Ich muss raus - Ulrike Folkerts - E-Book

Ich muss raus E-Book

Ulrike Folkerts

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Beschreibung

Von der verhassten Tanzstunde im Rock über den Versuch, so wie alle für den tollen Typen zu schwärmen, vom Sexismus in der Schauspielbranche über das private und das öffentliche Outing, vom Festgelegt-Werden auf die Tatort-Figur bis zur Frage, wer denn die Drehbücher für Frauenfiguren schreibt: Offenherzig, direkt und humorvoll erzählt Ulrike Folkerts von ihrem Kampf gegen innere und gegen äußere Widerstände. Die beliebteste und längstdienende Tatort-Kommissarin hat in der Rolle der toughen Ermittlerin Lena Odenthal das Frauenbild im deutschen TV-Krimi revolutioniert. Doch bis sie ihre eigene Rolle im Leben gefunden hat, war es ein längerer und härterer Weg. Ihre Erfahrungen als prominente Frau in der Filmbranche, als lesbische Frau, als kinderlose Frau, als älter werdende Frau spiegeln wider, was viele Frauen erleben. Um aus vorgesehenen Rollen auszubrechen, braucht es Kraft. Folkerts gibt uns den Mut, auch unseren eigenen Weg zu gehen.

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ULRIKEFOLKERTS

ICHMUSSRAUS

In Zusammenarbeit mit Heike Vowinkel

Inhalt

Vorwort

Mein zweites Ego

Mädchen – na und?

Waschen – Spülen – Schleudern

Ein Traum, der zum Albtraum wird

Berühmt, berüchtigt

Freiwild

„Ich kenne dich!“

Soooo tolerant, soooo divers

Pfoten weg!

Wie wird man megacool?

Illusion ewiger Schönheit und Jugend

Ich muss nicht mehr

Ich will noch was

Steckbrief

Quellen

Vorwort

„Ich muss raus“

Heute Morgen beherrscht mich nur ein Gefühl: Ich muss raus. Raus in die Natur, ins Grün, ins Leben. Ich ziehe meine Laufschuhe an und beginne, durch den einsamen brandenburgischen Wald zu joggen. Der Himmel ist hell, die Luft klar und kühl, ich renne über den von Blättern übersäten Weg. Meine Gedanken fließen, mein Kopf wird frei. Keine Termine, kein Druck, absolute Freiheit. Und dann wird mir bewusst: Ich darf ein Buch schreiben.

Wie viele Menschen schreiben wohl in dieser Zeit ein „Corona-Tagebuch“? Wahrscheinlich sehr viele kreuz und quer auf dieser Welt. Eine Pandemie beherrscht unseren Globus und alle sind betroffen, alle. Unfassbar. Eine nie dagewesene Situation. Gut, mein Ausgangspunkt für dieses Buch liegt kurz vor der Corona-Krise. Und es soll auch kein Tagebuch werden, eher das Gegenteil: Keine Momentaufnahme der Gegenwart, sondern ein Blick zurück – und auch einer nach vorne. Jetzt bin ich wie alle, Teil der Krise und nicht frei davon, aber frei von meiner eigentlichen Arbeit, der Schauspielerei, und habe Zeit zum Nachdenken: über mich, mein Leben, dieses Land.

Warum also ein Buch? Mein Weg ist doch kein besonderer, nicht einzigartig. Oder doch? Ich bin ein Kind der 60er Jahre, geprägt von einem Deutschland, das so ganz anders war als das, in dem wir heute leben: eng und genormt, überschaubar und begrenzt. 15 Jahre nach dem Krieg geboren, hatte ich dennoch das Glück, in einer Zeit ohne Bomben, Hunger und Zerstörung aufzuwachsen und bis heute in einer Demokratie zu leben. Meine Eltern, beide Kriegskinder, taten alles, um einen festen Platz in der Gesellschaft zu finden. Heiraten, arbeiten, Kinder kriegen, Haus bauen, Steuern zahlen, ab und zu in den Urlaub fahren und sich scheiden lassen. Alles ganz normal bei uns.

Was hat mich wohl verlockt auszubrechen? Ich weiß es nicht. Da war eine Kraft in mir, die wollte etwas anderes als das Leben, das mir vorgelebt worden war. Nein, das wollte ich auf keinen Fall wiederholen, und dafür musste ich weg, raus aus der vertrauten Situation. Ein dreimonatiger Trip über den Atlantik in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war mein erster Versuch, zu entkommen, aber das war noch nicht genug Abenteuer. Immerhin gab die Reise mir Zutrauen, meinem Wunsch nachzugehen, es mit einem Leben auf der Bühne zu versuchen. Die Schauspielerei, das merkte ich bald, war für mich ein ideales Mittel, um mich auszuprobieren, mich kennenzulernen, an Grenzen zu stoßen, mich an den Vorgaben dieser Welt zu reiben. Und um herauszufinden, was Frausein bedeutet – in der Gesellschaft, in meinem Beruf, in den Rollen, die ich spielte. Damals hatte ich so viele Fragen. Heute habe ich noch lange nicht auf alle eine Antwort. Aber auf einige. Ich fühle mich sehr lebendig, mir näher denn je. Und offensichtlich stehe ich für etwas.

Vor einiger Zeit saß ich in einem Lokal, als plötzlich die Chefin der Berlinale, Mariette Rissenbeek, an meinen Tisch kam. Sie sagte: „Wir brauchen starke Frauen“, legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und ging. Das ist tatsächlich mein Image da draußen: stark, laut, polterig, ein bisschen rotzig und immer kämpferisch. Dieses Image hat mir oft geholfen. Es war eine Art Schutzschild – vor Attacken von Regisseuren und der männlichen Fernsehwelt. Es gab mir die Möglichkeit, zu einer Stimme zu werden. Etwas von diesem Image steckt in mir, spiegelt eine Seite von mir. Nur, es ist nicht die ganze Ulrike. Es überdeckt die andere, private Seite, die nicht so viele sehen und kennen. Meine sanfte, zarte, lustige, ängstliche, sich sorgende Seite. Für die meisten ist diese Seite zwar nicht so sichtbar, erahnen konnte man sie aber höchst wahrscheinlich schon immer. Denn ich sprach oft über meine Zweifel. Stark sein heißt für mich auch, Schwäche zugeben zu können.

In meiner Anfangszeit als Schauspielerin fühlte ich mich oft in die Ecke gedrängt, Menschen kamen mir zu nah, ich konnte damit nicht umgehen, außer indem ich komplett dicht machte und stumm wurde. Aber das war eine Sackgasse, aus der ich nach vielen, auch schmerzhaften Erfahrungen herausfand und in die ich nie wieder rein will. Es war ein langer Weg, interessant und erlebnisreich, voller Überraschungen, Tränen und Umwege, Erkenntnisse und Neuentdeckungen über mich selbst. Es hat sich gelohnt, dem Drang nachzugeben, raus zu wollen und raus zu gehen.

„Ich will raus“ wurde zum Motto meines Lebens.

Ulrike Folkerts mit ihrer Hündin Nabou. 1998

Raus aus der Sprachlosigkeit –sonst implodiere ich.

Raus in die Natur –weil mich das rettet und glücklich macht.

Raus auf die Bühne –weil ich es liebe, zu spielen trotzaller Angst, trotz allem Herzklopfen.

Raus aus meiner Haut –weil ich es mit mir selbst nicht aushalte.

Raus aus meinen Zwängen –sonst kann ich mich nichtweiterentwickeln.

Raus mit dem Lesbischsein –weil ich mich und mein Seinnicht länger verleugnen will.

Raus an die frische Luft –um nicht zu erstickenund um Weite zu spüren.

Raus in den Regen –weil ich tanzen will.

Raus, um im Meer zu schwimmen –weil das Wasser mich leichter macht,das Salz auf meiner Haut bitzelt.

Raus aus der Enge –in mir und meiner Gedankenwelt.

Raus mit meiner Wut –sonst verbrenne ich von innen.

raus

Raus aus meiner Angst –weil sie zu überwinden mir Kraft gibt.

Raus aus dem Alltag –weil ich mich langweile.

Raus mit der Sprache –denn sonst knallt es demnächst gewaltig.

Raus aus festgeschriebenen Normen –weil es noch so viel anderes gibt,was sich richtig gut anfühlt.

Raus aus Klischees –weil sie langweilig sind undStereotype bedienen.

Raus aus meiner Komfortzone –weil ich sonst faul werde und roste.

Raus mit meiner Trauer –damit ich nicht darin ertrinke.

Raus mit meiner Verzweiflung –denn auf Dauer macht sie mich krank.

Raus mit meiner Freude –denn es gibt so viel Tolles in meinem Leben.

Raus mit meinem Humor –weil mit anderen lachen glücklich macht.

Raus aus diesem Land –weil ich unsichtbar sein möchte.

Raus aus dem Bett – ein neuer Tag beginnt …

und hinein in mein einzigartiges, endliches Leben.

Mein zweites Ego

„Na. Wollen wir heute Abend mal Essen gehen?“ Der Kollege, der mich das fragt, ist ein erfahrener TV-Schauspieler, um vieles älter und sehr von sich überzeugt. Er spielt einen von mehreren verdächtigen Triebtätern. Schon während der Dreharbeiten kommt er mir regelmäßig zu nahe, berührt mich lange und unnötig. Nun steht er dicht vor mir, selbstsicher grinsend. Da ich weder ihn noch die Rolle, die er verkörpert, sympathisch finde, sage ich sofort: „Nein“. Was sonst? Ein paar Tage später sind wir gerade im Aufbruch, als er mich packt und einfach küsst – das macht mich richtig wütend: „Hör gefälligst auf damit!“, fauche ich ihn an. Er lacht mich nur aus. Ich bin „Die Neue“ – in doppeltem Sinne. So heißt der allerersteTatortmit der Ludwigshafener Kommissarin Lena Odenthal. Der Name passt perfekt auch zu mir. 28 Jahre alt, frisch von der Schauspielschule und dem ersten Theaterengagement gekommen, bin ich zum ersten Mal an einem TV-Set – und lerne gerade die Gesetzmäßigkeiten der Fernsehbranche kennen.

Es war eine fremde Welt, in der ich an einem kühlen Herbstmorgen im November 1988 für meinen ersten Tatort-Dreh landete. Inlandflüge und Hotelzimmer sollten ab jetzt zu meinem Leben dazu gehören. Das machte was mit mir. Ich fühlte mich bedeutend, aber gleichzeitig wuchs in mir die Angst, Erwartungen erfüllen zu müssen. An jenem Novembermorgen erwartete ich eigentlich den Regisseur oder seinen Assistenten am Flughafen in München. Stattdessen stand da eine perfekt gestylte Frau, elegant gekleidet mit Sonnenbrille im Haar. Sie stellte sich als die Kostümbildnerin vor und ließ mich in ihren Jaguar einsteigen. Mein erster Gedanke war: „O Gott. Bin ich gut genug angezogen?“

München, die Stadt der Schicken und Reichen, machte mich mit ihren Glitzerfassaden sofort unsicher. Wir brausten dann auch nicht ans Set oder ins Hotel, sondern erst einmal in ein Café zum Kennenlernen, und um über die Figur Lena Odenthal zu reden. Denn anschließend sollte die Frau mit mir shoppen gehen und der neuen Kommissarin ein typisches Outfit verpassen. Der Kaffee war lecker, das Gespräch zäh, und als die Rechnung kam, zog sie einen 1000-Mark-Schein aus dem Portemonnaie. Ich war sprachlos. Der arme Kellner. Er hatte kein Wechselgeld und musste erst einmal zur nahegelegenen Bank laufen. Anschließend zogen die Kostümbildnerin und ich durch die teuren Läden in der Münchner Innenstadt. Die 980 D-Mark Restgeld wollten ausgegeben werden. Ich war allerdings nicht darauf vorbereitet, dass ich mir Lena Odenthals Outfit mitausdenken sollte. Typisch. So ahnungslos stolperte ich damals oft durch mein Leben. Aber ich war nicht gut im Klamottenkaufen, interessierte mich einfach nicht dafür. Dass Lena Odenthal in Mantel mit Teddypelzkragen, in dezenten Stoffhosen, Röcken und mit rosa Schal ihren ersten Mordfall ermittelte, war daher auch meine Schuld. Zur toughen, jungen Kommissarin bei der Sitte passte das so gar nicht.

„Es war, glaube ich, 1988, also vor sehr langer Zeit, als wir sie entdeckten. Ulrike Folkerts war eine junge Theaterschauspielerin. Wir machten Probeaufnahmen, schickten sie nach Ludwigshafen, um die Stadt, die Menschen und die Arbeit der Polizei kennenzulernen. Der alte Südwestrundfunk hatte als Erster überhaupt den Tatort mit Kommissarinnen besetzt. Ihre Vorgängerin war eine Lady, jetzt kam der Generations- und Typwechsel.“

Dietrich Mack, Fernsehfilmchef des SWF

Jung, burschikos – französischer Typ. So lautete die Beschreibung, mit der der Südwestrundfunk (SWR), der damals noch Südwestfunk (SWF) hieß, ein unbekanntes Fernsehgesicht gesucht hatte. All das hatte auf mich zugetroffen, und so war ich ein paar Monate zuvor zum Casting nach Baden-Baden eingeladen worden. Ein Glücksfall. Ich bekam die Rolle, die mein weiteres Leben mehr als jede andere prägen sollte. Das Drehbuch zu Die Neue hatte mir gleich gefallen, obwohl das Thema heftig war: Eine junge Polizistin, die bei der Sitte arbeitet, ist einem Serienvergewaltiger auf der Spur. Da passiert ein Mord. Der Täter scheint derselbe zu sein. Lena Odenthal wird also an die Mordkommission ausgeliehen – und wird bleiben. Ich mochte, dass diese „Neue“ clever war, ein bisschen oberlehrerinnenhaft vielleicht – kam sie doch gerade erst frisch von der Polizeihochschule und verpasste keine Gelegenheit, ihr Fachwissen anzubringen. Aber eine, die den Männern zeigte, wo es langging. Der große Unterschied zu meiner ersten Filmarbeit, einer kleinen Rolle im Kinofilm Das Mädchen mit den Feuerzeugen (1987) von Ralf Hüttner, war, dass ich jetzt die Hauptrolle spielte. Der Fokus lag ganz auf mir. Das war natürlich großartig, bedeutete aber auch viel Verantwortung. Ich wurde zum Gesicht des Films, zum Aushängeschild. Mittlerweile ist Lena Odenthal aus Ludwigshafen eine Marke. Nur wie man dazu wird und wie eine solche Marke dann funktioniert, war mir damals ein Rätsel – wie so vieles in der Fernsehwelt.

Ich war neu, ich war anders und ich hatte ein Geheimnis: die Liebe zu einer Frau, mit der ich zusammenlebte. Am Set erzählte ich davon nichts. Warum auch? Die anderen gingen ja schließlich nicht her und sagten: „Schön, dich kennenzulernen. Und übrigens, ich bin hetero.“ Das Geheimnis um meine Beziehung begleitete mich fortan wie ein Schatten und es verstärkte das Gefühl der Einsamkeit und Fremdheit am Set. Erst sehr spät, während meiner Schauspielschulzeit, also drei Jahre zuvor, war ich mir über meine Homosexualität klar geworden.

Seitdem hatte sich meine Sicht auf das Leben komplett verändert. Wie durch eine rosarote Brille schaute ich auf Menschen, die ich neu kennenlernte: Ist er oder sie hetero- oder homosexuell? Erkenne ich das? Woran? Das machte die Welt zwar bunter, aber auch komplizierter. Verhaltensweisen zwischen Frauen und Männern fielen mir plötzlich stärker auf, und was mich zuvor unbewusst geärgert hatte, machte mich nun sehr bewusst wütend. Etwa Szenen wie diese: Ich sitze mit drei Frauen in einem Lokal, wir unterhalten uns angeregt. Die Stimmung ändert sich schlagartig, als ein männlicher Bekannter dazukommt. Die eine fährt sich mit den Händen durchs Haar, die Stimme der anderen wird heller, ihr Lachen unnatürlich schrill. Unbewusstes Geflirte setzt ein. Ich fühle mich wie die Zuschauerin im eigenen Freundinnenkreis und frage mich: Was für ein dämliches Stück wird hier gerade aufgeführt? Merkt ihr noch was?

Fotoshooting für den Stern. 1989

Ich wollte das alles nicht verachten, keine Antihaltung gegenüber Heteros entwickeln, tolerant sein, so wie ich Toleranz für meine Lebens- und Liebesweise einforderte. Und doch konnte ich es kaum verhindern. Schließlich meinte ich, mich positionieren und eine Haltung finden zu müssen, etwa zum Thema dieses ersten Lena-Odenthal-Tatorts: Triebtäter, denen mit Therapien geholfen werden sollte, auch durch eine Täter-Opfer-Begegnung. Schon damals ging es um die Frage: Sind diese Menschen krank und werden deshalb zu Tätern? Muss man, kann man ihnen helfen? Oder sollte man sie einfach wegsperren? Ich war ganz klar für Wegsperren und wäre es wohl heute auch in den meisten Fällen. Mich ärgerte aber, dass es in dem Drehbuch so wirkte, als würden sämtliche Sexualdelikte ausschließlich von Triebtätern begangen. Es war längst bekannt, dass die meisten Täter aus dem nahen Umfeld der Opfer kommen und auch nicht krank sind. Darüber stritt ich mit dem Regisseur, konnte mich aber nicht durchsetzen. „Ulrike, unsere Feministin am Set“, nannte er mich schon bald. Aber das gefiel mir.

Der Kollege, der mich damals zum Essen eingeladen und so unvermittelt geküsst hatte, ließ beim Drehen keine Gelegenheit aus, mich zu berühren, mir zu nahe zu kommen und Grenzen zu überschreiten. Stets so geschickt, dass er es seiner engagierten Schauspielkunst zuschreiben konnte: Er gehe doch nur in seiner Rolle als schmieriger Typ auf, der Frauen gern einschüchtert. Diese Vermischung von Rolle und Realität fand ich unterirdisch. Beklagte mich aber nicht darüber. Dafür fühlte ich mich noch zu unsicher und unerfahren am Set und versuchte zu verstehen, wie die Regeln überhaupt funktionieren. Ich ging diesem Typen daher möglichst aus dem Weg.

Die Einzige, mit der ich meine Wut teilen konnte, war meine damalige Freundin. Und so sammelte ich viele Fünf-Mark-Stücke, um mit ihr zu telefonieren. Wann immer sich die Gelegenheit bot, lief ich zur Telefonzelle. Da stand ich dann in der ungemütlichen Box, sah zu, wie die Münzen durchrauschten und der angezeigte Betrag immer kleiner wurde. Noch bevor ich alles, was mich beschäftigte, erzählen konnte, war das Gespräch auch schon zu Ende. Das war unglaublich frustrierend. Wochenlang in einem Hotel zu wohnen, war ich nicht gewohnt. Ich fühlte mich sehr allein. Die Zeit schlich unendlich langsam dahin, denn damals wurde noch an 32 Tagen gedreht. (Im Nachhinein weiß ich, das war Luxus. Es gab viel Zeit zum Probieren, und wir konnten viele Einstellungen drehen. Heute sind es nur noch 23, in Corona-Zeiten wieder 26 Drehtage.)

Peter Schulze-Rohr, mein erster Tatort-Regisseur, war ein erfahrener, bekannter Mann, der mir viel beibrachte. Fast väterlich nahm er mich unter seine Fittiche. Er war damals schon in seinen 60ern, ein Mann mit milden Augen und unendlich viel Geduld. Beim Casting hatte er mich mit ausgesucht, er glaubte an mich, das konnte ich spüren. Er nahm mich also öfter Mal beiseite, legte seinen Arm um mich, und begann mit den Worten: „Ulrikchen, pass mal auf …“ (das war das Einzige, was ich nicht an ihm mochte, die Art, wie er der „kleinen, unwissenden Ulrike“ alles erklärte). Von ihm lernte ich, welche Einstellung wofür gewählt wird, welcher Blick für die Kamera gut funktioniert und warum es wichtig ist, sein Gegenüber wirklich anzusehen. Vor jedem Take erinnerte er mich: „Atme ruhig ein und aus.“ Bis heute versuche ich vor jeder Szene, wenigstens einige Sekunden mit mir allein zu sein und gut zu atmen. Danke, Peter! Nur, in die Anmache am Set hätte er sich niemals eingemischt oder gar die Jungs auf den Topf gesetzt, wenn sie zu weit gingen. Von #MeToo war man damals noch Lichtjahre entfernt. Das alles galt als normal. Die Geschlechterwelt war eine komplett andere. Wie anders, zeigt schon die Tatsache, dass es nur zwei weitere Tatort-Kommissarinnen vor mir gegeben hatte. Die Kritiken und Reaktionen auf die beiden waren sehr gemischt, teilweise sogar ablehnend. Was nicht an meinen Vorgängerinnen lag, sondern an der Zeit.

Der erste Kostümversuch für den ersten Tatort mit Ermittlerin Lena Odenthal. 1989

Ich war 17, als Nicole Heesters 1978 als erste Frau in einem Tatort ermitteln durfte – nach acht Jahren, in denen es die Serie da schon gegeben hatte. Als Marianne Buchmüller spielte sie sogar die Leiterin der Mordkommission in Mainz. Und sie war unabhängig, hatte zwar einen Freund, aber ihr Job stand an oberster Stelle. Doch diese spannenden Anlagen wurden nicht weiter ausgebaut. Die beiden folgenden Tatorte mit ihr nahmen vieles wieder zurück, die Kritiken blieben schlecht und Nicole Heesters wurde angefeindet, wie man als Frau denn solche Schwerverbrecher jagen könne. Nach drei Folgen hatte sie darauf keine Lust mehr. 1981 folgte Karin Anselm als Kriminalkommissarin Hanne Wiegand in Karlsruhe. Sie spielte ihre Rolle als zielstrebige, aber einfühlsame Ermittlerin. Das kam bei vielen gut an. Nach acht Tatorten wollte sie allerdings nicht weitermachen. Sie fürchtete, zu sehr auf die Rolle der Kommissarin festgelegt zu werden. Eine Erfahrung, die auch ich bald machen sollte. Und doch: Für die westdeutsche Fernsehlandschaft war es ein großer Schritt, dass Frauen nun endlich in die Krimiwelt vorgedrungen waren, und zwar nicht nur als Assistentinnen oder Opfer, sondern als Ermittlerinnen. Im ostdeutschen Pendant, dem Polizeiruf 110, war man da längst weiter. Dort hatte es von Anfang an, also seit 1971, mit Sigrid Göhler eine Ermittlerin gegeben.

All das war mir damals nicht bewusst. Ebenso wenig, wie sehr dieses TV-Format ein gesellschaftlicher Spiegel war und als solcher auch ein Experimentierfeld. In meinem Leben gab es zu dieser Zeit ein ganz anderes Forschungsfeld. Lena Odenthal ermöglichte es mir, als freiberufliche Schauspielerin zu arbeiten – und endlich nach Berlin zu ziehen. Beides war schon lange mein Traum gewesen. Im Mai 1989 kam ich dort an und musste mich erst einmal neu sortieren. Viele Kolleg*innen hatten mir gesagt: „Wenn du Tatort drehst, läuft deine Schauspielkarriere von allein.“ Aber dem war nicht so. Und so richtig wusste ich auch nicht, wie ich es anstellen sollte, an andere Rollen zu kommen. Sechs Wochen im Jahr stand ich für den Tatort vor der Kamera. Den Rest der Zeit kellnerte ich abends in einer Bar. Das war keine normale Bar, sondern eine Lesbenbar. Ein geschützter Raum für Frauen. Erst dort verstand ich, wie wichtig es war, dass wir Frauen unter uns sein konnten, keinen Männerblicken ausgesetzt, keinen Sprüchen. Wir waren freier, offener, flirtiger miteinander. Es machte mir Spaß, hinter dem Tresen zu stehen, denn ich hatte mit vielen Frauen Kontakt, kurze Gespräche, sah zu, wie geflirtet, getanzt, gekuschelt wurde. Spät nachts kam ich aus der Bar, stieg in meinen metallicroten VW Scirocco und sauste in mein kleines Domizil. Ich kam mir unfassbar cool vor.

Geld war meist knapp, aber es reichte, um über die Runden zu kommen. Viel brauchte ich ja auch nicht. Ich wohnte in einer kleinen Remise in Berlin-Kladow. Als meine damalige Freundin ein halbes Jahr später zu mir zog, wohnten wir dort zu zweit mit ihrem Hund und all den Yuccapalmen, die man damals so mit sich herumtrug. Schon bald schenkte meine Freundin mir eine Katze, der folgte eine zweite – und so lebten wir alle in diesem kleinen Gartenhaus auf 35 Quadratmetern kuschelig beieinander. Mein neues Forschungsfeld Berlin, lesbische Beziehung, eine Stadt mit vielen homosexuellen Menschen, konnte beackert werden. Ich habe es genossen, einfach nur in diese Community einzutauchen. Das alles ist mehr als 30 Jahre her. Homosexuell zu sein, anders zu sein, hatte damals eine kämpferische Komponente.

Es ging um Gleichberechtigung, um den Kampf gegen Diskriminierung und darum, politisch zu sein. Wir gingen zu jedem Christopher Street Day, waren auf Frauenpartys, lernten andere Lesben und Schwule kennen. Zu erfahren, dass es so viele Menschen auf dieser Welt gibt, die wie ich fühlten und liebten, war sehr befreiend. Endlich war ich raus aus der eigenen Enge, raus aus festgeschriebenen Normen und Rollenbildern. Mir schien so vieles möglich. In meinem Beruf allerdings war das Thema weiterhin tabu.

Mit der Wende in meinem Leben kam die Wende im ganzen Land. Kaum war ich in Berlin angekommen, fiel die Mauer. Ich saß vor meinem kleinen Fernseher in Kladow, sah die Trabi- Kolonnen, die weinenden Menschen und war überwältigt. Gleichzeitig verstörte es mich, all diese „Deutschland, einig Vaterland“-Parolen zu sehen, all die schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die ersten Durchbrüche und Schlupflöcher in der Mauer nutzte ich, um auf Entdeckungstour in den ehemaligen Osten zu gehen. Im Sommer 1989 war ich noch im Glienicker See geschwommen, begrenzt durch Bojen in der Mitte des Sees, am gegenüberliegenden Ufer die Mauer, eine klare Grenze zwischen West und Ost. Zu wissen, dass ganz in der Nähe der „Todesstreifen“ verlief, war immer gruselig. Und nun, einen Sommer später, schwamm ich durch den See hindurch. Ein unglaubliches Gefühl, sich dem anderen Ufer nähern zu dürfen. Die Bojen waren verschwunden. Der See hatte eine völlig andere Dimension. Es gab im ehemaligen Osten keine Liegewiesen-Zugänge, nur schilfbewachsenes Ufer. Ich konnte nun schauen, was sich auf der anderen Seite verborgen hielt, und entdeckte nach und nach eine andere Welt: Dörfer, Wälder, andere Seen, viel Natur – und die Menschen drüben, die „Ossis“, wie wir sie lange nannten. Wir beäugten uns gegenseitig, und lange dachten alle per Blickkontakt erkennen zu können, ob man Ossi oder Wessi war. Ein merkwürdiges, vorsichtiges Spiel, auch voller Misstrauen und Unbehagen. Berlin war plötzlich riesig groß, Grenzkontrollen fielen weg, alle konnten einfach losfahren, sich frei fühlen und auf Entdeckungstour gehen, von Ost nach West, von West nach Ost. Ein langer Weg der Annäherung begann.

„Wir waren in einem total verrückten Lederladen am Kudamm/Ecke Joachimsthaler Straße, hatten uns über die wilden schwarzen Ledersachen kaputtgelacht und fanden dort eine Lederjacke, die es dann war, perfekt! Nicht modisch, keine spießigen Schnörkel oder Schleifen, keine Schulterpolster. Lederjacke, Jeans, Boots, fertig! Die richtige Kollegin in dieser Männerwelt. Aber einen Ausreißer gönnten wir uns – Ulrike als Vamp! Die Szene spielt in einer Diskothek, die Schlüsselszene: die Überführung der Täterin und Lena in einem hautengen schwarzen Paillettenoverall. Klasse!“

Gudrun Schretzmeier,Kostümbildnerin für denTatort Rendezvous

Freier, wenn auch in anderem Sinne, wurde in den nächsten Folgen meine Lena Odenthal. Bei meinem zweiten Tatort (Rendezvous, 1990) trat Gudrun Schretzmeier, eine Kostümbildnerin aus Stuttgart, in Lenas und mein Leben. „Schretzi“ erfasste mich als Mensch und zugleich den Frauentyp, den Lena Odenthal verkörpern sollte. Sie zog ihr eine Jeans und eine Lederjacke an und gab ihr damit etwas Tougheres. In den Klamotten vorher ging das gar nicht. Wie bitte schön, donnert man einen rosa Schal auf den Tisch? Natürlich kann Lena Odenthal undercover trotzdem mal aufgetakelt, in einem mit Pailletten besetzten Hosenanzug in die Disco gehen. Und natürlich kann sie ihre Weiblichkeit gezielt einsetzen. Nur in ihrem Beruf als Kommissarin passt es nicht zu ihr. Mit meinem fünften Tatort (Die Zärtlichkeit des Monsters, 1993) war dann klar: Lena Odenthal ist eine Frau, wie man sie im Fernsehen zuvor nicht gekannt hatte. Sie trat ihrem Gegenspieler in die Eier, schlug mit dem Kopf gegen seine Stirn, war empfindsam, aber wenn nötig auch richtig brutal. Ein ganz neuer Frauentypus entwickelte sich da. Das war spannend: Sie war anders, durchbrach Klischees und stand damit am Anfang einer Entwicklung, der kurz darauf andere folgen sollten. Manche Zuschauer*innen und Medien taten sich schwer damit, wie ein Bericht im Spiegel vom März 1998 (!) zeigt: „Selbst Schauspielerinnen, die bisher eher dafür bekannt waren, mit den traditionellen sogenannten Waffen der Frau zu verführen, wie die sanfte Hannelore Elsner oder die smarte Iris Berben, hantieren heute als Kommissarinnen wie selbstverständlich mit Pistolen.“ Nein, die „sogenannten traditionellen Waffen der Frau“ waren nichts für mich und nichts für Lena Odenthal.

Die Kommissarin hatte noch lange ihren väterlichen Chef, Herrn Friedrichs (Hans-Günter Martens), der sie immer ermahnte: „Lena! Sie müssen doch aufpassen auf sich.“ Sie war ja noch jung und Hans-Günter Martens ein bezaubernder Kollege, der Ulrike und Lena gleichermaßen schätzte und ihnen alles zutraute. Aber sie wurde immer mehr zu einem unabhängigen Charakter. Ich jedenfalls begann die Figur viel stärker zu spüren. Dass die Presse mich dann „den weiblichen Schimanski“ nannte, hat mich total gefreut. Götz George war damals als Kommissar im Pott eine Sensation. Mit ihm verglichen zu werden, machte mich stolz. Ich bestand darauf, einmal pro Tatort „Scheiße“ sagen zu dürfen, so wie Schimanski. Ich wollte ihm nah sein.

Mit Hans-Günter Martens, zu Beginn in der Rolle des Kriminalrats Friedrichs Dienstvorgesetzter der Ermittlerin Odenthal, beim zehnjährigen Jubiläum derTatort-Reihe aus Ludwigshafen. 1999

Nach diesen ersten Tatorten bekam ich das Angebot, ein paar Monate lang Tourneetheater zu machen. Das war mein Ursprungstraum von der Schauspielerei, seit ich als Schülerin den Film Molière (1978) von Ariane Mnouchkine gesehen hatte. Ein toller Historienfilm, der von der Darstellertruppe des französischen Dramatikers handelt. Genauso wollte ich leben: Mit einer eigenen Truppe eigene Stücke spielen und als Gemeinschaft umherziehen. Alles miteinander teilen, Bett und Bühne. Könige genauso begeistern wie die Massen. Ich sagte also zu. Doch die Realität sah anders aus. Unsere Theatertruppe war winzig, wir waren nur zu fünft, ein bunt zusammengewürfelter Haufen: ein älterer Kollege, der schon seit Ewigkeiten Theater spielte, ziemlich fertig mit der Welt war und seinen Weltschmerz im Alkohol ertränkte; ein jüngerer Mitspieler mit Beziehungsproblemen, der zwischen den Auftritten seine Gage vertelefonierte und deshalb ständig pleite war; eine junge Kollegin und ein junger Kollege, beide frisch von der Schauspielschule und glücklich, überhaupt einen Job zu haben. Die Unbeständigkeit der Liebe (1723) hieß unser Stück, eine Liebeskomödie