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Wer bin ich, wenn meine Erlebnisse mich zu einem anderen gemacht haben? Hans, ein anerkannter Chirurg, kehrt von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs nach Hause zurück – oder vielmehr zurück in das, was als sein »Zuhause« gilt. Denn das Erlebte hat seine Gewissheiten zerschlagen, nur eine unauslöschliche Fremdheit ist zurückgeblieben. Seine Frau Grete und seine Freunde erkennen ihn, auch seine Arbeit erledigt er zuverlässig, nur sein Hund wittert Verdacht. Ist er durch den Krieg zu einem anderen geworden? Oder ist er eigentlich ein anderer, der sich in Hans' Leben eingeschlichen hat? In einem atemlosen Selbstgespräch, das die Selbstzweifel des Protagonisten Hans zum Vorschein bringt und existenzielle Fragen stellt, lässt Peter Flamm die Lektüre dieses schmalen, kraftvollen Romans »Ich?«, der 1926 als sein Romandebüt bei S. Fischer erschienen ist, zu einem mitreißenden Erlebnis werden. »Ein Buch, von dem in jedem Sinne das Wort gilt: magisch hinreißend.« Das Tage-Buch, 1926 »Schriftsteller oder nicht, jeder ist verdammt – oder gesegnet –, die spukhaften Blasen, die aus den dunkel brodelnden Wassern seines Unbewussten steigen, zu bekämpfen.« Peter Flamm
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2023
Peter Flamm
Mit einem Nachwort von Senthuran Varatharajah
Roman
Peter Flamm, bürgerlich Erich Mosse, 1891 in Berlin geboren, begann schon während seines Medizinstudiums, in den Zeitungen seines Onkels Rudolf Mosse Feuilletons und kleinere Erzählungen zu veröffentlichen. 1926 sorgte sein psychologischer Debütroman »Ich?« bei S. Fischer für Furore. In den folgenden Jahren verfasste er neben seiner medizinischen Praxis drei weitere Romane, bis er als Jude 1933 mit seiner Frau Marianne aus Deutschland nach Paris und 1934 nach New York emigrieren musste. Dort ließ er sich als Psychiater nieder; Berühmtheiten wie Albert Einstein und Charlie Chaplin gingen in seinem Haus ein und aus. 1963 starb er in New York.
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Nicht ich
1959 war
Rückblick
Nachwort
Der Mund
Der Strich
Das Glas
Der Nabel
Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.
Sie können das nicht verstehn. Sie glauben, das muss doch ein Lebender sein, das ist doch ein Mensch, der da redet – oder ein Irrsinniger. Ich bin nicht irrsinnig, ich weiß nicht. Aber ich liege seit zehn Jahren in der Erde, meine Glieder sind verfault, meine Knochen graues Pulver, mein Atem – ich habe keinen Atem mehr. Es ist alles stumm. Es ist alles vorbei. Ich liege in der Erde, vor Verdun, oben sind die Trümmer von Douaumont, der Wind weht über verlassene Gräber, verlassene Erde, verlassene Tote. Fahren Sie hin, graben Sie in den Sand, hacken Sie links in den großen Granattrichter, es steht Wasser darin, vielleicht weicher Schlamm. Fürchten Sie sich nicht: Es ist kein Krieg mehr, keine Granate kommt und spritzt Sie in Stücke, kein Schrei gellt mehr, keine Glieder fliegen durch die Luft, kein Blut, keine zerfetzten Leiber. Es ist still. Alles. Endgültig. Da nun bücken Sie sich. Da tun Sie das bisschen Erde fort. Und dann finden Sie – mich. Ja, Knochen und Schädel und Staub und meinen Namen, der nicht mein Name ist und doch ist, mein Schicksal, das nicht mir gehört, sondern einem andern, und nun über mich gekommen, erstickend als mein eignes.
Wie soll ich das erzählen mit einer Zunge, die nicht meine, in einem Mund, der nicht meiner? Wie sollen Sie mir glauben, der ich mir selber nicht glauben kann? Aber es war so, es geschah so, es war Wirklichkeit, es war ein Tag wie andere, nein, nicht wie andere, denn der Leutnant Basch hatte uns gesagt, es sei Revolution, in München und Berlin Revolution, der Krieg sei aus, nach vier Jahren aus, keine Granaten mehr, kein Tod, kein Schlamm, kein Zwang, kein Gesetz, kein Eisen und Druck: Es löse sich alles auf, alles fällt auseinander, eine neue Zeit, ein neues Leben.
Ich war betrunken, wir waren alle betrunken; etwas sang in mir und rauschte hoch, ich stieg aus dem Graben, meine Sinne taumelten, das konnte doch nun nicht alles zu Ende sein plötzlich, wir haben ja doch so lange darauf gewartet, bis wir nicht mehr an ein Ende glaubten. Nun war ein neues Tor, ein neues Leben, man sollte nicht mehr im Dreck liegen, man sollte wieder in einem Zimmer auf weißem Laken sein, man sollte eine Zukunft haben. Eine Zukunft? Man würde arbeiten, ganz wieder von vorn anfangen müssen, wo sind die weißen Laken, man wird wieder vorn im Dreck sitzen, während die Generale hinten, immer sind da diese Generale hinten, diese Reichen, die in Autos fahren, die den Ruhm haben, Fressen und Weiber, während die andern verrecken, während man selbst –
Ich kletterte heraus aus dem Unterstand, fiel über Hügel und Löcher, stolperte über Leichen und Stämme, es war eine kalte Nacht, der Mond schien, aus dem Unterstand duselte Musik, in meinem Blut brannte Fieber, ich war müde zum Umsinken, und doch trieb mich Unruhe, trieb und trieb – plötzlich lag etwas vor mir, eine dunkle Masse, fast wäre ich drübergefallen. Ich wollte vorbeigehn, zurück zum Unterstand, warum ging ich überhaupt hier herum, statt mit den Kameraden zu sein, mit ihnen zu singen, zu feiern, was zog mich hierher mitten in der Nacht, allein zwischen zerbrochenen Wagen und gestürzten Mauern, allein zwischen – Toten? Ja, es war ein Toter, ich wusste es ja, er war gestern Patrouille gegangen, vierundzwanzig Stunden vor dem Ende, der Krieg war aus, und er war einen Tag zuvor gefallen, auch die letzte Kugel traf eine Mutter, hatte man nicht einen Tag früher aufhören können, es ist lächerlich, nun war er tot, lag da, der Herr Doktor, ein »Gebildeter«, was hatte er nun davon, war ja doch nur Feldwebel wie ich, Leutnant wenn schon – nun war er tot, und ich – –. Meine Hand griff an seinem Leib herab, ich wollte nicht, es geschah ganz von selbst, ganz von selbst war ich hierhergegangen, hatte ich es gewollt, gewusst? Ganz von selbst. Wie? Meine Hand tastete zitternd über den Körper, über Schmutz, über klebriges Blut, ich drehte meine Taschenlampe an, gespenstisch griff der kleine stumpfe Lichtkreis durch die Schatten; da starrten zwei Augen zu mir hoch, tote, leere Augen blinzelnd zwischen herabgefallenen Lidern, ich fuhr zurück, meine Hand zitterte, nickte nicht der Kopf, war nicht ein verschmitztes Lächeln auf den kalten, blauen Lippen? Ich wusste nichts mehr, wieder im Unterstand, griff ich nach meiner Brust, das Herz pochte wie rasend, aber über dem Klopfen fühlte ich in einer seltsam glücklichen Erregung das kleine graue Heft, den Pass, den ich dem Toten abgenommen, seinen Pass, seinen Namen – und sein Schicksal.
Damals wusste ich das nicht. Es fragte einen ja keiner, Revolution hurra, wer fragt nach einem Papier, wer kontrolliert denn das, wer kennt denn einen Namen? Wir sind alle Menschen, wir sind alle Brüder, und der andere war ja tot, das konnte ihm ja gleich sein, verfault im Schlamm, mit blinzelnden Augen, Knochen und Staub, pfui Teufel!
Ich saß in der Bahn, im Schnellzug, erster Klasse natürlich, wie leicht man sich da hineinfindet, wie seltsam auch, dass alle Erregung weg war, ganz selbstverständlich alles. Hatte ich am Ofenloch gestanden früher, mitten in der Nacht herausmüssen aus dem Bett? Und der Teig war aufgegangen und hart, und aus dem Loch stach die Glut mitten ins Gesicht und versengte einem die Haut, und wie der kleine Hennings sich die Schürze verbrannte und die eine Hand und so schrie – Unsinn, Unsinn, das war ich ja nicht, das bin ich ja nicht, ich fuhr ja hier, ein feingebildeter Herr, ein reicher Herr in roten Polstern, erster Klasse, die andern können einem ja leid tun, in der vierten Klasse zusammengepfercht wie Tiere, wie Vieh, nicht mal sitzen können sie und sind doch so müde, und die Knie zittern, aber sie müssen stehn, alle, auch der kleine, schmale Dragoner, das blasse Gesicht unter dem schwarzen Scheitel, der mich vorher immer so angestarrt mit solch schmerzhaften Blicken, bis er umgefallen, plötzlich ganz weiß im Gesicht. Oder habe ich das nur geträumt oder einmal auf einem Bild gesehen, und das ist Erinnerung von etwas, das ist – oder nicht ist?
»Wenn Sie nach Berlin kommen«, sagt die dicke Glatze auf dem Polster gegenüber, »Revolution, wer hätte das gedacht! Sie fahren doch nach Berlin?«
»Geht der Zug nach Berlin? So? Ja. Ich wollte zwar eigentlich – –. Natürlich fahre ich nach Berlin.«
Natürlich? Ja, warum bin ich gefahren? Ich wollte ja gar nicht, aber es zog mich hin. Ich glaubte freiwillig, aber wie konnte ich dann vergessen, dass meine Mutter, meine Schwester in Frankfurt, wie? Ein Jahr nicht mehr gesehn, ganz gleich, und nun nach Berlin? Natürlich Berlin. Es war gar nicht schwer, es war gar keine Frage. Ich lächelte, ich musste immer lächeln, aber trotzdem lag etwas Dunkles auf meiner Seele, ein seltsamer Schatten, wollte nicht weichen, schwer und erstickend.
Draußen auf dem Gang lehnte ein Mann gegen das Fenster und blickte auf die vorbeifliehende Landschaft. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sein schmaler Rücken, die schiefe, links etwas höher als rechts gezogene Schulter, die eigentümlich gespannte Haltung des Halses, all das kam mir bekannt vor, etwas stieg auf in mir, eine seltsame Erregung, ein Hass ohnegleichen, ein fast körperliches Übelsein. Ich konnte den Blick nicht abwenden. War ich hypnotisiert? Ich fuhr hier in der ersten Klasse und kannte doch niemanden! Warum sollte ich einen fremden Menschen hassen, einen Hals, einen Rücken, mit solchem Hass, ohne Sinn, ohne Grund? Was ging das mich an?
Jetzt wandte sich der Rücken um, der Hals bekam schräge Falten, nun kam der Kopf ins Profil: Ein fremder Mensch. Und doch, ich kannte ihn, doch brach alles Blut hoch in die Stirn, doch war da etwas Dunkles, das mir Angst machte, es war wie ein Schlag auf den Kopf, meine Gedanken verwirrten sich, ich wollte aufstehn, mich wegwenden: Da hatte jener mich bemerkt, mit einem Ruck drehte sich der Körper ganz zu mir, ein paar Augen wurden hart und wild, dass das Weiße herauszutreten schien, die Nasenflügel begannen zu beben, die Hand sich zur Faust zu ballen, einen Augenblick schien es, als wolle die Faust sich heben, hineinschlagen in die schmale, dünne Scheibe, die unser beider Gesicht trennte – dann mit einem Ruck ließ er sie fallen, wandte sich verächtlich und verschwand mit kurzer, zuckender Bewegung.
Ich saß wie betäubt. Was war das? Hatte ich das geträumt? Halluzinierte ich? Der Krieg hatte wohl auf meine Nerven gewirkt, kein Wunder, es würde wohl vorübergehn. Wenn ich erst Ruhe hätte, wieder an der Arbeit wäre –. Mit der Hand wischte ich mir über die Stirn: Seltsam, wie weiß meine Hand war, ganz schmal und durchsichtig, schmale blaue Adern wie durch Wachs sich schlängelnd, als wäre es gar nicht die meine, als wäre –
»Seltsam«, ging es mir durch den Kopf, »was bin ich für ein Mensch, was bin ich denn, was hier sitzt, und was habe ich für seltsame Hände!«
Der Zug fuhr in die Halle. Ich war noch nie in Berlin gewesen, aber ich wusste, das war Berlin, ich war gar nicht erstaunt. Ich ging den Perron entlang, die Bahnhofstreppe herab, links die Königgrätzer Straße herunter zum Potsdamer Platz. In der Bellevuestraße kam ein Mann auf mich zu, wollte vorbei, erschrak, blieb stehn, grüßte, etwas blitzte auf in seinen Augen, dann packte eine glückliche Hand stürmisch meinen Arm:
»Mensch, du, Doktor, du bist da, du lebst? Was wird Grete sagen? Ein Gerücht, dir sei etwas passiert – du hast ihr natürlich telegrafiert? Ich war noch gestern bei ihr, deine Mutter war auch gerade da. Sie waren sehr beunruhigt alle. Und dein letzter Brief war so seltsam, Todesahnungen, mein Gott, man soll so etwas nicht schreiben, und dann das Gerücht, nun bist du da, welche Freude, ich begleite dich ein Stück, wenn du willst, natürlich, komm, ein Auto, wie kannst du nur so langsam gehn, und war denn niemand auf der Bahn?«
Ich saß im Auto, ein fremder Mann neben mir fuhr mich zu einem Ziel, das ich nicht wusste. Ich konnte nichts denken, ich war über nichts verwundert, es ging alles von selber, ich glitt auf einem Strom, auf kühler, silberner Fläche, es war Krieg gewesen, und nun ist Frieden, ich bin in der Masse gelaufen, und nun kommt einer und fährt mich im Auto. Ist das nicht natürlich? Es ist alles natürlich. Einmal trifft das Glück jeden, man muss es nur greifen, und das Wunder bleibt nur so lange, bis es Wirklichkeit ist.
Der Wagen bog in die Straße, hielt. Das Surren des Motors stoppte plötzlich ab, eine seltsame Stille lag über meinem Gehirn, mechanisch stieg ich aus, sah gedankenlos zu, wie jener zahlte, sah das Haus hinauf, die Reihe der Fenster, ein einzelnes – plötzlich setzte mein Herz aus, der Boden schien zu wanken, vor meinen Augen begann es sich zu drehn, grüne und goldene Kreise: Aber immer war ihr Bild darin, wie sie oben am Fenster stand, wer?, eine Frau, ein Mädchenkopf, leuchtendes goldbraunes Tizianhaar über einem erbleichenden Gesicht, einem Gesicht voll Süße, Angst, Schmerz, Sehnsucht und solcher Liebe – wem das galt, wem diese Frau, diese Liebe zu eigen, wer sie besaß: Ein Leben würde ich geben, nein, ich will nicht fort, warum schiebt er mich denn zur Tür, ich will hierbleiben und stehn und immer hinaufschauen – – die Treppe, was soll ich denn, wohin soll ich denn, was hämmert denn mein Herz?
Mein Gott, eine Tür ging auf, es war in der zweiten Etage, es waren zweiundsechzig Stufen, warum habe ich das gezählt, ganz sinnlos gezählt, die Tür sprang auf, sie war schon offen, eine alte Frau stand da mit einem weißen Häubchen und zitternden Händen, und dann, aus dem engen Gang, im Windzug, im weißen flatternden Licht – stand plötzlich das Mädchen, vom Fenster die Frau, stand bleich und lächelte, mit einem kleinen, kranken, demütigen Lächeln, einem kleinen blassen zuckenden Mund, die leuchtenden Augen blau und ganz strahlend in die meinen, bis ein Zittern durch die schlanken Glieder ging, die Augen hinter den langen dunklen Wimpern versanken und der plötzlich wächsern gewordene Leib zu schwanken begann. Sie wäre gefallen, mit einem Sprung war ich neben ihr, sie lag in meinen Armen, leise bewegten sich die erblassten Lippen, der warme Atem wehte mir ins Gesicht, zitternd hielt ich den warmen Leib umfasst, da hob sie wie im Traum die schmale Hand, tastete fassungslos wie suchend über mein Haar, langsam hoben sich die Wimpern, ein blauer Strahl von unsäglicher Zärtlichkeit glänzte aus ihren Augen, und während Träne auf Träne unaufhaltsam über die Wange tropfte, öffneten sich die Lippen feucht und weich zu unlöslichem Kuss.
Wie lange standen wir? Ich war fühllos gegen die Zeit, fühllos gegen die Welt, merkte nur, etwas zog mich am Bein, kam immer wieder, sprang an und wieder zurück, während etwas Heißes herabbrannte, ein heißer, tauber, durchdringender Schmerz. Ich hätte es auch jetzt nicht gemerkt, aber da war ihr Schrei und ihr entsetztes Gesicht, die Röte war wieder auf ihrer Stirn, ihre Hände waren plötzlich nicht mehr über mir, ihre weit aufgerissenen Augen schauten jetzt seitwärts, mir war, als drohte mir eine furchtbare Gefahr, als müsste ich mich mit aller Kraft auf mich selbst besinnen, aufwachen, mich wehren, aber ich war in solcher Verwirrung, der Duft aus ihrem Haar, von ihrer Haut betäubte mich, ich sah nur immer ihr Gesicht, es war ja kein Mensch, ich war ja selber gar nicht hier, es war alles Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durfte nicht aufwachen, man musste sehr leise sein – was schrie denn da, warum gingen die Lippen weg, hatten mich doch berührt, hatten mich doch geküsst, was zuckt es denn nun, warum verzerrt sich dies Gesicht, was bricht denn herein, was reißt an mir?!
Zwei Hundeaugen sprühen grüne Flammen, ein schwarzer zottiger Leib, wilder, zottiger Kopf, weiße blanke Zähne, verbissen, verhakt in mein Fleisch, und Blut strömt, mein Blut, rieselt heiß und klebrig zum Fuß, den Strumpf herunter, da ist ein kleiner, dunkler Fleck auf dem Teppich, eine seltsam rote Masse, der Mann an der Tür schreit, seine breite Hand krallt in dem Fell des Tieres, er reißt es zurück, wieder stürzt es vor, er tritt ihm mit dem Fuß in die Schnauze, endlich lässt es los, die Lefzen fliegen, die rote Zunge hängt blutend und kraftlos heraus, scheu kriecht es an die Wand, knurrend, lässt mich nicht aus den Augen, nicht aus den Augen –
»Wie können Sie nur, Frau Grete«, sagt die keuchende Stimme des Mannes, »ein schöner Empfang! Das Vieh ist ja wahnsinnig, es hätte ihn ja zerreißen können. Vielleicht ist es tollwütig. Warum wehren Sie sich auch gar nicht? Sehn Sie nur, wie ihm der Geifer von der Schnauze fliegt, wie es herüberblickt, zu Ihnen hinstarrt, wie – ein Mensch.«
»Das war ja noch nie, noch nie«, bebt sie fassungslos, und plötzlich: »Hans, Hans, du bist da, du bist plötzlich da, mein Gott, ich verliere den Verstand, das Tier ist verrückt, es hat dich gebissen, warum hat es dich nur gebissen, so stehn Sie doch nicht da, holen Sie doch einen Arzt, es blutet ja.«
»Nicht schlimm, lassen Sie nur«, sagt der, »ein wenig Gaze, ein Pflaster, Sie haben doch im Haus –«
»Natürlich.« Und läuft und wieder zurück, und die Hose ist hochgekrempelt und die Wunde verbunden, sie ziehn mir, ohne zu fragen, den Mantel aus, warum sollen sie auch fragen, gehöre ich nicht ins Haus, ist es nicht mein Haus, mein Zimmer, meine Wohnung, meine – Frau?! Meine Frau! Dieses Mädchen, diese Hände, Lippen, Haar, diese Augen – meine Frau!! Das ist ja alles Wahnsinn, was geschieht denn da, das darf doch nicht sein. Wer ist denn das? Ich bin doch bei fremden Menschen. Ich kenne doch niemanden. Wer ist sie denn? Wie heißt sie denn? Wofür halten mich diese Menschen? Das ist ein Irrtum. Wer bin ich denn, wer bin ich denn?
»Du musst dich jetzt hinlegen«, sagt sie da, und ihre Stimme legt sich wie ein Strahl durch alles dunkle Gewölk. »Du sollst nicht nachdenken, nichts erzählen, erst einmal schlafen. Es hat ja alles Zeit. Der Krieg ist aus, und du bist bei mir. Nun ist alles gut, nicht? Ach, Hans –«
Was soll ich ihr sagen? Ich weiß ja gar nicht, ich verstehe das ja selber nicht. Es ist alles so viel auf einmal. Ich habe irgend etwas getan, aber ich weiß nicht mehr, was. Und ich bin müde. Ich will schlafen. Es ist alles gut, nicht? Alles gut.
Ich liege auf dem Diwan. Das Bein schmerzt. Ich habe die Augen geschlossen. Wenn ich blinzle, ist drüben das Tier, liegt kauernd in der Ecke, knurrt vor sich hin, mit gehobener Schnauze die Luft einsaugend, den Blick zu mir hinüber. Ich möchte schlafen, aber eine Unruhe treibt mich, hinter der Stirn hämmert es dumpf, ich bin sehr allein. Mein Gehirn ist in einem wundersamen Zustand. Ich zähle sinnlos die gelben und schwarzen Würfel auf der Tapete zusammen, die schwarzen dann gesondert, es sind hundertsechsunddreißig, ich fühle, wie mein Körper auf dem Diwan liegt, ich sitze selbst in meinem Körper und fühle ihn liegen, die Hände auf der Decke, das Gesäß auf dem weichen Stoff, das Gehirn schwimmt im Schädel, durch die Muskeln ziehn weiße Nerven und braune Adern. Wer bin ich? Wer bin ich?
Meine Hand gleitet über die Brust, streicht mechanisch wie streichelnd hin und her. Etwas knistert. In der Tasche links, in der linken Brust buckelt sich etwas vor, fühlt sich etwas pelzig. Plötzlich, bei dieser Berührung, beginnt mein Herz zu hämmern, plötzlich springt eine Feder auf im Hirn, öffnet sich durch die Mauer ein steiler Riss: der Pass!
Wie kann man das vergessen? Wo war ich denn? Welch ein Nebel, welch gespenstisches Zwielicht! Hier in der Tasche der Pass eines fremden Menschen. Gestohlen: Was macht das. Ein wehrloser Leichnam: Was schadet es ihm. Er wird nicht ärmer davon und ich dafür reicher. Was ist ein Name! Habe ich nicht genug gelitten unter dem meinen? »Bettuch, Wilhelm Bettuch?« Ist das ein Name? Name eines Menschen? Bettuch? In der Schule, in der Pause standen sie um mich, zogen mich an der Hose, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüchlein! Deck dich mit dir selber zu! Hast du gut geschlafen? Wedel mal! Komm, wir klopfen dich aus! Du bist ja ganz schmutzig! Stecken dich in die Tasche! Zipfelchen, Bettzipfelchen!
Bettuch! Was für ein Vater, was für ein Ahnherr, der das ruhig getragen! Sich wund gerieben daran und nicht aufgeschrien! Nicht abgeworfen das Joch! Ein Mensch hat einen Namen, kann nichts dafür, »wie heißen Sie?« – »Bettuch.« Er lächelt. Wer? Alle. Die Menschen. Die Welt. Ziehn die Lippen krumm und lächeln. Wie kann man solch einen Menschen ernst nehmen? Ihm Vertrauen geben, ein Amt, Arbeit und Stellung? Wäre ich nicht längst Meister? Hat mich einer angenommen zur Lehre? Natürlich. Aber der andere, der weniger gekonnt, immer hat der weniger gekonnt, und ich musste doch zurückstehn. Immer zurückstehn. Im Tanzsaal die blonde Liesel: schaute mich an mit blauen Augen, beim Walzer ist ihr Hals ganz weich zu mir gebogen, die kleinen Löckchen streicheln verliebt und zutraulich gegen meine rechte Backe, ich bringe sie heiß und atemlos zum Platz, da ist die Mutter, »Bettuch«, sage ich und mache eine Verbeugung, »Wilhelm Bettuch!« Da wird die Liesel rot, die kleinen dunklen Lippen kneifen sich zusammen, in der Kehle sitzt ihr ein Kichern, immer dies Kichern, es ist überall, es mordet alles, was eben noch glänzt, wird stumpf, was sich in Wärme neigen will, erfriert, zieht sich zurück, und ich stehe allein.
Ein Name, ein Wort: Was hat das mit mir zu tun? Was ist ein Mensch und sein Name? Wie kann man einem Menschen überhaupt einen Namen geben wie einem Ding, einem Leben, das sich verändert, das immer anders ist? Er, der frei, nun von Geburt an im Netz, abgestempelt, gezeichnet! Immer geduckt, was nützt alle Kraft, immer gezähmt, was nützt Wildheit, Mut und Arbeit: Nun bin ich herausgeschlüpft, nun bin ich ein anderer, ich habe einen anderen Namen, ich bin ein anderer Mensch, das geht so einfach, man braucht nur das Kleid zu wechseln, Namen machen Leute, und nun bin ich der Doktor, Doktor Hans Stern, ja, ich bin das, ich, ich bin ein gebildeter Mensch, ich bin reich, alle Sorge hat ein Ende, was ist ein Leichnam, ich habe mir sein Glück genommen!
Drüben aus seinem Winkel ist der Hund aufgestanden, schleicht lauernd im Zimmer umher, hält den Kopf schief, seine Augen leuchten grün. Immer wenn er einmal im Zimmer herum, bleibt er stehen, unten am Fußende des Diwans, richtet sich hoch, sieht mich an, legt die Tatzen auf den schweren Teppich, duckt den Kopf darauf und beginnt zu winseln, ein langes quälendes Heulen.
Was ist mit dem Vieh? Alle sind gut zu mir, alle lieben mich, fremde Menschen setzen mich in ein Auto, fremde Arme legen sich um meinen Nacken, fremde Hände streichen zitternd über mein Gesicht. Nur dies Tier ist böse, hasst mich, reißt mir das Fleisch vom Bein, dass es blutet, glüht mich an, wild und gereizt, ein dumpfer, lauernder Feind.
Man muss ihn zu gewinnen suchen, es ist ein gutes Tier. Er ist sonst immer gut, warum jetzt nicht? Man muss lieb zu ihm sein, ihn streicheln: Komm, Nero! Woher weiß ich den Namen? Nero? Ja, er kommt, ja, er horcht auf, die Buschen über seinen Brauen beginnen seltsam zu zucken, der Kopf hebt sich, der Schwanz wedelt, quirlt, peitscht in die Runde, plötzlich springt er auf den Diwan, erschrocken will ich hoch, da ist sein Kopf neben meinem, die weiche, feuchte Schnauze neben meiner Wange, und nun die Zunge über die Ohren, über Wangen, Kinn und Hände. Das Tier ist außer sich, weiß sich nicht mehr zu lassen, sein Winseln wird zum