Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft - Dorothy Baker - E-Book

Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft E-Book

Dorothy Baker

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Beschreibung

»Der Roman ist reine, flirrende Energie: Jazz.« Frauke Meyer-Gosau in ›Süddeutsche Zeitung‹ Rick Martin ist ein Waisenjunge, ein Schulschwänzer, arm, unbehütet. Aber er hat Musik im Blut. Zuerst bewundert er die schwarzen Jungs aus den Clubs, dann steht er mit ihnen auf der Bühne. Doch durchspielte Nächte, Alkohol und Enttäuschungen bringen ihn langsam zu Fall. Musikalisch allerdings hat er die Vollkommenheit erreicht, und er weiß: Das Beste ist, sein Leben einer Sache bedingungslos hinzugeben, auch wenn man dabei untergeht.  

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Seitenzahl: 317

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Dorothy Baker

Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit einem Nachwort von Gary Giddins

 

 

 

Für

Raymond Branson Dodds

und

Alice Gray Dodds

 

 

 

Dieser Roman wurde durch die Musik, nicht aber das Leben eines großen Musikers inspiriert, des 1931 verstorbenen Leon (Bix) Beiderbecke. Die Figuren und Geschehnisse in diesem Buch sind frei erfunden und beziehen sich nicht auf reale Musiker oder tatsächliche Begebenheiten.

Prolog

Ich habe beschlossen, Rick Martins Lebensgeschichte aufzuschreiben, jetzt wo alles vorbei ist, wo Rick hinüber und, wie man so schön sagt, zur letzten Ruhe gebettet ist.

Die grundlegenden Fakten sind schnell erzählt. Rick kam in Georgia zur Welt, fünf oder zehn Minuten bevor seine Mutter starb und rund zehn Tage bevor sein Vater sich aus dem Staub machte und ihn bei seiner siebzehnjährigen Tante und deren Bruder zurückließ. Diese beiden schlugen sich acht Jahre später nach Los Angeles durch und nahmen Rick mit, und dort wuchs er so auf, wie es ihm offenbar bestimmt war. Er lernte Klavierspielen, indem er auf den Klavieren in Kirchen und Gasthäusern herumklimperte – überall, um genau zu sein, wo es ein Klavier gab, an das er herankam und auf dem er herumklimpern konnte. Und weil er im Blut hatte, was immer man zum Musikmachen braucht, wurde er schon als Jugendlicher ein sehr guter Pianist. Aber das Klavier war nicht ganz das richtige Instrument für ihn, und so wandte er sich schließlich dem Blech zu – er erarbeitete sich das nötige Geld, um sich eine Trompete zu kaufen. Und dann lernte er diese Trompete zu spielen, und diesmal war es das richtige Instrument. Er lernte viel von Art Hazard, dem großen Negertrompeter, aber das erklärt nicht, warum er so gut wurde.

Er spielte in fünf- oder sechsköpfigen Bands rund um Los Angeles, und eines Tages wurde er von Lee Valentine entdeckt, der seinen Ohren kaum traute. Valentine, der auf Tournee war und in Lichtspieltheatern im ganzen Land auftrat, war von dem schwarzen Bandleader Jeff Williams auf Ricks Fährte gesetzt worden, der nämlich hatte Rick als Jungen in Los Angeles gekannt und als vielversprechenden Kandidaten für eine gute weiße Band in Erinnerung behalten. Lee Valentine fackelte nicht lange, er verpflichtete Rick und nahm ihn mit nach New York.

Er war eine Sensation, vor allem unter Musikern. Eine solche Sensation, dass es nicht lange dauerte, bis Phil Morrison, der damals das beste der großen Orchester leitete, ihn kaufte, und dann war er bei Mr. Morrison eine Sensation. Er liebte seine Arbeit. Er hatte eine Gabe und wusste es. Er ließ nicht nach, spielte unermüdlich, Abend für Abend, und wenn er mit dem Tanzorchester fertig war, traf er sich mit anderen Musikern aus anderen Bands, die herausfinden wollten, wie weit sie gehen konnten, und die restliche Nacht gab er dann alles.

Er ging zu weit. Er schlief nicht und aß nicht, denn es gab so viel anderes zu tun. Zum Beispiel konnte er trinken, und ehe er sich’s versah, trank er fast ununterbrochen, um alles andere am Laufen zu halten. Aber wie sich zeigte, ging diese Rechnung nicht auf, und er beschloss seine Zeit auf Erden, ehe er dreißig war. Betrauert wurde er, das sollte ich vielleicht hinzufügen, von fast niemandem außer mir und zwei Negern, Jeff Williams und Smoke Jordan. Es gab da noch eine Frau namens Amy North, aber was sie fühlte, ist schwer zu sagen. Ich nehme an, der eine oder andere Musiker bedauerte Ricks Tod, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er völlig vergessen sein wird. Eines Tages werden selbst seine Platten am Ende sein und nichts anderes mehr hervorbringen als das Kratzen der Nadel. Dann wird Rick Martin wirklich tot sein, mausetot, und daran will ich gar nicht denken.

Das ist die ganze Geschichte, und sie lässt sich keinesfalls als Variation des großen tragischen Motivs betrachten; sie schildert nicht den Niedergang eines edlen Menschen von hohem Stand – Rick Martin war nie auch nur ansatzweise von hohem Stand, auch wenn er eine Zeit lang viel Geld verdiente. Doch es ist eine Geschichte, die den Klang der Wahrheit hat, und den einen oder anderen Beiklang noch dazu. Es ist eine Geschichte über mehreres – über die Kluft zwischen den musikalischen Fähigkeiten dieses Mannes und seiner Unfähigkeit, diese in sein Leben zu integrieren; über den Unterschied zwischen den Anforderungen des künstlerischen Ausdrucks und den Anforderungen des täglichen Lebens, und schließlich über den Unterschied zwischen Gut und Schlecht in einer originär amerikanischen Kunstform, dem Jazz. Denn es gibt in dieser Musik Gutes und Schlechtes. Es gibt die gefällige Musik, die in den Tanzsälen der Hotels zum Besten gegeben wird, und es gibt die Musik, die aus einem inneren Drang heraus entsteht und nicht für Geld zu haben ist.

Die Geschichte endet mit dem Tod. Unser Mr. Martin steuerte ab dem Moment, wo er herumzuklimpern begann, auf den Abgrund zu. Ich sollte nicht herumklimpern sagen, denn es war ihm von Anfang an ernst damit. Rick Martins Musik hatte immer ein selbstzerstörerisches Element. Er erwartete zu viel von ihr, und er näherte sich ihr aus einer zu tiefen Not. Und das, was er erwartete, fand er letztlich nie. Vielleicht hätte er es in einer anderen Art von Musik finden können, aber er hatte keine Ausbildung und auch sonst keine Möglichkeit, eine andere Art von Musik kennenzulernen. Also blieb er beim Jazz und bei dem nervösen, verrückten Leben, das damit einhergeht. Und er machte etwas Gutes daraus, ja aus seinem eigenen Trompetenspiel machte er sogar etwas ganz Erstaunliches, mit dem er nicht einmal selbst mehr Schritt halten konnte. Auf seine Weise glich er Tonio Kröger, Manns genialem, verwirrtem Dichter, von dem es heißt, »er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebendiger Mensch für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht«.

Das sind nun starke Worte, die, so sollte man meinen, auf einen Dichter wie Tonio Kröger viel eher zutreffen als auf den Mann, der für Phil Morrison eine heiße Trompete spielte. Aber ich sehe das nicht so, und genau deshalb fasziniert mich Ricks Geschichte. Schaffensdrang ist und bleibt Schaffensdrang, egal wo man ihm begegnet. Rick tat das, was er tun konnte, so gut, dass ich für meinen Teil nie wieder seinen Namen werde hören können, ohne Gänsehaut zu bekommen.

Aber man muss vorsichtig sein, wenn man diese Sichtweise vertritt, sonst gilt man schnell als elitär. Tanzmusik sollte in ihren eigenen Begriffen kritisiert werden, doch diese eigenen Begriffe fügen sich zu einem solchen Kauderwelsch, dass kein Außenstehender die Fachsimpelei versteht. Wie kann man vermitteln, welche Gabe Rick besaß und wofür er stand, ohne irgendwann fremdes Terrain zu betreten?

Man könnte Ricks Leben natürlich fiktionalisieren und eine vorhersehbare, kommerzielle Geschichte über einen gut aussehenden jungen Mann schreiben, der eine gute Schule besucht und dann, seiner musikalischen Neigung folgend, nach New York geht, wo er sich einem großen Tanzorchester anschließt. Man könnte ihn ein-, zweimal Marihuana rauchen lassen, nur so zum Spaß, könnte erzählen, wen er liebt und derlei mehr. Er könnte in einer der heiligen Hallen des Kapitalismus Tanzmusik spielen, dem Waldorf-Astoria zum Beispiel, und dort zwischen zwei Sets die Tochter irgendeines Magnaten kennenlernen, es wäre wahre Liebe, und unser Mann müsste nie wieder auch nur einen Abend lang Tanzmusik spielen, sondern könnte fortan Abend für Abend glücklich verheiratet an Deck der Yacht seiner Frau liegen, bis ans Ende seines langen und behüteten Lebens.

Aber das geht nicht. Das hier muss die Geschichte eines jungen Mannes sein, der, ohne selbst genau zu wissen, was es war, die Gabe besaß, eine so natürliche und fließende Musik zu erschaffen wie die von – ach, sagen wir Bach. Rick Martin ließ sich nie darauf festnageln, genau das zu spielen, was für ihn notiert war; er saß da und fügte sich in das allgemeine musikalische Geschehen, aber wenn er selbst an der Reihe war, oder wann immer sich eine Gelegenheit ergab, legte er los und erfand aus dem Stegreif eine so einfallsreiche, frische Musik, wie sie nur je ein Mensch ersann.

Unser Mann ist, das muss ich leider sagen, ein Künstler und schleppt den entsprechenden problematischen Ballast mit sich herum, eine Künstlerseele. Doch was mit dieser einhergehen sollte – es vermutlich allerdings nur selten tut –, nämlich die Fähigkeit, den Körper zu disziplinieren, während der Geist sein darf, was er sein muss, das fehlt ihm. Und so verkommt er, und zwar nicht nur ein bisschen. Er geht auch hier in die Vollen, und es kostet ihn das Leben.

Erstes Buch

1

Vielleicht hätte er sich von vornherein nicht mit Negern einlassen sollen. Es bescherte ihm eine merkwürdige Sicht auf die Dinge, und die wurde er nicht mehr los. Ein Faible für undisziplinierten Ausdruck, eine direkte, leidenschaftliche Herangehensweise, eine lautstarke Ungezwungenheit, die ihm in seinem späteren Umgang mit Menschen seiner eigenen Rasse letztlich nicht von Nutzen war, mit jenen, die von der Zivilisation zurechtgestutzt worden sind, sich beherrschen können und das spielen, was auf dem Blatt steht. Aber was er hätte tun oder nicht tun sollen, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung.

Von seinem achten Lebensjahr an lebte er in Los Angeles – in einem Teil von Los Angeles, wo weder das Klassenbewusstsein noch überhaupt irgendeine Art von Bewusstsein sonderlich ausgeprägt war. Er wohnte mit seiner Tante und seinem Onkel (Bruder und Schwester, nicht Mann und Frau) in einer Mietwohnung und hatte in einem leeren Abstellraum am Ende des Flurs sein eigenes Bett. Einen Großteil der Zeit war er allein. Sein Onkel arbeitete in einem fleischverarbeitenden Betrieb und seine Tante in einer Hosenfabrik. Die Beschäftigung seiner Tante brachte ihm, wenn Anlass dazu bestand und sich alles gut fügte, immer mal wieder eine schöne Hose ein, und sein Onkel bezahlte die Miete und besorgte einen Teil des Essens. Weder Onkel noch Tante waren mehr als ein, zwei Abende pro Woche zu Hause. Sie führten ihr eigenes Leben.

Rick dagegen war fast immer zu Hause. Er las unentwegt Bücher aus der Leihbibliothek, wahllos. Er las sie schnell, eins nach dem anderen, der Inhalt spielte keine Rolle. Es war, als hätte man ihm gesagt, wenn er nicht wenigstens ein Buch pro Tag lese – egal was für eins –, werde ihm etwas ziemlich Unerfreuliches zustoßen. Und so wäre es wohl auch gekommen: Wenn er sich nicht mit Lesen beschäftigt hätte, wäre er beim Gedanken daran, dass er fast nie zur Schule ging und was wohl passieren würde, wenn er dort wieder auftauchte, krank vor Sorge geworden.

Tatsächlich hätte jeder, der ihn kannte, das Gleiche gesagt, nämlich dass er in der Schule einfach keine große Leuchte war – ihm fiel nie auf Anhieb ein, was sieben mal sieben ergab. Er war auch nicht besonders gut darin, den Finger auf die Stelle zu legen, wo der Nil entsprang, oder mit Überzeugung zu sagen, in welche Richtung der Nil floss oder welche Länder er bewässerte, und er hätte nicht mal eine Vermutung dazu abgeben wollen, wie viele Tonnen Sediment der Fluss im Laufe eines Jahres im Delta ablagerte. Selbst wenn es um den Mississippi ging, sah das nicht besser aus. Auswendiglernen konnte er jedoch wie der Blitz. Das heißt, er konnte alles auswendig lernen, was einen gewissen Schwung hatte, was er rhythmisch zu fassen bekam. Aber das half ihm auch nicht weiter. Als sie einmal die Hausaufgabe bekamen, die erste Strophe von ›Die Stunde der Kinder‹ auswendig zu lernen, las er das ganze Gedicht vier- oder fünfmal durch, dann hatte er es im Kopf. Und am nächsten Tag lief erst mal alles gut: Als er an der Reihe war, stand er auf und rezitierte die erste Strophe fehlerfrei, nur vergaß er dann aufzuhören, er sagte auch die zweite Strophe auf und näherte sich der dritten, als der Lehrer sagte: »Setzen. Das hast du ja wohl schon an einer anderen Schule gelernt.«

Und so ging es die ganze Grundschule hindurch; nie schien er auf dem richtigen Fuß loszumarschieren. Er war kein Rabauke, wusste sich durchaus zu benehmen, aber irgendwie kam er einfach nicht recht in Gang, und mit der Zeit wurde es immer schwieriger. Versetzt wurde er trotzdem. Alle wurden trotzdem versetzt. Es war keine leistungsstarke Schule; die Mexikaner lernten nicht gut Englisch, die Nigger machten zu viel Blödsinn, und die Amerikaner schienen nicht aus den richtigen Verhältnissen zu kommen. Die Japaner allerdings – die Japaner waren blitzgescheit, helle Köpfe, sie schlossen die Schule allesamt magna cum laude ab. Ricks Tante ließ zur Abschlussfeier eine weiße Hose für ihn mitgehen.

An der Highschool, wo es hätte besser laufen sollen, lief es noch schlechter. Sein erstes Jahr an der Highschool unterschied sich in einem wichtigen Punkt vom letzten Grundschuljahr: Rick blieb nicht mehr zu Hause und las seine Bücher, sondern er verbrachte seine Zeit in der All Souls’ Mission am Washington Boulevard, nicht weit von der Central Avenue, und probierte dort auf dem Klavier herum. Das ging an seinem ersten Highschool-Tag los. Die Anmeldung lief nicht gut. Er stand fast den ganzen Tag im Flur vor dem Zimmer des Direktors, und als er schließlich an die Reihe kam, war er völlig durcheinander. Höflich, aber verständnislos hörte er sich das Kauderwelsch an – Hauptfächer, Nebenfächer, Pflichtfächer, Leibesübungen, Werkunterricht. Und dann kam der Direktor, oder vielleicht war es auch nur der Fachberater, endlich zur Sache. Die Sache war nämlich die, dass die Schüler schon jetzt entscheiden sollten, welche Richtung sie ihrem Leben geben wollten. Sie konnten zum Beispiel den kaufmännischen Zweig wählen – Schreibmaschineschreiben, Kurzschrift, Buchhaltung und so weiter – und später ins Geschäftsleben eintreten; oder sie konnten sich für einen Lehrberuf entscheiden – Automobilmechanik, Radiotechnik, Holzbearbeitung, Was-weiß-ich. (Heute gibt es an dieser Schule sogar einen Kurs namens Kosmetologie, aber davon wusste man damals noch nichts. Nicht einmal Marcel-Ondulation hatte sich durchgesetzt.) Wenn ein Schüler wiederum einen akademischen Beruf ergreifen wollte – Mediziner, Jurist, Theologe, Lehrer oder was es noch so alles gab –, wählte er tunlichst den allgemeinen College-Vorbereitungszweig. Rick, der einen guten Eindruck machen wollte, sagte spontan: »Das mache ich.«

»Was?«, fragte der Berater.

»Die allgemeine College-Vorbereitung«, sagte Rick höflich, und der Erwachsene notierte: Edward Richard Martin, allgemeine College-Vorbereitung.

»Das wäre es dann erst mal, Edward. Komm morgen um halb neun in den Raum 202 im zweiten Stock.«

Rick ging. Er wusste, dass er wieder auf dem falschen Fuß begonnen hatte, und erwog vage, umzudrehen, seine Schaumschlägerei zuzugeben und sich wie ein Mann für einen ehrlichen Beruf einzuschreiben. Er ging langsamer und noch langsamer, und als er schließlich gar nicht mehr vom Fleck kam, blickte er auf und sah: ALLSOULS’ MISSION. TRITTEIN. RUHEAUSUNDBETE.

Er trat ein. Niemand anders war da. Es war einfach ein großer Raum mit vielen Bänken ohne Lehne, einer Kanzel und in der hinteren Ecke einem Klavier. Rick ließ sich auf eine Bank sinken, griff nach einem Gesangbuch und begann genau an der Stelle, wo er es aufs Geratewohl aufgeschlagen hatte, zu lesen, so schnell er konnte, zufällig war es das Inhaltsverzeichnis. Es las sich nicht sehr gut, nur die ersten paar Wörter der einzelnen Liedtitel wurden aufgeführt, gefolgt von der Seitenzahl.

 

Wie soll ich dich...  7

Befiehl du deine...  43

Nun lob mein...  202

 

Das lenkte ihn nicht ausreichend von seinen Sorgen ab, also wandte er sich einem anderen Teil des Buches zu und begann Lied Nummer 14 Note für Note zu singen. Das war nun etwas, was er in der Grundschule gelernt hatte, er konnte problemlos vom Blatt singen, Violinschlüssel, Bassschlüssel, ganz egal. Als er die Melodie hatte, ging er dazu über, nicht nur die Töne, sondern auch den Text zu singen, aber der war so albern, dass nicht einmal er ihn ertrug, und da kam ihm der Gedanke, er könnte doch mal ausprobieren, ob das auch auf dem Klavier ging.

Wie sich zeigte, ging es gut. Tatsächlich begann an diesem Tag alles seinen Lauf zu nehmen. Rick stand da, den Kopf zur Seite geneigt, die Stirn in Falten gelegt, und ging der Sache auf den Grund. Nach einer Weile schleifte er eine der Bänke heran, sodass sie im rechten Winkel zum Klavier stand, und setzte sich auf das eine Ende. Dort blieb er, bis es dunkel wurde, und man erzählt sich, auch wenn ich es selbst kaum glauben kann, dass er bei Einbruch der Dunkelheit Klavier spielen konnte: Als es dunkel wurde, konnte er Nummer 14 spielen. Dann ging er nach Hause, und da er den Lichtschalter nicht fand, legte er sich gleich ins Bett, damit er darüber nachdenken konnte, wie er das nun eigentlich gemacht hatte und dass es vielleicht noch besser klingen würde, wenn er hier und da eine Kleinigkeit veränderte.

Am nächsten Tag erschien er nicht um halb neun in Raum 202 im zweiten Stock. Er war schon um halb acht in der All Souls’ Mission, und er war froh, dort zu sein.

2

Es scheint verkehrt, dass es diesen Lauf nahm. Man hätte erwarten sollen, dass Edward Richard Martin anstandslos, ganz selbstverständlich, fast jeden Morgen pünktlich in der Lowell Highschool erschien und, da er ja nun ein anständiger, sensibler und durchaus nachdenklicher Junge war, mit der Zeit ein Interesse an ›Ivanhoe‹ oder den ›Klassischen Mythen‹ entwickelte, oder vielleicht hätte er auch einen Sinn für lateinische Konstruktionen oder chemische Formeln bewiesen – irgendetwas hätte ihn angelacht, und er wäre glatt durch die Highschool gekommen, hätte seinen Weg am College gemacht und wäre dann mit jenem besonderen Selbstbewusstsein in die Welt getreten, mit dem College-Absolventen in die Welt zu treten pflegen. Womöglich wäre er sogar an die Börse gegangen und hätte abgesahnt. Viele selbstbewusste junge Männer waren zu genau der Zeit, als Rick so weit gewesen wäre, an der Börse und sahnten ab. Auf jeden Fall hätte man erwarten sollen, dass irgendetwas geschah, was ihn ganz selbstverständlich zu einem gewöhnlichen Alltagsleben führte, dem normalen, kindlichen, unschuldigen Leben, das, sagen wir, Politiker führen, oder vielleicht Ingenieure. Zumindest aber hätte er, wenn er bei der Sache geblieben wäre und die Schule abgeschlossen hätte, bei einer Tankstelle von Standard Oil anheuern können, er sah gut genug dafür aus.

Aber das ist nur eine, und die falsche, Betrachtungsweise. Womöglich wäre er, wenn er eine Schullaufbahn verfolgt hätte und die richtigen Leute auf ihn aufmerksam geworden wären (und diesen Dienst erweist die Zunft der Lehrer recht zuverlässig) – womöglich wäre er zu dem geworden, was er beinahe schon war: ein Mann, der etwas Wichtiges zu sagen hatte.

Da er jedoch fast ein Jahr lang gar nicht und dann zwangsweise an der Lowell Highschool erschien, was ihm keine andere Wahl ließ, als wieder abzuhauen, erübrigt sich jegliche Spekulation.

Was er tat, war für sich genommen völlig in Ordnung, das zumindest kann man sagen. Es ist eine rührende Vorstellung, dass ein gerade mal vierzehnjähriger Junge Tag für Tag in der All Souls’ Mission sitzt, manchmal schon morgens um sechs, auf dem Klavier in der Ecke übt und dabei ein bisschen wie die heilige Cäcilia aussieht, nur blond und kleiner und schmaler im Gesicht. Oder eigentlich gar nicht wie die heilige Cäcilia aussieht, aber wie sie den Eindruck vermittelt, in Musik versunken zu sein.

Er verfuhr strikt eingleisig. Er saß da und nahm sich ein Lied nach dem anderen vor. Wenn er sich eines erarbeitet hatte, schlug er das Gesangbuch aufs Geratewohl irgendwo anders auf und begann mit dem nächsten. Diese Zufallsauswahl war das einzige willkürliche Element in seinem Vorgehen. Der Rest folgte einem festen Schema, das er in den ersten drei Tagen entwickelt hatte und von dem er nicht mehr abwich. Erst spielte er das ganze Lied mit der rechten Hand – die Singstimme –, um sich die Melodie einzuprägen, dann arbeitete er es Takt für Takt durch: erst nur die rechte Hand, dann nur die linke, dann beide zusammen, wieder und wieder, bis er guten Gewissens zum nächsten Takt übergehen konnte. Und wenn er sich auf diese Weise jeden einzelnen Takt erarbeitet hatte, ging er das Lied komplett durch, wieder und wieder, bis es stimmte. Am Anfang brauchte er pro Lied ungefähr zwei Tage, dann, als er häufige Kombinationen zu entdecken begann, dauerte es nicht mehr ganz so lange. Innerhalb von einem Monat war er bei einer Stunde pro Lied angelangt. Und dann hörte er mit der Zufallsauswahl auf und begann sich die Rosinen herauszupicken – er hatte festgestellt, dass manche der Lieder einen gewissen Stil hatten, der den anderen fehlte. Zum Beispiel entdeckte er eines, das viel einfacher aussah, als es war. Es hieß ›Adeste Fideles‹, und er brauchte fast zwei Tage, um es in den Griff zu kriegen, aber als er es schließlich beherrschte, gefiel es ihm von allen am besten, trotz des sonderbaren Titels.

Es war reines Glück, dass er nicht schon früher einem der Gemeindemitglieder von All Souls über den Weg gelaufen war. Er ging ihnen nicht einmal bewusst aus dem Weg; nachdem der Wunsch in ihm erwacht war, herauszufinden, wie man Klavier spielt, kam er gar nicht mehr auf den Gedanken, dass die Mission irgendetwas anderes sein könnte als ein Raum mit einem Klavier. Doch das war sie. Unter der Woche fanden dort an mehreren Abenden Versammlungen statt und am Sonntag den ganzen Tag über bis in den Abend hinein. Sonntags verpasste Rick sie, weil da seine Tante und sein Onkel meistens zu Hause waren und er das Gefühl hatte, er sollte daheim bleiben. Und abends war er nie da, weil er nach wie vor nicht herausgefunden hatte, wo man das Licht einschaltete.

Aber so konnte es natürlich nicht ewig bleiben. Eines späten Nachmittags kamen fünf oder sechs von ihnen etwas früher und trafen ihn dort an, und sie machten ein ziemliches Trara darum. Nicht dass sie verärgert gewesen wären, ganz im Gegenteil, sie gerieten völlig aus dem Häuschen. Rick saß am Klavier und spielte sehr schön, er hörte sie nicht einmal hereinkommen. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, die Lippen geschürzt, und sein Haar leuchtete vom späten Sonnenlicht, das in einem einzelnen konzentrierten Strahl durchs Fenster hereinfiel. Wer im Halluzinieren geübt war, hätte dieses Licht leicht für einen Heiligenschein halten können. Für diese Leute reichte es jedenfalls aus. In ihrer Religionsversessenheit kamen sie zu dem Schluss, Rick müsse ein Engel sein, der zudem aus gutem Grund hier in die All Souls’ Mission gesandt worden sei – höchstwahrscheinlich, um sie schon im Voraus von der Wiederkunft des Herrn zu unterrichten. Dementsprechend versuchten sie ihm nun irgendeine Botschaft abzuringen. Sie waren alle ziemlich durchdrungen von dem, was Sekten wie die ihre gemeinhin befeuert, und wurden Rick gegenüber einigermaßen rabiat, denn jeder wollte der Erste sein, der die Neuigkeit erfuhr. Dafür, dass sie nur so wenige waren, veranstalteten sie ein Riesenspektakel, und für Rick war es, als würde er von Plünderern aus süßem Schlummer gerissen.

Sie waren berühmt-berüchtigt, die All Souls, und ihr Glaube war eine hübsche Mischung aus Spiritualismus, lautstarker Ekstase, direkter Kommunion und Exorzismus. Einmal waren sie sogar geschlossen vorgeladen und vernommen worden, nachdem sie versucht hatten, einem der Ihren durch Geißelung den Teufel auszutreiben. Tatsächlich prügelten sie ihm die Seele aus dem Leib, und er starb. Das Verfahren wurde schließlich mangels Beweisen eingestellt, denn wenn es erforderlich war, konnten die Souls still und stumm sein. Es war schön für Rick, dass er diese Geschichte nicht kannte, denn schon so hatte er höllische Angst. Er brachte nichts über die Lippen, was einer Botschaft geglichen hätte, und sie wiederum verloren irgendwann das Interesse an ihm und begannen ihre eigenen Botschaften zu verkünden. Das Ganze mündete schließlich in sinn- und planloses Geschrei: »Gelobt sei der Herr, ich habe ein sündiges Leben geführt!«

Nachdem das eine ganze Weile so gegangen war, fasste sich Rick. Er probierte es mit einer denkbar einfachen List, und sie funktionierte. Er ging zu einer der Frauen, und zwar zu derjenigen, die so etwas wie die Anführerin zu sein schien, sagte in höflichem, vertraulichem Ton: »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da«, und verließ den Raum. Dann rannte er die ganze Strecke bis nach Hause, er wollte bei seinem Onkel schlafen. Das Einzige, was ihn davon abhielt, war die Tatsache, dass sein Onkel nicht nach Hause kam.

3

Danach saß Rick der heilige Schreck in den Knochen. Verloren irrte er umher, denn er hatte nichts mehr zu tun, nun da ihm das Klavier der All Souls nicht mehr zur Verfügung stand. Er hatte die Wahl, wieder in die Schule zu gehen, einen Rüffel wegen sechs Wochen unerlaubten Fernbleibens zu kassieren und sich dann abzurackern, um den verpassten Stoff nachzuholen, oder sich wieder zu Hause hinter seinen Büchereibüchern zu verschanzen, oder gar das Unmögliche zu tun: wieder zur Mission zu gehen, ein weiteres Zusammentreffen mit den Souls zu riskieren und ihrer ungeachtet auf ihrem Klavier zu spielen. Es war keine befriedigende Auswahl. Lesen fesselte ihn nicht mehr, und für eine Rückkehr in die Schule war es ein bisschen spät – mit sechs Wochen Vorsprung übertrumpfen einen selbst die Mexikaner, und die Japaner standen wahrscheinlich schon kurz vor ihrem nächsten Schulabschluss. Die All Souls’ Mission schließlich war jetzt reines Gift für ihn. Wenn er sich ihr auch nur auf eine Meile näherte, drehte sich ihm der Magen um. Drei Möglichkeiten, aber keine wirkliche Option.

Also schlug er den Weg ein, der seinen Interessen am wenigsten entgegenstand. Er trieb sich vor Pfandleihhäusern herum, beäugte durchs Schaufenster sämtliche tragbaren Musikinstrumente und versuchte dahinterzukommen, wie man wohl auf einer Klarinette von einem Ton zum nächsten gelangte. Und als er meinte, das begriffen zu haben, wandte er sich der Trompete zu (in einem Schaufenster hingen gleich fünf Exemplare), aber deren Spielweise ließ sich viel schwerer durch Betrachtung ergründen. Eine Tonleiter umfasst acht Töne, aber an der Trompete lassen sich nur drei Teile bewegen. Er gab es schließlich auf, oder zumindest beschloss er, zu warten, bis er mal eine Trompete in den Händen hielt und es selbst herausfinden konnte. Er erwog, irgendetwas zu verpfänden und sich dafür eine Trompete zu kaufen, genau genommen dachte er an nichts anderes, aber der einzige Plan, der ihm vielversprechend erschien – nämlich Bücher aus der Leihbibliothek zu versetzen –, erwies sich als nicht praktikabel. Er hatte vier Hosen, eine so gut wie die andere, und drei raffinierte Kleiderbügel dafür, doch deren Verpfändung kam beim besten Willen nicht in Betracht, denn seine Tante hatte einiges auf sich genommen, um sie ihm zu besorgen. Aber er konnte sich auch nicht länger auf der Straße herumtreiben und sich die Nase an den Schaufenstern von Pfandleihen plattdrücken. Für so etwas kann man eingebuchtet werden, das ist Landstreicherei. Ja schlimmer noch, in Ricks Fall war es Landstreicherei und Schulschwänzerei, dafür würde man ihn wieder in die Schule schleifen. Das musste ihm keiner sagen.

Und dann kam ihm plötzlich der Gedanke, dass es doch das Klügste wäre, sich Arbeit zu suchen und Geld zu verdienen, damit er sich mit einer ehrlich erworbenen Klarinette oder Trompete in die Wohnung seines Onkels zurückziehen und seine Studien an dem Punkt wieder aufnehmen konnte, wo er sie unterbrochen hatte. Es wäre kinderleicht, irgendwo ein Gesangbuch aufzutreiben, All Souls’ war nicht die einzige Kirche in Los Angeles. Auch ein paar richtige Noten aufzutreiben, war kinderleicht, wenn man wusste, wo man danach schauen musste.

Allerdings war er klein – mit seinen vierzehn Jahren sah er aus wie ein Zehnjähriger, und ein nicht besonders kräftiger Zehnjähriger noch dazu. In einem Knabenchor wäre er am richtigen Platz gewesen – das war auch so ungefähr die einzige Tätigkeit, für die er geeignet gewesen wäre –, aber Knabenchöre gab es weit und breit keine. Wohl aber gab es in diesem Stadtteil eine Kampfarena, und dort ging er hin und fragte, ob er an den Kampfabenden Programme und Ersatzbier verkaufen könnte. Man nahm ihn nicht. Er hatte es schon gewusst, bevor er fragte. Er war zu wenig an der frischen Luft gewesen, war schlecht ernährt und zeigte Spuren frühreifer Nachdenklichkeit, und angesichts dieser Umstände, die allesamt gegen ihn sprachen, konnte niemand erwarten, dass er die Aggressivität und den primitiven Optimismus entwickeln würde, die für einen Verkäufer so wichtig sind. Nebenan in der Sportschule von Harry Beavers war es nicht anders. Rick stand eine Weile herum, und schließlich kam Beavers höchstpersönlich zu ihm und fragte: »Was gibt’s, Junge?« Und als Rick es ihm gesagt hatte, grinste Beavers ihn freundlich an und sagte: »Weißt du was: Wenn wir mal jemanden brauchen, der einen Schwamm in den Ring wirft, ruf ich dich an.«

Und dann, als es wirklich finster aussah, fiel ihm eine Arbeitsstelle in den Schoß. Eines Nachmittags ging er hinunter, um sich in Gandy’s Pool Hall–Billard–Snooker-Bowling einen Schokoriegel zu kaufen, und während er sich einen aussuchte, sah er in dem Schaukasten ein Schild: Aushilfe gesucht. Er bezahlte seinen Riegel, steckte ihn ein und ging einmal quer durch den Raum, um sich zu beruhigen. Dann ging er wieder zurück und fragte den Mann hinter dem Tresen (es war Gandy selbst): »Brauchen Sie noch eine Aushilfe?«

Und das war es dann auch schon. Er machte sich gleich an die Arbeit. Sie bestand einzig und allein darin, die Pins auf der einen Bahn wieder aufzustellen, während sie auf der anderen umgeworfen wurden, und sie dann auf der anderen Bahn wieder aufzustellen, während sie auf der einen, die er gerade hergerichtet hatte, erneut umgeworfen wurden, und so immer weiter. Ricks Vorgänger, erklärte ihm Gandy, habe einmal bei der Arbeit nicht richtig aufgepasst und sich am Bein verletzt, »also immer schön den Ball im Blick behalten, du machst das auf eigene Gefahr«.

Eine gute Stelle und zwei fünfzig die Woche, also zwanzig Dollar für zwei Monate, vierzig für vier, und dann auslaufen lassen: aufhören und kaufen, was er wollte, einfach so. Und bis dahin immer schön den Ball im Blick behalten.

4

Edward Richard Martin kam mit seiner Arbeit gut zurecht. Zumindest behielt er sie. Er stellte die Pins auf der anderen Bahn flink wieder auf, hütete sich vor dem Ball, und jeden Samstagabend bekam er seinen Lohn ausgezahlt, zwei fünfzig direkt auf die Hand. Außerdem lernte er bei Gandy seinen ersten Freund kennen, Smoke Jordan – seinen ersten, letzten, treuen Freund Smoke.

Smoke Jordan arbeitete immer mal wieder bei Gandy; er fegte und wischte. Vor längerer Zeit hatte er auch mal Ricks Arbeit gemacht, aber dann war das Geschäft mit dem Bowling immer schlechter gelaufen, und irgendwann war Gandy der Sache auf die Spur gekommen und hatte einen kleineren und weniger bedächtigen Pin-Aufsteller eingestellt. Smoke war achtzehn, gut einen Meter achtzig groß und ziemlich dunkel, irgendwo zwischen Ochsenblut und Mitternachtsblau, eine schöne, tiefe Farbe mit feinem Schimmer. Er war ein nachdenklicher Junge und neigte zur Gemächlichkeit, seine Bewegungen waren langsam und präzise. Gandy meinte, er sei nicht ganz da, doch da irrte er. Smoke war langsam, aber das hatte einen Grund. Sein Gang, dieser schlurfende Schritt, mochte auf den ersten Blick aussehen wie der eines trägen Menschen, aber stellte man sein Urteil hintan und sah ihm beim Gehen wirklich zu, merkte man, dass diesem Schlurfschritt ein klares Zeitmaß zugrunde lag, wie einem langsamen Tanz. Und genau das war er auch. Smoke Jordan hatte immer einen Rhythmus im Ohr, zu dem er manchmal, ja eigentlich fast immer, sang und manchmal auch einfach nur ging, ganz langsam, kaum dass er die Füße anhob. Wenn man achtgab, erkannte man das, denn ab und zu hörte er auch mal einen schnellen Rhythmus und dann sauste er durchs Zimmer wie sonst wer. Aber er mochte es langsam, und das war es, was Gandy durcheinanderbrachte.

Wenn Smoke einen Besen vor sich herschob, kam nicht viel dabei heraus – er hatte einen Kehrstil entwickelt, der sich von Anfang bis Ende gut anhörte. Unter Nützlichkeitserwägungen hatte dieser Stil allerdings gewisse Mängel, denn er wirbelte eine Menge Staub auf und bewirkte sonst nichts.

Deshalb machte Smoke diese Arbeit nur ab und zu. Gandy feuerte ihn mit einer Regelmäßigkeit, die sich als periodische Welle hätte darstellen lassen. Fast genauso regelmäßig stellte er ihn nämlich auch wieder ein, denn Smoke war fast immer irgendwo in der Nähe, und wenn Gandy etwas erledigt haben wollte, fiel sein Blick fast immer auf ihn. Er entwickelte sogar ein persönliches Interesse an ihm, versuchte mehr als einmal, ihm beizubringen, unter Nützlichkeitserwägungen zu fegen, den Besen immer in dieselbe Richtung zu ziehen, sodass er, wenn er auf diese Weise den Raum abgeschritten hatte, notgedrungen mit einem Haufen irgendwas direkt vor dem Besen dastand, »es ist ganz einfach, versuch’s mal«.

Also versuchte Smoke es, mit Gandy an seiner Seite, der ihm wie ein Steuermann beim Rudern Anweisungen erteilte: »Ziehen, ziehen, ziehen, zu dir, zu dir, zu dir, nein, Herrgott noch mal, nicht schieben, heb den Besen an, wenn du neu ausholst, sonst verteilst du den Dreck doch wieder, wie oft hab ich dir das gesagt, du Trottel! Zu dir, immer zu dir, so.« Aber sobald Gandy von ihm ablassen musste, weil ein Kunde das Würfelspiel oder eine Zigarre haben wollte, setzte Smoke mit der Zielstrebigkeit des integren, unbeirrbaren Künstlers wieder sein Offbeat-Gewische fort.

Als Rick bei Gandy anfing, zeigte eine Art innerer Kompass Smoke, wo sein Publikum zu finden war, und bald fegte er fast ausschließlich hinter den Bowlingbahnen, wo dafür kaum Bedarf bestand. Dort lehrte der Schwarze den Weißen dann, was Rhythmus ist. Nicht durch lange Erklärungen, sondern durch praktische Anschauung. »Hier, hör mal«, sagte er, bevor er mit einem neuen Rhythmus begann. »Oder so. Was hältst du davon?« Er gab Beispiele seiner Arbeit, bis er Rick so weit hatte, dass dieser angesichts eines neuen, fast undurchschaubar komplizierten Patterns spontan auflachte, und nun gab es kein Halten mehr – Rick war infiziert, für immer den Synkopen verfallen.

Danach ging es Schlag auf Schlag. Rick begann die Lieder zu singen, die Smoke sang, er hatte sie im Ohr, wenn Smoke nicht da war. Er ertappte sich dabei, wie er die Melodien pfiff, und dann kam der Text ganz von selbst nach, mit Smokes Betonungen, in dessen Interpretation, wie von einer Schallplatte. Rick hatte im Nu ein Repertoire von rund fünfzehn Stücken, die er innerhalb des ersten Monats seiner Bekanntschaft mit Smoke regelrecht aufgesaugt hatte. Es waren größtenteils Bluessongs, etwas städtischer und weniger unmittelbar als der ursprüngliche, unverfälschte Blues der Südstaaten-Neger, aber mit demselben melancholischen Urvater, die Frucht eines jüngeren, möglicherweise weißen Erzeugers. Die Blues, die Smoke und dann auch Rick sang – ›Memphis Blues‹, ›Beale Street Mamma‹, ›Stackolee Blues‹, ›Wang Wang Blues‹, ›St. Louis Blues‹ und wie sie alle heißen –, hatten von ihrem Urvater die primitive Würde des Erzählstils und die stets traurigen Geschichten geerbt – von Armut, dem langsamen Sterben der Liebe, der schrecklichen Tatsache der Untreue, dem Drang wegzugehen, irgendwohin, wo sich das nicht wiederholen würde, seine Sachen zu packen und sich aus dem Staub zu machen. Sehr traurige Geschichten in sehr traurigen Worten, die Rick Martin allerdings nicht mehr bedeuteten als der Text von ›Befiehl du deine Wege‹, sie waren einfach nur Vehikel für die Melodie. Für Rick war die Melodie das Fesselnde an diesen Stücken, und für Smoke war es der strikt durchlaufende Beat, der beständige Viervierteltakt, den er in wer weiß wie viele Richtungen zu treiben wusste.

Smoke gab sich schließlich als das zu erkennen, was er tatsächlich war, nämlich ein professioneller Schlagzeuger mit Amateurstatus, Letzteres nur deshalb, weil er angesichts der wiederholten Rausschmisse bei Gandy sowie der Ansprüche seiner Familie, wenn er mal einigermaßen bei Kasse war, nie in der Lage gewesen war, sich einen Gewerkschaftsausweis zu besorgen. Hinzu kam, dass er keine Basstrommel mehr hatte, seit seine kleine Schwester Bluebelle von der Spüle direkt auf das eine Fell gefallen war und es durchschlagen hatte, und das andere hielt seither auch nicht mehr richtig. Es war ein merkwürdiger Unfall, Smoke fand nie heraus, was eigentlich genau passiert war. Er hatte die Trommel auf die Seite gelegt und war dabei, mit Klebeband eine Stelle zu flicken, an der das Fell fast durch war, als er meinte, jemanden an der Haustür zu hören, es war Mrs. Johnson, und kaum hatte er sie eingelassen, hörte er ein furchtbares Gebrüll aus der Küche, rannte zurück und stellte fest, dass Bluebelle geradewegs durch das Fell in die Trommel gefallen war. Da war nichts zu machen – Bluebelle konnte ihm nicht sagen, was passiert war, weil sie damals noch nicht sprechen konnte, und jetzt, wo sie einigermaßen sprechen gelernt hatte, schien sie keine Erinnerung mehr daran zu haben.

Seit damals hatte Smoke nur noch einen großen alten Koffer als Basstrommel, den sein Bruder Henry benutzt hatte, als er Jerseys verkaufte. Wenn man direkt gegen die Mitte des Koffers trat, klang er sogar ganz gut, nur wollte er einfach nicht stehen bleiben. Man musste ihm hinterherwandern, denn mit jedem Tritt rutschte er ein Stückchen weiter. Und wenn man ihn an die Wand stellte, klang er nicht so gut, offenbar musste er frei stehen, um den gewünschten tiefen Klang zu erzeugen.

Smoke war der erste Mensch, mit dem Rick wirklich redete, dem er etwas zu sagen hatte. Seinen Onkel und seine Tante kannte er kaum, und während seiner Büchereibuchzeit war er ohne Freunde ausgekommen. Aber jetzt war Smoke da – ein Nigger, daran führte kein Weg vorbei, mit einem Gesicht, das glänzte wie mit Schuhwichse poliert, einem Mund voll strahlend weißer Zähne, die wie Leuchttürme aufblitzten, wenn er den Mund aufmachte, und einem runden Schädel, der von bleistiftbreiten Reihen dicht anliegender, drahtiger schwarzer Löckchen bedeckt war. Auch vom Wesen her war er afrikanisch – langsam und gelassen. Er redete immer häufiger mit Rick, und Rick, zum ersten Mal von dem Gefühl erwärmt, dass jemand seine Gesellschaft suchte und sich vor