Ich möchte gern in Würde altern, aber doch nicht jetzt - Lisa Ortgies - E-Book

Ich möchte gern in Würde altern, aber doch nicht jetzt E-Book

Lisa Ortgies

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Beschreibung

»Ein kluger Blick auf die Middle-Ager« NDR. Eines Morgens erwacht Lisa Ortgies im »Emergency Room«. Allerdings in einem echten. Denn bei einem New-York-Besuch erleidet sie einen Herzinfarkt und wird in ein Krankenhaus gebracht, das der TV-Serie verdammt ähnlich sieht. Wie kann das sein – mit fünfzig? Anlass genug für einen Blick nach vorn, zurück und um sich herum, auf ihre Altersgenossen. Wie leben wir eigentlich, wir Middle-Ager? Irgendwann sind wir erwachsen geworden, ohne es zu merken, und jetzt stehen wir mitten im Leben und haben genauso viele Fragen wie in der Pubertät. Passe ich in die Skinny Jeans? Was spricht gegen ein drittes Kind? Oder für einen zweiten Mann? Wie sehe ich aus bei meinen Versuchen, jung zu bleiben? Noch nie hatte eine Generation so viele Möglichkeiten, sich selbst auszuprobieren – und das macht es nicht leichter … Lisa Ortgies erzählt von Männern und Frauen, die alles richtig machen wollen, aber manchmal plötzlich vor der Entscheidung »alles« oder »richtig« stehen.

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Seitenzahl: 253

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Lisa Ortgies

Ich möchte gern in Würde altern, aber doch nicht jetzt

Erwachsensein für Profis

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Lisa Ortgies

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoWo ist denn hier die Pausetaste?Wir MiddleagerAm I in heaven?AnfangsverdachtKakkMaddaFakkaElternzeitlöcherAnruf in der RuhezoneEigenverantwortlich krank werdenEmergency Room – DeutschlandImmer auf SendungAasfresser versus GurkendominaLast Fuckable DayDas Honecker-SyndromDellen dritten GradesPsycho-SpeeddatingEhe und andere WahnideenDschungeltrommelnDie Labskaus-DiätLactosefreie Darmpilze und andere FreundeZauber der AhnungslosigkeitDie Ex im BildHair!Auf den ArmSmoothies mit Blattgold#LernenvondenAltenSugardaddys und ChippendalesEin Ende findenDank
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There is a crack in everything

that’s how the light get’s in.

Leonard Cohen

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Wo ist denn hier die Pausetaste?

Einleitung

Die Arbeit an diesem Buch wurde von einem Infarkt unterbrochen. Am Ende waren es sogar zwei »Ereignisse«, wie die Kardiologen sagen. Aber das können Sie gleich alles in Ruhe nachlesen.

Das Manuskript ist fast fertig, und wir diskutieren über den Titel, mein Lektor und ich. Er will die »Pausetaste«.

»Ich habe das Gefühl, dass Ihr Leben ein sehr hohes Tempo hat, das kommt auch in den Texten rüber. Das ist sehr verdichtet und unter großem Druck geschrieben. Ich bin kein Arzt, aber könnte es sein, dass …« Mein Lektor wählt die Worte langsam und mit Bedacht. Nicht, dass ich womöglich gleich ausraste und mir ans Herz fasse.

Ich weiß, was Sie sagen wollen, lieber Martin. Sie haben natürlich recht.

Es ist nur so – ohne etwas heraufbeschwören zu wollen: Bevor ich unter Umständen zum dritten Mal in der Notaufnahme lande, würde ich das Manuskript ganz gern fertigstellen. Ich hasse halb fertige Sachen. Beim Lesen könnte also durchaus der Eindruck entstehen, dass ich es eilig habe.

Sie wünschen sich, dass ich dieses Buch schon im Titel dem viel zu hohen Lebenstempo widme, das mir dieses Schlamassel vielleicht erst beschert hat. Weil ich dringend auf die Pausetaste drücken müsste.

Sie vermuten – ebenfalls zu Recht –, dass mein Herz gestreikt hat, weil mein Leben zu vollgestopft war, weil ich mir, wie wir alle, eingeredet habe, dass alles gleichzeitig passieren muss: Kinder, Job, Beziehungsglück, Sixpack, Yoga und die ganze weite Welt.

Aber, das möchte ich unbedingt hinzufügen, es ist nicht allein die Menge an Terminen, Vorhaben und Freizeitevents, die uns so schafft – es ist der Anspruch, all diese Dinge richtig oder sogar perfekt zu machen. Sie mit einem vorzeigbaren Ergebnis, einer wichtigen Erkenntnis oder einem Mehrwert zu beenden. Und ebenso wichtig: das Ganze für jeden logisch nachvollziehbar in den eigenen Lebensplan einzubauen und möglichst unterhaltsam präsentieren zu können.

Mach etwas aus deinen Potenzialen, deinen Muskeln, deinen Kindern, deinen Kontakten, aber auch aus deiner Lebenskrise, deinen Schwächen und deinem Scheitern.

Bei allen, die alt genug sind, um die ersten Tiefschläge zu durchleben, hat sich ein neues Tabu breitgemacht: Es darf nicht mehr einfach nur bereut werden. Im Rückblick darf keine Zeit verschwendet worden sein, muss sich alles zu einer wertvollen Erfahrung umdeuten lassen. Ein Scheitern oder Versagen darf nicht einfach so stehen bleiben, schon gar nicht die Trauer darüber. So etwas muss verarbeitet werden. Oder es handelt sich noch um eine Baustelle. So wie jede Beziehung heutzutage nicht einfach nur eine sichere Bettenburg sein darf, sondern eine Baustelle sein muss.

Auch dazu muss der Betroffene zumindest ein paar schlaue Sätze griffbereit haben, die den anderen auf den neuesten Stand bringen, wie weit man ist, mit der Arbeit an diesem oder jenem privaten und ganz persönlichen Projekt. Und am Ende muss irgendeine Lebensweisheit dabei rausspringen, weil man sich weiterentwickelt oder am besten: für immer verändert hat. Hauptsache Arbeit, Hauptsache produktiv.

Ich will hier nicht krampfhaft politisch werden, aber es scheint, als würde der Kapitalismus endgültig auch unser Selbstbild kapern. Passend dazu gibt es immer mehr psychische, aber vor allem psychosomatische Erkrankungen im Angebot, bei denen nur noch langwierige und teure Therapien helfen. Vor ein paar Jahren wurde der offizielle Katalog von den Experten um ein paar spannende Auswüchse erweitert: Binge Eating, prämenstruelle dysphorische Störung, die disruptive Stimmungsdysregulationsstörung und das zwanghafte Horten.

Wow. Mir kommt es so vor, als hätten die sich an mir als Prototyp orientiert – im Laufe der Jahrzehnte habe ich mit jeder dieser neuen Störungen Bekanntschaft gemacht. Obwohl: Das zwanghafte Horten bezog sich nur auf Klamotten. Inzwischen sind Kosmetika dazugekommen. Ich schweife ab.

Auf jeden Fall erinnere ich mich an Zeiten, in denen solche Zwänge als charmante Klatsche galten. Oder als eine besondere Empfindsamkeit. Beziehungen sind früher einfach schiefgegangen. Heute haben sie ein krankhaftes Muster, mit dem man die Enttäuschungen der Kindheit zwanghaft wiederholt und sich immer denselben falschen Typen aussucht. Natürlich lohnt es sich, mal hinzuschauen, ob der Kerl, den man sich geangelt hat, auf ungute Weise dem eigenen Vater ähnelt. Aber unabhängig vom Ergebnis kann man das Drama auch noch eine Weile durchziehen. Um es hinterher vollumfänglich zu bereuen. Und abzuhaken.

Komischerweise ist die Umgebung meistens höchst irritiert oder gar verärgert, wenn man Irrwege und Fehlentscheidungen einfach so abhakt. Ohne Moral von der Geschichte. Ich habe einmal versucht, das in einem Gespräch spielerisch vorzuführen – am Beispiel einer völlig verkorksten Beziehung, die mich ungefähr zwei meiner besten Jahre gekostet hat:

Freundin: Wieso wart ihr trotzdem so lange zusammen?

Ich: Weil es irgendwie spannend war.

Freundin: Aber der hat dir doch überhaupt nicht gutgetan.

Ich: Stimmt.

Freundin: Hast du herausgefunden, was dich in der Beziehung gehalten hat?

Ich: Nö.

Freundin: Woher weißt du dann, ob du beim nächsten Mal nicht in die gleiche Situation kommst.

Ich: Weiß ich ja gar nicht.

Freundin: Aber das würde ja bedeuten, dass die Beziehung einfach nur vergeudete Zeit war …

Ich: Stimmt.

»Ich kann damit leben!«, wollte ich noch hinzufügen, bevor die Freundin vorschlug, das Thema zu wechseln.

Das Gespräch liegt etwas zurück. Natürlich weiß ich inzwischen sehr genau, was in den zwei Jahren mit mir los war. Und was das mit meiner Kindheit zu tun hat. Verschwendet war die Zeit trotzdem. Leider kann ich hier nicht alle Zusammenhänge wiedergeben, ohne die Privatsphäre einiger Menschen zu verletzen, die mir sehr viel bedeuten.

Das gilt auch für einige der Sorgen und Nöte, die meine Herzkranzgefäße ramponiert haben. Nicht für alle. Und so werde ich im Folgenden einige dieser Sorgen, aber auch einfach Ärgerliches und Irritierendes zusammentragen. Ohne alles penibel aufzuarbeiten – aber in der Hoffnung, dass ich möglichst viele Leser mit dem anstecken kann, was für mich überlebenswichtig geworden ist: Selbstironie.

Um es mit den Worten eines Showmoderators meiner Kindheit, Gott hab ihn selig, Robert Lembke, auf den Punkt zu bringen: »Älter werden ist kein reines Vergnügen. Aber wenn man die einzige Alternative bedenkt …«

Insofern habe ich nichts dagegen zu altern. Wenn es möglich ist, gern in Würde. Aber doch nicht jetzt! Damit kann ich in zehn Jahren auch noch anfangen. Oder?

Bis dahin werden auf den folgenden Seiten alle Unzulänglichkeiten und Fehler gefeiert, die man im Laufe der Jahrzehnte so hortet. Ich kann nichts versprechen, außer dass Sie vielleicht an einigen Stellen lachen werden.

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Wir Middleager

Plötzlich wieder in der Pubertät

Mir kann keiner was vormachen. Ich mir selbst leider auch nicht mehr: Meine Kindheit ist vorbei. Meine Jugend auch. Danach muss ich irgendwann erwachsen geworden sein, aber ich kann nicht mehr nachvollziehen, wann und wie das passiert ist. Zumindest behandeln mich meine Kinder wie eine Erwachsene, aber hinter dem bisschen Respekt verbirgt sich vielleicht auch nur die Angst davor, dass ich ihre Smartphones beschlagnahme. Wenn ich nicht weiterweiß, verstecke ich die Dinger. Dass ich nicht weiterweiß, kommt vielleicht sogar häufiger vor als vor 30 Jahren. Vielleicht ist es erwachsen, sich das einzugestehen.

Sollten mich solche Fragen überhaupt noch beschäftigen? Müsste ich nicht längst drei neue Projekte angeschoben haben und nebenbei Flüchtlinge integrieren? Wo komme ich her, wo will ich hin und woher kommt diese Verunsicherung, verdammt noch mal, dieses ständig Unentschiedene, die chronische Empfindlichkeit, bei jedem Anlass. Und jetzt kommen Sie mir nicht mit Wechseljahren, mein Hormonstatus ist top! Da fällt mir ein: Vielleicht doch noch ein drittes Kind …? Man liest ja dauernd in der Zeitung von diesen Frauen im Enkelkinderalter, die von ehrgeizigen Fortpflanzungsmedizinern befruchtet werden. Da wäre ich sogar noch früh dran.

Bin ich die Einzige, die sich mit 50 Jahren mehr Fragen stellt als mit 15, unter anderem die eine, als Überschrift über allen anderen: Sollte ich in meinem Alter nicht bedeutend souveräner sein? Weise, klar und stilsicher, über den Dingen schwebend – eine Inspirationsquelle für andere?

Sollten wir alle in unserem Alter nicht bedeutend souveräner sein? Vorbilder für die Generation nach uns? Ein Role-Model für würdevolles Älterwerden?

Wir sind die erste Generation, deren Idole nicht älter werden, sondern immer straffer. Wir haben keine Vorbilder für die Lebensphase Ü40. Wir blicken nach vorn, in die Mienen (oder auch Minenfelder) von Meg Ryan, Nicole Kidman, Dieter Bohlen oder Mickey Rourke. Die uns nicht viel sagen können, weil sonst die Nähte hinterm Ohr reißen.

Angesichts der ersten unübersehbaren Spuren und Wunden des Alters greifen viele zu einem Strohhalm, den sie für Selbstironie halten. Vor allem Frauen geben ihren Körper schnell der Lächerlichkeit preis. Um zu vermeiden, dass jemand anders zuerst darüber lacht, nehme ich an … Dabei hat niemand vor zu lachen. Aber die tiefe Verunsicherung angesichts des Reifeprozesses, der vor uns allen liegt, treibt eben seltsame Blüten: weibliche Comedians, die auf der Bühne das »Welkfleisch« an ihren Oberarmen zum Schaukeln bringen oder über Brüste witzeln, die sich in den Knien verfangen.

Sie machen all die Witze über Frauen, die Männer nicht mehr machen dürfen, weil sie sonst bei #metoo landen und ihren Ruf, ihren Job oder ihre Freunde verlieren.

Haben Sie umgekehrt schon mal einen Atze Schröder über seine eigenen Problemzonen herziehen hören? Männer machen sich sehr selten über ihren eigenen Körper lustig, nicht mal Rainer Calmund. Der ist fast stolz auf seine zentnerschwere Gemütlichkeit.

Liegt es an mir, dass ich über selbstentblößende »Bindegewebs-Witze« nicht lachen kann? Dass sogar etwas wie »Fremdscham« hochkommt? Habe ich vielleicht doch »irgendwie ein Problem« mit meinem Körper? Das schreibt zumindest die Freundin, die mir den Wechseljahre-Comedy-Zusammenschnitt geschickt hat.

Hat sie vielleicht recht? Schließlich gehört es für uns, die Generation der psychologisch Durchgenudelten, zum guten Ton, sich ständig selbst zu hinterfragen. Und zu verbessern.

Unser Weg in die zweite Lebenshälfte führt über Laufbänder, vorbei an Weizengras- und Chiasamenfeldern, an Bikramyogastudios, an Kletterwänden, Paarberatungspraxen und buddhistischen Retreatzentren. Oder lieber gleich zurück in ein früheres, besseres Leben (in Rückführungssessions); und endet angeblich in einer Selbsterneuerung. Oder in einem Neuanfang. Hauptsache was anderes als einfach nur älter. Die Haut wölbt sich, die Arterien gehen zu, die Knochen werden spröde – trotzdem oder gerade deshalb sind wir immer bereit für etwas Brandneues, total Aufregendes, noch nie Dagewesenes, für jedes erdenkliche körperliche oder mentale Abenteuer. Wir sind die erste Generation, die ihr Lebensgefühl an dem von Teenagern misst. In manchen Fällen also mit den eigenen Kindern in Konkurrenz tritt. Mit dem Wettbewerbsnachteil, dass es für Experimente keine Zeit mehr gibt: Ab jetzt werden unsere Eskapaden nicht mehr als Jugendsünden abgehakt.

Das wiederum macht noch unsicherer. Und empfänglicher für jede Form der Lebensberatung. Ständig sollen wir aussortieren, im Kleiderschrank wie im eigenen Unbewussten. Wir müssen immer bereit sein, Gewohntes loszulassen oder uns neu zu erfinden. Warum eigentlich? Und wer oder was waren wir bisher, wenn wir nun unbedingt und so schnell wie möglich Verdrängtes hochholen, den Körper entschlacken und alte Muster loswerden müssen? Mentaler Sondermüll? Lebende Provisorien? Kann mir jemand erklären, wie man im Leben einen Zentimeter weiterkommen soll, wenn man sich in einem permanenten Übergangszustand befindet?

Wie erkennen wir uns selbst wieder und woran erkennen uns die anderen? Uns Mittelalte. Erwachsene. Teilen wir überhaupt dieselben Lebenserfahrungen, wenn die einen in der Jugend gegen Atommüllendlager demonstriert haben, während die anderen windsurfen waren? Haben wir wirklich Einfluss auf die Gesellschaft oder warum wählen so viele AfD und pochen wieder auf evolutionäre Unterschiede zwischen Mann und Frau. Warum können wir uns nicht mal auf etwas einigen und dabei bleiben?

Männer und Frauen ab 40 finden kaum zueinander, weil ihre Individualität sie scheinbar so verschieden macht. Im Vergleich zu den mittelalten Vorgängergenerationen möchten wir sowieso wahnsinnig ungern auf irgendetwas festgelegt werden. Das betrifft mitunter mögliche Partner, eventuelle Kinder, den Job, die nächste Wahl oder das richtige Essen – aber vor allem die eigene Alterskohorte.

Der grau melierte, vollbärtige Mittfünfziger in Skinny-Jeans und bunten Vans-Schuhen, der mir im Enthaarungsstudio um die Ecke den letzten Termin vor der Nase wegschnappt, würde mir was husten, wenn ich uns beide in eine Generation packen würde. Das Longboard, mit dem er mich auf der Straße überholt hat, trägt er unterm Arm. Keine Frage: Er sieht schnuckelig aus. Das gebe ich beleidigt zu, obwohl ich als nur etwas jüngere Frau nicht in sein Beuteschema passe. Wahrscheinlich auch dann nicht, wenn ich ebenfalls ein Longboard unterm Arm tragen würde, und erst recht nicht mit grauen Haaren.

Männer altern anders als Frauen, jedenfalls in der allgemeinen Wahrnehmung. Das ist natürlich Quatsch und widerspricht der Statistik: Unter den Mittelalten gibt es zum Beispiel mehr übergewichtige Männer als Frauen. Generell gleichen sich die Alterungsprozesse an: Östrogenmangel auf der einen und Testosteronmangel auf der anderen Seite. Oder Erektionsprobleme versus Scheidentrockenheit. Mehr Herzinfarkte und weniger Lust auf Sex betreffen beide gleichermaßen. Trotzdem dominiert der Eindruck, dass Männer sich besser halten. Ein Phänomen, das man nicht bejammern – nervt ja auch –, aber zumindest benennen muss, denn es bringt verunsicherte Frauen um die 40 dazu, sich mithilfe von Sport und Ernährung auf die Kleidergröße ihrer Töchter zu disziplinieren.

Haben unsere Teenagerkinder nicht das natürliche Recht auf mehr Coolness, festeres Bindegewebe und weniger Körperhaare als wir? Dem sichtbaren Alterungsprozess trotzen zu wollen ist langfristig eine gigantische Zeit- und Energieverschwendung, bei der am Ende nicht einmal mehr Lebenszufriedenheit rausspringt. Im Gegenteil. Nach jedem Etappensieg im Kampf gegen das Älterwerden entdecken wir die nächste Baustelle. Der letzte Vorschlag in diese Richtung war eine Einladung zum Gesichtsyoga. Gegen »das Verschwimmen der unteren Kinnkonturen«. Um das Kinn zu straffen, muss man den Gesichtsyogis eigentlich nur zuschauen, denn beim Schlapplachen werden sogar noch mehr Muskeln bewegt.

Nicht umsonst begrüßen sich Frauen im mittleren Alter standardmäßig mit der Formel: »Du siehst toll aus!« Um sich wenigstens gegenseitig einer Attraktivität zu versichern, an die viele allein und im Stillen nicht mehr glauben. Nicht weil sie keine attraktiven Frauen wären, sondern weil sie beim Samstagabendfilm, auf Instagram oder bei fast allen Werbeplakaten auf dem Weg in die Innenstadt ständig zum Vergleich mit Mitte-20-Jährigen aufgefordert werden. Inzwischen blicken auch viele Männer betrübt an sich herunter, wenn die Helden in Actionfilmen mit ihrem breiten Kreuz und den gestählten Oberarmen die Sonne verdunkeln. Oder ein neues Duschgel am Sixpack abperlen lassen.

Wir Middleager müssen mehr Leistung und Muskeln zeigen als ein pubertierender Gymnasiast, um als halbwegs lebendig zu gelten. Was noch lange nicht heißt, dass wir auch als kluge oder schöpferisch-innovative Wesen ernst genommen werden – da sind wir angeblich abgehängt. Nur weil wir mehr als drei Sekunden brauchen, um alle Funktionen des neuesten iPhone zu erfassen. Im Netz kursieren Überlebenstipps für Millenials, die es mit Ü40ern als Vorgesetzte zu tun haben. Zitat: »Wie wendet man seinen Wissensvorteil am besten an, ohne die älteren Kollegen dumm dastehen zu lassen?«

Menschen über 40 finden in der Werbung, und zunehmend auch in allen anderen medialen Kanälen, kaum noch statt. Nach 60 tauchen sie wieder auf: als Testimonials für Lebensversicherungen und Inkontinenzwindeln (wobei die entsprechenden Models meist um die 40 sind). Ansonsten winkt zwischen 30 und 60 der Abgrund.

Wie die anderen das eigene Ü40-Ich sehen, bekommt man nur indirekt zu spüren, etwa an der Anzahl bestimmter Geschenkgutscheine. An meiner Pinnwand hängen inzwischen vier Bons fürs Probetraining in einem Stromanzug, der die Muskeln zusätzlich stimuliert und stählt. An jedem Geburtstag kommt mindestens einer dazu. Daneben haften diverse Bons für Ayurvedabehandlungen, Pilatesstunden oder Einladungen zu Achtsamkeitstrainings und philosophischen Beratungen. Würde ich alle Bons und Gutscheine einlösen, die ich im Laufe der Zeit in eine alte Keksdose geworfen habe, dann hätte ich ein Zeitmanagement-Problem und noch mehr Stress. Was wiederum mit einem entsprechenden »Simplify your life«-Seminar oder einer Einführung in autogenes Training bekämpft werden könnte.

Hauptsache, ich arbeite an mir, denn – so verstehe ich diese Verbesserungsvorschläge – so wie ich bin, kann ich ja wohl auf keinen Fall bleiben wollen.

Erstens: Wieso eigentlich nicht?

Zweitens: Das Bedürfnis kenne ich gut. Von früher. Meine Tagebücher aus der Teenagerzeit sind voller Selbstzweifel und Tagträume von einem anderen »Ich«: andere Figur, andere Haare, andere Eltern und andere Welt. Gut war alles, was anders war. Das liegt nun mehr als 30 Jahre zurück. Wie ist es möglich, dass diese Gefühle ab 40 ein Revival erleben?

Mehrere Industrie- und Dienstleistungszweige leben davon, dass sich die solventen älteren Jahrgänge einreden lassen, sie seien körperlich und seelisch eine Zumutung für den Rest der Gesellschaft. Inzwischen lässt sich mit den Eitelkeiten, Sorgen und Defizit-Gefühlen der Middleager sehr viel mehr Geld machen als mit Pickelcreme und Zahnspangen.

Trotzdem rennen alle den jungen Zielgruppen hinterher, dabei sind wir doch eigentlich die Leistungsträger des Kapitalismus, oder? Uns ist es zu verdanken, dass das Internet und die Medien zur ersten Blase anschwellen konnten. Wir haben auch den Finanzcrash provoziert und überstanden und die nächste geplatzte Blase werden wir ebenfalls überleben. Aufstehen, schütteln und ranklotzen.

Ich will nicht gleich zu Beginn dieses Buches allzu viel psychologisieren, aber da sich diese Haltung manchmal zu einer Lebensbedrohung auswachsen kann, möchte ich ein wenig innehalten und warnen:

In den sogenannten Middleagern steckt eine grundlegende Unruhe, gepaart mit einer diffusen Unsicherheit, die uns extrem empfänglich macht für ständige Bestätigung und Anerkennung von außen. Daraus ist unter anderem eine hohe Leistungsbereitschaft erwachsen, die aber irgendwann ins Leere läuft.

Wir sind unglaublich flexibel und wir sind die letzte Generation, die mit einem calvinistischen Arbeitsethos groß geworden ist und auch krank arbeiten geht. Oder joggen. Um dann mit Anfang 50 an einer verschleppten Herzmuskelentzündung zu sterben …

Wir haben eine Bindungslosigkeit kultiviert, die uns zu mobilen und flexiblen Arbeitskräften macht. Im Gegensatz zu vorherigen und zu nachfolgenden Generationen ist der Anteil derjenigen, die einfach nur »in sich ruhen«, seltsam gering.

Die Mittelalten sind eine starke Generation, gleichzeitig zeigen sie eine große Schwäche, wenn es darum geht, sich vor Menschen und Situationen zu schützen, die ihnen schaden. Es gibt eine Häufung von Ängsten und Blockaden, die aus dem Angebot an Selbsterfahrungs- und Esoterikseminaren eine boomende Branche gemacht hat.

Der Grund dafür könnte sein, dass es eigentlich unsere Eltern sind, die auf die Couch gehört hätten. Die Kriegskinder wollten alles vergessen und haben ihr Bestes gegeben, damit ihre Kinder es mal besser haben, und die etwas jüngere APO-Generation wollte alles anders machen, damit ihre Kinder es mal besser haben. Beide hatten ähnliche Probleme damit, die Bedürfnisse von Kindern zu erkennen und sich von Fürsorge und Empathie leiten zu lassen. In den Babyboomerjahren war es durchaus üblich, Babys schreien zu lassen, wenn sie Hunger hatten, um sie zu regelmäßigen Mahlzeiten zu erziehen und ihre Lungen zu stärken – damals eine Empfehlung der Ärzte. Und in mancher Kommune wurden Kleinkinder von allen WG-Mitgliedern betreut, je nachdem wer gerade im »Putzplan« stand und unabhängig davon, ob das Kind eine Beziehung zu der Person hatte. Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt eines weiten Felds. (Zur Vertiefung empfehle ich die »Kriegsenkel« von Sabine Bode.)

Was uns Mittelalte eint, ist ein großes Bedürfnis nach Kontrolle. Selbst bei Dingen, die wir angeblich »loslassen« wollen.

Ich staune, worauf wir Zeit und Nerven verschwenden, und frage mich, wieso wir uns in den Bedürfnissen unserer Darmbakterien, den neuesten Funktionen unseres MacBooks und den Faszien unseres Muskelgewebes verlieren. Oder in nervigen kleinen Machtgeplänkeln mit dem oder der Liebsten. Ich habe eine Ahnung, wieso wir ungebeten 10- bis 14-Stunden-Tage schieben, aber sofort katzbuckelnd den roten Teppich ausrollen, wenn ein Mitte-20-Jähriger Bewerber nach einem Sabbatical fragt. Und ich stelle fest, dass es durchaus krank machen kann, wenn man für alles die Verantwortung übernimmt: Kinder, Job, alte Eltern, die Schultoiletten und den Klimawandel. Oder für die eigene Krankheit. Und deren Heilung.

Wir stellen uns jeder Challenge. Der Satz Dafür fühle ich mich zu alt würde uns nie über die Lippen kommen. Als wir Kinder waren, wurde Apple gerade erst gegründet. Zusammengefasst kommt alles, was danach erfunden und zum alltäglichen Einsatz kam, einer kopernikanischen Wende gleich. Die haben wir lässig gewuppt. Im Unterschied zu den Generationen vor uns haben wir aber den überhöhten Anspruch, mit jedem noch so vergänglichen Trend und jedem Tempo Schritt halten zu können. Wir werfen uns der Digitalisierung in die Arme, bevor sie uns überrollen kann, und wir unterwerfen uns jedem Zeitgeist. Weil alles Neue und Junge nur cool sein kann.

Unsere Teenagerkinder dürfen uns als »frühdement« beschimpfen, weil wir vergessen haben, ihre Lieblingsshirts zu waschen. Sie erklären uns zu analogen Trotteln, weil wir noch nicht kapiert haben, dass Facebook »tot« ist. (»Aber du ja bald auch, Mama.«) Was sie aber nicht daran hindert, uns gleichzeitig das Geld aus der Tasche ziehen. Wir lassen uns das alles gefallen. Weil wir ihnen tief in unserem Inneren recht geben …

Unsere Erfahrung und Besonnenheit halten wir für relativ wertlos – und der Arbeitsmarkt folgt dieser Einschätzung … Wir tun uns selbst den größten Stress an und bekommen dafür die geringste Anerkennung aller Generationen. Manchmal auch einen Arschtritt: Wir sind zwar die liquidesten Konsumenten, trotzdem rutschen wir aus den attraktiven Zielgruppen der Werbung und der Fernsehkanäle. Seit Neuestem auch bei den Öffentlich-Rechtlichen – und sogar ganz ohne den Druck der Werbeindustrie.

Wir sind viele, sehr viele. Allein schon durch unsere zählbare Dominanz könnten wir viel bewegen: politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Es gibt also keinen Anlass, sich kleinzumachen. Oder vor der Youtube-Generation ständig einen Kotau zu machen. Wo bleibt das mittelalte Empowerment?

Wir sind in der Mehrheit, aber angesichts unserer schieren Masse werden wir vor allem als Bedrohung wahrgenommen. Auch weil wir in naher Zukunft zu viel Rente verschlingen und zu viele Pflegekräfte verschleißen werden.

Tatsächlich sieht es jedoch so aus: Zurzeit geben wir noch sehr viel mehr als wir nehmen. Arbeit, Steuern, Fürsorge, Konsum und Ehrenämter. Könnte mal jemand Danke sagen?

Sollten Sie sich also von Gott und der Welt missverstanden fühlen: Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr. Und er lädt dazu ein, sich noch weiter in diese Empfindungen hineinzusteigern, denn mit dem zweiten Hormonwandel unseres Lebens neigen wir häufig wieder zum Drama. Caroline Bohn, die Autorin von »Wenn die Welt plötzlich Kopf steht«, eines der vielen Lebensmitte-Bücher, die sich inzwischen auch auf dem Boden neben meinem Schreibtisch stapeln, spricht von einer »Gefühlskrise« und gibt dem Leser einen Fragenkatalog für die Selbstanamnese mit auf den Weg:

»Sie fühlen zu viel oder zu intensiv? Sie fühlen nicht das, was Sie fühlen möchten? Sie wissen selbst nicht genau, was Sie fühlen? Sie können nicht ausdrücken, was Sie fühlen?«

Wenn Sie, wie ich, diese Fragen mit Ja beantworten können, dann habe ich eine Diagnose für Sie, die Sie hoffentlich genauso entlastet wie mich:

Sie befinden sich in einer schwierigen Phase des Übergangs und, idealerweise, der Reifung. Sie sind ein Spätpubertier. Aber keine Sorge …

1.

Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen. Bis auf ein paar Merkwürdigkeiten, von denen dieses Buch berichtet …

2.

Sie kennen das ja vom ersten Mal: Der momentane Zustand wird vorübergehen, und am Ende werden sie schmunzelnd zurückblicken …

3.

Sie sind nicht allein.

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Am I in heaven?

Mein Herz (I)

Es ist wahr geworden, ich bin mittendrin. Im »Emergency Room«, wo an »Greys Anatomy« geschulte Mediziner das Sagen haben und gerade die »Night Shift« begonnen hat. Junge, attraktive und smarte Ärzte, in frisches Grün gekleidet, huschen geschäftig an mir vorbei. Nicht ohne mir auf meinem Rollbett ein barmherziges Lächeln zuzuwerfen, das mich beruhigen soll. Es ist tatsächlich genau wie auf dem Schirm. Alle stellen sich persönlich vor, legen eine Hand auf meinen Arm, machen kleine Witze: »That’s what I call a vacation you’ll never forget!«, und wollen meine Geschichte noch mal und noch mal hören.

Als Serienjunkie mit einer ausgeprägten Vorliebe für alles, was in Notaufnahmen und OPs spielt, habe ich immer davon geträumt, dieses Drama auf Leben und Wiederbeleben einmal aus der Nähe anschauen zu dürfen. Allerdings weiß ich seitdem auch, was der Orakelspruch bedeutet: »Wehe, wenn Wünsche in Erfüllung gehen!«

Niemand Geringeres als mein eigenes Herz hat mir den Weg frei gemacht. Durch die Schwingtüren einer New Yorker Notaufnahme, auf einer mobilen Klappliege. Vor mir rollt ein Schlaganfall, hinter mir ein Schädeltrauma. Verletzungen, Unfälle oder Organschäden werden in den Raum gerufen, damit der zuständige Facharzt gleich mithört. Die Patienten lassen ihre Identität am Eingang zur Klinik zurück und werden zu dem, was sie gerade am meisten sind: ein akuter Zustand. Ich bin der Verdacht auf Herzinfarkt. Und weil ich weder bewusstlos noch blau angelaufen bin, darf ich im Flur warten, beobachten. Und nachdenken.

Sofern man von nachdenken sprechen kann, wenn das Hirn fortwährend dieselben Szenen zurückspult, um den Fehler zu finden. Denn natürlich musste und konnte sich das alles nur als ein ärztlicher Irrtum, als ein psychosomatischer Treppenwitz erweisen. Oder etwa nicht?

Die Ferien hatten gerade erst begonnen – unser lange geplanter Familienurlaub in New York. An unserem dritten Tag in Manhattan gab es den ersten Elternstreit. So lange dauert es meist, bis die Alltagsanspannung, die von zu Hause mitreist, zum ersten Mal zurückweicht und Raum schafft für Unterdrücktes. Es war heiß in New York. So heiß, dass die Luft nach Teer roch, weil die oberste Straßenschicht durch die Sonneneinstrahlung Gase bildete. Nach einem Tag bei 40 Grad im offenen Doppeldeckerbus zwischen Ellis Island und Central Park und einem Endlosmarsch durch SoHo, mit einer Restaurantempfehlung aus dem Internet als Ziel, wäre wohl jeder Grund recht gewesen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, worum es ging. Nur, dass ich mir irgendwann die Frage stellte, ob eine Wutattacke Übelkeit auslösen könne. Auf dem Rückweg kam Kurzatmigkeit hinzu. Danach, im Hotelzimmer, ein Schwarm Feuerquallen, der von innen meinen Brustkorb in Brand setzte. Als ich schließlich hechelnd auf dem Bett lag, kämpfte ich mit Panikgefühlen, und mein Mann begann die Symptome zu googeln: »Da steht ›Herzinfarkt‹.«

Meine Antwort auf diese Netdoctor-Diagnose war knapp und leise, zum Sprechen fehlte mir eigentlich die Luft: »Quatsch!«

Obwohl ich nur eines denken und fühlen konnte: »Du wirst jetzt auf diesem Hotelbett sterben.« Und: »Hoffentlich werden die Kinder nicht wach.«

Circa sechs Stunden später ist der Anfall vorbei. Ich sitze in einem Nachthemdkittel auf einer Rollliege in der Notaufnahme des NYU Hospital. Von den anderen Patienten trennen mich zwei dünne Vorhänge. Nebenan höre ich Stöhnen und Rufe von Menschen, denen es offensichtlich sehr viel schlechter geht als mir. Ich habe hier nichts zu suchen. Ich will einfach wieder zu meiner Familie und den Urlaub fortsetzen. Deshalb habe ich große Mühe, dem jungen und sichtbar skeptischen Notarzt zu erklären, was passiert ist. Weil es mir mittlerweile undenkbar vorkommt, dass mein Herz verrücktgespielt haben könnte. Der Albtraum der letzten Nacht fühlt sich an wie eine überstandene Geburt: Ich bin doch noch nicht gestorben, jetzt ist alles gut und die Schmerzen sind weit weg. Ich will zurück ins Hotel.

Der junge Arzt nickt alles ab, lächelt amüsiert, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, und ruft seinen Oberarzt und einen Kollegen dazu. Die drei tuscheln – wie bei »Dr. House«, wenn sich das Ärzteteam berät, wer dem Patienten die Wahrheit sagt. Aber das hier ist eben doch keine Soap, sondern ein richtiges Krankenhaus. Und ich scheine nicht so auszusehen, als ob ich Wahrheiten vertrage. Der Oberarzt ist kurz angebunden und teilt mir mit, dass sie ein paar weitere Tests machen müssen. Eine Stunde später kommt er mit dem ersten Ergebnis zurück, im Schlepptau zwei zusätzliche Kardiologen: Ein Bluttest hat ergeben, dass mein Herz beschädigt ist. Jetzt gilt es herauszufinden, wo und wie.

Um eines klarzustellen: Ich bin gesund. Also abgesehen vom diffusen Ergebnis dieses Bluttests. Ich habe Rundungen, aber kein Übergewicht, auch keinen Bluthochdruck oder Diabetes. Mein biologisches Alter beträgt 35 Jahre. Das sagt mein Hausarzt, der sich streng an meine Blutwerte hält …

Ich bin in diesem Jahr 50 geworden, das ist eine gewichtige Zahl. In den Augen vieler anderer Menschen. Aber die können mich mal. Am Morgen meines runden Geburtstages bin ich aufgewacht und habe jedes Jahrzehnt mit seinen jeweiligen Partynächten, Beinahe-Unfällen, diversen Liebes- und Lebensdramen und Reiseabenteuern Revue passieren lassen. Am Ende bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich zu viel überlebt habe, um mich mit 50 nicht zu freuen, dass ich diese Zahl überhaupt erreicht habe.

Andere haben weniger Glück. Unter Freunden, Bekannten und Verwandten sind die ersten Toten zu beklagen. Ich sehe ihre Gesichter vor mir, während ich das Ende des langen Korridors fixiere und mich frage, wer von ihnen mich wohl auf der anderen Seite empfangen hätte, wenn mein Herz ganz ausgefallen wäre.

Ich höre sie flüstern, als mein Rollbett im Flur vor dem Raum mit dem Herzecho abgestellt wird. Seltsamerweise sprechen sie englisch:

»Am I in heaven?« Bei der nächsten Liege in meiner Reihe wird das Rückenteil hochgefahren. Neben mir taucht ein strahlend weißer Haarschopf auf, darunter ein markantes, circa 70 Jahre altes, gleichmäßig gebräuntes Gesicht mit wachen grünen Augen. In der Adlernase stecken Schläuche, die gepflegten Hände sind auf der Herzseite der Brust gekreuzt. Eugene stellt sich mitsamt seiner Diagnose vor: »Heart attack«, und fragt mich einem umwerfenden Lächeln: »If this is earth – what are you doing here?«

Noch vor 24 Stunden hätten mich die Avancen eines 20 Jahre älteren Mannes eher unangenehm berührt. Aber in diesem Zwischenreich der Krankenhausflure sind alle Bewertungen aufgehoben, Eugene und ich sind Schicksalsgenossen, alterslos. Wir sprechen über die Panik während der Attacke. Wie der Schreck die Brust flutet, dass es sich anfühlt, als würde man in Angst ertrinken, und dass wir diesen Moment bis zum Ende unseres Lebens nie wieder vergessen werden. Mit einiger Anstrengung muss ich den Impuls unterdrücken, auf Eugenes Liege zu wechseln und meinen Kopf auf seine Brust zu legen.

Jemand löst die Arretierung der Rollen unter meinem Bett. Tom ist da, um mich zum Echokardiogramm zu bringen. Eugene protestiert und bietet ihm Geld, wenn er auf dem Weg meine Telefonnummer herauskriegt. Vor Tom war ich schon mit Nick, Jamie, Melissa, Jeffrey, Barbara, Paul und Enrico unterwegs, die mich zum Röntgen, zur Blutabnahme, zum Ultraschall, zum EKG