Ich töte dich - Brenda Novak - E-Book
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Ich töte dich E-Book

Brenda Novak

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Beschreibung

Ein Alptraum wird wahr …

Als sie sechzehn Jahre alt war, wurde Evelyn Talbot von ihrem Freund eingesperrt und gequält. Sie wurde nur gerettet, weil er sie für tot hielt. Nun ist sie Psychologin in einer Anstalt im fernen Alaska, die von vielen Einwohner argwöhnisch beäugt wird. Als eine Einheimische ermordet wird, hat man sofort jemanden aus der Anstalt in Verdacht. Doch Evelyn weiß es besser – es ist ein Hinweis an sie, eine Drohung und das Zeichen, dass die Vergangenheit noch längst nicht vergangen ist. Zum Glück ist sie nicht allein. Der Polizist des Ortes hat sich in sie verliebt, doch spielt er ein faires Spiel?

Vorsicht: ein eiskalter Thriller, der düstere Träume bereiten kann!

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Über Brenda Novak

Brenda Novak lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Sacramento. Sie wurde für ihre Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Ein Alptraum wird wahr …

Als sie sechzehn Jahre alt war, wurde Evelyn Talbot von ihrem Freund eingesperrt und gequält. Sie wurde nur gerettet, weil er sie für tot hielt. Nun ist sie Psychologin in einer Anstalt im fernen Alaska, die von vielen Einwohner argwöhnisch beäugt wird. Als eine Einheimische ermordet wird, hat man sofort jemanden aus der Anstalt in Verdacht. Doch Evelyn weiß es besser – es ist ein Hinweis an sie, eine Drohung und das Zeichen, dass die Vergangenheit noch längst nicht vergangen ist. Zum Glück ist sie nicht allein. Der Polizist des Ortes hat sich in sie verliebt, doch spielt er ein faires Spiel?

Vorsicht: ein eiskalter Thriller, der düstere Träume bereiten kann!

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Brenda Novak

Ich töte dich

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Thon

Inhaltsübersicht

Über Brenda Novak

Informationen zum Buch

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Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Epilog

Impressum

Prolog

Wenn du eine umbringst, kannst du auch gleich einundzwanzig umbringen.

Mark Martin, britischer Mörder

Als sie zu sich kam, hörte Evelyn Talbot nichts. Sie konnte auch nichts sehen. Es war dunkel geworden, und in der Hütte, in der sie auf der kalten Erde lag, gab es keinen elektrischen Strom.

Oder … war sie gar nicht mehr in der Hütte?

In ihrem Kopf ging alles durcheinander …

Vielleicht war sie tot. Sie hatte den Tod erwartet, hatte geglaubt, den Highschool-Abschluss nicht mehr schaffen zu können, weil sie nicht so alt werden würde wie die meisten anderen. Und falls sie doch noch am Leben wäre, dann nur unter Schmerzen. Davon hatte sie in den letzten drei Tagen, seit Jasper Moore sie hier gefangenhielt, schon eine Menge erlebt. Doch jetzt, in diesem Moment, spürte sie … nichts.

Das ergab keinen Sinn.

Außer, sie hatte die ganze Sache nur geträumt. War das alles etwa ein furchtbarer Albtraum? Würde sie aufwachen, zur Schule gehen und dort Jasper treffen, wie er in der Nähe des Unterrichtsraums abhing, in dem die erste Stunde stattfand? Wie er lässig an der Wand lehnte und mit ein paar anderen Typen aus dem Baseballteam darüber beriet, wo sie vor dem Abschlussball essen gehen könnten?

Sie stellte sich vor, wie sie ihm von ihrem Traum erzählte, er habe Marissa, Jessie und Agatha umgebracht – ihre drei besten Freundinnen. Sie hätten darüber gelacht und den Horrorfilm verantwortlich gemacht, den sie vor kurzem gemeinsam gesehen hatten. Er würde den Arm um ihre Schultern legen, sie an sich ziehen und küssen, und dann wäre alles wieder in Ordnung und sie mit der Welt im Reinen.

Diese Hoffnung, die kurz in ihr aufblitzte, hielt nicht lange an. Ihr eigenes Bett fühlte sich anders an – das hier war bucklige, festgestampfte Erde. Nicht einmal die alte Matratze, die sie hergeschleppt hatten, als sie diesen Ort entdeckten und zu ihrem Geheimversteck machten, war so unbequem gewesen. Wenn sie einatmete, hatte sie noch den Rauch in der Nase und erinnerte sich, wie Jasper ein brennendes Streichholz auf den Haufen Reisig warf, den er im Wald gesammelt hatte. Er saß eine gefühlte Ewigkeit lang auf einem der Hocker, die sie ebenfalls hergebracht hatten, und rauchte einen Joint. Er hatte vorher nie Marihuana geraucht, jedenfalls nicht vor ihr, und sie waren jetzt schon seit sechs Monaten zusammen. Aber dieser Jasper Moore war nicht der Junge, den sie gekannt hatte – dieser Jasper Moore war eine Bestie.

Sie wagte nicht, auch nur mit der Wimper zu zucken, als er sie betrachtete. Sie hielt die Augen geschlossen und konnte nicht sehen, was er tat. Aber sie spürte, dass er sie genau beobachtete, um sich zu vergewissern, dass sie tot war.

Weil er ihr das Seil abgenommen hatte, mit dem er sie zuvor gefesselt hatte, konnte sie ihre Hände jetzt bewegen. Es kostete sie große Mühe, sie nicht auf den Hals zu pressen, um das Blut zu stoppen, das dort herausströmte. Beim Atmen hätte sie fast gegurgelt, und der Qualm in der Luft erschwerte es, flach zu atmen. Falls sie nicht vorher verblutete, würde sie vielleicht ersticken. Aber ihre Instinkte sagten ihr, dass ihr nur eine Chance blieb: Sie musste ihn glauben lassen, dass ihm gelungen war, worauf er es abgesehen hatte, als er ihr die Kehle aufschlitzte.

»Du verarschst mich nicht mehr, Schlampe«, höhnte er, als er schließlich aufbrach, um es dem von ihm gelegten Feuer zu überlassen, sämtliche Spuren zu vernichten.

Sobald er verschwunden war, hatte sie versucht, aufzustehen, doch dabei musste sie ohnmächtig geworden sein. Zu dem Zeitpunkt war es draußen bestimmt noch hell, hell genug, dass sie sich vorstellen konnte, wie er hastig nach Hause lief, um nicht zu spät zum Baseballtraining zu kommen. Während er sie hier gefangen hielt, war er weiterhin zur Schule gegangen. Wenn er zurückkehrte, jede Nacht, berichtete er lachend, dass die ganze Gemeinde wie verrückt nach ihr und ihren Freundinnen suchte – er schilderte ihr sogar, was einzelne Kinder und Lehrer an der Schule gesagt hatten, als fände er das besonders unterhaltsam. Er erzählte von den Gebetsrunden, den gelben Solidaritätsschleifchen und den eifrigen Reportern, die jeden bestürmten, der sie kannte, um alles über sie zu erfahren. Als sie ihn fragte, wie er es immer wieder schaffte, unbemerkt zur Hütte zurückzukehren, hatte er ihr erklärt, er hätte allen erzählt, dass er selbst nach ihr suchen wollte. Er brüstete sich damit, wie gut er die Rolle des besorgten Freundes beherrschte, und daran hatte sie nicht den leisesten Zweifel. Er konnte jede Rolle spielen.

Sie jedenfalls war auf ihn hereingefallen.

Würde doch jemand spüren, dass er sich nicht ernsthaft sorgte, und ihn etwas genauer betrachten! Aber damit war nicht zu rechnen. Mit seinem markanten Gesicht, dem athletischen Körperbau, seinem scharfen Verstand und den reichen Eltern wirkte er einnehmend und glaubwürdig, ganz sicher jedoch nicht wie ein Killer. Nie im Leben käme jemand auf die Idee, ihn eines solchen Verbrechens zu verdächtigen.

Sie presste die Augen zusammen und bemühte sich, die Tränen zurückzudrängen. Dass er ihre Liebe auf so schreckliche Weise verraten konnte, war die schlimmste Erfahrung ihres Lebens. Nur durfte sie sich nicht auf ihr gebrochenes Herz konzentrieren. Das verschlimmerte ihre Situation nur noch. Sie musste sich aufs Atmen konzentrieren, denn sonst hörte sie vielleicht bald ganz damit auf.

Das Feuer musste von selbst erloschen sein. Sie hatte keine Ahnung, warum sie nicht mitsamt der Hütte verbrannte, wie Jasper es beabsichtigt hatte. In den beißenden Brandgeruch mischte sich ein anderer Gestank – der von verwesendem Fleisch. Er war jeden Tag schlimmer und ekelhafter geworden. Jasper sagte, es würde ihn aufgeilen, wenn er ihre Freundinnen mit ihren erloschenen Augen bei allem zusehen ließ, was er ihr antat. Er sah das so, dass sie einfach Zeit miteinander verbrachten und sich amüsierten wie früher – nur dass ihre Freundinnen endlich mal ihre große Klappe hielten.

Was er ihnen angetan hatte, ließ ihr die Haare zu Berge stehen, und die Begeisterung, mit der er davon redete, war fast genauso schlimm. Sie bekam diesen Anblick einfach nicht mehr aus dem Kopf, als sie nach ihm gesucht und ihn dabei überrascht hatte, wie er gerade ihre Leichen wie Schaufensterpuppen arrangierte. Er gab vor, die Mädchen ermordet zu haben, weil sie Evelyn überreden wollten, mit ihm Schluss zu machen, und weil sie ihr erzählt hatten, dass er letzte Woche auf einer Party Agathe angebaggert hatte –als seien ihre Freundinnen und deren Loyalität ihr gegenüber an allem schuld. Er würde niemals zulassen, sagte er, dass ihm irgendjemand in die Quere käme, ganz gleich wer.

Eigentlich hätte er gar nicht vorgehabt, sie umzubringen. Aber er benahm sich nicht so, als machte ihm das etwas aus, oder als bedeutete sie etwas anderes oder mehr für ihn als ihre Freundinnen. In Wahrheit wurde er immer glücklicher, je mehr Schmerz er ihr zufügte. Das Foltern hatte etwas in ihm ausgelöst, einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Sie hätte nie gedacht, dass jemand so sein konnte.

Noch aber war sie nicht tot. Solange sie etwas riechen und spüren konnte, war diese Dunkelheit einfach nur – dunkel. Und dass sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen? Wer wäre nicht völlig durcheinander, wenn er so viel hätte ertragen müssen wie sie? Sie musste gegen die Erschöpfung ankämpfen, die ihre Glieder schwerer machte und auch ihren Herzschlag zu verlangsamen schien. Sie kämpfte um ihr Leben. Wenigstens um das Feuer brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Gut, dass sie auf dem Boden lag, unter dem Rauch, sonst wäre sie vermutlich längst erstickt.

Falls sie es bis zum Highway schaffte, gelang es ihr vielleicht, ein vorbeifahrendes Fahrzeug anzuhalten.

Es kostete sie Mühe, ihre schwere, klamme Hand an die Kehle zu legen. Sie spürte dort ihr eigenes, klebriges Blut. Sie lag in einer ganzen Pfütze ihres Blutes. Und der klaffende Schnitt an ihrem Hals war nicht die einzige Verletzung. Ihr Bein war gebrochen – es war so verdreht, dass daran kein Zweifel bestand. Und außerdem hatte sie noch eine ganze Reihe weiterer Verletzungen. Sie konnte nur noch mit einem Auge sehen und hatte seit drei Tagen nichts gegessen, außer dem ekligen Zeug, das er ihr in den Mund gestopft hatte, um sich an ihrer Erniedrigung zu ergötzen.

Standen ihre Chancen wenigstens fifty-fifty?

Es war zu spät, glaubte sie. Dass jemand all das überlebte, was sie durchgemacht hatte, war eher unwahrscheinlich. Vielleicht sollte sie die letzten Augenblicke, die ihr vergönnt waren, dafür nutzen, eine Nachricht in die Erde zu kratzen, damit ihre Familie erfuhr, dass Jasper ihr Mörder gewesen war. Dann käme er wenigstens nicht davon.

Doch der Gedanke an ihre Eltern weckte eine unbändige Sehnsucht in ihr. Als sie sich vorstellte, wie es für ihre Eltern sein musste, wenn man sie so furchtbar misshandelt und mit gebrochenen Knochen auffinden würde, schaffte sie es unter größten Kraftanstrengungen, sich aufzusetzen. Als sie diesmal nicht wieder ohnmächtig wurde, fasste sie sich ein Herz, tastete nach etwas Solidem und zog sich an Jaspers Hocker hoch, bis sie stand.

In diesem Moment setzte der Schmerz ein. Warum er so plötzlich wie aus dem Nichts über sie hereinbrach, begriff sie nicht. Doch als sie sich aufrichtete, protestierte ihr ganzer Körper lautstark. Und als sie ihr Bein belastete, verlor sie fast wieder das Bewusstsein.

Konzentriere dich! Bleib stehen! Lass den Schmerz nicht an dich heran! Du darfst nur noch daran denken, was du als Nächstes tun musst!

Zuerst musste sie von dem Ort fliehen, wo ihre Freundinnen umgebracht worden waren – dort hatte er sie hinbestellt, um sich mit ihnen »unter vier Augen« zu unterhalten.

Sie fürchtete, Jasper bekäme irgendwie mit, dass die Hütte nicht abgebrannt war, und würde zurückkehren, um den Job zu Ende zu bringen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sofort etwas unternehmen. Ihr blieben fünf Minuten, vielleicht weniger, dann war sie möglicherweise nicht mehr stark oder geistesgegenwärtig genug.

Evelyn hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, trotz der fürchterlichen Schmerzen, die jeder Schritt verursachte, durch den regennassen Wald zu humpeln. Sie war nicht einmal sicher, ob sie die richtige Richtung einschlug. Jetzt spielte es keine Rolle, dass sie den schmalen Pfad zur Hütte schon mindestens hundertmal gegangen war. Alles war grün und sah gleich aus. Sie ging vielleicht sogar im Kreis, doch sie musste in Bewegung bleiben, musste sich weiterschleppen und jemanden finden, der ihr helfen konnte.

Erst als sie auf der Straße stand, dämmerte ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hatte – und das merkte sie nur, weil ein nahendes Auto hupte. Der Fahrer wollte sie damit von der Straße scheuchen, aber sie schaffte keinen einzigen Schritt mehr, konnte nicht einmal die Arme heben, um auf ihre Notlage aufmerksam zu machen.

Reifen quietschten, als der Fahrer bremste und das Steuer herumriss, um sie nicht zu überfahren. Der Kies knirschte, als der Wagen zum Stehen kam. Dann brach sie zusammen und wäre an Ort und Stelle auf dem gelben Mittelstreifen gestorben, wenn der Mann nicht zu ihr gelaufen wäre. »O mein Gott! Was ist Ihnen denn passiert?«, schrie er.

1. Kapitel

Alle sind böse. So oder so.

Richard Ramirez, Der Night Stalker

Zwanzig Jahre später…

Wenn er könnte, würde er sie umbringen. Einmal hatte er sie bereits angegriffen. Das durfte sie nicht vergessen.

Doktor Evelyn Talbot legte den Kugelschreiber auf ihren Notizblock, fuhr mit den Fingern unter die Brillengläser und rieb sich die Augen. Sie hatte letzte Nacht nicht viel geschlafen, weil sie wieder einen ihrer furchtbaren Albträume hatte. »Es gibt einen Grund, dass das Plexiglas da ist, Hugo. Es wird immer zwischen uns sein. Und wir wissen beide, weshalb.«

Das war nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte. Er verzog nervös sein attraktives Gesicht mit der hohen Stirn und den unschuldig aussehenden braunen Augen, aber er achtete darauf, die Stimme nicht zu erheben. Im Gegenteil, er senkte die Stimme, als er beteuerte: »Ich werde Ihnen kein Härchen krümmen, das schwöre ich. Ich muss Ihnen nur etwas erzählen. Kommen Sie auf meine Seite herüber, damit ich flüstern kann. Es dauert nur eine Minute.«

Er würde noch weniger Zeit brauchen, um ihr die Hände um die Kehle zu legen oder sie krankenhausreif zu schlagen, wie er es gemacht hatte, als sie ihm in San Quentin zum ersten Mal begegnet war.

Sie nahm wieder ihren Kugelschreiber und erwiderte in dem verbindlichen Tonfall, den sie bei ihren Patienten anschlug: »Sie wissen, dass das nicht geht. Also sagen Sie, was Sie zu sagen haben. Hier und jetzt. Wir drehen uns mit diesem Spielchen jetzt schon seit zwei Wochen im Kreis.«

Er wandte sich um und blickte zur Kamera hinauf, die ihn beobachtete. Jedes Mal, wenn sie sich mit einem Insassen traf, überwachte ein Gefängnisaufseher, der in einem Zimmer am Ende des Korridors saß, die Begegnung über das hauseigene Videoüberwachungssystem. Die Insassen glaubten, dass sie aus Sicherheitsgründen unter Beobachtung standen, aber diese Sitzungen wurden aufgezeichnet und gespeichert. Die Videos ermöglichten ihr, Nuancen in der Körpersprache der Gefangenen zu analysieren, was zusammen mit den Mustern ihres verbalsprachlichen Ausdrucks der Kernbereich von Evelyns Forschung war.

»Ich kann nicht«, bekräftigte er. »Nicht vor den Kameras. Wenn ich das tue, bin ich ein toter Mann.«

Das musste ihm jemand glaubhaft eingeimpft haben. Das zumindest nahm sie ihm ab. Aber ihre Patienten verstanden sich aufs Lügen, deshalb war auch gut möglich, dass sie sich irrte. Vielleicht dachte er sich das alles nur aus. »Wer sollte Ihnen etwas antun?« Sie beugte sich dichter an die Scheibe. »Und wie?«

Evelyn beobachtete Hugo Evanski schon, seit Hanover House vor drei Monaten im November eröffnet worden war. Er war einer der ersten Psychopathen gewesen, die man hierher verlegt hatte, und er schaffte beeindruckende 37 von 40 möglichen Punkten auf Hares Checkliste für Psychopathen, auch PCL-R genannt. Doch wer ihn sah oder mit ihm redete, wäre nie auf die Idee gekommen, dass er fähig war, einen Mord zu begehen. Evelyn fand ihn intelligent, zugänglich und meistens höflich. Er war sogar hilfsbereit, wenn er die Gelegenheit dazu bekam.

Der Gedanke war ihr etwas suspekt, aber wenn es unter den Psychopathen, zu deren Erforschung sie nach Alaska gekommen war, jemanden gegeben hätte, den sie als Freund bezeichnen würde, wäre es Hugo gewesen. Vielleicht fühlte sie sich aus diesem Grund versucht, ihm zu vertrauen, selbst nach allem, was er bereits getan hatte, und trotz allem, was sie selbst durchgemacht hatte.

»Ich hatte recht mit Jimmy, stimmt’s?«, fragte er.

Er hatte sie vor anderthalb Monaten gewarnt, dass ein anderer Insasse plante, sich mit einem Laken zu erhängen. Ohne Hugo wäre Jimmy Wiese jetzt tot.

»Ja, aber Sie haben nicht von mir verlangt, dass ich für diese Information mein Leben aufs Spiel setze.«

»Weil Jimmy keine Gefahr für mich ist!«

»Und wer ist gefährlich?«

Er schloss die Augen und stieß die Stirn rhythmisch gegen die Scheibe.

Evelyn wartete.

»Was kann ich tun?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens. »Was muss ich tun, damit Sie mir glauben? Damit Sie mir ein kurzes Gespräch unter vier Augen gewähren?«

Er hatte fünfzehn Frauen erwürgt und Evelyn angegriffen und verletzt. Das bedeutete, er konnte überhaupt nichts tun, denn sie war nicht so dumm, ein solches Risiko erneut einzugehen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ehrlich.«

Sein Blick fiel auf die sechs Zentimeter lange Narbe an ihrem Hals. »Das ist seine Schuld.«

Sie berührte das vernarbte Gewebe. Vielleicht hatte Hugo recht. Trotzdem amüsierte es sie, dass er die Schuld an ihrer Reserviertheit nicht im Geringsten mit seinem eigenen Verhalten am Tag ihres Kennenlernens in Verbindung zu bringen schien. Sie hätte ihn darauf hinweisen können, aber was er ihr erzählen wollte, interessierte sie mehr. »Ja.«

Er stand auf und ging unruhig in der kleinen Kabine herum, die seine Hälfte ihres Treffpunktes und gewissermaßen ihre Behandlungscouch darstellte. »Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, damit Ihnen nichts geschieht«, versicherte er.

»Und wie war das in San Quentin?« Diesmal konnte sie es sich nicht verkneifen.

»Damals kannte ich Sie noch nicht. Inzwischen liegen die Dinge anders.«

Taten sie das wirklich? Das war die Frage.

»Das weiß ich zu schätzen«, räumte sie ein, was aber nicht bedeutete, dass sie ihre Meinung geändert hatte.

Er hielt inne und wandte sich ihr zu. »Verstehen Sie denn nicht? Sie sind nicht sicher. Keiner von uns ist sicher.«

Er redete in einem eindringlichen Tonfall auf sie ein und setzte dabei eine Miene auf, dass sich ihre Härchen auf dem Arm aufrichteten. Was wollte Hugo erreichen? Wollte er ihr Angst einjagen?

Sie musste sich eingestehen, dass es funktionierte – aber nur, weil so etwas vor dem 1. Januar noch nicht zu seiner Taktik gehört hatte. Und er wirkte so überzeugend und so ernsthaft dabei.

Anscheinend war sogar sie noch manipulierbar.

Evelyn nahm Notizblock und Kugelschreiber und stand auf. »Ich bedaure, aber wir müssen unsere Sitzung heute leider früher beenden. Sie steigern sich da in etwas hinein … Was auch immer der Grund sein mag, weshalb Sie sich so aufregen – so kommen wir jedenfalls nicht weiter.«

»Warten Sie!« Er trat an die Scheibe. »Evelyn …«

Als sie ihn verblüfft ansah, weil er ihren Vornamen benutzte, als seien sie so vertraut miteinander, dass es ihm zustand, fiel er wieder in die übliche, formelle Anrede zurück.

»Dr. Talbot, hören Sie mir zu. Bitte! Das hier ist ein Gefängnis für Psychopathen, stimmt doch, oder? Männer, die skrupellos und ohne zu zögern andere umbringen.«

Darauf erwiderte sie nichts, weil sie keinen Sinn darin sah. Er wiederholte nur, was beide wussten.

»Ich will Ihnen doch nur sagen, dass …«, er blickte wieder zur Kamera hinauf, »nicht jeder Killer in Hanover House hinter Schloss und Riegel sitzt.«

Damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. »Was meinen Sie damit?«

»Mehr kann ich nicht sagen. Es sei denn … es sei denn, Sie geben mir die Möglichkeit, unter vier Augen mit Ihnen zu reden. Dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß und was ich gesehen und gehört habe. Und ich werde Ihnen nichts tun. Ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen!«

Evelyn hatte keine Lust, sich noch mehr davon anzuhören. Hugo wollte anscheinend seine Position in ihrer Beziehung stärken, indem er sich als ihr Beschützer gebärdete, während er gleichzeitig ihr Sicherheitsgefühl zu unterminieren versuchte. Das durfte sie ihm auf keinen Fall erlauben. Mit sechzehn hatte es sie fast das Leben gekostet, sich in einen Mann wie Hugo zu verlieben. Seit sie vor acht Jahren Psychiaterin geworden war, lebte sie nur dafür, das Mysterium skrupelloser Mörder zu erforschen. Sie wusste mehr über die Denkweise von Psychopathen als irgendjemand sonst auf der Welt, ausgenommen vielleicht Dr. Robert D. Hare, der die PCL-R-Liste entwickelt hatte und seit fast dreißig Jahren auf demselben Gebiet forschte. Bedauerlicherweise wusste sie längst nicht so viel, wie sie wollte, und nicht annähernd genug, um vor Überraschungen gefeit zu sein.

»Wir treffen uns übermorgen zur gewohnten Zeit«, sagte sie Hugo. »Sie sollten versuchen, sich zu entspannen. Sie werden allmählich paranoid.«

Nach diesen Worten wandte sie sich zum Gehen, aber das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. »Sie werden schon sehen«, rief er ihr hinterher, »und sich wünschen, Sie hätten mir geglaubt!«

***

Mit einem Seufzer tiefer Erschöpfung warf Evelyn den Notizblock auf ihren Schreibtisch und ließ sich auf den Schreibtischsessel fallen.

»Was ist los? Schon wieder Kopfschmerzen?«

Als sie die Stimme Lorraine Drummonds an ihrer offenen Tür hörte, hob Evelyn den Kopf. »Nein, ich komme gerade aus einer Sitzung mit Hugo Evanski.«

Lorraine, die sich im vergangenen September auf eine Zeitungsannonce beworben hatte, als Evelyn und die Institutsleitung Personal für das Zentrum suchten, war kräftig gebaut, Mitte fünfzig und neuerdings Single. Sie besaß ein kleines Haus in Anchorage, eine Fahrtstunde entfernt, hatte zwei erwachsene Kinder und nur einen Highschoolabschluss. Obwohl sie bis zu ihrer Scheidung nicht einmal gearbeitet hatte, leistete sie als Leiterin der Anstaltskantine hervorragende Arbeit.

»Seit seinem Eintreffen hier hat sich Hugo tadellos aufgeführt. Das haben Sie mir selbst erzählt.«

»Er hat sich verändert und benimmt sich seltsam.«

»Warum geben Sie ihn nicht an Dr. Fitzpatrick oder einen der anderen ab? Gönnen Sie sich eine Ruhepause!«

»Dr. Fitzpatrick hat ihn bereits für eine seiner Studien eingespannt – seit der Eröffnung des Instituts. Ich kann von ihm nicht verlangen, noch mehr zu tun. Nicht, nachdem Dr. Brand gekündigt und Dr. Wilheim die Gürtelrose bekommen hat. Ohne die beiden schaffen wir es ohnehin kaum. Wer weiß, wie lange es dauert, bis Stacy wieder arbeiten kann und wir einen Ersatz für Martin finden?« Im Übrigen fühlte sich Evelyn moralisch verpflichtet, die meiste Arbeit zu übernehmen. Vor allem ihr war es zuzuschreiben, dass sie mit 73 der schlimmsten Serienmörder der Vereinigten Staaten irgendwo im Nirgendwo festsaßen. Die übrigen 213 Insassen waren ebenfalls als Psychopathen diagnostiziert, aber sie hatten sich nur minderschwerer Verbrechen schuldig gemacht und sollten eines Tages wieder in die Freiheit entlassen werden.

»Sie könnten, wenn Sie wollten«, widersprach Lorraine nachdrücklich.

»Ich will aber nicht. Wir haben zurzeit nur vier andere einsatzfähige Mitarbeiter im Team. Ich komme schon mit ihm klar.« Die Männer, zu deren Erforschung sie hergekommen war, manipulierten sie unablässig oder versuchten es zumindest. Warum sollte Hugo anders sein? Insbesondere nach dem Verlauf ihres ersten Treffens?

»Wenn ich ihn im Speisesaal sehe, wirkt er immer sehr freundlich.« Lorraine stellte einen Lunchbeutel auf den Schreibtisch. Sie kam ziemlich oft in den Psychiatrietrakt, um dafür zu sorgen, dass Evelyn genug Nahrung zu sich nahm, ganz egal, was auf der Speisekarte stand.

Evelyn warf einen Blick auf ihr Mittagessen: Karotten, ein Apfel, ein Becher Hühnersuppe mit Nudeln und ein Keks mit Schokoladensplittern. »Dass jemand freundlich ist, hat gar nichts zu sagen.« Jasper ist auch einmal freundlich gewesen. Und du siehst ja, was er mir angetan hat.

Lorraine war von ihrem Ohrring abgelenkt, der zu tief saß. »Dr. Fitzpatrick sagt, dass jeder eine Maske aufsetzt. Bei Psychopathen sind diese Masken eher wie ein Spiegel. Sie zeigen einem, was man ihrer Meinung nach sehen will. Eigentlich sind sie leer.«

Leer? Nein. Das glaubte Evelyn keine Sekunde. Sie hatte die unverhüllte Seele eines Psychopathen erlebt und in seinen Augen gesehen, was Dr. Fitzpatrick nie erfahren hatte und – so Gott wollte – auch niemals erleben würde. Die Männer, die sie behandelten, waren alles andere als leer: »Leer« klang viel zu sehr nach »neutral« oder »harmlos«. Wäre sie ein religiöser Mensch gewesen, hätte sie vielleicht das Wort »seelenlos« passend gefunden, aber sie hatte seit über zehn Jahren keine Kirche betreten.

»Sie können sich anpassen«, verbesserte sie Lorraine. »Um den Anschein zu erwecken, sie seien emotional ebenso beteiligt wie ihre Mitmenschen. Es sind Wölfe im Schafspelz, und genau deshalb können sie so viel Schmerz und Zerstörung bewirken.« Es war auch der Grund, warum andere, denen an diesen Menschen wirklich etwas lag, normalerweise darunter leiden mussten.

Lorraine musterte Evelyn eingehender. »Sind Sie sicher, dass Sie nur wegen Hugo so erledigt sind? Sie sehen … mitgenommen aus.«

Und dabei war erst Montag. Kein guter Start in die Woche. »Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.«

»Dann gehen Sie doch nach Hause, legen sich hin und ruhen sich etwas aus.«

Evelyn macht eine abwehrende Handbewegung. »Es ist nicht mal Mittag.«

»Also wirklich, das Institut bricht schon nicht zusammen, wenn Sie sich mal ein paar Stunden freinehmen. Alle bewundern Ihr Engagement – keiner mehr als ich –, aber Sie richten sich noch zugrunde, wenn Sie nicht etwas kürzertreten.«

Evelyn schüttelte ihre tägliche Vitaminpille aus der Flasche, die sie in ihrem Schreibtisch aufbewahrte, schob sie in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. »Seien Sie nicht so dramatisch. Mir geht es gut. Und ich kann nicht weg.« Sie sah auf die Wanduhr. »Unser neuer Gefangener wird jeden Augenblick eintreffen.«

»Anthony Garza? Ich dachte, der wird nicht vor sechzehn Uhr heute Nachmittag erwartet.«

»Im Wetterbericht gab es eine Sturmwarnung. Deshalb haben sie einen früheren Flug genommen. Sind Sie denn nicht benachrichtigt worden?«

Lorraine zupfte an ihrem Haarnetz. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, heute Morgen meine E-Mails zu lesen. Ich hatte zu viel in der Küche zu tun.«

»Kurz vor meinem Termin mit Hugo hat einer der Bundesmarshalls angerufen. Das Flugzeug ist schon in Anchorage gelandet.«

Wegen der strengen Sicherheitsbestimmungen bei der Verlegung der berüchtigten Killer, die an sie überstellt wurden, verursachten Neuzugänge jedes Mal einen großen Aufwand. Sämtliche Mitarbeiter vor Ort befanden sich im Alarmzustand, auch wenn Lorraines Anwesenheit nicht so wichtig war wie die des Leiters des Vollzugs, des Wachpersonals und des psychiatrischen Teams. Sie durften sich keine Nachlässigkeit erlauben, die zu einer Flucht oder einer Verletzung eines Mitarbeiters führen konnte. Hanover House war das erste Institut mit dieser Ausrichtung und wurde als ein radikal neuer Ansatz im Umgang mit Psychopathen angesehen. Das bedeutete, sie mussten sich als professionell und effektiv erweisen, wenn sie nicht riskieren wollten, die öffentlichen Gelder zu verlieren, um die sie so hart gekämpft hatten. Hilltop hatte zwar nicht so viel Widerstand geleistet wie andere ins Auge gefasste Orte, als die Behörden diskutierten, am Stadtrand eine Hochsicherheits-Psychiatrie zu errichten. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sich in der Stadt kein Unmut regen würde, sobald es einen Anlass dafür gab. Im Großen und Ganzen hielten sich die Einwohner, die nicht im Gefängnis arbeiteten, mit ihrem Urteil zurück, aber mit offenen Armen hatte man sie und ihr Projekt nicht gerade empfangen. Und am wenigsten Amarok, der ziemlich attraktive State Trooper und der einzige Polizeiposten in diesem Ort mitten in Alaska.

»Was wissen wir über Garza?«, fragte Lorraine.

Die Frage war Evelyn unangenehm. Die Insassen von Hanover House waren aufgrund der von ihnen verübten Verbrechen und ihrer Verhaltensweisen gezielt ausgewählt worden. Das war eines der Details, die ihre Institution einzigartig machten – neben dem wohlwollenden Namen »Haus« statt »Gefängnis« und dem Schwerpunkt, der auf Erforschung und der Behandlung lag und sich nicht darauf beschränkte, die Insassen einfach nur wegzusperren. Evelyn hatte Garza gerade deshalb ausgesucht, weil man so schwer mit ihm zurechtkam. Wäre das Team gefragt gewesen, sich, wie normalerweise üblich, nach Prüfung aller Details ein eigenes Urteil zu bilden, hätte es ihn wahrscheinlich abgewiesen, weil er zu aufsässig war, um für das Programm in Frage zu kommen. Er war nicht nur auf jeden seiner unterschiedlichen Zellengenossen losgegangen, sondern hatte vor einem Jahr sogar einen Wärter fast umgebracht.

Aber Evelyn war überzeugt, dass seine Wut und seine verbale und körperliche Aggressivität Erkenntnisse liefern konnten, die ihr bisher verschlossen gewesen waren.

»Wir wissen, dass er die ersten drei seiner vier Frauen umgebracht hat. Er ist Egozentriker, entwickelt keine echten Gefühle gegenüber anderen Menschen, hat Allmachtsphantasien und lügt wie gedruckt.« Sie strich ihre Schreibunterlage glatt. »Außerdem hat er den Hang, sich selbst zu verletzen – aber das steht auf einem anderen Blatt.«

»Wie hat er seine Frauen ermordet?« Lorraines Miene machte deutlich, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte, obwohl sie danach fragte.

Seine Akte lag am Rand des Schreibtisches. Evelyn hatte die Unterlagen bereits mehrfach gelesen. Sie nahm die Akte und blätterte sie durch, während sie weiterredete. »Er war nicht übermäßig grausam. Er hat sie mit dem Hammer erschlagen und dann das Bett in Brand gesteckt.«

»Bei allen dreien?«

Als sie zu einer Fotografie mit den verkohlten Überresten eines Wohnwagens gelangte, hielt Evelyn inne. Sie stellte sich nur äußerst ungern vor, wie es der armen Frau ergangen war, die sich darin befunden hatte, aber sie konnte sich der schrecklichen Bilder nicht erwehren, die vor ihrem inneren Auge vorbeizogen. »Ja.«

»Hatte er gar keine Angst, dass er sich viel verdächtiger machte, wenn er dreimal Feuer legte?«

Evelyn zuckte mit den Schultern und klappte den Aktendeckel zu. Sie musste sich innerlich von dem lösen, was ihr hier jeden Tag begegnete, sonst konnte sie diesen Job auf Dauer nicht durchstehen. Auch wenn ihr diese Distanzierung nicht immer gelang, versuchte sie wenigstens, den Eindruck zu erwecken. Im anderen Fall würden sich ihre Kollegen auf sie stürzen – sie würden ihr mit Warnungen und Ratschlägen zusetzen und ihr erzählen, dass sie ihren Job zu ernst nahm. Sie konnte nicht nachvollziehen, weshalb ihre Kollegen die Insassen und deren Probleme nicht ebenso ernst nahmen, wie sie das tat, und wie sie es schafften, ihre Arbeit wie einen stinknormalen Bürojob zu absolvieren. »Er hat jede seiner Frauen in einem anderen Bundesstaat ermordet und wäre fast damit durchgekommen. Er wurde erst vor zwei Jahren verurteilt, fünf Jahre nach dem letzten Mord. Zu jenem Zeitpunkt lebte er von seiner vierten Frau schon getrennt. Vermutlich hatte er eine Methode gefunden, mit der er durchkam, und machte einfach damit weiter.«

Lorraine schnalzte mit der Zunge. »Erstaunlich, dass niemand früher einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen erkannt hat. Was ist mit der letzten Frau? Warum hat er sie nicht umgebracht?«

»Courtney Lofland? Keine Ahnung.« Evelyn legte die Akte beiseite. »Sie hat mittlerweile wieder geheiratet und lebt in Kansas.«

»Dann hat sie wohl Glück gehabt. Sie würden sicher gerne mit ihr reden, um herauszufinden, was sie über Garzas Verhalten zu erzählen hat.«

»Ich habe ihr schon geschrieben«, erwiderte Evelyn lächelnd.

Lorraine schüttelte den Kopf. »Hätte ich mir denken können. Sie drehen wirklich jeden Stein um.«

Evelyn ignorierte die Anspielung auf ihren Eifer. Sie wusste selbst genau, dass sich ihr starkes Interesse schon vor langer Zeit zu einer Obsession gewandelt hatte. »Wenn sie einem Gespräch zustimmt, fliege ich zu ihr und treffe sie persönlich.«

»Sie meinen, weg von all dem hier?« Lorraine umfasste mit ausgebreiteten Armen den gesamten, zweigeschossigen Komplex, in dem Evelyns Büro nur einen kleinen Teil des dritten Gebäudesegments einnahm.

Draußen herrschte ein dichtes Schneetreiben, so dass Evelyn die Chugach-Berge nicht mehr sehen konnte. Seit ihrer Ankunft im September waren anderthalb Meter Schnee gefallen, und jetzt war erst der 13. Januar. »Es wäre schön, die Sonne zu spüren und sich ein bisschen aufzuwärmen«, räumte sie ein.

»Ich wünschte, ich könnte Sie begleiten. Viel weiter als bis zum Gefängnis habe ich mich noch nie von zu Hause entfernt.«

Evelyn riss ihren Blick vom Fenster los. »Dann müssten Sie sich aber zuerst gegen das Psychiatrieteam durchsetzen. Die würden auch alle gern in die wärmeren Bundesstaaten zurückkehren.« Martin Brand hatte das Heimweh nach Portland zurückgetrieben, von wo er stammte. Es war nicht leicht, sich an diese unwirtliche Umgebung hier zu gewöhnen. Die hallenden Flure, die knallenden Türen, das gelegentliche Stöhnen und das irre Gelächter waren auch so schon schwer zu ertragen. Wenn man den langen, dunklen Winter in Alaska und die einsamen Abende hinzuzählte, an denen man mehr mit Akten und Psychologiezeitschriften zu tun hatte, als mit Menschen, und Erinnerungen an unzählige Gespräche hochkamen, bei denen einem das Blut in den Adern gefror, konnte man mit Fug und Recht behaupten, dass es ein sehr hartes Leben war, ganz abgesehen vom Wetter.

»Haben Sie vor, jemanden aus dem Team mitzunehmen?«, fragte Lorraine.

Evelyn schüttelte den Kopf. »Dazu fehlen uns die Mittel. Ich habe schon Glück, wenn die Gefängnisverwaltung mein Ticket bewilligt.«

»Wer wird mit Mr. Garza arbeiten?«

»Raten Sie mal.«

»Doch wohl nicht Sie! Sie müssen doch schon jetzt viel mehr regeln als alle anderen. So, wie es zurzeit läuft, kommen Sie gar nicht mehr dazu, über etwas anderes als Ihre Patienten nachzudenken.«

Evelyn lächelte bedauernd. »Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber abgesehen von der Arbeit gibt es nicht viel, was man in Hilltop tun kann – erst recht nicht in dieser Jahreszeit.«

»Sie könnten sich um ihr Privatleben kümmern.«

»Um was zu tun? Im Moosehead trinken?«

»Warum nicht?«

Evelyn war letzten Sommer einmal dort gewesen, noch bevor Hanover House den Betrieb aufgenommen hatte. Amarok hatte sie mitgenommen. Sie hatten sich gut amüsiert, aber sie versuchte, nicht mehr daran zu denken.

»Man weiß nie, wer einem da über den Weg läuft«, fügte Lorraine aufmunternd hinzu.

Sie verdrehte die Augen. »Genau das meine ich.«

»Ich wollte damit sagen, dass Sie jemanden kennenlernen könnten, der zur Abwechslung einmal nett und interessant ist und nicht gefährlich.«

Wie Amarok. Lorraine hatte bestimmt die Gerüchte über ihn gehört. Oder auch nicht. Wie viele andere Mitarbeiter lebte sie in Anchorage und nahm einen weiten Anfahrtsweg zur Arbeit in Kauf. Kontakte zu den Einheimischen hatte sie nicht. »Darauf kann man sich nicht verlassen.«

»Glenn würde Sie bestimmt begleiten.«

Glenn Whitcomb, einer der Gefängnisaufseher, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die beiden unter seine Fittiche zu nehmen und auch noch ein paar andere Frauen, die in Hanover House arbeiteten. Wenn er konnte, unternahm er mit ihnen Spaziergänge außerhalb des Gefängnisgeländes, er half ihnen, schwere Sachen zu tragen oder den Schnee von ihren Autos zu kratzen. »Glenn muss genauso weit fahren wie Sie«, sagte Evelyn. »Er bleibt auch nicht länger in Hilltop, als es seine Arbeit erfordert.«

»Warum nicht? Was wartet denn zu Hause auf ihn? Seine verheiratete Schwester? Er braucht auch eine Partnerin.«

»Eines Tages wird er bestimmt jemanden kennenlernen.« Sie tat jedenfalls gut daran, auf der Hut zu sein, und durfte nicht noch netter zu ihm sein. Sie spürte, wie er sie anhimmelte, und musste sich vorsehen. Ein allzu vertraulicher Umgang mit einem der Aufseher war unprofessionell und konnte im Haus ihre Autorität untergraben.

»Ach, kommen Sie«, sagte Lorraine. »Irgendwann müssen Sie die Vergangenheit hinter sich lassen.«

So gab sie Evelyn deren eigene Worte zurück. »Ich habe meinen Frieden mit meiner Vergangenheit gemacht. So, wie es ist, gefällt es mir sehr gut«, erwiderte sie, obwohl sie genau wusste, dass sie mehr Narben an sich herumschleppte als nur die an ihrem Hals. Nach dem Verbrechen hatte sie fast ein Jahrzehnt in Therapie verbracht.

»Wollen Sie lieber für den Rest Ihres Lebens Single bleiben?«, fragte Lorraine.

Plötzlich spürte Evelyn, dass sie Hunger hatte, und nahm die Karotten aus dem Beutel. Wenn sie etwas aß, kam sie vielleicht wieder zu Kräften. »Ich brauche keinen Mann. Ich habe mein Leben mit anderen Dingen ausgefüllt.«

»Mit Psychopathen?«

»Mit Zielen«, sagte sie und riss den Plastikbeutel auf. »Und um diesen Zielen näher zu kommen, kann ich auch noch einen neuen Insassen in meinen Terminkalender aufnehmen.«

Lorraine schüttelte den Kopf. »Sie verlangen zu viel von sich. Damit tun Sie sich keinen Gefallen.«

»Ich weiß die Warnung zu schätzen – und das Mittagessen auch«, erwiderte Evelyn. »Wie sollte ich bloß ohne Sie zurechtkommen? Aber ich bin okay. Wirklich. Also … hat Glenns Onkel die Alarmanlage bei Ihnen installiert?«

Lorraine bedachte sie mit einem Blick, der ihr unmissverständlich klarmachen sollte, dass ihr der gezielte Themawechsel nicht entgangen war. Aber sie ließ sich darauf ein. »Letzte Woche. Dieses hohe Gejaule, das losgeht, wenn ich die Tür öffne, erschreckt mich jedes Mal zu Tode.«

Evelyn kicherte. »Sie werden sich daran gewöhnen.« Sie wusste, wovon sie sprach, denn Glenns Onkel hatte auch in ihrem Haus einen Alarm installiert. Sie fand das Geräusch ziemlich beruhigend.

»Es kann jedenfalls nicht schaden, eine zu haben.«

»Auf jeden Fall.« Insbesondere, weil Lorraines Ehemann vor sechs Monaten ausgezogen war und sie jetzt allein lebte. Evelyn rechnete damit, dass es sie beruhigen würde, sobald sie sich an die Funktionsweise gewöhnt hatte.

»Ich gehe lieber wieder nach unten, bevor hier der Teufel los ist«, sagte Lorraine. »Aber was ich Sie noch fragen wollte … Haben Sie etwas von Danielle gehört?«

»Connelly? Das Mädchen, das Sie als Küchenhilfe eingestellt haben? Noch nicht. Weshalb?«

»Sie ist heute Morgen nicht gekommen.«

»Haben Sie versucht, bei ihr zu Hause anzurufen?«

»Schon zig Mal. Aber es nimmt niemand ab.«

»Sind Sie sicher, dass sie keinem Wärter oder sonst jemanden aus dem Team Bescheid gesagt hat? Vielleicht ist sie krank. Vielleicht hat sie die Telefonklingel abgestellt, um schlafen zu können?«

Sie wurden unterbrochen, als jemand an die Tür klopfte. Unmittelbar danach steckte Evelyns Assistentin, die nicht einmal ein Meter fünfzig große Penny Singh, den Kopf durch den Spalt. »Der Empfang hat gerade angerufen. Anthony Garza ist eingetroffen.«

»Danke.«

»Wollen Sie mit den Marshalls reden?«, erkundigte sich Penny.

»Selbstverständlich.« Evelyn fand es wichtig, sich bei der Eskorte zu bedanken. Manchmal konnten die Beamten sie warnen oder steuerten andere Informationen bei. Außerdem hatte es sich Evelyn zur Gewohnheit gemacht, jeden neuen Insassen gleich nach seiner Ankunft in Augenschein zu nehmen, sobald er seinen Overall und die anderen notwendigen Alltagsutensilien bekommen hatte. Bei dieser Gelegenheit legte sie eine Patientenakte für ihn an und machte erste Notizen über sein Verhalten und seinen psychologischen Zustand, um einschätzen zu können, ob er ein Problemfall werden konnte.

»Sie müssen sich beeilen«, drängte Penny. »Die Beamten wollen nicht warten. Die haben Angst, ihren Flug zu verpassen, und machen sich Sorgen, dass sie eingeschneit werden könnten.«

Dass sie unruhig waren, konnte Evelyn ihnen nicht verdenken. Angesichts der mächtigen Kaltfronten, die über Anchorage hinweg zogen, bestand tatsächlich die Gefahr, eingeschneit zu werden – was bedeutete, dass sie hier für eine Woche oder sogar länger festsitzen konnten. »Ich komme sofort.« Sie wandte sich an Lorraine: »Und was Danielle betrifft – hätten Sie Zeit, bei ihr zu Hause vorbeizufahren?«

»Nicht während der Dienstzeit. Das geht nicht, wenn nicht genug Mitarbeiter da sind. Ich kann dort aber auf meinem Heimweg einen Zwischenstopp einlegen.«

»Perfekt. Rufen Sie mich an, falls Danielle aus irgendeinem Grund nicht dort sein sollte.«

Lorraine nickte, als Evelyn sich an ihr vorbeidrängte. Doch erst eine Viertelstunde später konnte Evelyn Danielle vergessen. Während die Mitarbeiter in der Aufnahme sich um Garza kümmerten, traf sie sich im Besprechungszimmer der Gefangenenaufseher mit den Marshalls. Was die ihr über Anthony zu berichten wussten, machte sie nervös. Deshalb war sie, nachdem die beiden gegangen waren, mit den Nerven schon am Ende, bevor die Alarmanlage jaulte und ihre Pulsfrequenz in die Höhe trieb.

2. Kapitel

Mord und Tod waren schon immer mein Fetisch.

David Berkowitz, Son of Sam

Sie hätten ihm Beruhigungsmittel verabreichen müssen, erzählten die Marshalls Evelyn vor ihrem Aufbruch. Sie sagten, dass Garza so schwierig und gefährlich für sich selbst und andere sei, dass man ihn medikamentös ruhigstellen musste, um ihn sicher von einem Ort zum anderen zu bringen. Eine qualifizierte Krankenschwester des ADX-Florence in Colorado, wo er vorher einsaß, hatte ihm vor vier Stunden dreihundert Milligramm Ryzolt injiziert. Darüber gab es einen Vermerk in seiner Akte.

Aber die Wirkung des Tranquilizers hatte sich bereits abgeschwächt, als er im Hanover House ankam. Den Aufsehern in der Aufnahme zufolge war er schon in einem leichten Erregungszustand eingetroffen und war, obwohl angekettet, sofort gewalttätig geworden. Es war ihm sogar gelungen, einem der Wärter einen Kopfstoß zu versetzen. Danach hatte jemand den Alarm ausgelöst. Mehrere Männer zwangen Garza zu Boden und tauschten seine Fuß- und Handfesseln gegen eine Zwangsjacke aus, die seine Bewegungsfreiheit noch stärker einschränkte. Jetzt passten vier statt der üblichen zwei Wärter auf ihn auf. Sie hatten ihn, weil er sich nicht beruhigen ließ, einfach in die abgeschlossene Kabine ihr gegenüber geschleift und ihn dabei stützen müssen, damit er nicht über seine Fußfesseln stolperte. Er tobte, war völlig außer sich und drohte, jeden zu abzuschlachten, der ihm in die Quere kam.

»Ich werde nicht in diesem verdammten Loch bleiben!«, schrie er. »Wenn ihr mich dazu zwingt, mach ich euch alle fertig. Habt ihr kapiert?«

»Sollen wir ihn in seine Zelle bringen?«, fragte Officer Whitcomb. Er bezweifelte anscheinend, dass Evelyn etwas Sinnvolles aus Garza herausbekommen könnte, solange er sich in diesem Zustand befand, und sie musste ihm recht geben. Sie wollte schon vorschlagen, ihn wegzubringen, damit er sich beruhigen konnte, doch als Garza sie auf der anderen Seite der Scheibe bemerkte, verstummte er und beruhigte sich.

»Wer sind Sie?« In seinen dunklen Augen schimmerte eine irre Wut, und er durchbohrte sie mit seinem scharfen, falkenartigen Blick.

Ihr fiel als Erstes an ihm auf, dass seine Augen zu dicht beisammenstanden, die Nase etwas schief saß und sein breites Gesicht fast kein Kinn zu haben schien. Diese Dinge wären vielleicht weniger offensichtlich gewesen, wenn er einen Bart oder längere Haare gehabt hätte, aber mit diesem rasierten Schädel …

Dennoch wollte sie ihn nicht als hässlich bezeichnen – eher als durchschnittlich.

Sie stellte sich auf eine unangenehme Begegnung ein, jedenfalls wenn es so weiterging, wie es angefangen hatte. Also setzte Evelyn einen gelassenen Gesichtsausdruck auf. Sie konnte und würde dem Mann nicht zeigen, wie sehr er sie verunsicherte. Falls er sich einbildete, er sei der Erste, der sie einzuschüchtern versuchte, irrte er sich sehr. Nicht einmal seine plötzliche Verhaltensänderung überraschte sie. Manchmal erinnerten sie die Männer, die im Hanover House einsaßen, an Schauspieler in einem Theaterstück, weil sie, je nachdem, wie es ihnen in den Kram passte, im Nu jede beliebige Rolle verkörpern und wieder ablegen konnten.

»Ah, jetzt werden Sie also doch noch vernünftig«, sagte sie. »Also, Mr. Garza, was wollten Sie bezwecken? Wollten Sie uns zeigen, dass mit Ihnen nicht gut Kirschen essen ist?«

Er beantwortete ihre Frage nicht. »Wer sind Sie?«, wiederholte er.

Sie setzte die Brille auf, die sie verwendete, wenn ihre Augen überanstrengt waren, und kritzelte eine Notiz auf sein Krankenblatt. Niedrige Frustrationstoleranz. Möglicherweise Gedankenflucht, wirkt dafür aber zu überlegt. Aggressiv, wenn er sich bedroht oder unsicher fühlt, bzw. ungewohnte Situationen erlebt…

»He! Ich habe Sie was gefragt!« Er schleifte die Aufseher geradezu hinter sich her, um ganz dicht an die Scheibe zu kommen.

Die Männer rissen ihn zurück, um ihm zu zeigen, dass er besser daran tat, nicht wieder die Kontrolle zu verlieren. Sie waren höchstwahrscheinlich noch wegen der vorangegangenen Ereignisse verärgert. Einer ihrer Kollegen musste mit gebrochener Nase in die Krankenstation gebracht werden, weil ihm Garza einen Kopfstoß verpasst hatte. Aber Evelyn ließ ihr Klemmbrett sinken und machte ihnen ein Zeichen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollten. Sie war hier, um ihn zu studieren, aber nicht, um ihn zu bestrafen. Diese Unterscheidung spielte eine wichtige Rolle in ihrem Berufsethos. »Ich bin Ihre neue Ärztin.«

»Nein, Sie sind mein nächstes Opfer«, sagte er. Dann machte er Kussgeräusche und grinste, wobei er die gezackten Stümpfe seiner Vorderzähne entblößte, die er sich ruiniert hatte, als er in seiner letzten Zelle an den Mauersteinen aus Schlackenbeton genagt hatte.

***

Evelyn versuchte, sich von seinen Drohungen nicht verunsichern zu lassen. Im Großen und Ganzen, und wenn man bedachte, wie furchteinflößend und unverblümt die Insassen werden konnten, kam sie mit dem, was sie hörte, ziemlich gut zurecht. Wenn man mit den schlimmsten Verbrechern Amerikas zu tun hatte, musste man damit rechnen, bedroht zu werden. Und normalerweise konnte sie ein solches Verhalten sogar nachvollziehen, auch wenn sie es nicht für gerechtfertigt hielt. Viele der Männer, mit denen sie täglich arbeitete, versuchten, die Kontrolle über eine Welt zurückzuerlangen, die ihnen entglitten war, indem sie anderen Angst einflößten. Daraus bezogen sie so etwas wie ein Machtgefühl. Manchmal bedrohten die Männer sie aber auch, weil sie verachtet werden wollten. Wenn man sie schon nicht bewunderte, wollten sie wenigstens auf diese Weise etwas Besonderes sein.

Doch selbst nachdem sie Feierabend gemacht und Hanover House verlassen hatte, bekam sie das beunruhigende Bild von Anthony Garza mit seinem bösen Grinsen nicht aus dem Kopf. Vielleicht zeigte er ihr seine Verärgerung über die unerwünschte Verlegung nur auf die einzige Weise, die ihm als Ausdrucksmittel zur Verfügung stand, aber sie war davon überzeugt, dass sich hinter seiner Drohung, sie sei sein nächstes Opfer, noch mehr verbarg als nur der Wunsch, ihr Angst einzujagen. Ihr kurzer Kontakt und Austausch wirkte so authentisch, dass er den Verdacht bestätigte, der in ihr keimte, seit seine Akte zum ersten Mal auf ihrem Schreibtisch gelandet war. Vielleicht hatte er alle seine Ehefrauen tatsächlich ermordet, um sich unangenehme Scheidungen zu ersparen, vielleicht aus Rache, weil sie vorhatten, ihn zu verlassen, vielleicht auch wegen der bescheidenen Lebensversicherung, die er auf diese Weise einheimsen wollte – aber tief in seinem Innern war er ein Lustmörder, jemand, der Menschen einfach aus purer Mordlust umbrachte.

Was sie zu der Frage führte, ob er mehr als nur jene drei ermordet hatte.

Sie hätte darauf gewettet …

»Willst du das bezahlen?«

Eine tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte am Kaffeeautomaten gestanden und geistesabwesend in dem Becher herumgerührt, den sie sich wenige Sekunden zuvor gefüllt hatte. Sie hatte es nicht eilig, zurück in die Kälte zu kommen. Der Schneesturm wütete mit aller Macht und hatte die Temperatur auf –28 Grad Celsius fallen lassen.

Aber es war nicht der Kassierer, der sie angesprochen hatte. Es war der Polizist, mit dem sie sich im Sommer eine kurze Zeitlang ab und zu getroffen hatte. Über ein paarmal Essengehen, einen Kuss und ein paar Telefonate war es jedoch nie hinausgegangen, und man konnte deshalb kaum von einer Affäre sprechen. Sein Name war Benjamin Murphy, aber die Einheimischen nannten ihn Sergeant Amarok. Er hatte ihr erzählt, dass er diesen Spitznamen – das Inuit-Wort für »Wolf« – schon in der Grundschule bekommen hatte, nachdem ihn ein Schulhofschläger hatte verprügeln wollen. Anscheinend hatte er den Kampf gewonnen. Er sah auch aus, als ob er so gut wie jeden Kampf gewinnen konnte.

Amarok war erst neunundzwanzig Jahre alt, er trug eine dicke Jacke, in der seine Schultern noch breiter aussahen als sonst, und dazu eine Mütze mit Ohrenklappen, mit der er sein ganzes Gesicht bedecken konnte, so dass nur noch seine lebhaften, blauen Augen zu sehen waren. Sie konnte nur deshalb den Rest seines Gesichtes erkennen, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Teil der Mütze zu schließen, der seinen Unterkiefer und den Mund bedeckte.

Den Eiskristallen nach zu schließen, die sich in seinem dunklen Bart gebildet hatten, konnte er selbst etwas Heißes gebrauchen, wenn sie ihn endlich an den Apparat ließ.

Weil das, was zwischen ihnen gewesen war, ein ungutes Ende genommen hatte, lächelte sie etwas gezwungen. »Würdest du mich ins Gefängnis verfrachten, weil ich ein paar Schlucke gestohlen habe?«

Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Er deutete mit dem Kopf auf den Schneesturm, der draußen tobte und die fröhliche Musik und die hellen Lichter von Quigley’s Quick Stop übertönte. Der Sturm war später als erwartet aufgezogen, so dass sie ihre Abfahrt von Hanover House bis fast einundzwanzig Uhr hinauszögern konnte. Sie besaß eine Satellitenschüssel und daher einen Internetzugang, so dass sie von zu Hause aus arbeiten könnte. Aber heftige Schneefälle konnten die Internetverbindung unterbrechen, was auch häufig geschah. Außerdem war sie nicht wirklich gern dort, so gemütlich, ja sogar schick ihre kleine Hütte auch sein mochte. Es war einfach zu still. Sie fühlte sich dort völlig abgeschnitten, besonders während eines Schneesturms, der auch ihre Festnetzverbindung unterbrechen konnte. Das Handy war keine Alternative, weil es hier draußen keine Mobilfunksendemasten gab. Außerdem besaß sie überhaupt kein Smartphone mehr, denn sie hatte ihres verkauft, bevor sie in den entlegenen Außenposten in Hilltop gezogen war.

»Bei dem Wetter wäre es schon schwer, dich überhaupt irgendwohin zu verfrachten«, sagte er.

»Gut, dass du einen Schneepflug an deinem Truck hast.« Er hatte auch einen Vierradantrieb, Geländereifen, einen Bullenfänger, eine Winde und genug Notvorräte dabei, um bei solchen Wetterlagen eine Woche oder länger durchzustehen. In dieser Gegend mussten Polizisten auf alles vorbereitet sein.

Er zog die Handschuhe aus und deutete auf sein Fahrzeug, das neben ihrem BMW parkte. »Ich hatte einen Schneepflug. Heute Mittag ist der Hydrauliklift kaputtgegangen. Eine Schaufel nützt mir nichts, wenn ich sie nicht absenken kann.«

Evelyn konnte sehen, dass er seinen Truck nicht ausgeschaltet hatte. Er hatte zwar die Frontscheinwerfer abgestellt, damit sie nicht in den Laden leuchteten, aber seine Scheibenwischer leisteten weiterhin ganze Arbeit und wischten im höchsten Gang, um mit den herumwirbelnden Schneemassen fertig zu werden.

Sie hätte ebenfalls ihren Motor laufenlassen sollen – und die Scheibenwischer auch, das wurde ihr jetzt klar. Sie hatte nicht an das Naheliegende gedacht, als sie kurz eingekehrt war, um einen Becher Kaffee zu trinken und ein Paket Müsli für den nächsten Morgen zu kaufen, weil sie noch zu sehr mit Anthony Garza und dem, was er verbrochen haben mochte, beschäftigt war. Doch das war es nicht allein. Sie war es einfach gewohnt, den Wagen auszuschalten und die Schüssel mitzunehmen. In Boston ließ man seinen Wagen nicht laufen, wenn man bei seiner Rückkehr noch ein Auto besitzen wollte.

»Das ist Pech«, sagte sie.

Wie sein Haar aussah, kümmerte ihn anscheinend nicht, denn er nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Er war selbstbewusst, vermutlich weil er wusste, dass er, ganz gleich, wie sein Haar saß, verdammt gut aussah. Vielleicht war ihm aber auch egal, was sie dachte, nachdem sie ihn so enttäuscht hatte.

»Für mich ist es gar nicht so ein großes Pech«, sagte er. »So komme ich wenigstens nach Hause, anstatt die ganze Nacht arbeiten zu müssen. Alle anderen haben Pech. Ohne einen Schneepflug kann ich nicht beim Schneeräumen helfen, und wenn Phil es alleine machen muss, heißt das wohl, dass er viel mehr Zeit dafür brauchen wird.« Er musterte sie ein paar Sekunden lang intensiv, so dass sie schon hoffte, er würde vielleicht etwas weicher werden und ihr vergeben. Aber das geschah nicht. »Am besten machst du dich auf den Heimweg, bevor die Straßen unpassierbar werden, falls Phil schon länger nicht in deiner Ecke unterwegs war. Das hat für ihn keine Priorität, weil nur du und sehr wenig andere Leute in der Gegend wohnen. Er wird zuerst die Straßen räumen, auf denen mehr Verkehr herrscht.«

Dann war es vielleicht schon zu spät.

Sie hätte ihre Hütte näher an den anderen bauen sollen. Als sie den Bauplatz aussuchte, lag noch kein Schnee. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, wie einsam es sein konnte, so weit entfernt von meisten anderen Einwohnern zu leben. Damals hatte sie noch niemanden gekannt und sich nicht vorstellen können, dass es einmal eine Rolle spielen würde. Für sie zählten zu jenem Zeitpunkt nur die Ruhe, die Aussicht und der Gedanke, dass es ganz erholsam sein konnte, die anderen Ärzte einmal nicht sehen zu müssen.

»Jawohl.« Evelyn hob ihren Becher zu einem Salut. »Ich wünsche ein schönes Wochenende.«

Amarok nickte und sah ihr zu, wie sie für das Müsli und ihren Kaffee zahlte. Sie spürte, wie sich seine Blicke in ihren Rücken bohrten, als sie den Kopf einzog und nach draußen ins Unwetter trat, und sie fühlte sich dabei so selbstbewusst wie neuerdings jedes Mal, wenn sie ihm zufällig über den Weg lief.

Sie trug Schneestiefel und einen dicken Wintermantel, aber ihre Mütze hatte sie im Büro liegenlassen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie es noch bedauern würde, nicht zurückgefahren zu sein und sie geholt zu haben, als sie sich hinters Steuer setzte, den Anlasserknopf drückte und nichts geschah.

»Komm schon! Du bist erst drei Jahre alt. Und ich habe wirklich genug für dich bezahlt«, beschwor sie ihren Wagen und versuchte es noch einmal.

Aber der Anlasser drehte nicht. Was war kaputt? Die Batterie? Die Lichtmaschine? Etwas anderes? Weshalb war ihr BMW am Hanover House so mühelos angesprungen, aber jetzt nicht mehr? So lange war sie doch gar nicht in dem Laden gewesen …

Sie fluchte, schlug aufs Lenkrad und lehnte sich zurück. Auf ihrer Windschutzscheibe lag so viel Schnee, dass sie, abgesehen vom schwachen Schein ihres Armaturenbretts, komplett im Dunkeln saß. Es war so kalt, selbst wenn man aus dem Wind heraus war. Kalt und dunkel. Hier war es immer so verdammt kalt und dunkel!

Jetzt atme tief durch. Beruhige dich und versuche es noch mal.

Evelyn tat es, aber dadurch wurde die Sache nicht besser. Jetzt fing sie wirklich an, sich Sorgen zu machen. Sie konnte ja nicht einfach den Automobilclub anrufen und im warmen Laden die Ankunft der Pannenhilfe abwarten. Hier draußen gab es keinen Automobilclub. Aber wenn sie es nicht bald schaffte, ihren Wagen in Gang zu bringen, würde sie nicht mehr nach Hause kommen – nicht bei so einem Schneesturm und nicht, wenn nur ein einziger Schneepflug im Einsatz war.

»Verdammt!« Sie musste in den Laden zurückgehen und Amarok um Hilfe bitten. Aber dazu hatte sie überhaupt keine Lust. Sie erinnerte sich nur zu gut an seine kaum verhüllte Missbilligung, als sie in die Stadt gezogen war, an seinen Widerstand gegen die Vollzugsanstalt, an seine Skepsis, was ihre Ziele oder ihren Wagen anbetraf – im Grunde gegen alles, was etwas mit ihr zu tun hatte. Er wollte nicht, dass sie einen Haufen Serienmörder in seine Heimatstadt brachte. Er hatte sie bekniet, sich fernzuhalten. Dann hatten sie angefangen, sich miteinander zu verabreden, und er war ihr ein Stück entgegengekommen. Aber das ging nur so lange gut, bis er mehr von ihr wollte, als sie ihm geben konnte, und alles auseinanderbrach.

Evelyn drückte die Augen zu, kniff sich in den Nasenrücken und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Dann wappnete sie sich, um die nächste Ladung eisigen Schnees abzuholen, öffnete die Tür – und hätte ihn fast damit erwischt. Der Sergeant war schon herausgekommen. Es sah aus, als hätte er gerade an ihre Windschutzscheibe klopfen wollen.

»Tut mir leid!« Sie musste schreien, um sich trotz des heulenden Windes verständlich zu machen. »Ich wollte dich nicht …«

»Was ist los?«, unterbrach Amarok sie und kam gleich auf den Punkt. Er wollte sich nicht länger als nötig draußen im Sturm aufhalten. Evelyn ging es genauso.

»Der Wagen springt nicht an.«

»Warum nicht?«

Sie hätte das Gefängnis nicht ohne ihre Mütze verlassen sollen. Aber als sie bemerkte, dass sie sie vergessen hatte, war sie zu faul, noch einmal durch den Kontrollposten zu laufen. Sie dachte, dass sie es schon überleben würde, einmal kurz zu ihrem Wagen zu laufen. Für diese Entscheidung musste sie jetzt büßen, so wie sie auch die Konsequenzen dafür tragen musste, ihren BMW behalten zu haben, anstatt ihn gegen einen Truck zu tauschen. »Freude am Fahren« galt nicht bei diesem Wetter. »Ich weiß auch nicht. Am Zentrum ist er noch gut angesprungen.«

»Lass mich mal versuchen.« Er scheuchte sie vom Fahrersitz, obwohl sie nicht einsah, was er anderes tun konnte als das, was sie selbst schon versucht hatte. Vielleicht wollte er nur hören, was passierte, wenn er auf den Anlasserknopf drückte …

Der Motor machte keinen Mucks, genau wie bei ihr.

»Geh in den Laden!«, brüllte er sie an und zog an dem Hebel, mit dem sich die Motorhaube öffnen ließ.

Ihre Handschuhe machten es ihr schwer, sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen, aber sie versuchte es. »Was kann man bei einem solchen Sturm überhaupt machen?«

»Ohne zusätzliches Licht? Wahrscheinlich nichts.«

»Also … was ist, wenn wir ihn nicht gestartet kriegen?«

»Dann fahre ich dich, und wir kümmern uns morgen darum.«

Falls sich der Sturm bis dahin überhaupt gelegt hatte. Vielleicht würde sie auf unbestimmte Zeit mit ihrer Katze Sigmund als einzigem Gesellschafter in ihrer Wohnung festsitzen.

Nur um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein, ging sie hinein und kaufte zusätzlich ein paar Kartons Cornflakes, Dosensuppen, Kekse, Cracker und einfach alles, was sie finden konnte, das auch nur annähernd genießbar aussah. Der Kassierer Garrett Boyle, ein mürrischer, alter Witwer, der im Hinterzimmer des Ladens lebte, zog die buschigen Augenbrauen hoch, als sie anfing, seine Regale leerzuräumen, aber ihre Essensvorräte aufzustocken gab ihr das Gefühl, für das Schlimmste gewappnet zu sein.

Amarok kam herein und klopfte sich den Schnee von den Stiefeln, als Garrett eben alles zusammenrechnete.

»Hat es was gebracht?«, fragte sie.

Amarok verzog das Gesicht. »Nein, und ich kann dir auch nicht sagen, was kaputt ist. Allerdings bin ich kein guter Automechaniker, und an einem BMW habe ich noch nie etwas gemacht. Davon gibt’s nicht viele in Hilltop.«

Sie war sich ziemlich sicher, dass nur sie und ein paar der anderen Ärzte Luxuswagen fuhren. Aber sie tat es nicht, um damit anzugeben. Ihre kleine Limousine gehörte nicht einmal zu den teureren Modellen. Anstatt ihn einzutauschen, hatte sie ihn behalten, als könnte sie sich selbst etwas damit beweisen. Hierherzuziehen bedeutete, dass sie alles, was sie sich in Boston aufgebaut hatte, hatte zurücklassen müssen. Auf ihren Wagen wollte sie nicht auch noch verzichten. Diese Vorstellung hatte etwas Endgültiges, so als ob sie nie wieder aus Alaska herauskäme, wenn sie es täte.

»Hoffentlich finde ich jemanden, der ihn reparieren kann«, sagte sie.

»Das wirst du. Morgen. Und jetzt komm. Ich fahr dich nach Hause.« Sein Blick fiel auf die Lebensmittel, die sie im Arm trug, und dann auf die übrigen, die auf dem Tresen aufgestapelt lagen. »Erzähl mir nicht, dass du zu Hause nichts zu essen hast.«

»Von einem Jahresvorrat Katzenfutter abgesehen, habe ich nichts zu essen zu Haus«, antwortete sie. »Du weißt ja, dass ich nur selten da bin.«

Er schüttelte den Kopf. »Du gehörst nicht nach Alaska.«

»Wie bitte?« Sie blinzelte zu ihm hoch, bis er den Blick abwandte.

»Nimm’s mir nicht übel.« Er hob einen Karton aus ihrer Einkaufstüte hoch. »Wenigstens hast du Donuts gekauft. Die sind im Notfall wirklich unerlässlich.«

Er versuchte seine erste Bemerkung zu überspielen, damit sie nicht auf seinem »Du gehörst nicht nach Alaska« herumritt.

»Es ist immer gut, welche im Haus zu haben«, erwiderte sie.

»Da muss ich dir recht geben. Auf geht’s.« Amarok schnappte sich die vier Tüten, die sie nicht mehr tragen konnte, und schleppte sie zu seinem Truck. Sie folgte in seinem Windschatten, aber ihr Gesicht und die Ohren waren trotzdem schon taub, bevor sie sich hinsetzen und die Tür schließen konnten. Zum Glück hatte er nicht nur den Motor und die Scheibenwischer, sondern auch die Heizung laufen lassen.

»Warum lebst du eigentlich in diesem gottverlassenen Kaff hier?«, fragte sie.

»Ich bin hier geboren«, erwiderte er, als ob sie das nicht schon längst wüsste. Dann schaltete er sein Funkgerät ein. »Phil, hier ist Amarok. Hören Sie mich?«

»Ich kann Sie hören, Sergeant«, rauschte die Antwort aus dem Lautsprecher.

»Wie klappt’s mit der Schneeräumung?«

»Nicht so … schaff’s nicht … ganz allein.«

»Machen Sie so viel, wie Sie schaffen.«

»… das wird … lange Nacht.«

»Hören Sie, Phil, wann sind Sie zum letzten Mal an Dr. Talbots Haus vorbeigekommen?«

»Doktor wer?«

Die Funkverbindung rauschte immer stärker, wodurch es zusehends schwieriger wurde, ihn zu verstehen. »Talbot. Die Frau, die Hanover House leitet.«

Nichts. Keine Antwort.

»Talbot. Können Sie mich hören?«

»Ja, Sarge. Ich habe es nicht … mehr als ich schaffen kann … Aber ich habe die Straße fertig gekriegt, die auf den Hügel führt, auf dem die ganzen anderen Seelenklempner wohnen, falls Ihnen das etwas nützt.«

Das tat es nicht, aber darüber schwieg sich Amarok aus. »Gibt es eine Chance, dass Sie es noch schaffen, in ihre Richtung zu fahren?«

»Nur wenn Sie darauf bestehen … es sind Leute liegengeblieben … in diesem Teil der Stadt.«

»Nein. Das würde die Lage nur verschlechtern. Danke.«

»… einfach weitermachen?«

»Positiv. Und over.«

Evelyn sah Amarok an, als er auflegte. »Kein Schneepflug?«

»Kein Schneepflug«, wiederholte er.

»Was heißt das?«

»Das heißt, dass es verrückt wäre, wenn wir jetzt zu dir fahren und dabei riskieren, in den Schneewehen steckenzubleiben, die inzwischen locker einen bis eineinhalb Meter hoch sein können.«

Sie klammerte sich noch fester an ihre Handtasche. »Glaubst du wirklich, dass wir nicht durchkommen? Auch nicht mit Schneeketten?«

»Ich lasse es lieber nicht darauf ankommen. Ich will nicht riskieren, die Nacht über festzusitzen – du etwa?«