Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen - Christoph Heubner - E-Book

Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen E-Book

Christoph Heubner

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Beschreibung

Felka Platek, ein jüdisches Mädchen aus Warschau, will Malerin werden. Gegen alle Konventionen und gegen den Willen ihrer Eltern. Sie verlässt ihre Familie und geht nach Berlin. Dort trifft sie den Maler Felix Nussbaum. Der Beginn einer Liebesgeschichte. Doch diese Geschichte hat kein gutes Ende. Felka Platek und Felix Nussbaum werden in Auschwitz ermordet. Ein alter Mann und eine alte Frau stehen in einem Wäldchen. Es riecht seltsam, grauer Staub scheint sich auf alles herabzusenken. Die Liebsten wurden schon zu den Duschen geschickt, nackt. Die Kleidung sorgsam gefaltet. Sie aber stehen da und warten. Eine junge Frau kehrt zurück, sie hat Unvorstellbares überlebt. In ihrem Herzen trägt sie das Haus ihrer Familie, ein leeres Haus. Einen langen Weg geht die Frau, der sie schließlich in eine neue Heimat führt. Weit weg von den Schatten der Vergangenheit. Nach Pittsburgh. Jede der hier erzählten Geschichten steht für sich und doch sind sie miteinander verbunden, weil sie sich auf den gleichen schrecklichen Ort beziehen und dieselbe Vorgeschichte haben. Diese Vorgeschichte erstreckt sich über mehr als vier Jahrzehnte und spielt in verschiedenen Ländern, überall dort, wo Auschwitz-Überlebende für sich eine neue Heimat gefunden haben. Die Texte sind entstanden nach zahllosen Begegnungen und Gesprächen mit jüdischen Überlebenden, die Christoph Heubner, an ihren Erinnerungen und Empfindungen, ihrer Verlorenheit, ihrer Empörung und ihrem Leben teilhaben ließen. Und in ihnen stecken auch die Worte, mit denen die Überlebenden die Bilder ihrer ermordeten Familienangehörigen beschwören.

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Christoph Heubner

Ich sehe Hunde,die an derLeine reißen

Nach Auschwitz – drei Geschichten

Steidl

Für Gilike

Raphaël

Liliane

Felix

die Evas

Roman

Hannah

Alfred

Erzsébet

Paul

die Kaziks

Marian

Sandra

Noah

Dorota

Kurt

Justin

Maurice

Rosa

Zofia

Leon

Emilio

Berry

und all die anderen …

»Though lovers be lost love shall not;

And death shall have no dominion.«

Dylan Thomas

Inhalt

Cover

Titel

Das leere Haus

Ein Stück Wiese, ein Wald

Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen

Nachwort

Über den Autor

Weitere Bücher

Impressum

Das leere Haus

1

Mit mir trage ich immer das leere Haus, die Fenster offen, der Wind bewegt die Gardinen. Damals haben wir die Nachbarn hinter ihren Gardinen gesehen. Sie haben alles genau verfolgt, die gebrüllten Befehle, die rohen Scherze, das Gelächter der deutschen Soldaten und das Schnauben der Pferde, als sie meine Eltern, meine Geschwister und mich zu den Wagen getrieben haben. Schon im Ghetto wurde erzählt, dass die Nachbarn kurz darauf ihre Häuser verlassen haben, um alles aus unserem Haus wegzuschleppen, ihre Gier hat keine Viertelstunde gebraucht, hieß es. Ich höre die Dielen knarren, als ob noch jemand von einem Zimmer ins andere ginge. Wo der Schrank im Wohnzimmer stand, sieht man noch die Abdrücke seiner Füße. An den Wänden hängen keine Bilder mehr, alle Bilder sind jetzt in meinem Kopf.

2

Und dennoch bin ich damals von A. nach Ungarn zurückgegangen. Auch deshalb, weil ich hoffte, da wäre noch jemand. Auch deshalb, weil ich überhaupt nicht wusste, wo ich sonst hätte hingehen sollen. Und dann geht man doch nach Hause. Ich habe Umwege über Umwege gemacht auf diesem Heimweg, der keiner war. Weil ich nicht wissen wollte, was ich längst wusste. Und als ich endlich ankam und an der Klingel gerissen habe, hat eine wildfremde Frau geöffnet und mich angestarrt wie den Feind, auf den sie lange gewartet hat. Wir wohnen doch hier, habe ich gesagt, in unserem Haus. Und sie hat geantwortet: Hier wohnen wir. Das ist unser Haus! Und ich habe gesagt: Aber die Bermanns? Sind alle weg, und – schwupps, wollte sie die Tür schließen, aber sie hat nicht gewusst, dass man dort, wo ich herkam, immer mit dem Schlechten gerechnet hat und schnell geworden ist in der Fähigkeit, ihm zuvorzukommen: Und so hatte ich meinen Fuß schon vorher in die Tür geschoben. Ich heiße Bermann, ich bin Magda Bermann, ich habe es laut gesagt, damit ich mich selber höre. Die Frau hat mich gemustert von oben nach unten, dieses dürre Stück Mensch, das da vor ihr stand und das so wenig in die Welt und zu diesem Haus gepasst hat wie eine Tote an einen Kaffeetisch. Sie war so siegessicher, so hämisch und giftig, als sie gesagt hat: Da könnte ja jeder kommen und an der Klingel reißen. Seien Sie froh, dass ich nicht nach der Gendarmerie rufe. Und jetzt ist Schluss mit dem Theater. Gehen Sie dahin, wo sie hergekommen sind. Und ich bin gegangen. Erst ein paar Schritte rückwärts, und dann habe ich mich umgedreht und bin gerannt, nur fort.

3

Als wir in A. (nein, ich werde den Namen dieses Ortes nie mehr aussprechen) bis zu den Hüften im Wasser standen und Schilf geschnitten haben, habe ich immer versucht, den Platz neben Maria zu ergattern. Sie war damals noch eine kräftige junge Frau, die sogar manchmal bei der Arbeit summte. Das hatte für mich etwas Tröstliches, so als würde dies alles irgendwann an sein Ende kommen und wir würden zum Essen gehen, wie normale Menschen. Wir haben immerfort an Essen gedacht. Sogar aus dem Wasser und zwischen dem scharfen Schilf haben wir Suppe gerochen, die es nicht gab und niemals geben würde. Der Hunger hat in uns gewühlt wie ein Hund in einem Haufen Knochen. Wenn ich summe, denke ich nicht, hat Maria gesagt, und die Zeit vergeht mir: Du kannst ja mitsummen.

Manchmal hat sie von Frankfurt gesprochen. Ich wusste nicht, wo Frankfurt war, ich war mit meinen jungen Jahren nie in Deutschland gewesen. Aber jetzt, als ich lief, war mir klar, dass ich nur dorthin würde gehen können, wo ich und die Meinigen noch niemals gewesen waren. Und so habe ich mich nach Deutschland durchgeschlagen. Ich bin an Orten vorbeigekommen, deren Namen hart klangen und in denen die Menschen mich erschreckten, weil sie mich wütend anstarrten, wie ihr eigenes schlechtes Gewissen. Ich wollte unsichtbar sein und hätte viel gegeben für einen Tarnanzug, unter dem verborgen geblieben wäre, wo ich herkam. Mittlerweile war es Sommer geworden, und die Menschen starrten auf meinen Arm, wo der Tätowierer in Birkenau sich extra bemüht hatte, die fünf Ziffern schön groß hinzubekommen, damit ich sie ja nicht vergesse. Wenn ich mich bei Maria ausgeheult habe, dass die Zahlen so groß sind, hat sie bloß gesagt: Sei froh, dass du Zahlen hast. Und sie hatte Recht. Die, die keine Zahlen hatten, flogen nicht weit von uns aus den Schornsteinen davon.

4

Ich habe Hunger gehabt in Deutschland, ich habe gestohlen und ich habe keine Schuld gefühlt, ich habe gar nichts gefühlt. An manchen Tagen, wenn ich in der sengenden Sonne über die Landstraßen marschiert bin, habe ich mich gefragt, warum um alles in der Welt ich nach Frankfurt gehe, wo ich doch nicht einmal weiß, wo Frankfurt ist und wen ich dort suchen soll. Denn Maria musste ich nicht mehr suchen. Sie war am 12. Oktober 1944 in Birkenau an einer Nierenentzündung gestorben. Ich habe gesummt, als ich es damals erfuhr.

5

Das muss Frankfurt sein, habe ich gedacht, als vor mir eine große Stadt lag, deren Reste verbrannt und zersprengt aus dem Erdboden ragten. Ich habe mich dieser zerstörten Welt nur langsam genähert, zwischen den Trümmern gingen scheinbar planlos Menschen umher, die Blicke gesenkt und in sich zusammengefallen. Aber zwischen den Trümmerbergen hatten sie schon wieder Straßenschilder aufgestellt. Mir hat die Stadt auf Anhieb gefallen. Sie entsprach meinem inneren Zustand, aber in mir war auch Freude, dass die Deutschen selbst von der Welle der Zerstörung, die sie über die Welt gebracht hatten, nicht verschont geblieben waren. Und sie taten mir leid, so wie ich mir leidtat, abends, wenn ich mich irgendwo verkroch, um zu schlafen und Kraft zu gewinnen für den morgigen Marsch. Das waren die einzigen kurzen Momente, in denen ich den Bildern, die zuhause an der Wand gehangen hatten, erlaubte, zu mir zu kommen: Leben sie noch? Hat man sie von dort weggebracht? Auf Transport, wohin? Haben wir uns verpasst? Und: Wie werde ich in dieser zertrümmerten Welt jemals leben können? Was finde ich wieder? Wen? Und wo?

6

Die Stadt hieß Kassel. Heute weiß ich, dass ich bei meinem Weg zu weit nach Norden geraten war. Ich hätte längst in Frankfurt sein können. Aber damals war es mir völlig egal, denn es schien mir an diesem Tag, als ob meine Kräfte aufgebraucht wären. Ich saß auf einem Schutthaufen an einer ehemaligen Straßenecke und starrte vor mich hin. Vermutlich habe ich mich gewundert, wie ich hier hineingeraten war, mitten in dieses Ende. Ich hatte mein Bündel, das ich sonst über der Schulter trug, neben mir abgestellt. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich ganz flach geatmet und dem Atem zugehört habe, als er aus mir entwich. Er war gut zu hören in dieser laut- und leblosen Landschaft. Bis die Stimme von oben auf mich herabfiel: Sie müssen zur Jägerkaserne, da hilft man solchen wie Ihnen. Zur Jägerkaserne. Und die Frau deutete mit ihrem Zeigefinger nach rechts. Ihr Blick klebte an meinem Arm. Eine deutsche Stimme, ein Befehl. Ich ging nach rechts. Beim Gehen habe ich an Maria gedacht, die mir bei der Arbeit im Wasser erklärt hat, was ein »Jäger« ist. Ein Lied. Ich ging nach rechts, und ich habe gesummt.

7