Ich träume dein Leben und lebe deinen Traum - Marcel Richtsteiger - E-Book
NEUHEIT

Ich träume dein Leben und lebe deinen Traum E-Book

Marcel Richtsteiger

0,0

Beschreibung

Zwei Männer - zwei Welten - eine rätselhafte Verbindung. Markus Meier, ein deutscher Lehrer, geplagt von untragbarer Schuld, versucht seinem Leben ein Ende zu setzen. Im selben Moment schwebt Dmitri Ivanov, der privilegierte Sohn eines russischen Oligarchen, nach einer Überdosis zwischen Leben und Tod. Was als unerklärliche Traumverbindung zwischen zwei Fremden beginnt, wird bald zu einem gefährlichen Geschenk: Jeder erlebt im Schlaf das Leben des anderen - und gemeinsam können sie sogar die Zukunft sehen. Doch was passiert, wenn drei internationale Geheimdienste hinter einem her sind? Wenn der einzige Mann, der dir helfen kann, gleichzeitig dein Verräter sein könnte? Wenn jeder Traum eine tödliche Gefahr oder die rettende Warnung enthält? In einer atemlosen Flucht quer durch Europa müssen Markus und Dmitri, zusammen mit Angehörigen, die sie zu schützen versuchen, eine erschreckende Wahrheit erkennen: In einer Welt aus Verrat, Gewalt und Dunkelheit kann manchmal nur derjenige zur Rettung werden, den wir als Monster bezeichnen. Ein packender Thriller über Schuld und Erlösung, über die Macht der Verbindung zwischen Menschen - und darüber, was es bedeutet, eine Familie zu finden, wo man sie am wenigsten erwartet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 491

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Das Band

Die Flucht

Doppeltes Spiel

Vertrauensbruch

Der Gegenangriff

Die Monster

Familie

Das Band

1

An diesem Tag starben zwei Menschen.

Die Härte des Linoleumbodens in der Umkleidekabine hatte sich in Markus' Knien festgesetzt, als er sich neben dem weinenden Jungen niederkniete. Der Raum roch nach Schweiß und billigem Deodorant, ein Geruch, der nach all den Jahren an der Schule so vertraut war wie der Klang der Schulglocke. Die anderen Jungen standen im Halbkreis, ihre Gesichter eine Mischung aus peinlich berührtem Schweigen und unterdrücktem Gelächter.

„Ihr anderen geht jetzt“, sagte Markus mit einer Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte – zu ruhig, zu kontrolliert angesichts des zitternden Schülers vor ihm.

Die Jungen murmelten leise und schlurften hinaus. Zurück blieb nur Lukas, zusammengekauert auf dem kalten Boden, sein dünner Körper vom Schluchzen geschüttelt. Sein nackter Unterleib war noch entblößt, die Hose um die Knöchel gewunden wie ein gefallenes Segel.

„Lukas“, begann Markus sanft, während er nach dem Handtuch griff, das neben dem Jungen lag. „Was ist passiert?“

Der Sechzehnjährige blickte nicht auf, sein Gesicht hinter zerzausten, dunkelblonden Haaren verborgen. „Sie haben gesagt, ich… ich sei kein richtiger Mann“, flüsterte er, die Worte kaum hörbar zwischen erstickten Atemzügen. „Haben mich festgehalten… alle haben gelacht…“

Und dann sah Markus es in Lukas’ Schritt – den Grund für die Hänseleien. Es war nicht nur klein. Es war erschreckend winzig, so unterentwickelt, dass es selbst bei einem Kleinkind aufgefallen wäre. Ein Anblick, der so unerwartet und fast absurd wirkte, dass Markus, trotz seiner Rolle als Lehrer und Beschützer, in diesem winzigen, verhängnisvollen Augenblick der Überraschung ein kurzes, unwillkürliches Lachen entwich. Es war kein boshaftes Lachen, eher ein Ausdruck fassungsloser Verblüffung, eine unbedachte Reaktion auf etwas, das außerhalb jeder Norm lag. Eine Sekunde, nicht länger. Sofort biss er sich auf die Lippe, doch es war zu spät.

Lukas' Kopf schnellte hoch, seine geröteten Augen trafen Markus' Blick mit einer Intensität, die den Lehrer physisch zurückweichen ließ. In diesem Blick lag eine Welt aus Schmerz, Verrat und etwas viel Schlimmeres – Resignation.

„Nicht Sie auch noch“, hauchte Lukas, die Stimme gebrochen.

Der Rest des Tages verlief wie im Nebel. Markus unterrichtete mechanisch, seine Gedanken immer wieder zu diesem Moment in der Umkleide zurückkehrend. Er würde mit Lukas sprechen, sich entschuldigen, erklären, dass es nur ein unbedachter Reflex gewesen war. Nach dem Unterricht würde er ihn abfangen, vielleicht zum Schulpsychologen begleiten.

Doch dazu kam es nicht mehr.

Um 16:23 Uhr – Markus würde diese Zahl für den Rest seines Lebens wie eingebrannt in seinem Gedächtnis tragen – hallte eine Durchsage durch das Schulgebäude: Alle Schüler sollten in den Klassenzimmern bleiben. Ein „Vorfall“ am S-Bahnhof. Markus wusste es sofort, noch bevor die Polizei eine Stunde später vor seiner Klasse stand und nach Lukas' engsten Freunden fragte.

In dieser Nacht schlief Markus nicht. Er starrte an die Zimmerdecke, während Anna neben ihm atmete, ahnungslos, dass ihr Mann gerade in Stücke zerbrach. Am nächsten Morgen stand Lukas' Tod in der Lokalzeitung. Ein tragischer Unfall, schrieben sie. Markus wusste es besser.

Die Wochen danach verschwammen ineinander. Markus funktionierte, unterrichtete, lächelte sogar gelegentlich. Doch innerlich hatte die Kälte begonnen, sich auszubreiten. Zuerst war es nur eine Taubheit, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Dann kamen die Schuldgefühle – nachts, wenn das Haus still war, krochen sie aus den Schatten, flüsterten ihm zu, dass er Lukas getötet hatte. Mit einem Lachen. Einem einzigen, verdammten Lachen.

Anna bemerkte die Veränderung zuerst. Als Psychologin erkannte sie die Anzeichen – den schwindenden Appetit, die plötzlichen Stimmungsschwankungen, die wachsende Distanz in seinen Augen. Sie versuchte, zu ihm durchzudringen, bot ihre professionelle Hilfe an, dann ihre Liebe, schließlich ihre Verzweiflung. Nichts half. Markus zog sich immer weiter zurück, bis er nur noch eine Hülle des Mannes war, den sie geheiratet hatte.

„Du musst mit jemandem reden“, sagte sie eines Abends, ihre Hand auf seinem Arm eine Brücke, die er nicht überqueren konnte. „Wenn nicht mit mir, dann mit einem Kollegen. Markus, bitte.“

„Es geht mir gut“, antwortete er automatisch, die Worte so ausgehöhlt wie er selbst. „Ich bin nur müde.“

Er begann, die Nächte zu fürchten. In seinen Träumen stand Lukas am Bahnsteig, wandte sich zu ihm um, die Augen leer, fragend: „Warum haben Sie gelacht?“ Und dann der Zug, das Kreischen der Bremsen, das dumpfe Geräusch, das Markus aus dem Schlaf hochfahren ließ, schweißgebadet und nach Luft ringend.

Depressionen, diagnostizierte Anna schließlich, als sie ihn weinend im Badezimmer fand, das leere Blisterpack einer Schlaftablettenschachtel neben ihm. Nicht genug, um sich zu schaden – damals noch nicht –, aber genug für einen Hilferuf, den er nicht aussprechen konnte.

Sie versuchte alles. Brachte ihn zu Kollegen, fand Therapeuten, recherchierte Behandlungsmethoden. Nichts funktionierte. Die Medikamente ließen ihn benommen fühlen, die Gespräche oberflächlich. Wie sollte er erklären, dass er das Leben eines Jungen auf dem Gewissen hatte? Dass er jedes Recht auf Heilung verwirkt hatte?

Eines Nachts fand er Anna über Studien gebeugt, die Brille auf der Nasenspitze, das Gesicht verkrampft vor Konzentration. Sie versuchte noch immer, ihn zu retten. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er hatte nicht nur Lukas im Stich gelassen – er war dabei, auch Anna zu zerstören. Die Frau, die er liebte, die brillante Psychologin, deren Karriere voller Erfolgsgeschichten war, würde an ihm, ihrem eigenen Ehemann, scheitern.

In dieser Nacht traf Markus seine Entscheidung. Er würde Anna befreien – von ihm, von seiner Last, von der Verantwortung für sein Versagen. Er begann zu planen, methodisch, wie er alles in seinem Leben tat. Er recherchierte Methoden, Dosierungen, Zeitpläne. Wenn er etwas tat, dann richtig.

Am Morgen des geplanten Tages küsste er Anna zum Abschied länger als sonst, atmete ihren Duft ein, prägte sich die Weichheit ihrer Haut ein. Sie lächelte überrascht, vielleicht hoffnungsvoll, eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen.

„Ich liebe dich“, sagte er, zum ersten Mal seit Monaten und meinte es auch so.

„Ich liebe dich auch“, erwiderte sie, die Worte zugleich Frage und Versprechen.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, blieb Markus für einen Moment stehen. Das ferne Rumpeln einer S-Bahn drang durch die geschlossenen Fenster seines Einfamilienhauses am Standrand Münchens – ein Klang, den er seit Monaten zu fürchten gelernt hatte, ihn aber heute seltsam unberührt ließ. Er holte tief Luft und ging ins Schlafzimmer. Es war Zeit, seinen Plan umzusetzen.

2

Das Schlafzimmer war ein Musterbeispiel für Ordnung, fast schon zwanghaft in seiner Perfektion. Die weißen Laken des Bettes waren straff gespannt, die Ecken mit einer Präzision gefaltet, die an militärische Disziplin erinnerte. Auf dem Nachttisch thronte eine schlichte Lampe, deren schwaches, bernsteinfarbenes Licht gerade genug Helligkeit spendete, um das Etikett der Schlaftablettenflasche lesbar zu machen: „Zolpidem, 10 mg, 30 Tabletten“. Daneben lag ein Blatt Papier, bedeckt mit Markus' akkurater Handschrift – eine Tabelle mit Dosierungen, Zeitangaben und Berechnungen. Er hatte die tödliche Dosis exakt ermittelt: 300 mg, das entsprach exakt der gesamten Flasche. Um sicherzugehen, hatte er die Zahl dreimal überprüft, die Formel in seinem Kopf immer wieder durchgerechnet, bis kein Zweifel mehr blieb.

Der Wecker zeigte 14:15 Uhr. Anna war beim Friseur, ein Termin, den sie seit Wochen im Kalender eingetragen hatte. Markus wusste genau, wie ihr Tag ablaufen würde: pünktlich um 14:30 Uhr würde sie dort ankommen, und frühestens gegen 16:00 Uhr würde sie zurückkehren. Er hatte sogar den Wetterbericht kontrolliert – kein Regen, kein Wind, nichts, was sie früher nach Hause bringen könnte. Selbst die Möglichkeit, dass der Friseur schneller fertig sein könnte, hatte er bedacht und verworfen; Anna liebte es, nach solchen Terminen noch einen Kaffee zu trinken. Alles war unter Kontrolle, jeder Faktor berücksichtigt.

Markus saß auf der Bettkante, den Rücken kerzengerade, die Hände ruhig im Schoß gefaltet. Seine Augen wanderten kurz zu dem Schulheft, das er in der untersten Schublade seiner Kommode versteckt hatte – Lukas' letzter Aufsatz, den er nie zurückgegeben hatte. „Meine Zukunft“ stand als Überschrift darauf, ein bitterer Hohn für einen Jungen, der keine mehr haben würde. Markus schluckte schwer und zwang seinen Blick zurück zur Flasche.

Für einen winzigen Moment durchzuckte ihn ein Gedanke: Was, wenn ich einfach aufhöre? Doch er schob den Impuls beiseite, schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, das hier war kein spontaner Entschluss. Es war das Ergebnis von Wochen der Planung, von schlaflosen Nächten, in denen er jedes Detail durchdacht hatte – die Methode, den Zeitpunkt, die Abwesenheit von Zeugen. Er hatte sogar überlegt, ob er einen Brief schreiben sollte, aber die Idee verworfen; Worte würden nichts erklären können, was Anna nicht schon ahnte. Der Nachhall von Lukas' Aufprall auf die Gleise, dieses dumpfe Geräusch, das ihn jede Nacht aus dem Schlaf riss, konnte durch keine Worte gemildert werden.

Mit bedächtigen, fast rituellen Bewegungen griff er nach der Flasche und schüttelte die Tabletten in seine Hand. Er zählte sie einzeln ab – eine, zwei, drei – bis dreißig kleine, weiße Pillen in einem perfekten Kreis auf dem Nachttisch lagen. Er ordnete sie in fünf Reihen zu je sechs Stück, wie ein Schachbrett, das nur er verstand. Jede Tablette war ein weiterer Schritt in die Dunkelheit, ein weiteres Glied in der Kette, die ihn von diesem Leben lösen würde. Er hatte die Reihen zweimal kontrolliert, um sicherzugehen, dass keine fehlte.

Neben dem Bett stand eine Glaskaraffe mit Wasser, daneben ein makellos poliertes Glas. Markus goss das Wasser ein, maß es mit einem Blick ab – genau bis zur Hälfte, 100 Milliliter, genug, um die Tabletten effizient hinunterzuspülen, aber nicht so viel, dass es den Magen überforderte. Selbst diese Kleinigkeit hatte er bedacht; er wollte keinen Würgereflex riskieren, der alles zunichtemachen könnte.

Sein Blick schweifte kurz durch den Raum. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, das Tageslicht zu einem dünnen, grauen Streifen reduziert, der sich kaum gegen die Dunkelheit behauptete. Der Teppich schluckte jedes Geräusch, und die Luft fühlte sich schwer an, als würde sie die Stille des Moments bewahren wollen. Auf der Kommode stand ein Foto: er und Anna, lachend an ihrem Hochzeitstag vor fünfzehn Jahren. Ihre Augen funkelten vor Freude, doch jetzt wirkte das Bild wie ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit. Ein Stich durchfuhr sein Herz, und er wandte den Blick ab. Sie wird es überleben, dachte er. Sie ist stark. Stärker als ich. Vielleicht sogar erleichtert, nicht mehr mit einem Mann leben zu müssen, dessen Lachen seit Monaten verstummt war.

Er begann, die Tabletten zu nehmen – eine nach der anderen, jede mit einem kleinen, präzisen Schluck Wasser. Die Stille wurde nur vom leisen Ticken des Weckers und dem sanften Klirren des Glases unterbrochen, wenn er es zurück auf den Tisch stellte. Es war ein langsamer, methodischer Prozess; er hatte sich Zeit gelassen, wollte sicherstellen, dass jede Tablette ihre Wirkung entfalten konnte. Mit jeder Pille fühlte sich sein Körper schwerer an, als würde die Entscheidung selbst ihn nach unten ziehen.

Als die letzte Tablette geschluckt war, legte er sich zurück aufs Bett. Er rückte das Kissen zurecht, bis es perfekt unter seinem Kopf saß, und faltete die Hände über der Brust, wie ein König, der sich auf seine letzte Reise vorbereitet. Er schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig. Es ist fast vorbei, dachte er. Nur noch ein paar Minuten.

Allmählich löste sich die Welt auf. Das Ticken des Weckers wurde zu einem fernen Echo, das Zimmer verschwamm in einem grauen Nebel, und die Dunkelheit legte sich wie eine Decke über ihn. Sein letzter Gedanke galt nicht Anna, wie er erwartet hatte, sondern Lukas – dem Jungen mit dem schiefen Lächeln und den zu großen Ohren, der zu sensibel für diese Welt gewesen war. Vielleicht, so dachte Markus in seinem letzten bewussten Moment, würde er ihm jetzt begegnen können und um Vergebung bitten.

Er spürte nicht mehr, wie sein Atem flacher wurde, wie sein Herzschlag sich verlangsamte, ein gleichmäßiger, träger Rhythmus, der mit jedem Schlag schwächer wurde. Seine Gedanken zerfielen zu Fragmenten, treibend wie Eisschollen auf einem dunklen Ozean. Die Kälte kroch von seinen Fingerspitzen, seinen Zehen zum Zentrum seines Körpers. Ein seltsames Gefühl der Schwerelosigkeit überkam ihn, als würde er an der Schwelle zu einem tiefen Abgrund balancieren.

In dieser Zwischenwelt, weder ganz bewusst noch vollständig in der Dunkelheit, erlebte er eine plötzliche, überraschende Klarheit. Er sah sein Leben wie einen Film vor sich ablaufen – nicht chronologisch, sondern in Bildern intensiver Emotionen. Anna an ihrem ersten Date, ihr Lachen über seinen unbeholfenen Witz. Die Geburt seiner Nichte, dieses winzige Leben in seinen Händen. Und immer wieder Lukas, dessen Gesicht sich mit anderen vermischte, verschwamm, zu einer neuen Person wurde – einem jungen Mann mit dunklen Haaren und intensiv blauen Augen, der ihn aus einem fremden Traum anzustarren schien.

Die Medikamente nahmen ihm jetzt jede Kontrolle, führten ihn tiefer in die Dunkelheit. Sein Atem kam nur noch in flachen, kaum wahrnehmbaren Zügen. Das Bewusstsein löste sich auf, wie Tinte in Wasser, bis nur noch ein einziger, klarer Gedanke übrig blieb: Es ist vollbracht. Und dann nichts mehr – nur die vollkommene Stille einer Welt, die keinen Markus Meier mehr kannte.

3

Die Luft in Dmitri Ivanovs luxuriöser Penthouse-Wohnung im 27. Stock eines der exklusivsten Wohntürme Moskaus war dick und schwer, durchdrungen von einem beißenden Gemisch aus Schweiß, teurem französischen Parfüm, Alkohol und chemischen Substanzen, deren Spuren auf den glänzenden Glasoberflächen der Designermöbel schimmerten. Die bodentiefen Fenster, die normalerweise einen atemberaubenden Blick auf die nächtliche Skyline der Stadt boten, waren mit schweren Samtvorhängen in tiefem Burgunderrot verhängt, um die Außenwelt auszuschließen und einen Kokon der Ausschweifung zu schaffen.

Überall lagen die Spuren einer exzessiven Nacht: kristallene Champagnerflaschen im Wert von mehreren tausend Rubel rollten achtlos über den makellos weißen Marmorboden; halb aufgerauchte Zigaretten der teuersten Marken quollen aus Aschenbechern aus böhmischem Kristall; Plastiktütchen mit feinem, weißem Pulver waren neben Kreditkarten und zusammengerollten Geldscheinen auf den Glastischen verstreut. Die Wohnung, die der junge Oligarchensohn von seinem Vater zum 20. Geburtstag geschenkt bekommen hatte – eine Geste, die mehr Kontrolle als Großzügigkeit beinhaltete – war ein architektonisch und innenarchitektonisch perfekt gestalteter Raum, dessen minimalistische Eleganz jetzt unter den Spuren hedonistischer Dekadenz verschwand.

Die Bässe der Musik dröhnten unerbittlich aus einem unsichtbaren High-End-Soundsystem, das in die Wände integriert war, obwohl die Party längst in eine träge, chaotische Phase übergegangen war. Ein DJ, den Dmitri aus einem der angesagtesten Clubs Moskaus für die private Feier engagiert hatte, stand noch immer hinter seinem Pult, doch seine Bewegungen waren mechanisch geworden, seine Augen glasig von Alkohol und Stimulanzien. Einige der Gäste – Kinder der russischen Elite, Sprösslinge von Oligarchen und Politikern, vermischt mit aufstrebenden Models und Künstlern, die sich Dmitri als Accessoires die nen ließen – tanzten noch schwerfällig im Wohnbereich, wo die Möbel zur Seite geschoben worden waren. Andere lagen halb bewusstlos auf den weißen Ledersofas, deren makellose Oberflächen nun mit verschütteten Getränken und Ascheflecken übersät waren, oder direkt auf dem Boden, vergessen in Ecken des weitläufigen Raumes.

Mitten im Chaos lag Dmitri auf einem fleckigen weißen Ledersofa. Sein schwarzes Haar, das normalerweise perfekt gestylt war, klebte schweißnass an seiner Stirn, seine Haut war blass, fast durchscheinend, mit einem ungesunden gräulichen Unterton, der im schummrigen Licht der gedimmten Designer-Wandleuchten noch verstärkt wurde. Die teure Designerjacke von Brioni, die er noch zu Beginn des Abends getragen hatte – ein Geschenk seines Vaters, das er mit gleichgültiger Nonchalance trug – lag zerknittert unter ihm, ein weiteres Opfer seiner selbstzerstörerischen Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Dingen, die für ihn ohne jede Anstrengung ersetzbar waren.

Plötzlich riss er die Augen auf, seine tiefblauen Iris wirkten im Kontrast zu seinen geweiteten, schwarzen Pupillen wie schmale Ringe um einen Abgrund. Sein Körper bäumte sich auf, die Muskeln angespannt wie Drahtseile, die Adern an seinem Hals traten hervor, und ein keuchender Atemzug entfuhr ihm, als hätte ihn etwas brutal ins Leben zurückgerissen. Sein Herz hämmerte wild gegen seinen Brustkorb, jeder Schlag ein Echo des Adrenalins, das durch seine Adern schoss und seinen Körper in einen Zustand panischer Alarmbereitschaft versetzte.

„Scheiße, Dima, du bist wieder da!“, rief Sasha, dessen schlanke Finger noch immer um eine leere Spritze zitterten, die Knöchel weiß vor Anspannung. Seine dunklen, leicht gewellten Haare fielen ihm in die Stirn, auf der Schweißperlen wie kleine Diamanten im gedämpften Licht glänzten. Anders als die anderen Partygäste trug er schlichte, aber geschmackvolle Kleidung – einen dunkelgrauen Pullover über einem weißen Hemd, dunkle Jeans – die seine athletische Figur betonte, ohne die ostentative Markenversessenheit der russischen Oberschicht zu teilen. „Wir dachten, du bist weg, Mann. Weg für immer.“

Die Sorge in Sashas Stimme war echt, seine braunen Augen weiteten sich in schockierter Erleichterung. Als einziger in dem Chaos der Party hatte er sofort gehandelt, als Dmitri zusammengebrochen war – mit der Entschlossenheit und Klarheit, die ihn zu einem Anker in Dmitris chaotischem Leben machten. Während die anderen Partygäste entweder zu betrunken waren, um zu helfen, oder aus Angst vor Konsequenzen die Flucht ergriffen hatten, war Sasha geblieben und hatte das getan, was nötig war, um Dmitris Leben zu retten.

Dmitri blinzelte mehrmals, sein Blick verschwommen, die Welt um ihn herum ein wirres Kaleidoskop aus fließenden Lichtern, verzerrten Gesichtern und dröhnenden Geräuschen. „Was… was ist passiert?“, krächzte er, seine Kehle trocken und rau, als hätte er tagelang in der Wüste verbracht. Der Geschmack von Metall lag auf seiner Zunge, und jeder Atemzug fühlte sich an wie ein Kampf.

„Du hast zu viel genommen“, sagte Sasha, seine Stimme bebte unter der Kontrolle, die er sich aufzwingen versuchte, um ruhig zu erscheinen. „Viel zu viel. Du hast das weiße Pulver wie Zucker eingenommen, und dann noch diese Pillen…“ Seine Stimme brach kurz, bevor er fortfuhr. „Du bist einfach umgekippt, mitten im Satz, und dann hast du aufgehört zu atmen.“ Er stockte erneut, seine Augen weiteten sich, als er die Szene noch einmal durchlebte, die Panik frisch in seinem Gedächtnis. „Ich habe den Notfallkoffer geholt, den wir nach dem letzten Mal besorgt haben. Wir haben dir Adrenalin direkt ins Herz gejagt. Hat funktioniert, Gott sei Dank.“

In seiner Stimme schwang ein unausgesprochener Vorwurf mit – nicht das erste Mal, dass Sasha ihn aus einer selbstverschuldeten Krise retten musste, nicht das erste Mal, dass Dmitris Rücksichtslosigkeit ihn an den Rand des Abgrunds gebracht hatte. Und doch blieb Sasha, getrieben von einer Liebe, die so tief war, dass sie selbst Dmitris selbstzerstörerisches Verhalten ertrug.

Dmitri schloss die Augen, eine salzige Träne löste sich und lief über seine Wange, hinterließ eine feuchte Spur im Schweiß und Schmutz. Eine Erinnerung blitzte auf, intensiv und überwältigend real: ein stechender Schmerz in seiner Brust, als würde sein Herz von innen aufgerissen, das Gefühl, als würde seine Seele aus seinem Körper gerissen und in ein schwarzes Nichts gesogen, und dann – totale Schwärze, ein Moment vollkommener Auslöschung. Doch da war mehr. Ein Traum – oder etwas Tieferes, Realeres. Er war nicht nur ein Beobachter in einer Vision gewesen, sondern ein älterer Mann in einem fremden, sterilen Schlafzimmer mit hellgrauen Wänden und schweren, geschlossenen Vorhängen. Er spürte die Kälte der Tabletten in seiner Hand, die glatte Oberfläche der kleinen, weißen Pillen gegen seine Handfläche, schluckte sie mit kalter Entschlossenheit hinunter, fühlte die Schwere in seinen Gliedern und das langsame Verblassen der Welt. Er war dieser Mann, der sich das Leben nehmen wollte, getrieben von einer Verzweiflung so tief und absolut, dass sie Dmitris eigene existenzielle Leere in den Schatten stellte.

Dmitri riss die Augen auf, sein Atem stockte in seiner Kehle. „Ich… ich war er“, murmelte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Ich habe die Tabletten genommen. Ich wollte sterben. Ich war in seinem Körper, in seinen Gedanken.“ Die Worte kamen abgehackt, verworren, wie Fragmente aus einem fremden Leben, das er dennoch mit jeder Faser seines Wesens als authentisch erkannte.

Sasha runzelte die Stirn, seine Lippen verzogen sich besorgt. Er kniete sich neben das Sofa, seinen Arm schützend über Dmitris Brust gelegt. „Was redest du da, Dima? Das war nur ein Traum, ein Hirngespinst. Zu viel Chemie im Kopf. Eine Halluzination von dem Zeug, das du genommen hast.“ Seine Worte klangen rational, beruhigend, aber in seinen Augen lag ein Funke der Unsicherheit, als spürte er, dass in Dmitris Erlebnis etwas Unerklärbares lag.

„Nein“, widersprach Dmitri, seine Stimme zitterte mit einer Überzeugung, die im starken Kontrast zu seiner körperlichen Schwäche stand. Die sorgfältig kultivierte Maske des selbstsicheren, arroganten Partygängers, des unnahbaren Sohnes eines mächtigen Mannes, war komplett verschwunden, zurückgeblieben war nur rohe, ungefilterte Verletzlichkeit. „Es war echt. Ich war dieser Mann. Ich habe seinen Selbstmord durchlebt, als wäre es mein eigener.“ Die Stille des Zimmers, das kühle Glas Wasser neben den Tabletten, die tiefe Verzweiflung des Fremden – alles fühlte sich so real an, so unausweichlich authentisch. Er sah noch immer das Gesicht im Spiegel vor sich: ein älterer Mann mit grauen Schläfen und müden, schmerzerfüllten Augen. Es war nicht er, Dmitri Ivanov, aber in diesem Moment verschmolz sein Bewusstsein mit dem dieses Fremden, dieser befremdlichen Verbindung, die alle Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden schien.

Sasha legte seine Hand auf Dmitris Schulter, eine feste, verankernde Berührung, die ihn zurück in die Gegenwart holte. Seine Bewegung war ruhig, kontrolliert – ein starker Kontrast zu dem Chaos um sie herum, zu den halb bewusstlosen Körpern und dem beständigen Dröhnen der Musik, die niemand abgestellt hatte. „Dima, du musst dich ausruhen. Du bist gerade fast gestorben. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen, verstehst du das? Für fast zwei Minuten hattest du keinen Puls.“ Eine Pause, in der Schrecken und Erleichterung sich in seinem Gesicht mischten. „Lass uns hier rausgehen, weg von diesem Wahnsinn. Du brauchst Ruhe, und ich… ich muss nachdenken.“

Dmitri nickte schwerfällig, sein Körper fühlte sich an wie Blei, jede Bewegung war eine herkulische Anstrengung. Sasha half ihm auf, stützte ihn mit seinem Arm um Dmitris Taille. Sie stolperten durch den weitläufigen Raum, vorbei an den weißen Ledersofas und den niedrigen Glastischen, vorbei an tanzenden Schatten und betrunkenen Gästen, die sie kaum beachteten oder bewusst nicht sehen wollten, was geschehen war. Die Party tobte weiter, eine Symphonie der Dekadenz, in der Dmitris Nahtoderfahrung nur eine weitere Anekdote im endlosen Strom von Exzessen war.

Sie fanden ein ruhiges Gästezimmer am Ende des langen Flurs, eines von drei Schlafzimmern in der weitläufigen Wohnung, die Dmitri kaum nutzte. Der Raum war unberührt vom Chaos, mit einem breiten Bett mit frischen, unberührten Laken, minimalistischen Möbeln in Weiß und Chrom und einem weiteren Panoramafenster, dessen Vorhänge nicht zugezogen waren und den Blick auf die Lichter Moskaus freigaben, die wie ein Meer aus elektronischen Sternen unter ihnen glitzerten. Sasha schloss die Tür, und die Musik wurde zu einem dumpfen Pochen, eine entfernte Erinnerung an die Welt, die sie zurückgelassen hatten.

Dmitri ließ sich aufs Bett fallen, seine Hände zitterten unkontrolliert, und er vergrub das Gesicht in den Händen, als könnte er sich vor der Realität dessen verstecken, was er erlebt hatte. „Ich kann nicht glauben, was passiert ist“, flüsterte er, seine Stimme brüchig. „Ich war tot, Sasha. Ich war weg.“

Sasha setzte sich neben ihn, legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn in eine enge Umarmung. Seine Berührung war sanft, aber fest, ein physischer Anker in Dmitris aufgewühlter Welt. „Aber du bist zurück, Dima. Du bist hier, bei mir.“ Seine Stimme war sanft, fast zärtlich, und für einen Moment vergaß Dmitri die Gefahr, die über ihnen schwebte – die ständige Drohung seines Vaters, die ihre Liebe zu einem gefährlichen Geheimnis machte, das sie vor der Welt verbergen mussten.

Dmitri hob den Kopf, sah Sasha in die Augen, suchte in seinem Blick nach Halt und Verständnis. „Ich habe Angst, Sasha. Angst vor dem, was ich gesehen habe. Diese Verbindung zu diesem fremden Mann, diese… Überschneidung unserer Leben. Und Angst vor dem, was mein Vater tun könnte, wenn er von uns erfährt.“

Sasha drückte ihn fester, ein stilles Versprechen von Schutz und Beständigkeit. „Er wird es nicht erfahren. Wir sind vorsichtig. Wir müssen es sein.“ Seine Stimme klang ruhig, aber in seinen Augen lag ein Schatten – die Erkenntnis, dass ihre Vorsicht vielleicht nicht genug sein würde, dass die Macht von Dmitris Vater zu weit reichte, um sich ihr auf Dauer zu entziehen.

Dmitri nickte, doch die Angst nagte an ihm, eine ständige, nagende Präsenz. Sein Vater, Mikhail Ivanov, war ein mächtiger Oligarch mit Verbindungen, die bis in die höchsten Kreise der politischen Elite reichten. Ein Mann, der seinen Reichtum in den chaotischen 90er Jahren aufgebaut hatte, mit Methoden, über die niemand zu sprechen wagte. Er duldete keine Schwäche, keine Abweichung von dem Weg, den er für seinen einzigen Sohn vorgesehen hatte, schon gar nicht einen schwulen Sohn, der seine sorgfältig konstruierten Pläne für Firmennachfolge und gesellschaftliches Ansehen durchkreuzen könnte. Er hatte Dmitri angeschrien, ihn geschlagen, ihm gedroht: „Wenn du nicht zur Besinnung kommst, bist du tot für mich – oder schlimmer.“ Es war keine leere Drohung – Dmitri hatte die kalte Entschlossenheit in den Augen seines Vaters gesehen, den berechnenden Blick, der ihn wie ein Problem betrachtete, das beseitigt werden musste. Sasha wäre nur ein weiteres Ziel seiner Wut, ein Hindernis, das mit noch weniger Skrupeln aus dem Weg geräumt werden würde.

„Ich kann so nicht weitermachen“, sagte Dmitri leise, seine Stimme ein heiseres Flüstern im dämmrigen Licht des Zimmers. „Ich kann nicht mehr lügen, nicht mehr verstecken, wer ich bin. Das Wirtschaftsstudium, das ich hasse, die Partys, die ich veranstalte, um meinen Vater zu ärgern und gleichzeitig zu beweisen, dass ich in seine Welt passe – all das zerstört mich.“ Eine lange Pause, in der nur ihr Atem zu hören war. „Aber ich kann auch nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Wenn mein Vater wüsste, dass wir zusammen sind…“ Er ließ den Satz unvollendet, die Bedrohung war zu real, um sie in Worte zu fassen. Sasha schwieg, seine Finger strichen sanft über Dmitris Rücken, zeichneten beruhigende Kreise, die mehr sagten als Worte. „Du bist gerade fast gestorben, Dima“, flüsterte er, seine Stimme belegt von unterdrückten Tränen. „Ich dachte, ich hätte dich verloren. In diesem Moment war nichts anderes wichtig.“ Er drückte Dmitri fester an sich, als könnte sein Körper ihn vor der Welt beschützen.

„Ich hatte solche Angst“, gestand Dmitri, sein Gesicht an Sashas Schulter vergraben. „Nicht vor dem Tod, sondern davor, dich nie wieder zu sehen. Davor, dass das alles war, was wir haben durften.“ Die Worte waren ein Hauch gegen Sashas Haut, so leise, als fürchtete er, dass selbst die Wände Ohren haben könnten.

„Dann müssen wir stark sein“, sagte Sasha entschlossen, sein Kinn hob sich in einer Geste des Trotzes. „Stark genug, um durchzuhalten. Jetzt, in diesem Moment.“ Eine Pause, in der seine Augen Dmitris fanden und hielten. „Ich werde dich nicht aufgeben, Dima. Egal, was kommt.“

Dmitri lehnte sich an ihn, schloss die Augen und versuchte, die Bilder des Traums zu verdrängen, die Vision des anderen Mannes, dessen Verzweiflung sich so real angefühlt hatte. Doch die Frage blieb, nagte an seinem Bewusstsein: War das, was er gesehen hatte, real? Und wenn ja, war es ein Omen für seine eigene Zukunft, eine düstere Prophezeiung dessen, was kommen würde?

Draußen dröhnte die Musik weiter, ein monotoner Herzschlag der Stadt, die niemals schlief. Moskau breitete sich unter ihnen aus, ein Ozean aus Lichtern und Schatten, Möglichkeiten und Gefahren. Und irgendwo, in einer anderen Stadt, in einem anderen Leben, existierte ein fremder Mann, dessen Schicksal auf unheimliche Weise mit Dmitris verwoben zu sein schien – eine Verbindung, die keiner von ihnen verstand, aber die ihr beider Leben für immer verändern würde.

4

Die Morgendämmerung schob sich langsam zwischen den schweren Vorhängen hindurch, zeichnete blasse Lichtstreifen auf den Teppich des Gästezimmers. In der Wohnung hatte sich eine bedrückende Stille ausgebreitet, nur unterbrochen vom gelegentlichen Klirren von Glas, wenn jemand im Wohnzimmer aufräumte – vermutlich der Hausmeister, der diskret die Spuren der Exzesse beseitigte, wie nach jeder von Dmitris Partys.

Dmitri und Sasha saßen nebeneinander auf der Bettkante, die unausgesprochenen Worte zwischen ihnen so greifbar wie der Staub in den Sonnenstrahlen. Dmitris Finger zuckten leicht, eine unwillkürliche Bewegung, die von seiner inneren Unruhe zeugte. Das Adrenalin war längst aus seinem Blutkreislauf verschwunden; geblieben war nur die dumpfe Erschöpfung und die Erinnerung an etwas, das er nicht einordnen konnte.

„Ich sehe ihn immer noch vor mir“, durchbrach Dmitri die Stille, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Seine sonst so perfekte Frisur war zerzaust, dunkle Strähnen fielen ihm wirr ins Gesicht. „Den Mann, der ich war. Er hat die Tabletten genommen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. So ruhig, so… endgültig.“

Sasha drehte sich zu ihm, nahm behutsam Dmitris Hand in seine. Die Berührung war sanft, aber bestimmt – eine Geste, die keine Worte brauchte.

„Das warst nicht du, Dima“, sagte er leise. In seinen braunen Augen spiegelte sich die Sorge, die er hinter einer Fassade von Ruhe zu verbergen versuchte. „Es war ein Albtraum, mehr nicht. Du bist hier. Bei mir.“

„Aber es hat sich nicht wie ein Traum angefühlt.“ Dmitri fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. Sein Blick, normalerweise kühl und distanziert, hatte jede Härte verloren. „Es war, als wäre ich tatsächlich in seinem Körper gewesen. Ich konnte alles spüren – die Kälte des Wassers, als er es ins Glas goss, das Gewicht der Tabletten auf seiner Zunge.“ Er hob den Blick, seine Augen glänzten feucht im Dämmerlicht. „Und das Schlimmste: Ich wusste, warum er es tat. Er wollte sterben, weil er glaubte, einen Jungen in den Tod getrieben zu haben. Einen Jungen namens Lukas.“

Sasha rückte näher, sein Körper eine stille Zusicherung, dass er nicht allein war. Seine Fingerspitzen strichen über Dmitris Handgelenk, dort, wo der Puls unter der blassen Haut sichtbar war – ein unbewusstes Versichern, dass das Leben zurückgekehrt war.

„Das klingt beängstigend“, gab Sasha zu. „Aber vielleicht hat es mit deiner Nahtoderfahrung zu tun? Dein Herz hat für fast zwei Minuten ausgesetzt.“ Er schluckte schwer, als die Erinnerung an diese Momente kurz seine Fassung bröckeln ließ. „Ich habe keinen Puls mehr gefühlt, bis das Adrenalin gewirkt hat.“

Dmitri starrte aus dem Fenster, wo die ersten Sonnenstrahlen Moskaus Silhouette vergoldeten. In seinen Augen lag eine Verletzlichkeit, die er sonst nur zeigte, wenn sie vollkommen allein waren.

„Was, wenn es das ist, was mich erwartet?“, fragte er, seine Stimme brach. „Ein Leben, in dem ich mich verstecken muss, bis ich nicht mehr kann? Bis ich aufgebe?“

Sasha griff nach seiner Hand, umschloss sie fest mit seinen Fingern. Die Berührung war Anker und Versprechen zugleich.

„Du wirst nicht aufgeben“, sagte er mit einer Entschlossenheit, die keinen Widerspruch duldete. „Wir werden nicht aufgeben. Was wir haben… das ist echt. Es ist mehr wert als die Angst.“

Ihre Blicke trafen sich. In Sashas Augen lag eine Intensität, die Dmitri den Atem raubte. Sie lehnten sich wie magnetisch angezogen zueinander, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Dmitri konnte Sashas Atem auf seiner Haut spüren, warm und vertraut.

Dann wich er zurück, als hätte ihn etwas verbrannt. Vor seinem inneren Auge flackerte ein Bild aus dem Traum auf – das Foto des Mannes mit seiner Frau, die stille Verzweiflung in seinen Augen.

„Was ist los?“, fragte Sasha, seine Stimme ruhig in dem stillen Raum, obwohl sein Blick die Enttäuschung nicht ganz verbergen konnte.

Dmitri lehnte sich gegen die Wand, ließ den Kopf gegen die kühle Tapete sinken. „Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken“, gestand er. „Da war mehr, Sasha. Details, die so real waren. Der Name des Jungen… Lukas. Er hat sich vor einen Zug geworfen.“

„Lukas?“, wiederholte Sasha nachdenklich.

„Ja, der Junge, der sich das Leben genommen hat.“ Dmitri richtete sich plötzlich auf, seine Augen weiteten sich. „Was, wenn es echt ist? Was, wenn dieser Mann irgendwo existiert?“

Sasha schüttelte langsam den Kopf. Seine Bewegungen hatten etwas Fließendes, als wäre jede Geste Teil einer größeren Komposition. „Das klingt verrückt, Dima.“

„Verrückter als das, was heute Nacht passiert ist?“ Dmitri sprang auf, begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Der teure Teppich dämpfte seine hastigen Schritte. „Ich war tot, Sasha. Tot!“

Er blieb abrupt stehen, drehte sich zu Sasha um. Die plötzliche Inspiration in seinen Augen ließ ihn für einen Moment wie den alten Dmitri erscheinen – voller Feuer und Ideen, bevor die Leere ihn wieder einholen konnte.

„Ich muss es herausfinden. Vielleicht gibt es Berichte über sowas. Menschen, die im Tod verbunden werden. Oder…“ Er stockte, seine Augen weiteten sich. „Oder ich könnte einfach nach diesem Lukas suchen. Ein deutscher Junge, der sich vor einen Zug geworfen hat. Wenn es ihn wirklich gab…“

„Und wenn du etwas findest? Was dann?“, fragte Sasha ruhig. Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft, schlicht und dennoch voller Gewicht.

Dmitri setzte sich wieder, diesmal näher bei Sasha. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach, brachte sie dichter zusammen. „Dann weiß ich, dass ich nicht den Verstand verliere. Dass das, was ich erlebt habe, real war.“

Sasha nahm Dmitris Gesicht in seine Hände, strich sanft mit dem Daumen über die blasse Wange, auf der sich ein Schatten von Bartstoppeln abzeichnete. „Du verlierst nicht den Verstand, Dima. Aber du hast etwas Traumatisches durchgemacht. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen – natürlich verarbeitet dein Gehirn das auf seltsame Weise.“

Ihre Augen hielten sich fest, und diesmal gab es kein Zurückweichen. Sasha lehnte sich vor und presste seine Lippen auf Dmitris. Der Kuss begann zögernd, wurde dann tiefer, verzweifelter. Dmitri spürte Sashas Hände in seinem Haar, an seinem Nacken, und er zog ihn näher, als könnte er in ihm Zuflucht finden. In diesem Moment existierte nichts außer ihnen beiden – keine Drohungen, keine Angst, keine Geheimnisse.

Als sie sich lösten, atmeten beide schwer. Dmitri lehnte seine Stirn gegen Sashas, hielt die Augen geschlossen, als könnte er den Moment so festhalten.

„Ich liebe dich“, flüsterte er, die Worte brachen aus ihm heraus wie Wasser durch einen berstenden Damm. Es war das erste Mal, dass er es laut aussprach, und es fühlte sich gleichzeitig an wie ein Triumph und eine Kapitulation.

Sashas Lächeln war klein, aber aufrichtig, und seine Augen glänzten verdächtig. „Ich liebe dich auch, Dima. Schon lange.“ Er strich eine verirrte Haarsträhne aus Dmitris Stirn. „Was auch immer dieser Traum bedeutet, wir finden es zusammen heraus. Ich lasse dich nicht allein damit.“

Die Wärme dieses Moments verflog schnell, als die Realität ihre kalten Finger nach ihnen ausstreckte. Dmitri löste sich von Sasha, sein Gesicht verdüsterte sich.

„Wenn er es erfährt…“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als spräche er von einem Dämon, dessen Namen man nicht nennen durfte. „Sasha, er wird dich umbringen.“ Seine Stimme zitterte unter der Last dieser Gewissheit. „Er hat es mir ins Gesicht gesagt – er würde mich eher tot sehen, als mich so leben zu lassen. Und du wärst nur ein Mittel, um mich zu bestrafen.“

Sasha blieb ruhig, trotz der Drohung, die über ihnen schwebte wie ein Damoklesschwert. „Dann darf er es nicht erfahren. Wir halten es geheim, bis wir einen Plan haben. Bis wir fort können.“

„Fort?“ Dmitri lachte bitter. „Er hat Verbindungen bis nach Europa, Amerika – überall. Es gibt keinen Ort, an den wir fliehen könnten.“

„Dann kämpfen wir“, sagte Sasha bestimmt. In seiner Stimme lag eine Stärke, die Dmitri immer wieder überraschte. „Wir finden Unterstützung. Es gibt Organisationen, Netzwerke für Menschen wie uns. Wir müssen nur den ersten Schritt machen.“

Dmitri schwieg, gefangen zwischen Hoffnung und Furcht. Er sah aus dem Fenster, wo der Himmel sich langsam aufhellte und Moskau zu einem neuen Tag erwachte – einer Stadt, die ihm gleichzeitig Heimat und Gefängnis war.

„Morgen“, sagte er schließlich mit einer Entschlossenheit, die aus tiefer Verzweiflung geboren war. „Morgen beginne ich mit der Recherche. Über diesen Traum, über Lukas, über alles.“

Sasha nickte und drückte Dmitris Hand. „Ich helfe dir. Wir können bei meinem Cousin sein – er arbeitet bei einem Internetprovider, hat Zugang zu besseren Suchtools als normale Browser.“

„Und wenn ich finde, was ich suche?“, fragte Dmitri leise, als fürchte er sich vor der Antwort. „Wenn es diesen Mann wirklich gibt?“

Sasha hielt seinen Blick fest, seine Augen voller Entschlossenheit. „Dann finden wir auch ihn. Wenn ihr beide tatsächlich verbunden seid, dann vielleicht aus einem Grund.“

Dmitri lehnte sich an Sashas Schulter, schloss die Augen. „Ich will dich nicht verlieren“, flüsterte er. „Nicht durch ihn, nicht durch das, was mit mir passiert.“

„Das wirst du nicht“, versprach Sasha und küsste sanft Dmitris Stirn. „Wir schaffen das zusammen.“

Sie saßen schweigend, Hand in Hand, während das Morgenlicht den Raum langsam erhellte. Dmitri wusste nicht, ob er Sashas Zuversicht teilen konnte, aber für den Moment war es genug, dass sie hier waren – zusammen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Und morgen würde er beginnen, nach Antworten zu suchen.

5

Das Krankenhauszimmer lag in der Stille des frühen Morgens, nur unterbrochen vom leisen, gleichmäßigen Piepen eines Monitors. Es war 5 Uhr früh, und ein schwaches, fahles Licht drang durch die schmalen Schlitze der Jalousien. Markus erwachte langsam, sein Kopf fühlte sich schwer und benebelt an. Als er versuchte, sich zu bewegen, spürte er Widerstand: Seine Arme und Beine waren mit weichen Gurten am Bett fixiert. Ein Schauer der Verwirrung durchlief ihn. Wo bin ich?

Sein Blick schweifte durch den Raum. Weiße Wände, sterile Luft, ein schwacher Hauch von Desinfektionsmittel – dies war eindeutig nicht sein Zuhause. Er blinzelte, versuchte, die verschwommenen Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenzusetzen. Da war ein Zimmer gewesen, chaotisch und stickig, erfüllt von lauter Musik. Ein junger Mann hatte auf einem Sofa gelegen, blass, mit dunklen Haaren. Und er selbst… er war dieser junge Mann gewesen, jünger, lebendiger. Er hatte russisch gesprochen, Worte, die mühelos aus seinem Mund geflossen waren, als gehörten sie ihm. Doch jetzt, in diesem Bett, fühlte sich das alles fern und unwirklich an. War es nur ein Traum gewesen?

Die Tür öffnete sich leise, und eine Krankenschwester trat ein. Sie war mittleren Alters, mit einem ordentlichen Dutt und einem ruhigen, professionellen Auftreten. Als sie bemerkte, dass er wach war, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln. „Guten Morgen, Herr Meier. Wie fühlen Sie sich?“

Markus räusperte sich, seine Kehle war trocken und kratzig. „Warum… warum bin ich festgebunden?“ Seine Stimme klang fremd, schwach und brüchig.

Die Schwester trat näher, überprüfte den Monitor neben seinem Bett und notierte etwas auf einem Klemmbrett. „Sie sind im Krankenhaus“, erklärte sie mit ruhiger Stimme. „Die Fixierung ist eine Vorsichtsmaßnahme. Sie haben gestern einen Suizidversuch unternommen, und wir möchten sicherstellen, dass Sie in Sicherheit sind, bis wir Ihre Stabilität beurteilen können.“ Ihre Worte waren sachlich, doch in ihrem Ton schwang eine leise Wärme mit.

Markus schloss die Augen, als die Bedeutung ihrer Aussage in ihm nachhallte. Ein Suizidversuch. Die Realität traf ihn wie ein kalter Windstoß. Er erinnerte sich an die Tabletten, an die Verzweiflung – aber der Traum… der Traum hatte so echt gewirkt. „Ich hatte einen Traum“, murmelte er, fast mehr zu sich selbst. „Ich war ein junger Mann, in einem anderen Zimmer. Ich habe russisch gesprochen. Es war so real… war das nur ein Traum?“

Die Schwester hielt kurz inne und sah ihn mit einem mitfühlenden Blick an. „Nach dem, was Sie durchgemacht haben, können Träume sehr intensiv sein“, sagte sie schließlich. „Ihr Körper und Ihr Geist haben viel erlebt. Das kann die Wahrnehmung durcheinanderbringen.“ Sie goss Wasser in ein Glas und hielt es ihm an die Lippen. „Trinken Sie etwas. Sie sollten sich ausruhen.“

Markus nahm einen Schluck, das kühle Wasser linderte das Kratzen in seiner Kehle. „Wo ist Anna?“, fragte er dann, seine Stimme etwas fester.

„Ihre Frau war hier, aber sie ist vor einer Stunde nach Hause gefahren, um sich auszuruhen. Sie kommt später wieder“, antwortete die Schwester. Sie stellte das Glas ab, überprüfte ein letztes Mal den Monitor und wandte sich zur Tür. „Ich bin gleich wieder da. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben.“

Mit einem leisen Klicken schloss sich die Tür hinter ihr, und Markus war wieder allein. Die Gurte hielten ihn fest, ein stummer Vorwurf seiner Hilflosigkeit. Sein Blick wanderte zur Decke, doch seine Gedanken kreisten weiter um den Traum. Die russischen Worte hallten in seinem Kopf wider, fremd und doch vertraut. War es wirklich nur ein Traum gewesen? Oder hatte sein Verstand etwas Tieferes erschaffen – eine Flucht, eine andere Realität?

Die Schwester betrat das Zimmer erneut, diesmal mit einem Tablett in der Hand. Nachdem sie den Monitor noch einmal kontrolliert und ihm das Glas Wasser gereicht hatte, sah sie ihn an. „Ihre Frau hat Sie gefunden, Herr Meier“, sagte sie ruhig. „Sie hat den Notruf gewählt, und die Rettungssanitäter waren schnell da. Sie haben großes Glück gehabt.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum, die Tür schloss sich leise hinter ihr.

Markus blieb allein zurück, sein Blick wieder zur Decke gerichtet, während seine Gedanken zu rasen begannen. Anna hat mich gefunden? Aber wie? Er hatte alles genau geplant. Die Tabletten, die Dosis – er hatte die Zeit akribisch berechnet. Anna sollte erst um 16:00 Uhr zurück sein, nach ihrem Friseurtermin. Das war der Kern seines Plans: Sie würde zu spät kommen, und er wäre nicht mehr zu retten. Was ist schiefgelaufen?

Er rief sich die Details ins Gedächtnis. Der Wetterbericht hatte stabiles Wetter vorhergesagt, der Verkehr war kein Faktor, und der Friseurtermin war fest eingeplant gewesen. Er hatte sogar überlegt, ob der Friseur schneller fertig sein könnte, und das in seine Kalkulation einbezogen. Doch etwas musste passiert sein, etwas, das er nicht vorhergesehen hatte. War es ein unvorhergesehenes Ereignis? Hat sie den Termin abgebrochen? Die Fragen nagten an ihm, aber er fand keine Antwort. Sein Plan, so sorgfältig durchdacht, war offenbar an einem Fehler gescheitert, den er nicht identifizieren konnte.

Die Ironie traf ihn hart. Er hatte geglaubt, jede Variable kontrolliert zu haben, und doch lag er hier, lebendig, gerettet durch Annas unerwartete Rückkehr. Die Unsicherheit ließ ihn nicht los, während er versuchte, den Moment zu rekonstruieren, an dem sein Plan außer Kontrolle geraten war.

6

Dmitris Finger flogen über die Tastatur, während der bläuliche Schein des Bildschirms sein blasses Gesicht erhellte. Hinter ihm lag Sasha auf dem Bett, blätterte durch ein Buch und warf gelegentlich besorgte Blicke in Dmitris Richtung.

„Du starrst schon seit vier Stunden auf diesen Bildschirm“, bemerkte Sasha schließlich und legte das Buch beiseite. „Was suchst du da eigentlich?“

Dmitri lehnte sich zurück, rieb sich die Augen. Vier Tage waren vergangen, seit er auf dieser Party fast gestorben wäre. Vier Nächte, in denen er, sobald er einschlief, in das Leben eines deutschen Mannes mittleren Alters eintauchte – ein Leben voller Trauer, Schuld und einer tiefen, alles verschlingenden Leere.

„Ich versuche herauszufinden, was mit mir passiert“, antwortete er, ohne sich umzudrehen. „Diese Träume, Sasha… sie werden jede Nacht intensiver, detaillierter. Ich erlebe das Leben eines Mannes, der… der genauso am Abgrund steht wie ich es war.“

Sasha stand auf und trat hinter ihn, legte sanft die Hände auf seine Schultern. „Du solltest das alles nicht so ernst nehmen, Dima. Es sind nur Träume.“

Dmitri schüttelte den Kopf. „Nein, das sind keine gewöhnlichen Träume. Sie folgen einer Chronologie. Ich sehe seinen Tag, was er erlebt hat, während ich schlief. Ich fühle seine Emotionen, als wären es meine eigenen.“ Er drehte sich zu Sasha um. „In der ersten Nacht habe ich gesehen, wie er versucht hat, sich umzubringen, genau in dem Moment, als ich… als mein Herz stehen blieb. Zwei Minuten ohne Puls, hast du gesagt. Zwei Minuten, in denen ich klinisch tot war.“

Er deutete auf den Bildschirm, auf dem eine Webseite über Nahtoderfahrungen geöffnet war. „Hier steht etwas über 'geteilte Bewusstseinszustände' während simultaner Nahtoderfahrungen. Es gibt dokumentierte Fälle, in denen Menschen behaupten, während einer Nahtoderfahrung das Bewusstsein einer anderen Person geteilt zu haben.“

Sasha beugte sich vor, um den Text zu lesen, seine Stirn in skeptische Falten gelegt. „Das klingt ziemlich esoterisch, Dima.“

„Mag sein. Aber wie erklärst du dir dann, dass ich von einem Mann träume, dessen Existenz ich verifizieren kann?“ Dmitri klickte auf einen anderen Tab, der ein soziales Netzwerk zeigte. „Markus Meier, 42 Jahre alt, Sportlehrer an einem Gymnasium in München. Verheiratet mit Anna Meier.“ Seine Stimme wurde leiser. „Einer seiner Schüler, Lukas, hat sich vor einem Jahr das Leben genommen.“

Der Name hing schwer in der Luft. Sasha setzte sich auf die Armlehne von Dmitris Stuhl, sein Gesicht nun angespannt.

„Der Junge aus deinen Träumen“, flüsterte er. „Der, von dem du sagtest, er hätte sich…“

„Ja“, bestätigte Dmitri und schluckte schwer. „Er hat sich vor eine S-Bahn geworfen, nachdem er in der Umkleide gemobbt wurde.“ Er scrollte durch die Seite, auf der ein Nachrichtenartikel über den Vorfall zu sehen war. „In den letzten vier Nächten habe ich gesehen, wie Markus jedes Mal vor dem Schlafen das Foto dieses Jungen anschaut. Ich habe gefühlt, wie diese Schuld ihn innerlich auffrisst, wie er sich täglich fragt, was er hätte anders machen können.“

Sasha legte einen Arm um Dmitris Schultern, eine beschützende Geste. „Und du hast auch gesehen, wie er versucht hat, sich… umzubringen?“

Dmitri nickte. „In der ersten Nacht. Er hat Schlaftabletten genommen, viele. Seine Frau hat ihn gefunden und den Notarzt gerufen – genau wie du mich gefunden hast.“ Er fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar. „Verstehst du nicht? In dem Moment, als mein Herz stehen blieb, als ich für zwei Minuten klinisch tot war, hat auch er versucht zu sterben. Und seitdem träume ich sein Leben, jede Nacht.“

„Und du glaubst, dass er auch deines träumt?“, fragte Sasha leise. „Ich weiß es nicht sicher. Aber letzte Nacht… letzte Nacht hatte ich das Gefühl, dass er nach mir sucht, so wie ich nach ihm suche.“ Dmitri öffnete einen weiteren Tab, diesmal eine Suchmaschine. „Ich muss mehr über ihn herausfinden, Sasha. Verstehen, was diese Verbindung bedeutet.“

Sasha biss sich auf die Unterlippe, offensichtlich besorgt. „Dima, das klingt alles sehr… extrem. Vielleicht solltest du mit jemandem darüber sprechen, einem Arzt oder…“

„Einem Psychiater?“ Dmitri lachte bitter. „Damit sie mich für verrückt erklären? Nein, danke.“ Er drehte sich wieder zum Bildschirm. „Außerdem bin ich nicht verrückt. Diese Verbindung ist real. Ich weiß Dinge über diesen Mann, seine Frau, seinen Schüler wissen, die ich unmöglich wissen könnte.“

Er tippte etwas in die Suchleiste ein, zögerte dann. „Es gibt noch etwas anderes, Sasha.“ Seine Stimme wurde leiser, verletzlicher. „In Markus' Träumen… in seinen Erinnerungen an Lukas… Da ist etwas, das mir bekannt vorkommt. Ein Gefühl, das ich nicht erklären kann. Als hätte ich eine Verbindung zu diesem Jungen, der sich umgebracht hat.“

Sasha berührte sanft Dmitris Wange, drehte sein Gesicht zu sich. „Dima, du machst mir Angst. Diese Besessenheit, diese Fixierung auf den Tod eines fremden Jungen…“

„Es ist keine Besessenheit“, unterbrach Dmitri ihn, seine Stimme fester nun. „Es ist, als ob diese Verbindung zu Markus einen Grund hat. Als ob ich ihm helfen soll, oder er mir. Als ob wir beide etwas lernen müssen, das mit Lukas' Tod zu tun hat.“

Er drehte sich wieder zum Computer und begann zu tippen: „Traumverbindung Bedeutung existenzielle Fragen“.

Die Suchergebnisse erschienen – teils esoterisch, teils psychologisch. Dmitri seufzte frustriert.

„Was hast du vor?“, fragte Sasha nach einer Weile.

Dmitri lehnte sich zurück, starrte auf das Profilbild von Markus Meier, das er gefunden hatte – ein ernster Mann mit müden Augen und frühen grauen Strähnen im dunklen Haar. Ein Mann, dessen tiefste Gedanken, Ängste und Hoffnungen er nun jede Nacht teilte.

„Ich werde weiter forschen“, entschied er. „Mehr über Markus herausfinden, über Lukas, über Nahtoderfahrungen. Es muss einen Grund geben, warum wir verbunden sind.“

Sasha schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was, wenn du an einen Punkt kommst, wo du nicht mehr weiterkommst? Diese ganze Situation ist so… unglaublich. Du kannst nicht erwarten, dass du allein eine Antwort findest.“

Dmitri zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gibt es keine rationale Erklärung. Vielleicht ist es etwas, das jenseits unseres Verständnisses liegt.“ Er sah zu Sasha auf, seine Augen flehend. „Aber ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts. Diese Verbindung fühlt sich wichtig an, Sasha. Als hätte sie einen Zweck.“

Sasha seufzte, zog Dmitri in eine feste Umarmung. „Ich verstehe dich vielleicht nicht immer, Dima, aber ich bin hier. Egal, was passiert, egal, wie verrückt das alles klingt – ich bin hier.“

Dmitri lehnte seine Stirn gegen Sashas Schulter, ließ sich für einen Moment von seiner Wärme, seiner vertrauten Präsenz trösten. Dann richtete er sich wieder auf, seine Entschlossenheit zurückgekehrt.

„Danke“, sagte er leise und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. „Ich muss verstehen, warum wir verbunden sind. Was diese Träume bedeuten.“

Er klickte auf einen weiteren Artikel über Traumdeutung und Synchronizität, vertiefte sich in die Lektüre. Die Idee, Markus direkt zu kontaktieren, schwebte unausgesprochen in seinem Kopf – doch es war zu früh, zu unsicher. Erst musste er mehr verstehen, mehr erfahren.

„Heute Nacht“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Sasha, „heute Nacht, wenn ich wieder sein Leben träume, werde ich genauer hinsehen. Vielleicht gibt es noch mehr Hinweise, die ich bisher übersehen habe.“

Hinter ihm stand Sasha, schweigend, besorgt, aber loyal wie immer. Und vor ihm auf dem Bildschirm formten sich Theorien und Ideen über eine Verbindung, die größer war als sie beide – eine Verbindung, deren wahre Natur noch im Verborgenen lag und auf ihre Entdeckung wartete.

7

Das gedämpfte Licht der Krankenhauslampe warf einen bläulichen Schein auf Markus' Gesicht, während er in seinem Bett lag und aus dem Fenster starrte. Die Fixierungen hatten sie vor einer Stunde entfernt, nachdem der Psychologe mit einem zufriedenen Nicken sein Zimmer verlassen hatte. Markus hatte alle richtigen Antworten gegeben, hatte Reue gezeigt, hatte versprochen, dass er nicht mehr versuchen würde, sich das Leben zu nehmen.

Lügen, alles Lügen.

Er bewegte seine Handgelenke, spürte die wunden Stellen, wo die Gurte seine Haut aufgescheuert hatten. Freiheit war ein relatives Konzept in diesen sterilen Wänden.

Vier Tage waren seit seinem Selbstmordversuch vergangen. Vier Nächte, in denen er in einen seltsamen, tiefgreifenden Traum gefallen war, sobald der Schlaf ihn übermannte. Immer derselbe junge Mann – Dmitri, wie er jetzt wusste. Immer so real, so detailliert, dass es sich nicht wie Träumen anfühlte, sondern wie Erleben. Er hatte Dmitris Gespräche mit seinem Freund Sasha mitverfolgt, hatte dessen Angst vor seinem Vater gespürt, hatte den beißenden Geschmack von Vodka auf seiner Zunge schmecken können.

Anna war vor zwanzig Minuten gegangen, um Kaffee zu holen und einige Formulare auszufüllen. Seine Entlassung war für übermorgen geplant, vorausgesetzt, er spielte weiterhin den reuigen Patienten. Zum ersten Mal seit Tagen war er allein, unbeobachtet.

Markus zögerte nur kurz, bevor er nach seinem Smartphone griff, das auf dem Nachttisch lag. Anna hatte es ihm zurückgegeben – ein Vertrauensbeweis. Er entsperrte es, starrte auf den Bildschirm, auf dem immer noch das letzte Foto leuchtete, das er vor seinem Selbstmordversuch angesehen hatte: Anna und er, vor drei Jahren im Urlaub in Italien. Sie lächelten in die Kamera, ihre Arme umeinander geschlungen, ihre Augen voller Leben. Eine andere Zeit, ein anderes Leben.

Er schloss das Bild und öffnete den Browser. Was er suchte, wusste er mittlerweile sehr genau. In der letzten Nacht hatte er im Traum gesehen, wie Dmitri selbst recherchierte, nach Lukas suchte, nach ihm. Die Träume begannen sich zu überschneiden, zu vermischen – als würden ihre Leben ineinander übergehen.

Traumverbindung nach Nahtoderfahrung tippte er. Die Suchergebnisse luden – ähnliche Seiten wie die, die Dmitri in seinen eigenen Suchen gefunden hatte. Esoterisches, Spekulatives, nichts Wissenschaftliches.

Er verfeinerte seine Suche:

Russisch sprechen im Traum ohne Kenntnisse

Diesmal waren die Ergebnisse spezifischer. Ein wissenschaftlicher Artikel über Xenoglossie, das plötzliche Sprechen einer fremden Sprache ohne vorherige Kenntnisse. Ein Forumsbeitrag von jemandem, der behauptete, während einer Nahtoderfahrung plötzlich Japanisch gesprochen zu haben.

Nahtoderfahrung.

Das Wort hallte in seinem Kopf wider. Er war nahe am Tod gewesen. Die Tabletten hätten ihn getötet, wenn Anna nicht… Und Dmitri? Im Traum hatte er mitbekommen, wie Sashas panische Stimme verkündete, dass Dmitris Herz für ganze zwei Minuten ausgesetzt hatte. Zwei Minuten Tod, bevor er zurückkehrte.

Markus änderte seinen Suchbegriff:

Simultane Nahtoderfahrungen Verbindung

Er klickte auf einen Link zu einer medizinischen Studie. Darin wurden Fälle dokumentiert, in denen Menschen während einer Nahtoderfahrung behaupteten, eine Verbindung zu anderen Personen gespürt zu haben – manchmal zu Verstorbenen, manchmal zu Unbekannten. Die meisten Wissenschaftler erklärten das Phänomen als Halluzination, als letztes Aufbäumen eines sterbenden Gehirns, das verzweifelt nach Bedeutung suchte.

Aber diese Träume waren keine Halluzinationen. Sie waren zu konsistent, zu zusammenhängend. Jede Nacht erlebte er ein Stück von Dmitris Tag – chronologisch, detailliert, realistisch. Der kalte Moskauer Wind, die seltsame Melancholie der russischen Straßen, der metallische Geschmack von Angst im Mund des jungen Mannes, wenn er an seinen Vater dachte.

Dmitri Ivanov. Der Name war so vertraut geworden wie sein eigener.

Markus zögerte, dann tippte er ein neues Suchwort:

Drogenüberdosis Moskau Party

und fügte das Datum hinzu, an dem er seinen Selbstmordversuch unternommen hatte.

Seine Augen weiteten sich, als er auf einen Instagram-Post stieß. Das Bild zeigte einen jungen Mann in einer teuren Luxuswohnung, blass, mit verschwitzten Haaren. Er wurde von einem zweiten jungen Mann gestützt. Beide schienen nicht bemerkt zu haben, fotografiert worden zu sein. Auch waren beide kaum zu erkennen und waren von der Kamera abgewandt. Der Text war auf Russisch, aber die automatische Übersetzungsfunktion half:

Fast hätten wir Dima gestern verloren. Überdosis. Zwei Minuten kein Puls. #NahesTodErlebnis #Überleben #Dankbar

Die Zeitangabe stimmte exakt. Zwei Minuten ohne Puls. Genau zu dem Zeitpunkt, als Markus bewusstlos am Boden seines Schlafzimmers lag, kurz bevor Anna ihn fand.

Markus' Hände zitterten, als er auf das Profil des Posters klickte. Es gehörte jemandem namens @mikhail_party23. Er scrollte durch die Bilder, hauptsächlich Aufnahmen von wilden Partys, teuren Autos, halbnackten Frauen – ein typisches Prahlprofil. Dann sah er es: Ein Foto von einer Gruppe junger Männer, die in einem Club posierten. Darunter der Text:

Feiern mit dem Prinzen @dmitri_ivanov und seiner Crew.

Er klickte auf den verlinkten Namen, doch das Profil war privat. Trotzdem konnte er das Profilbild sehen – und sein Herz schlug schneller.

Es war er. Der junge Mann aus seinen Träumen, mit denselben tiefblauen Augen, demselben schwarzen Haar, demselben leicht arroganten Lächeln, das eine innere Unsicherheit verbarg. Das Gesicht, das er in seinen Träumen so oft im Spiegel gesehen hatte, als wäre es sein eigenes.

Dmitri Ivanov.

Markus starrte auf das Bild, seine Gedanken rasten. Jede Nacht erlebte er das Leben eines russischen Jungen, eines jungen Mannes, der am selben Tag wie er dem Tod nahe gewesen war. Sie waren verbunden, irgendwie, durch diese simultane Erfahrung des Beinahe-Sterbens.

Mit zitternden Fingern öffnete er eine neue Suche:

Dmitri Ivanov Moskau

Die Ergebnisse luden. Dmitri schien der Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes zu sein – oder eines Oligarchen, wie einige Artikel andeuteten. Mikhail Ivanov, ein Name, der mit verschiedenen Industriezweigen in Verbindung gebracht wurde, von Öl bis Technologie. Es gab nicht viele Informationen über den Sohn, nur gelegentliche Erwähnungen in Gesellschaftskolumnen.

Markus vertiefte seine Suche, fand einen Artikel über Studenten der Moskauer Wirtschaftsuniversität. Auf einem der Fotos stand Dmitri im Hintergrund, sein Gesichtsausdruck gelangweilt, fast verächtlich. Laut Bildunterschrift war er im zweiten Jahr seines Wirtschaftsstudiums.

Und dann, fast zufällig, stieß er auf ein weiteres Foto. Es zeigte Dmitri mit einem anderen jungen Mann – schlank, mit leicht gewelltem dunklem Haar. Sie standen nahe beieinander, ihre Körper fast berührend, ihre Blicke ineinander verwoben. Die Bildunterschrift nannte den zweiten Mann nicht, aber Markus musste nicht raten.

„Sasha“, flüsterte er.

Der Name kam ihm so natürlich über die Lippen, als hätte er ihn schon hundertmal ausgesprochen. Die enge Vertrautheit mit diesen beiden Menschen, die er nie getroffen hatte, erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. Er hatte in Dmitris Träumen den liebevollen Blick gesehen, den er Sasha zuwarf, wenn er glaubte, niemand würde es bemerken. Hatte die Angst gespürt, die ihn durchfuhr, wenn er an die Reaktion seines Vaters dachte.

Ein plötzliches Geräusch ließ Markus aufschrecken. Schritte auf dem Flur, Annas Stimme, die sich mit einer Krankenschwester unterhielt. Hastig löschte er seinen Suchverlauf und legte das Smartphone auf den Nachttisch zurück, gerade als die Tür aufging.

Anna kam herein, eine Tasche in der einen Hand, einen Kaffeebecher in der anderen. Ihr Gesicht erhellte sich bei seinem Anblick, eine Mischung aus Erleichterung und vorsichtiger Hoffnung. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett. „Die Schlange in der Cafeteria war endlos.“

Markus versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht fühlte sich steif an, seine Gedanken noch immer bei dem jungen Russen und dessen verborgener Liebe. „Schon okay.“

Anna stellte den Kaffee ab und nahm seine Hand. Ihre Berührung war warm, vertraut, ein Anker in der Realität. „Du siehst besser aus“, sagte sie leise. „Mehr… gegenwärtig.“

Er nickte mechanisch. Sollte er ihr von Dmitri erzählen? Von den Träumen, die seit seiner Nahtoderfahrung jede Nacht kamen? Würde sie ihm überhaupt glauben, oder würde sie es als weiteres Symptom seiner Psychose abtun?

„Markus?“ Ihre Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. „Ist alles in Ordnung?“

Er zögerte, sein Blick wanderte zum Fenster, wo die Dunkelheit der Nacht hereinzukriechen begann. Irgendwo da draußen, tausende Kilometer entfernt in Moskau, existierte ein junger Mann, der jede Nacht sein Leben träumte, genau wie er das seine. Ein junger Mann, der gerade entdeckt hatte, dass diese Verbindung real war.

„Ja“, sagte er schließlich und drückte Annas Hand. „Es ist alles in Ordnung.“

Die Lüge schmeckte bitter auf seiner Zunge, aber sie war leichter als die Wahrheit. Die Wahrheit, dass er eine Verbindung zu einem Fremden spürte, die stärker war als alles, was er seit langem gefühlt hatte. Die Wahrheit, dass er jede Nacht in einem anderen Leben mehr Sinn und Intensität fand als in seinem eigenen.

Anna lächelte, offensichtlich erleichtert, und begann, von ihrer Unterhaltung mit dem Arzt zu erzählen. Markus hörte nur mit halbem Ohr zu. In wenigen Stunden würde die Nacht kommen, und mit ihr ein neuer Traum – ein weiteres Fenster in Dmitris Leben. Würde er sehen, wie Dmitri weiter nach ihm suchte? Würde er erfahren, ob der junge Mann plante, Kontakt zu ihm aufzunehmen?

Die Vorstellung ließ sein Herz schneller schlagen. Eine seltsame Sehnsucht erfüllte ihn, nicht nur zu träumen, sondern zu handeln. Aber er musste vorsichtig sein. Geduldig. Er musste erst aus diesem Krankenhaus herauskommen, bevor er weitere Schritte unternehmen konnte.

Er würde warten, bis die Entlassung erfolgt war. Dann würde er herausfinden, was diese Verbindung zwischen ihnen bedeutete. Und warum sie entstanden war.

8

Das Wetter passte zu Markus' Stimmung – ein bleierner Himmel, aus dem feiner Nieselregen fiel, der die Welt in ein monochromes Grau tauchte. Er stand vor dem Krankenhauseingang, eine Plastiktüte mit seinen persönlichen Gegenständen in der Hand, und wartete auf Anna. Die Kleidung, die er trug, fühlte sich fremd an, als gehörte sie jemand anderem – vielleicht, weil ein Teil von ihm hier hatte bleiben wollen, eingeschlossen in der strukturierten Sicherheit des Krankenhauses, wo niemand Fragen stellte, die er nicht beantworten konnte.

Annas silberner Volvo bog langsam auf den Parkplatz ein. Markus beobachtete, wie sie parkte – präzise, methodisch, ein perfekter 90-Grad-Winkel zur Bordsteinkante. Typisch Anna, dachte er. Selbst in Momenten größter emotionaler Belastung behielt sie ihre Präzision bei. Er fragte sich, ob diese Kontrolle ihr Halt gab oder ob sie nur ein weiteres Symptom ihrer Anspannung war.

Sie stieg aus und kam auf ihn zu. Ihr Gesicht wirkte gefasst, aber die dunklen Ringe unter ihren wachen, grünen Augen erzählten eine andere Geschichte. Ihre kastanienbraunen Haare hatte sie zu einem praktischen Dutt gebunden. „Hallo“, sagte sie leise, als sie vor ihm stand. Eine Sekunde lang herrschte Unschlüssigkeit zwischen ihnen – sollten sie sich umarmen? Küssen? Schließlich entschied sie sich für eine vorsichtige Umarmung, die er steif erwiderte.