Ich sehe das, was ihr nicht seht - Pamela Pabst - E-Book

Ich sehe das, was ihr nicht seht E-Book

Pamela Pabst

4,8

Beschreibung

Pamela Pabst arbeitet in ihrem Traumberuf – als erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in Deutschland. Mit Leidenschaft und einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit hat sie dieses Ziel verfolgt. So schickten ihre Eltern sie auf eine gewöhnliche Grundschule und später auf ein Gymnasium – zu einer Zeit, als das Konzept der Inklusion, des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung, noch keine gesellschaftliche Relevanz hatte. Offen und ohne jede Larmoyanz gewährt Pamela Pabst Einblick in ihr Leben und ermutigt alle – Sehende wie Nichtsehende –, konsequent ihren eigenen Weg zu gehen.

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Hanser Berlin E-Book

Pamela Pabst und Shirley Michaela Seul

Ich sehe das, was ihr nicht seht

Eine blinde Strafverteidigeringeht ihren Weg

Hanser Berlin

ISBN 978-3-446-24550-1

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von © Stefan Nimmesgern

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ich widme dieses Buch allen Menschen,

die mich lieben und unterstützen.

Nichts wird uns aufhalten. Alles ist möglich.

Das sagte der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton in deutscher Sprache bei seinem Besuch am 12. Juli 1994 in Berlin anlässlich des Abzugs der Alliierten. Das Zitat ist mir zum Wahlspruch für mein Leben geworden. Bill Clinton fügte damals als letzten Satz seiner Rede vor dem Brandenburger Tor hinzu: »Berlin ist frei.«

Inhalt

Das Zauberwort »Mandant« – Jura als Kindheitstraum

Hände zum Sehen und Fäuste zum Boxen – ein früher und schwieriger Start in die Welt

Vollgas, Vollbremsung und der Blick über die Schulter – ein bisschen Spaß muss sein

Trübe Flecken und ein kleines Wunder – meine Art zu leben

Gemüse auf sechs Uhr und andere Spielregeln – die Vorschule für Blinde

Der Duft von Kuhfladen und der Ast auf dem Balkon – die Welt mit allen Sinnen entdecken

Fridolin und andere Hilfsmittel – von der Integration zur Inklusion

Hügel auf den Tasten – meine Buchstaben und die Buchstaben der anderen

Pabst gegen Pabst – Liebling Kreuzberg auf dem Dachboden

Isolation statt Integration – sieben Jahre Schulhölle

Eine fremde bewegliche Sache – im Kriminalgericht hat es Klick gemacht

Links Würstchen, rechts Blumen – Mobilität und der Weg zum unendlichen Praktikum

Mit Ambulanzlehrer, Vorlesemama und Mentor – qualvolle Jahre bis zum Abitur

Die Brücke zu den Buchstaben und die juristische Denke – das Studium

Von der Richterin zur Anwältin – der geplatzte Lebenstraum

Die Holzkiste und viele Verwechslungen – das erste Staatsexamen und die Zeit danach

Buchstabenabteilung, ein Stück Rechtsgeschichte und andere Stationen – vom Referendariat zur Selbständigkeit

Blindengeld und die Finger in der Pampe – Hilfen und Freuden im Alltag

Der Weg entlang der Tonspur – unterwegs in Berlin

»Ich bin die Augen von Frau Pabst« – Hilfe im Büroalltag

Vertraute oder Lügendetektor – der Umgang mit den Mandanten

Auf Jobakquise – ein Bewerbungsgespräch und was daraus wurde

Das Zauberwort »Mandant« – Jura als Kindheitstraum

In den vergitterten Zellen um mich herum sitzen an die tausend Männer hinter Schloss und Riegel. Am Arm von Frau Müller, meiner Assistentin, schreite ich auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Tegel durch die kühle Morgenluft. Das Einlassprozedere hat wie immer eine Weile gedauert.

»Rechtsanwältin Pabst?«, fragt eine Männerstimme, als wir den Vorraum erreichen. Diesen Beamten kenne ich noch nicht. Seine Stimme klingt sicher, obwohl sie nicht tief ist. Stimmen unterscheide ich oft in sicher und unsicher. Auch laute Stimmen können Unsicherheit verraten.

Durch ein Metalltor, das hinter uns krachend ins Schloss fällt, folgen wir dem Justizvollzugsbeamten in den Gang unterhalb der Kirche. Das zweiflügelige hohe Tor ist von Gefangenen geschmiedet worden und fühlt sich interessant an. Frau Müller hat mir einmal gesagt, es sehe verspielt und hübsch aus. Ja, das habe ich auch ertastet, anhand der verschnörkelten Kringel.

Wir laufen weiter. Unter meinen Füßen spüre ich die Unebenheit von Kopfsteinpflaster. Vor uns klirren die Schlüssel des Beamten. Er führt uns durch mehrere Türen, die jeweils auf- und hinter uns wieder abgeschlossen werden, bis uns hohe Mauern umfangen, angefüllt mit Stimmengewirr, dem Klappern von Metall, unverständlichen Rufen, dem Geruch von Essen und ungewaschenen Männerkörpern.

»Der Raum rechts ist frei«, sagt der Justizvollzugsbeamte.

Kurz darauf sitze ich neben Frau Müller auf einem wackeligen Holzstuhl ohne Polster. Vor mir steht ein Tisch, er ist staubig, wie ich merke, als ich mich darauf abstütze, und es ist kalt hier. Während wir noch darüber sprechen, ob man nicht besser heizen sollte, öffnet sich die angelehnte Tür, und ein Mann tritt ein. Aus den Akten weiß ich, dass er, Herr Baumann, mit einem Mittäter insgesamt zehn Autos aufgebrochen hat, um die Navigationssysteme zu entwenden. Er ist vierundzwanzig Jahre alt, deutscher Staatsbürger ohne Schulabschluss, nicht vorbestraft. Herr Baumann setzt sich an den Tisch. Ich bin gespannt: ein neuer Mandant, ein neuer Fall, eine neue Lebensgeschichte.

Frau Müller, die neben mir sitzt, niest.

»Gesundheit«, sage ich.

»Gesundheit«, sagt auch Herr Baumann. Seine Stimme klingt aufgeregt.

Ich strecke meine Hand aus. Als Blinde strecke ich sie immer zuerst aus – eine mir hingehaltene Hand kann ich ja nicht sehen. Die Hand des Mannes fühlt sich weich und warm an, ein bisschen feucht vielleicht.

Er räuspert sich. »Also danke erst mal, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich kenn ja gar keine Anwälte. Ich kenn mich mit so was überhaupt nicht aus. Aber mein Kumpel hat mir Ihre Nummer gegeben.«

»Wer ist denn Ihr Kumpel?«

»Na, der Mohammed.«

Aha, denke ich. Mohammeds habe ich mehr als einen in meiner Kartei. Manche schreiben sich mit einem, manche mit zwei »m«.

»Und der Nachname?«, frage ich freundlich. »Wie heißt der Mohammed denn weiter?«

»Keine Ahnung.«

»Macht ja nichts«, sage ich. »Hauptsache, es hat geklappt mit dem Termin.«

»Und Sie sind also blind?«, fragt er mich unvermittelt.

»Ja.«

»Macht ja nichts«, sagt er, eher zu sich. »Weil der Mohammed, der schwört echt auf Sie.«

Mund-zu-Mund-Propaganda gilt auch unter Kleinkriminellen als Gütesiegel.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich will hier raus!«, stößt er hervor.

»Das kann ich verstehen«, erwidere ich und senke meine Stimme. »Das wollen hier alle.«

Er lacht, und ich spüre, dass er sich entspannt.

»Dann werden wir mal sehen, was wir für Sie tun können.«

Er zögert. »Aber, also ... sehen können Sie doch gar nicht?«

»Auch wenn man blind ist, benutzt man dieselben Ausdrücke wie die Sehenden«, erkläre ich.

»Okay. Sorry. Ich kenn nämlich sonst keine wie Sie. Also keine Blinden und so.« Er räuspert sich erneut und fragt dann: »Woll’n Se mich mal anfassen?«

Solche Angebote erhalte ich öfter. »Nein«, lächle ich.

»Aber Sie wissen doch gar nicht, wie ich aussehe!«, ruft er.

»Es ist nicht wichtig, wie Sie aussehen.«

»Hm. Na klar. Es geht ja um den Fall«, überlegt er laut. »Da ist es egal, ob ich blaue Augen oder braune habe. Das wird den Richter nicht interessieren, oder?« Nach der Erwähnung des Richters wird seine Stimme dünner.

»So ist es«, sage ich.

Manche meiner Mandanten erleichtert es, dass ich nicht weiß, wie sie aussehen. Ich werde sie nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Von meiner Assistentin erfahre ich gelegentlich, dass einer furchteinflößend, ja sogar brutal wirkt. Tattoos vom Scheitel bis zur Sohle, Piercings, schlechte Zähne. »Seien Sie mal froh, Frau Pabst, dass Sie den nicht sehen mussten«, sagt Frau Müller dann.

Darauf erwidere ich nichts. Denn ich habe ihn ja gesehen – auf meine Art und Weise.

»Also, sind Sie jetzt meine Anwältin?«, fragt Herr Baumann.

»Ja«, antworte ich, »und Sie sind mein Mandant.«

Es passiert mir noch immer, dass ich innerlich lächeln muss, wenn ich das Wort »Mandant« ausspreche. Dieses Wort hat mein Leben verändert. Es ist zu meinem persönlichen Sesam-öffne-dich geworden – seit einem Tag im März 1990, als ich meine Mutter zu einem Rechtsanwalt begleitet habe. Ich war damals elf Jahre alt und wollte unbedingt mit, obwohl meine Mutter mich eigentlich bei meiner Großmutter lassen wollte. Der Grund für unseren Besuch beim Rechtsanwalt war eine Verwechslung gewesen. Eine Person, die den gleichen Namen trug wie ich, hatte etwas bestellt und nicht bezahlt, woraufhin bei uns zu Hause ein Gerichtsvollzieher aufgetaucht war. Im Nachhinein erscheint mir das wie eine Fügung. Der Rechtsanwalt hinter dem Schreibtisch sprach während des Gesprächs mit meiner Mutter immer wieder in ein Diktiergerät und übersetzte den Sachverhalt dabei in eine mir bis dahin unbekannte Sprache. Seine Worte klangen kühl und respekteinflößend, aber auch stolz und sehr, sehr geheimnisvoll.

Sprache hatte mich schon immer fasziniert, und nun konnte ich nicht genug von all den Wörtern hören, die der Anwalt benutzte. Eines hatte einen besonderen Zauber: »Mandantin«. Damit war ich gemeint! In mir wuchs der brennende Wunsch, zu jemandem zu werden, der dieses Wort und all die anderen so elegant und souverän in ein Diktiergerät sprechen konnte wie der Rechtsanwalt. Viel zu schnell verstrich der Termin in der Kanzlei.

Auf dem Nachhauseweg zupfte ich meine Mutter am Ärmel: »Mama! So wie der Mann will ich auch mal reden können!«

»Dann musst du Jura studieren«, erwiderte meine Mutter. In dem Augenblick bekam meine Zukunft ein Gesicht und zwei leuchtende Augen: Mandant und Jura! Jetzt wusste ich, wohin ich wollte.

Heute bin ich die erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin in Deutschland. Da ich keine Stelle im öffentlichen Dienst erhalten konnte, machte ich mich 2007 in Berlin als Rechtsanwältin für Strafrecht selbständig. Seitdem verteidige ich Drogendealer, Räuber, Mörder und Vergewaltiger in der gesamten Bundesrepublik. Darüber hinaus vertrete ich auch Menschen aus meiner Nachbarschaft vor dem Arbeitsgericht, nach Verkehrsunfällen oder bei einer Ehescheidung. Meine besondere Liebe gilt jedoch dem Strafrecht. Ich finde es spannend, in das Leben anderer Menschen einzutauchen. Mein Beruf ermöglicht mir einen tiefen Einblick in die unterschiedlichsten Milieus, vom hemdsärmeligen Banker bis hin zum Obdachlosen oder zur drogensüchtigen Prostituierten. Ich versuche, jeden dort abzuholen, wo er steht, und ihn auf seinem Weg zu begleiten.

So auch Herrn Baumann. Wir nehmen seine Unterlagen entgegen – Frau Müller wird sie mir im Büro vorlesen. Herr Baumann ist nun viel lockerer, und ich spüre, dass er sich bei mir gut aufgehoben weiß. Beim Abschied drückt er meine Hand besonders fest: »Also, ich muss jetzt ja dableiben. Sie können einfach hier rausspazieren. Aber, na ja, wenn ich mir es recht überlege, nichts für ungut ...«

»Ja bitte?« Ich ahne, was er gleich sagen wird.

»Also wenn ich hier wieder rauskomme, und ich hoffe, das ist bald, dann wird es wieder hell. Aber für Sie! Für Sie bleibt es immer dunkel.«

»Ich kenne es nicht anders. Für mich ist das normal«, sage ich ruhig.

Von Kindheit an bin ich mit der Verunsicherung, die ein blinder Mensch unter Sehenden auslöst, konfrontiert. Diese Verunsicherung rührt zum einen daher, dass der Blickkontakt fehlt, der die nonverbale Kommunikation zwischen Menschen regelt. Es ist erwiesen, dass diese Art der Kommunikation wesentlich aussagekräftiger ist als die verbale, ja dass sich Menschen, auch wenn sie miteinander sprechen, deutlich mehr von dem beeindrucken lassen, was sie sehen. Zum anderen ergibt sich die Verunsicherung daraus, dass Sehende sich nicht vorstellen können, wie das Blindsein ist. Die meisten stellen sich Blindheit schrecklich vor. Die arme Frau! Wie furchtbar! Und noch mehr verunsichert es sie, wenn ich keineswegs ihrem Bild entspreche, mein Leben furchtbar, entsetzlich oder schrecklich zu finden.

Viele Menschen stellen sich Blindheit wie eine Höchststrafe vor. Das ist sie aber nicht. Sie ist einfach eine andere Art zu leben. Niemals käme es mir in den Sinn, Lebensqualität an Sehfähigkeit zu koppeln. Meistens finde ich mein eigenes Leben sehr schön. Ich habe auch eine Vorstellung vom Sehen, denn ich verfüge auf einem Auge über einen kleinen Sehrest, der jedoch unter einem Prozent liegt. Diese minimale Sehfähigkeit ermöglicht es mir, grobe Umrisse und bei guten Lichtverhältnissen sogar Farben zu erkennen. Mit den Jahren ist mein Sehen leider schlechter geworden. Als Kind konnte ich noch mit einem dicken Filzstift schreiben und mit der Nase auf dem Papier Bilder malen. Das klappt allerdings seit etwa zehn Jahren nicht mehr. Doch wenn ich gefragt werde, ob es nicht schrecklich sei, nichts zu sehen, und ob es nicht mein allergrößter Wunsch sei zu sehen, erkläre ich, dass ich nichts vermisse. Meine Art zu sehen sind meine persönlichen hundert Prozent.

Hände zum Sehen und Fäuste zum Boxen – ein früher und schwieriger Start in die Welt

Es gab kein »Erweckungserlebnis« für mich, bei dem ich plötzlich feststellte, anders zu sein als die anderen. Vielmehr lernte ich ganz selbstverständlich und wie jeder andere auch, die Welt auf meine Weise wahrzunehmen.

Ich war zwei oder drei Jahre alt, als mir auffiel, dass in Büchern mehr steckte, als ich ertasten konnte. Stundenlang hielten meine Eltern diese Dinger in den Händen. Viele Bücher fühlten sich für mich interessant an, besonders die mit einem Umschlag, unter dem dann das eigentliche Buch zum Vorschein kam. Die Oberfläche war rau, zuweilen konnte ich die Vertiefungen der in den Karton geprägten Buchstaben mit meinen Fingerkuppen ertasten. Die Bücher waren unterschiedlich dick, beim Umblättern knisterte, raschelte, säuselte das Papier, das mal feiner, mal gröber war, und jedes Buch roch anders – die stärker nach Holz duftenden mochte ich am liebsten. Gelegentlich klappte ich ein Buch auf und schaute hinein, wie meine Eltern. Aber das fand ich langweilig. Ich konnte den Büchern keine Geschichten entlocken. Meine Eltern nahmen sie zur Hand und fingen an zu erzählen. Wie kamen die Geschichten zu ihnen? Flüsterten die Bücher sie ihnen etwa zu?

»Du hältst das Buch falsch herum, Ela«, korrigierte meine Mutter mich.

Aha. Es gab also ein richtig herum, aber woran sollte ich das festmachen?

Wenn es von Anfang an komplett schwarz um mich gewesen wäre, wüsste ich wahrscheinlich ziemlich genau, wann ich gemerkt hätte, dass ich anders bin.

Vor dem deutschen Gesetz gilt als blind, wer auch mithilfe von Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als zwei Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. Als Kind konnte ich Farben sehen, sobald ich sie ganz nah an mein linkes Auge mit dem minimalen Sehrest hielt. Wenn ich meine Wange an die meines Vaters schmiegte, tauchte ich ein in ein blaues Meer. Die Augen meiner Mutter sind braun, und ihre Stirn ist ein weites Weizenfeld, sie ist hoch, und früher konnte ich sie, wenn ich sehr nah dran war, als helle Fläche sehen.

Leider büßte ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr die Fähigkeit, Farben zu sehen, fast komplett ein. Sie verschwanden unter einem grauen Schleier. Inzwischen lässt mich mein Sehrest nur noch vage Helles erkennen. Wenn ich ein Zimmer betrete, kann ich mit dem linken Auge ausmachen, wo sich das Fenster befindet: Dort ist eine helle Stelle im Schwarz. Diese Fähigkeit und meine Kombinationsgabe helfen mir bei der Orientierung.

Für das Sehen ist das Gehirn als Brücke erforderlich. Es füllt die »Lücken«, die wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen, und erstellt ein logisches Bild. Im Physikunterricht lernte ich später, dass ich damit keine Ausnahme bilde, denn das Gehirn meistert diese Aufgabe bei allen Menschen, wenngleich die Lücken bei Sehenden kleiner sind als bei Blinden.

Nahm ich früher irgendwo Grün wahr, setzte ich diese Farbe in den Kontext: draußen, Natur. Um herauszufinden, ob das Grün tatsächlich Gras war, musste ich es mit der Hand berühren. Nein, kein Gras – eine Plastikfolie ... Als Kind war ich mit meinen Eltern einmal in der Wohnung von Freunden zu Besuch. Im Wohnzimmer machte ich einen großen Bogen um die Hindernisse auf dem Boden. Später stellte sich heraus: Es war ein Teppich mit einem auffälligen Muster.

Je nach Umgebungslicht kann ich auch heute noch manchmal Farben erkennen. Nachts sehe ich Lichtquellen oder sogar eine rote Ampel. Ich nehme allerdings nicht eine Stehlampe, eine Neonröhre oder einen Designerkronleuchter wahr, sondern jeweils nur einen hellen Fleck im Dunkeln.

Als ich nach und nach verstand, dass ich anders bin, empfand ich dieses Anderssein nie als minderwertig oder schlecht. Ich war eben anders und Punkt. Meine Eltern hatten lange auf mich, ihr Wunschkind, gewartet. Nun war es blind. Aber es war da und gesund, und das war die Hauptsache. Ich bin sehr dankbar für die Liebe meiner Eltern, die meine heile Kinderwelt weich polsterte. Ich stieß an keine Hindernisse und Trennwände, anders als so viele Kinder mit Behinderung von Eltern, deren Beziehung diese Belastung nicht aushält. Mir sind etliche blinde Kinder bekannt, die allein bei ihren Müttern aufwachsen, weil die Väter die Flucht ergriffen haben. Ein Kind mit Behinderung ist anstrengend. Ständig braucht es Aufmerksamkeit. Alles muss immer gut organisiert werden. Da bleibt nicht mehr so viel Zeit für die Beziehung. Ich habe jedenfalls im Laufe der Jahre von vielen traurigen Schicksalen gehört, gerade auch von Kindern, denen die eigenen Eltern vermittelten, nicht richtig zu sein. Da hat man sich auf ein Baby gefreut, und dann wird es sozusagen beschädigt geliefert. Das ist sehr, sehr hart. Meine Eltern sind zusammengeblieben; meine Blindheit hat sie sogar stärker miteinander verbunden: »Wir mussten uns doch um dich kümmern und deswegen erst recht zusammenhalten!«

Ich kam 1978, im verflixten siebten Ehejahr meiner Eltern, zur Welt, damals waren sie einunddreißig und dreiunddreißig Jahre alt. Mein Vater ist in dem niederschlesischen Bad Reinerz geboren. Für mich ist er aber ein Ostfriese, wobei dies nicht etwa spöttisch, sondern liebevoll gemeint ist, da er aufgrund der Vertreibung meiner Großmutter aus Schlesien nach einer kurzen Zwischenstation in Oldenburg in der größten Stadt Ostfrieslands, in Emden, aufwuchs. Leider spricht er kein Platt oder Friesisch mehr. Ich höre nämlich gern Dialekte, am liebsten Bayrisch und Platt. Meine Eltern erzogen mich auf Hochdeutsch, denn ich sollte nicht so janz jewaltig dolle berlinern wie meine Familie mütterlicherseits. Meine Mutter wurde in Berlin-Bohnsdorf geboren; kurz vor dem Mauerbau flüchtete die Familie in den Westen.

Vor meiner Geburt arbeiteten meine Eltern in einem großen Kaufhaus in Berlin als Schauwerbegestalter, was landläufig als Dekorateur bezeichnet wird. Mittlerweile heißt dieser Beruf Gestalter für visuelles Marketing. Nach der Geburt blieb meine Mutter zu Hause. Geplant war, dass sie wieder arbeiten würde. Doch ein blindes Kind wirft jede Planung über den Haufen ...

Obwohl ich heute ein sehr geduldiger Mensch bin, war ich das zu Beginn meines Lebens keineswegs. Ich wollte unbedingt schon in der 27. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen. In meinem Überschwang vergaß ich wohl, dass ich auch atmen und essen musste. Mit 37 Zentimetern und 1100 Gramm gestaltete sich das schwierig, und so landete ich nach der Geburt nicht auf Mamas Bauch, sondern im Brutkasten, wo ich elf Wochen bleiben sollte. Es sah nicht gut aus für mich. Die Ärzte bereiteten meine Eltern auf allerlei vor: Herzfehler, Lungenprobleme, vielleicht gehörlos. Sie waren schonungslos: »Womöglich überlebt Ihre Tochter nicht. Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen.«

Meine Eltern durften mich in den ersten Lebenswochen nicht einmal anfassen, abgesehen davon, dass es damals nicht üblich und aus medizinischer Sicht bedenklich war, das Frühchen auf den Arm zu nehmen. Das ist heute zum Glück anders. Dabei wollten meine Eltern mir doch nahe sein und wünschten sich so sehr, ich möge bei ihnen bleiben. Ich war doch ihr Wunschkind! Jeden Morgen rief mein Vater im Krankenhaus an und erkundigte sich nach mir, voller Sorge, ich könnte die Nacht nicht überlebt haben. Meine Mutter brachte es nicht über sich, diese Anrufe zu machen – so groß war ihre Angst vor einer schlechten Nachricht.

»Ist sie noch da?«, erkundigte sich mein Vater bei einer Krankenschwester.

»Ja, sie lebt.«

Was für eine Erleichterung! Wieder ein Tag geschafft – und ich gedachte, auch den nächsten zu schaffen. In mir steckte sehr viel Lebenskraft.

Auf der Säuglingsstation, so wurde mir erzählt, nannte man mich den »Zappelphilipp«. Wenn der Alarm losging, weil sich ein Winzling die Anschlüsse abgerissen hatte, steckte meistens die kleine Pamela dahinter.

Vielleicht konnte ich zu dieser Zeit noch sehen. Ich kam mit funktionierenden Augen auf die Welt, doch der Sauerstoff, der mein Leben rettete, schädigte meine Augen irreparabel. Die sogenannte Frühgeborenen-Retinopathie ist auch heute noch die häufigste Erblindungsursache im Kindesalter, denn das mit 120 Millionen lichtempfindlichen Sinneszellen ausgestattete Netzhautgewebe reagiert auf die Gabe von Sauerstoff mit einem fehlerhaften Gefäßwachstum. Diese dann wuchernden Netzhautgefäße dringen ins Augeninnere vor und lösen die Netzhaut ab. Ohne Netzhaut kein Sehen. Trotz großartiger Fortschritte in der Medizin gibt es hierfür bislang keine Therapie.

Als ich nach zwei Monaten in ein Wärmebettchen verlegt wurde, waren meine Eltern überglücklich. Nach und nach nahmen die Ärzte ihre Hiobsbotschaften zurück: Es liegt kein schwerer Herzfehler vor, die Lunge arbeitet normal, taub ist das Kind auch nicht. Endlich konnten meine Eltern mich mit nach Hause nehmen, wo sie allerdings nach einer Weile merkten, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich griff beispielsweise nicht nach Dingen, die man mir vors Gesicht hielt. Und ich stellte keinen Blickkontakt her.

»Mit Pamelas Augen ist etwas nicht in Ordnung«, befürchtete eine Freundin meiner Mutter. Die aber wollte das zuerst nicht glauben – eine, wie ich heute weiß, ganz typische Reaktion. Die schreckliche Zeit des Hoffens und Bangens begann erneut, und es folgten zahlreiche Termine bei Augenärzten, Professoren, in Kliniken. Kein Arzt wollte sich festlegen. »Da kann man noch nichts sagen.«

Eines Tages, ich war seit drei oder vier Monaten zu Hause bei meinen Eltern, teilte eine Ärztin meiner Mutter bei einem Besuch in der Praxis dann jedoch ziemlich barsch mit: »Ihre Tochter ist blind.«

»Das kann nicht sein«, widersprach meine Mutter erschrocken.

»Damit müssen Sie sich leider abfinden. Hätten Sie mal nicht so viel geraucht und getrunken, dann hätten Sie ein gesundes Kind.«

Empört stürmte meine Mutter, ihren Säugling fest an sich gepresst, aus dem Zimmer. Im Flur rannte sie beinahe eine ältere Dame um.

»Aber Frollein«, meinte die Frau, »Sie weenen ja! Und wat is’n dit für ’n süßer Wurm?«

»Sie ist blind!«, schluchzte meine Mutter.

»Na, na, na! Det wird schon werden. Sinse froh, dit et lebt.«

Da kam meine Mutter wieder zu Bewusstsein. »Ja. Pamela lebt!« Und das war für meine Eltern das Wichtigste. So lange hatten sie sich ein Kind gewünscht. So sehr hatten sie um mich gebangt. Eigentlich war doch alles gutgegangen!

Manche Menschen sahen das allerdings anders. Immer wieder stießen meine Eltern auf Unverständnis, das gelegentlich auch drastisch formuliert wurde. »So was kommt dabei raus, wenn man ein Frühchen krampfhaft am Leben erhält«, war wohl der krasseste Kommentar.

Wenn mir meine Eltern heute von dieser Zeit erzählen, erinnern sie sich, was das Zusammenleben in unserer kleinen Familie betrifft, an keine Katastrophen. Schlimm wurde es immer nur, wenn Ärzte mitredeten. Die glaubten beispielsweise sehr lang nicht daran, dass ich über einen minimalen Sehrest verfügte, wovon meine Mutter fest überzeugt war.

»Meine Tochter sieht etwas! Ich weiß nicht, was und wie viel, aber wenn ich sie von einem Zimmer in ein anderes trage, dann merke ich genau, und da täusche ich mich nicht, dass sie darauf reagiert. Mein Mann meint, sie registriert es, wenn sich die Lichtverhältnisse ändern.«

»Ja, ja, Frau Pabst«, wimmelten die Ärzte sie dann in der Regel ab. »Wir wissen, dass es nicht einfach für Sie ist.«

Nein, einfach war es nicht, doch aus vielen anderen Gründen als jenen, die manche Ärzte vermuteten. Als Frühgeburt passte mein reales Lebensalter nicht zu meiner körperlichen Entwicklung. Das bedeutete einen enormen Aufwand an Pflege und Betreuung für meine Eltern, vor allem für meine Mutter. Und so beschlossen die beiden, dass meine Mutter nicht mehr in ihren Beruf zurückkehren, sondern sich ganz um mich kümmern sollte.

Eine große Stütze für meine Eltern war in dieser Zeit unsere Krankengymnastin Frau Loos. Sie zeigte ihnen viele Übungen, die mir halfen, meinen Entwicklungsrückstand nach der Frühgeburt aufzuholen. So gingen zum Beispiel meine Händchen am Anfang nicht auf, sondern blieben zu Fäustchen geballt.

»Da müssen Sie hier mal sachte reiben«, sagte Frau Loos und zeigte meiner Mutter die Bewegungen an meiner Handinnenfläche. »Obwohl so kleine Fäuste ja ganz gut zu ihr passen«, meinte sie. »Die Pamela, das ist eine, die sich durchboxt.«

Dass ich erst mit zwei Jahren zu laufen begann, störte meine Eltern nicht. Sie machten mir niemals Druck, ich durfte mich in meinem Tempo entwickeln. Immer unterstützten sie mich mit ihrer Liebe, Kreativität – und mit ganzem Körpereinsatz. Gemeinsam mit Frau Loos überlegten sie, wie sie mir das Krabbeln beibringen könnten. Schließlich nahmen sie mich auf dem Teppich in die Mitte, Papa setzte vorne meine Hände auf, Mama bewegte hinten meine Beine. Als ich in der Mitte einsackte, legten sie mir ein kleines Fass aus Styropor als Stütze unter. Als Schauwerbegestalter war mein Vater einfallsreich und konnte sich aus einem großen Fundus an Requisiten bedienen.

Wertvolle Tipps bekamen meine Eltern auch von unserer Kinderärztin Frau Dr. Ilgmann. »Pamela muss alles anfassen«, riet sie ihnen zum Beispiel. »Sie weiß ja nicht, was es gibt. Also müssen Sie ihr das anbieten. Und seien Sie nicht zimperlich, wenn sie mal im Schmutz wühlt. Das kann man abwaschen. Wichtig ist, dass Ihre Tochter die Welt erfährt, so, wie es eben für sie möglich ist. Führen Sie Ihr Kind auch draußen an alles heran, an Bäume, Parkbänke, Blumen, lassen Sie es eine Wiese betasten und Kopfsteinpflaster. Igitt gibt es da nicht ...«

Meine Mutter lachte. »Das habe ich mir schon abgewöhnt. Ich rede auch viel mit der Ela. Denn ich muss ja alles beschreiben. Eigentlich rede ich den ganzen Tag. Manchmal bin ich abends regelrecht heiser.«

Zum Glück redet meine Mutter gern! Sie hat enorm viel geleistet, indem sie mir die Welt erklärte und sie mich fühlen ließ. Ich konnte die Dinge anfassen. So lernte ich, mit meinen Händen zu sehen.

»Du kannst sie doch nicht den Teller mit der Scholle ins Wohnzimmer tragen lassen!«, schimpfte meine Oma meine Mutter. »Was ist, wenn sie fällt?« Dass sie mir schon immer sehr viel zugetraut hat und mich nicht stärker vor möglichen Gefahren schützte, regte meine Oma manchmal sehr auf.

»Dann steht sie wieder auf.«

»Aber der Teller!«

»Es ist nicht der einzige, den wir besitzen.«

»Und wenn sie sich an den Scherben schneidet?«

»Wieso sollte er zerbrechen? Den haben wir immerhin von dir geerbt, der ist massiv!«

»Aber wenn doch?«

»Die Ela fällt immer ziemlich geschickt.«

Nie habe ich von meinen Eltern gehört: »Das kannst du nicht.« Stets vermittelten sie mir das Gefühl, stark zu sein, und wenn ich einmal zögerte, ermutigten sie mich: »Trau dich! Du kannst das!« Ja, mit solchen Eltern im Rücken konnte ich es tatsächlich. Sie haben immer an mich geglaubt und mir dabei doch nie etwas aufgezwungen, lediglich Angebote gemacht. Ich sollte und durfte stets selbst entscheiden. Einmal, es war noch bevor ich in den Kindergarten kam, sagte meine Mutter zu mir: »Weißt du, Pemmi, es ist gut, dass du bei mir gelandet bist.«

»Hätte ich denn auch woanders landen können?«, fragte ich erschrocken.

Meine Mutter zögerte, dann brachte sie Gott ins Spiel, was selten geschah. »Wenn der liebe Gott so ein blindes Kind hat, Pemmi, überlegt er vielleicht ganz genau, wo er es hingibt. Und da hat er gedacht: Mensch, das gebe ich zu Peter und Gisela. Die werden sich gut darum kümmern, weil sie sich doch schon so lange ein Kind wünschen.«

»Und andere Kinder?«, bohrte ich weiter.

»Nun, der liebe Gott hat ja sehr viel zu tun, weißt du. Aber bei dir hat er gerade freigehabt. Das war bestimmt ein Sonntag, und da hat er entschieden, dass du zu uns kommst.«

Ich konnte mir keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen und war dem lieben Gott sehr dankbar.

Meine Mutter hat anderen Menschen oft zu erklären versucht, dass ich ihren Blick auf die Welt verändert hätte.

»Aber sie sieht doch nichts!«, bekam sie zu hören.