Ich möchte eine Mutti haben - Susanne Svanberg - E-Book

Ich möchte eine Mutti haben E-Book

Susanne Svanberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Die beiden Mädchen hielten sich ängstlich an den Händen. Staunend betrachteten sie die fremde Umgebung. Eben hatten sich ihre Eltern von ihnen verabschiedet. Etwas zu rasch und flüchtig, wie Denise von Schoenecker es schien. Das Ehepaar Christ wollte eine Vergnügungsreise antreten, bei der es die Kinder nicht mitnehmen konnte. salon. Da Denise dort auch Kundin war, hatte man sie gebeten, die Geschwister für drei Wochen in Sophienlust aufzunehmen. »Bist du auch eine Kinderschwester, Tante?« erkundigte sich Caroline, das ältere der beiden Mädchen mit heller Stimme. Caroline war sechs Jahre alt und genauso wie ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Nadine ein äußerst reizvolles Geschöpf. Langes blondes Haar, tiefblaue Augen und ein kesses Stupsnäschen waren die auffallendsten Merkmale des kleinen Persönchens. Die beiden Schwestern waren nach der neuesten Kindermode gekleidet, für Denises Geschmack etwas zu elegant und nicht ganz praktisch. Heimlich nahm Denise sich vor, aus dem Koffer der beiden die Sachen herauszunehmen, die sich zum Spielen besser eigneten. Gewinnend lächelte Denise die beiden Mädchen an. »Ich bin die Mutti von Nick und Henrik«, beantwortete sie die Frage. »Ihr werdet sie am Nachmittag kennenlernen. Jetzt sind die beiden in der Schule.« »Du bist eine Mutti?« Caroline machte große, erstaunte Augen.

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Sophienlust – 449 –

Ich möchte eine Mutti haben

Unveröffentlichter Roman

Susanne Svanberg

Die beiden Mädchen hielten sich ängstlich an den Händen. Staunend betrachteten sie die fremde Umgebung. Eben hatten sich ihre Eltern von ihnen verabschiedet. Etwas zu rasch und flüchtig, wie Denise von Schoenecker es schien.

Das Ehepaar Christ wollte eine Vergnügungsreise antreten, bei der es die Kinder nicht mitnehmen konnte. Beate und Walter Christ besaßen in der Stadt einen gutgehenden Mode-
salon. Da Denise dort auch Kundin war, hatte man sie gebeten, die Geschwister für drei Wochen in Sophienlust aufzunehmen.

»Bist du auch eine Kinderschwester, Tante?« erkundigte sich Caroline, das ältere der beiden Mädchen mit heller Stimme. Caroline war sechs Jahre alt und genauso wie ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Nadine ein äußerst reizvolles Geschöpf. Langes blondes Haar, tiefblaue Augen und ein kesses Stupsnäschen waren die auffallendsten Merkmale des kleinen Persönchens.

Die beiden Schwestern waren nach der neuesten Kindermode gekleidet, für Denises Geschmack etwas zu elegant und nicht ganz praktisch. Heimlich nahm Denise sich vor, aus dem Koffer der beiden die Sachen herauszunehmen, die sich zum Spielen besser eigneten.

Gewinnend lächelte Denise die beiden Mädchen an. »Ich bin die Mutti von Nick und Henrik«, beantwortete sie die Frage. »Ihr werdet sie am Nachmittag kennenlernen. Jetzt sind die beiden in der Schule.«

»Du bist eine Mutti?« Caroline machte große, erstaunte Augen.
»Gehst du denn nicht ins Geschäft?«

»Unsere Mutti ist nie daheim«, mischte sich jetzt die kleine Nadine ein. Sie hatte wie ihre Schwester blaue Augen, aber rötliches, etwas lockiges Haar.

»Ich kümmere mich um die Buben und Mädchen in unserem Kinderheim«, antwortete Denise. »Frau Rennert, unsere Heimleiterin, Schwester Regine und einige nette junge Mädchen helfen mir dabei.«

Es war Denise schon früher aufgefallen, daß sich die elegante Frau Christ kaum um ihre Kinder kümmerte. Sie schien nur ans Geschäft zu denken. Denise fand, die Kleinen waren zu bedauern.

»Magst du die anderen Kinder auch, nicht nur deine beiden Buben?« fragte Caroline zutraulich. Sie kam einen Schritt näher und schaute Denise forschend ins Gesicht. Nadine hielt sich dicht hinter ihr.

»Natürlich. Ich habe alle lieb.«

»Uns auch?« piepste das kleine Mädchen.

Es war nicht schwer zu erraten, daß die Christ-Kinder Liebe und Geborgenheit vermißten. Die Eltern hatten keine Zeit für sie, und das Personal wechselte häufig.

»Ja. Euch mag ich auch«, versicherte Denise, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete. Nick hatte das ehemalige Gut mit seinen großen Ländereien von seiner Urgroßmama geerbt. Nach ihrem Willen war in Sophienlust ein Heim für Kinder entstanden, die Hilfe brauchten.

Die beiden Kleinen fühlten, daß Denise es gut mit ihnen meinte. Sie kamen noch näher, lehnten sich scheu an die hübsche, mütterliche Frau. Als Denise sie liebevoll in die Arme schloß, leuchteten die blauen Kinderaugen auf.

Denise von Schoenecker war erschüttert. Sie hatte viel Erfahrung im Umgang mit Kindern, doch sie hatte noch nie erlebt, daß kleine Mädchen so sehnsüchtig auf ein bißchen Liebe gewartet hatten.

Denise nahm sich Zeit für die Geschwister. Sie redete mit ihnen, strich ihnen zärtlich übers Haar und tat alles, um ihnen das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Später zeigte sie ihnen das geräumige Haus und stellte ihnen die übrigen Bewohner von Sophienlust vor.

Caroline und Nadine wichen nicht von Denises Seite.

Auch als die kleine Heidi, die schon lange in Sophienlust lebte, die beiden bat, mit ihr in den Garten und zum Spielplatz zu gehen, lehnten sie konsequent ab.

Deshalb entschloß sich Denise, die schriftlichen Arbeiten, die sie an diesem Tag hatte erledigen wollen, zurückzustellen und statt dessen mit den Kindern im Garten zu spielen. Doch auch hier trennten sich Caroline und Nadine nicht von ihr. Weder der Anblick der weiten Spielflächen, noch die vielen Tiere, die es in Sophienlust gab, konnten die beiden Mädchen veranlassen, von Denises Seite zu weichen.

Immer wieder schauten sie vertrauensvoll lächelnd zu Denise empor, um sich gleich darauf noch enger an ihre Seite zu schmiegen. Sie beobachteten, wie Heidi und ihre kleinen Freunde von einem Spielgerält zum anderen liefen, wie sie die Hunde, Katzen und Ponys streichelten.

»Dürfen sie das?« wollte Caroline immer wieder wissen.

Denise nickte zustimmend und erkannte aus dieser Frage, daß die Christ-Kinder offensichtlich nur wenig Freiheit genossen hatten. Dabei waren ihre Eltern ganz bestimmt nicht arm. Wußten sie denn nicht, was Kinder brauchen, um sich normal entwickeln zu können? Es würde schwer sein, den beiden Mädchen in den drei Wochen jenes gesunde Selbstvertrauen zu geben, das in diesem Alter eigentlich selbstverständlich war.

*

Der neunjährige Patrick kaute mit vollen Backen. Sein Mund war ringsum mit Kakao verschmiert. Honig klebte an seinen Fingern, aber seine dunklen Augen strahlten. Er genoß das Frühstück mit seiner Mutti auf der Dachterrasse.

Man hatte von hier oben einen wundervollen Blick über die Stadt bis hinüber zu den grünen Wiesen und den bewaldeten Hügeln. Ein klarer blauer Himmel wölbte sich über der heiteren Landschaft.

Doch das alles interessierte Patrick wenig. Er freute sich auf die bevorstehenden Ferien, war froh, dem Zwang der Schule für einige Wochen entrinnen zu können.

»Kommst du bestimmt zu unserer Schlußfeier, Mutti?« erkundigte er sich mit schiefgelegtem Köpfchen.

»Ganz bestimmt«, versicherte Michaela Schumann und betrachtete stolz ihren Sohn. »Ich möchte doch dabeisein, wenn du das lustige Gedicht von den Ferien am Meer vorträgst. Ich muß vorher nur noch rasch zum Bauamt, um die Entwürfe für die neue Festhalle abzugeben.«

»Mami, darf ich sie vorher noch sehen?«

»Sie hängen noch am Zeichenbrett in meinem Atelier.«

Michaela war Innenarchitektin. Obwohl sie ihren Beruf erst seit zwei Jahren ausübte, hatte sie sich schon einen recht guten Namen gemacht. Ihre Arbeiten gefielen, sie verdiente gut. Vor einigen Monaten hatte sie ein Penthouse im Neubaugebiet der Stadt gekauft. Seither wohnten Patrick und sie in luftiger Höhe und fühlten sich pudelwohl. Die Dachterrassenwohnung war geräumig und modern.

Patrick stürmte hinüber ins Atelier, das an zwei Seiten wandhohe Fenster hatte. Bunte Markisen hielten die Sommersonne ab.

»Toll, Mami. Spitze!« Patrick fand alles, was seine Mutter zeichnete, große Klasse. »Mami, du bekommst bestimmt den Zuschlag.« Der Junge wußte natürlich, daß es sich um eine Ausschreibung handelte. »Und dann fahren wir in die Ferien, nicht wahr?«

Patrick war laut, und Michaela war froh, daß sie ihm das nicht verwehren mußte. Hier oben auf dem zwölfstöckigen Hochhaus störten sie keinen. Hier waren sie allein.

Doch Michaela wußte nicht, ob dies noch lange so sein würde. Denn sie sehnte sich in letzter Zeit immer häufiger nach einem Partner. Sosehr sie ihr Kind auch liebte, soviel Zeit sie ihm auch widmete, im Grunde war sie doch allein. Allein an den langen Abenden, allein bei allen Entschlüssen.

Michaela Schumann war erst siebzehn Jahre alt gewesen, als ihr Sohn Patrick auf die Welt gekommen war. Sie war ein unerfahrenes junges Mädchen gewesen, für das der Rausch der ersten Liebe nicht ohne Folgen geblieben war. Doch Michaela hatte das Kind gewollt. Auch dann, als sich herausgestellt hatte, daß zwischen ihr und Patricks Vater doch nicht die große Liebe bestand, als die Zuneigung rasch abkühlte. Es hatte ihr nichts ausgemacht, daß aus der geplanten Heirat nichts geworden war. Sie hatte sich trotzdem auf ihr Kind gefreut.

Eine große Hilfe in jener Zeit waren ihr die Eltern gewesen, die sich des kleinen Patricks angenommen hatten, während Michaela weiterhin zur Schule gegangen war und schließlich das Abitur gemacht hatte. Auch während der Studienzeit war Patrick bei den Großeltern gewesen.

Auf einer Urlaubsreise waren Anna und Josef Schumann dann tödlich verunglückt. Michaela und der Junge waren allein zurückgeblieben. Noch enger hatten sie sich in dieser Zeit zusammengeschlossen, noch herzlicher war ihr Verhältnis geworden.

Michaela hatte ihre Entscheidung von damals nie bereut. Patrick hatte sich zu einem hübschen, lebhaften Kind entwickelt, das ihr viel Freude machte.

»Natürlich fahren wir in die Ferien. Ich habe es dir doch versprochen.« Michaela räumte flink das Geschirr zusammen. Nur einmal in der Woche kam eine Putzhilfe ins Penthouse, um gründlich sauberzumachen. Die übrige Zeit waren Michaela und ihr kleiner Sohn allein. Neuerdings achtete Patrick sorgfältig darauf, daß das auch so blieb. Er lehnte jeden Menschen, vor allen Dingen aber jeden Mann ab, der in Michaelas Nähe kam.

Unbewußt war der Junge eifersüchtig. Er wollte seine hübsche junge Mutti allein für sich behalten und fühlte sich ein bißchen als ihr Beschützer.

»Mami, ich freue mich, ich freue mich«, jubelte Patrick und umarmte seine Mutti, der er in die Küche nachgelaufen war, stürmisch.

In diesem Moment war ein anhaltendes Klingeln zu hören.

»Telefon, Mami.« Patrick gab die junge Frau frei. »Wenn es Herr von Ebstein ist, sag ihm, daß du keine Zeit hast. Heute nicht, morgen nicht, überhaupt nicht.«

»Warum? Magst du ihn nicht?« Michaelas Stimme klang besorgt. Sie hatte Günter von Ebstein vor einigen Wochen kennengelernt, als sie die Innenausstattung eines neu zu eröffnenden Kaufhauses übernommen hatte. Dieses Kaufhaus gehörte Günters Vater, wie auch die zahlreichen anderen Kaufhaus-Filialen in allen Teilen Deutschlands.

»Nein«, brummte Patrick, ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu überlegen. Er mochte nicht, daß dieser gutaussehende, selbstbewußte junge Mann mit seiner Mutti flirtete, daß er mit ihr lachte und auch sehr vertraut tat.

Leichtfüßig eilte Michaela zum Telefon in der Diele. Sie meldete sich mit ihrer klangvollen, etwas tiefen Stimme. Es war tatsächlich Günter von Ebstein, der anrief.

»Hallo, schöne Michaela«, ertönte es aus dem Hörer. »Ich wollte Sie zu einer Spazierfahrt einladen. Das Wetter ist so herrlich, und ich dachte, wir könnten in meiner Jacht etwas auf dem Bodensee kreuzen.« Günter von Ebstein ließ seiner Gesprächspartnerin keine Zeit, ihre Meinung zu diesem Vorschlag zu äußern. Rasch redete er weiter: »Ich stelle es mir wunderbar vor, neben Ihnen am Steuer zu sitzen. Ich sehe in Gedanken schon Ihr dichtes dunkles Haar im Wind fliegen und Ihren hübschen Mund lächeln.«

Jetzt gelang es Michaela, auch zu Wort zu kommen. »Es tut mir leid«, antwortete sie charmant, »ich habe leider keine Zeit. Ich muß arbeiten.«

»Puh«, kam es enttäuscht zurück. »Es ist ein Jammer, wenn eine schöne Frau selbständig ist. Aber es wird richtig ungemütlich, wenn sie von Arbeit spricht. Das haben Sie doch überhaupt nicht nötig, Michaela. Daß Sie sich mit einem nüchternen Beruf herumplagen, halte ich für unsinnig.«

»Dieser nüchterne Beruf verhilft mir zu dem Geld, das wir zum Leben brauchen«, verteidigte sich die junge Frau mit dem halblangen dunklen Haar und den großen dunklen Augen.

»Sie sollten heiraten. Einen Mann, der Sie verwöhnt und Ihnen jenen Luxus bietet, der einfach zu Ihnen gehört.«

Patrick war unbemerkt hinzugetreten. Er verstand die Worte klar und deutlich, da Günter recht laut sprach. »Nein!« schrie er dazwischen und drückte blitzschnell auf die Haltevorrichtung für den Hörer. Das Gespräch war dadurch unterbrochen.

Verblüfft schüttelte Michaela den Kopf. »Das war nicht nett von dir, Patrick«, rügte sie. »Ich müßte mich entschuldigen. Aber ich weiß nicht, von wo Herr von Ebstein angerufen hat.«

Patrick ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid, Mami«, nuschelte er. »Weißt du, ich mag einfach nicht, daß er dich heiratet.«

»Und weshalb nicht?« forschte Michaela.

»Weil du zu mir gehörst und nicht zu ihm. Er ist doch ein ganz fremder Mann.« Patricks Gesichtchen wirkte richtig bekümmert. Seine ausdrucksvollen grauen Augen schauten ängstlich zu Michaela empor.

»Würde ich ihn heiraten, wäre Herr von Ebstein dir längst nicht mehr fremd. Wir würden ihn natürlich zuvor kennenlernen. Auch seine Familie.« Michaela fand eine Verbindung zwischen ihr und dem reichen Günter gar nicht so abwegig. Sie wußte, er gehörte zu jener Sorte von Männern, denen es leichtfiel, jede Frau zu erobern. Er besaß jenen umwerfenden Charme, bei dem alle Mädchen schwach wurden, war stets fröhlich und steckte voller Pläne. Niemals kam in seiner Nähe Langeweile auf. Man hatte auf seinen Partys immer das Empfinden, jede Minute des Daseins voll auszukosten.

»Nein.« Patrick stampfte ungezogen mit dem Fuß auf.

»Herr von Ebstein hat vieles, was dir imponieren wird«, erwähnte Mi-chaela voll Berechnung. Sie tat, als bemerke sie die ablehnende Haltung des Kindes nicht, denn sie konnte Patrick verstehen. Zu lange hatten sie allein und abgeschieden gelebt. »Zum Beispiel einen tollen Sportwagen, eine Jacht, ein Haus mit Hallenbad und Fitneßraum, eigene Reitpferde.«

Der Blick der dunklen Kinderaugen wurde böse und feindselig. »Ich mag ihn trotzdem nicht«, brummte Patrick und rannte beleidigt ins Bad. Dort schnitt er seinem Spiegelbild böse Grimassen. Er spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, wischte den kakaoverschmierten Mund am Handtuch ab und schlüpfte in seine Sandalen.

»Ich muß gehen, Mami. Nicht böse sein, ja? Bitte!« Patrick stellte sich auf die Zehenspitzen, um seiner Mutti einen Abschiedskuß zu geben.

»Nein, ich bin nicht böse.« Die junge Innenarchitektin lächelte schmerzlich. Eigentlich hatte sie nie gedacht, daß ihr der Junge Schwierigkeiten machen könnte, wenn sie eines Tages heiraten wollte. Doch vielleicht war es ganz gut so, denn so eine Freundschaft konnte ja leicht zu einer Enttäuschung werden. Nicht noch einmal wollte sie diese Demütigung erleben. Außerdem gab es da noch jemanden, der versuchte, ihre Zuneigung zu erringen. Es war der Apotheker, der im Hochhaus an der Ecke seinen Laden hatte. Schon mehrmals hatte er sie und ihren kleinen Sohn eingeladen. Es war jedesmal ein sehr netter Nachmittag gewesen, obwohl sich Patrick auch ihm gegen-über bockig gezeigt hatte.

Wenn Michaela ganz ehrlich war, wußte sie ohnehin nicht, für welchen ihrer beiden Verehrer sie sich entscheiden sollte. Vielleicht war es tatsächlich besser, mit dem Kind allein zu bleiben.

Die junge Mutter wartete noch, bis Patrick im Lift verschwunden war. Dann ging sie ins Atelier zurück. Eilig richtete sie die Entwürfe zusammen, heftete sie in eine Mappe.

Inzwischen hatte Patrick das Erdgeschoß erreicht. Er durchquerte die große Halle, drückte die Glastür nach außen auf und hüpfte gleich darauf über den breiten Weg, der zur Hauptstraße führte. Er endete genau beim nächsten Hochhaus.

Dort trat der Apotheker Herbert Bauer gerade aus seinem Laden. Patrick wußte, daß es kein Zufall war, und er wußte auch, daß der Mann im blütenweißen Kittel sicher wieder Süßigkeiten in der Tasche hatte.

Herbert Bauer war schon zweiunddreißig Jahre alt und nicht gerade ein schöner Mann. Er war groß und breitschultrig, hatte ein schmales, fast hageres Gesicht und trug eine Brille vor den hellen, kurzsichtigen Augen. Sein stets sehr korrekt geschnittenes braunes Haar kämmte er einfallslos zurück. Meistens trug er helle Hemden, was ihn noch blasser und fader wirken ließ. Doch all diesen Äußerlichkeiten schenkte er keine Beachtung. Ihm war das nicht wichtig. Hinter ihm lagen zehn harte entbehrungsreiche Jahre. Jahre, in denen er nur gearbeitet und gelernt hatte, um sein Ziel zu erreichen. Er hatte es geschafft. Er besaß ein modernes Geschäft und draußen vor der Stadt ein hübsches Landhaus.

Nun endlich konnte er auch an sich selbst denken, hatte Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens. Er trug sich mit Heiratsgedanken, und er hatte auch längst die passende Partnerin gefunden. Allerdings hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, über seine Pläne zu sprechen.

Herbert Bauer betrachtete ein Plakat, das im Aushang befestigt war. Zwischendurch schaute er nach dem Jungen, der gemächlich heranschlenderte.

»Hallo, Patrick!« Der Apotheker tat überrascht. »Wie nett, daß ich dich gerade treffe.«

Fast jeden Morgen begrüßte Herbert Bauer den Jungen mit ähnlichen Worten. Patrick schwieg dazu stets.

»Hast du deiner Mutti meine Grüße ausgerichtet?« erkundigte sich der Apotheker hoffnungsvoll.

»Hm.« Patrick nickte. Doch nicht, weil ihm der Mann im weißen Kittel sympathischer gewesen wäre als Günter von Ebstein, sondern weil er wußte, daß er von ihm eine Rolle Drops oder eine Tüte Gelee-Früchte bekommen würde.

»Und was hat sie gesagt?« Die gutmütigen Augen des Apothekers glänzten lebhaft.

»Nichts«, antwortete Patrick gelassen. Es machte ihm nichts aus, daß dies eine Lüge war. Er hatte selbstverständlich seiner Mutti gegenüber nichts erwähnt.

Herbert Bauer schluckte. Wieder einmal war er enttäuscht. »Vielleicht fragst du sie heute noch einmal, ob wir das Wochenende nicht gemeinsam verbringen können. Ich könnte heute abend anrufen.«

Patrick schaute verlangend auf die Tasche des weißen Kittels, hinter der ein knisterdes Etwas verborgen war. »Nein, rufen Sie bitte nicht an.«

»Warum?«

»Weil Mutti abends immer müde ist und sich gleich hinlegt«, schwindelte der Junge.

»Vielleicht geht es auch schon am Nachmittag.«

Patrick schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Wenn schon, dann ruft Mutti selbst an. Ich sage es ihr noch einmal.«

»Nett von dir.« Der Apotheker war ein bescheidener, gütiger Mensch. Deshalb glaubte er Patrick immer wieder. Rasch drückte er ihm eine Tüte mit Süßigkeiten in die Hand.

Zufrieden zog der Junge weiter. Er wußte natürlich, daß das, was er tat, nicht ganz richtig war, aber er glaubte, dazu berechtigt zu sein.

Schließlich mußte er seine Mutti beschützen. Beschützen vor allen Ebsteins und Bauers.

*

Michaela wollte gerade das Penthouse verlassen, als ihr Günter von Ebstein vom Lift her entgegenkam. Er wirkte wie ein sympathischer, charmanter Playboy, was er ja eigentlich auch war. Sonnenbraun war seine Haut, leuchtend der Blick, äußerst kleidsam die lockige, halblange Haarpracht. Günter war hübsch. Das konnte ihm auch der eifrigste Widersacher nicht abstreiten. »Hallo, schöne Michaela«, schmeichelte er. »Es war nicht nett von Ihnen, mich eben abzuhängen.«

Die junge Frau, die einen weiten, schwingenden Rock und eine eng anliegende Bluse trug, ging Günter entgegen, reichte ihm freundschaftlich die Hand. »Entschuldigung, es war ein Versehen.« Sie lächelte. Dabei erschienen zwei reizvolle Grübchen auf ihren frischen Wangen.

»Ich wollte Ihnen noch so vieles sagen. Nun bin ich gekommen, um es nachzuholen.« Günter hielt Michaelas Finger länger als üblich zwischen seinen Händen.

Michaela fühlte den sanften, aber doch kraftvollen Druck, spürte die Wärme seines schlanken, sportlichen Körpers. Ihr Herz schlug schneller.

»Darf ich für einige Minuten zu Ihnen hineinkommen, Michaela?« bat der junge Mann mit einer rührend kindlichen Geste.

»Bitte, halten Sie mich nicht für unhöflich, aber ich habe es eilig. Ich habe mich an einer Ausschreibung für die neue Festhalle beteiligt. Der Termin läuft um neun Uhr ab. Ich muß zuvor unbedingt noch meine Entwürfe abgeben.«

»Gut, gehen wir zusammen«, erklärte Günter, für den es niemals Probleme gab. Er wußte immer einen Ausweg. Von Kind an verwöhnt, war es für ihn selbstverständlich, immer und
überall Erfolg zu haben.

»Ich muß aber danach zur Schulfeier in der Schule«, wandte Michaela ein.

»Das macht nichts. Ich werde Sie begleiten.« In Günters tiefblauen Augen glänzte Bewunderung. Bewunderung für eine schöne, tüchtige junge Frau.