Apokryphen«.

»Kann ich diese Schriften mal lesen?« fragte ich.

Karotto lachte schallend. »Du schreckst auch vor nichts zurück, bella Elisa! In deinem Alter lesen kleine Mädchen allenfalls Pferdebücher. Die Apokryphen aber sind jahrhundertealte Geheimschriften, außerbiblische Überlieferungen, die immer nur einem nicht allzu großen Kreis von Eingeweihten bekannt waren.«

»Und worum geht es dabei?«

»Um religiöse Texte, von denen die Kirche nichts wissen will.«

Schon das Wort »Geheimschriften« hatte mein Herz höher schlagen lassen, nun aber begann mir die Kopfhaut unter dem Lockenfell zu kribbeln und auch die Sohlenhaut meiner empfindlichen Füße.

»Dann müssen die Texte wahr sein«, behauptete ich.

»Ich glaube, ja«, sagte Karotto ernst. »Wenn etwas in der Lehre der Kirche nicht vorkommt und auch von der Religionsgeschichte verschwiegen wird, verbirgt sich dahinter häufig eine unliebsame Wahrheit.«

Zufrieden lehnte ich mich zurück an Karottos schmale Theologenbrust. »In der Schule nennen sie mich eine ›Ketzerin‹, wenn ich nicht glauben will, was in der Bibel steht.«

»Über die wichtigsten Themen lernt man nichts in der Schule und auch nichts an der Universität«, bestätigte mein Herr Student. »Mit den wirklich brennenden Fragen der Theologie stehst du allein, sobald du sie stellst.«

Genau das hatte ich hören wollen. Diesen Karotto mußte mir der Himmel geschickt haben, wenn nicht die Hölle! Überschwenglich küßte ich sein bärtiges Kinn.

Bei meiner nächsten Sitzung auf Karottos Schoß bemerkte ich außer gewissen Regungen, die mir nicht wenig Vergnügen bereiteten, ein Buch mit dem Foto einer Steinskulptur – ein »sumerisches Relief« nannte es mein leicht verlegener Lehrer -, das mich auf der Stelle gefangennahm. Es zeigte eine nackte Frau von außergewöhnlicher Schönheit. Besonders bemerkenswert erschienen mir die riesigen Flügel an ihren Schultern und ihre überlangen Raubvogelfüße mit den scharfen Krallen. Sie hatte wunderbar gerundete Brüste und auf dem Kopf eine hohe Haube, deren Form mich an ein Schneckenhaus erinnerte. In jeder Hand hielt sie eine Art Ring. Es sei das Omega-Symbol, sagte Karotto. Ich hatte so ein Wesen noch nie gesehen, und es berührte mich tief. Bestimmt war sie eine Göttin oder Zauberin. Geheimnisvoll lächelnd stand sie auf dem Rücken von zwei in die entgegengesetzte Richtung blickenden Löwen, während zu ihrer Rechten und Linken zwei große Eulen saßen, die ihr bis zu den Knien reichten und dieselben Flügel und Füße besaßen wie die Göttin selbst.

Als ich mich von meinem Staunen erholt hatte und mir ein wohliger Schauer nach dem anderen über den Rücken lief, las ich den Text, der dazu gehörte, erst leise, dann laut, damit auch Karotto sich damit beschäftigte: »›Furchtbar ist sie, ungestüm ist sie, sie ist eine Göttin, schrecklich ist sie. Sie ist wie ein Leopard. Ihre Füße sind diejenigen eines Vogels. Ihr Schrei ist der einer Eule. Ihre Hände sind schmutzig. Ihr Gesicht ist das eines starken Löwen. Ihre Haare sind aufgelöst, ihre Brüste sind entblößt. Ihre Hände sind im Fleisch und Blut. Sie dringt durch das Fenster ein, sie schleicht sich an wie ein Schlange. Sie tritt in das Haus ein, sie geht aus dem Haus wieder weg ...‹«

Vor Aufregung versagte mir die Stimme. »Wer ist das?« krächzte ich.