Ich war's nicht - Royston Reeves - E-Book

Ich war's nicht E-Book

Royston Reeves

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Beschreibung

»Ich will euch eine Geschichte erzählen. Über das Schlimmste, was mir je passiert ist.« Der junge Will ist nach einem Drink mit Kollegen auf dem Heimweg, als ihm ein Betrunkener in den Weg taumelt und ihn fies provoziert. Will wehrt sich, der Fremde fällt hin – und bleibt zu Wills Entsetzen tot liegen. Will ist unter Schock: Hat sich sein Leben in einem einzigen Augenblick für immer verändert? Oder gibt es einen Ausweg? Niemand sonst war in der abgelegenen Gasse, es gibt keine Überwachungskameras. Doch was Will nicht weiß: Jemand hat ihn beobachtet.  »Ein temporeicher Thriller, bei dem man vor Aufregung quasi die Buchseiten anschreien muss.« Nadine Matheson, Autorin von »Jigsaw Man – im Zeichen des Killers«

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Royston Reeves

Ich war's nicht

Thriller

 

Aus dem Englischen von Maria Poets

 

Über dieses Buch

 

 

Will ist ein netter Kerl. Als er nach einem Bier mit den Kollegen die Abkürzung zur U-Bahn nimmt, torkelt ein Typ auf ihn zu. Will macht einen Bogen um ihn, doch der Betrunkene stellt sich ihm absichtlich in den Weg. Und beleidigt Will. Im Vorbeigehen rempeln sie sich an. Augenblicke später ist einer tot und das Leben des anderen hat sich für immer verändert. Oder doch nicht? Es gibt keine Überwachungskameras. Es war niemand sonst in der abgelegenen Gasse. Vielleicht muss die Welt für Will ja doch nicht untergehen. Aber es gibt immer jemanden, der etwas gesehen hat ... und Will findet sich in einer unglaublichen Geschichte von Erpressung, beängstigenden Akteuren, haarsträubenden Situationen und unerwarteten Hoffnungsschimmern.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Royston Reeves, geboren 1984, kennt sich aus mit spannenden, begeisternden Geschichten: Er hat TV-Drehbücher verfasst, als Kreativdirektor beim Sender itv gearbeitet und wurde für Werbekampagnen ausgezeichnet. Sein erster Thriller erscheint in vielen Ländern weltweit. Royston Reeves lebt mit seiner Frau Carly und seiner Tochter Hunter-Rose im ländlichen Kent, Südengland.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

1

Ich möchte euch von der schlimmsten Sache erzählen, die mir jemals passiert ist.

Aber damit ihr es richtig einordnen könnt, müsst ihr zuerst ein paar Dinge über mich wissen: Ich bin kein schlechter Kerl. Ich versuche immer, zu allen nett zu sein; ich habe meine Freundin noch nie betrogen, und ich spende regelmäßig was für gute Zwecke. Ich mag Kinder, und ich bin kein Rassist oder irgend so ein Mist. Ich bin ein ganz normaler Mensch.

Na ja, ich habe eine Depression. Aber man merkt es nicht, ich kann es ganz gut verbergen. Meistens würdet ihr davon nichts mitbekommen. Ich habe vielleicht drei oder vier schlechte Tage im Monat, und damit kann ich umgehen. Ich bin achtundzwanzig und lebe etwas außerhalb von London.

Es war im Oktober letzten Jahres, und ich hatte einen echt miesen Tag bei der Arbeit. Ich arbeite in der Werbebranche, was angeblich total cool und superkreativ ist, obwohl man meistens bloß in langweiligen Meetings sitzt, sich Gründe ausdenkt, warum die unrealistischen Deadlines nicht zu schaffen sind, und sich mit Pedanten über irgendwelche belanglose Details streitet.

Aber von den Leuten her ist es okay. Mittags gehen meistens ein paar von uns auf ein Glas ins Three Kings gegenüber von Clerkenwell Green. Da gehe ich oft mit, wenn ich kann. Und mittwochs oder donnerstags treffen sich oft ein paar von uns noch nach der Arbeit irgendwo auf ein paar Drinks. Normalerweise gehe ich da auch mit. »Aber nur auf ein Bier«, sage ich und lande dann doch bei ein paar mehr; es fühlt sich irgendwie befreiend an, mitten in der Woche was zu trinken und Unsinn zu reden. Da kommt einem die Arbeit nicht mehr ganz so übermächtig vor.

Es war Oktober. Wahrscheinlich der Monat, den ich am wenigsten mag – Oktober oder Januar. Der Oktober macht einem klar, dass das schöne Wetter und die langen Tage vorbei sind, aber bis Weihnachten dauerte es noch zu lange, um ein Gefühl von Behaglichkeit, Freude, Festlichkeit oder was auch immer aufkommen zu lassen. Also schlurfen alle nur mit langen Gesichtern durch die Gegend. Ich wette, teilweise liegt es auch daran, dass durch irgendwelche äußeren Reize unser Gehirn getriggert wird und die ganzen Erinnerungen an die bescheuerte Schule wieder hochkommen. Früher mussten wir nach den großen Ferien im September wieder in die Schule, und der Oktober war der Monat, in dem einem dämmerte: Es ist so trübselig, und das muss ich jetzt den ganzen Winter über ertragen!

Wie immer zu dieser Jahreszeit fühlte ich mich also niedergeschlagen. Ich nehme zwar ein leichtes Antidepressivum, doch es hilft nicht viel; es ist nicht verkehrt, aber eben auch kein Zaubermittel. Am Mittwochabend ging ich mit vier Arbeitskollegen ins Three Kings. Ein paar Jungs vom Social-Media-Team und der Leiter vom Kundendienst waren dabei. Er war immer für ein Bier zu haben und war eigentlich jedes Mal dabei.

Das Three Kings ist ein altmodischer Pub und wird von einem etwas passiv-aggressiven Waliser namens Pat geführt. Er ist ganz in Ordnung, aber ein bisschen arrogant. Einmal ist er einem meiner Kollegen aufs Dach gestiegen, weil der die Lautsprecher verschoben hat, um sein Telefon an einer der Steckdosen aufzuladen. Dann ist da noch Rochelle, die hinterm Tresen arbeitet, sie ist fröhlich und nett, man kann gut eine halbe Stunde mit ihr verquatschen, ohne es zu merken.

Wir saßen direkt neben dem Eingang an diesem kleinen Tisch, weil der als einziger noch frei gewesen war, tranken alle Bier und waren ziemlich aufgekratzt. Wir lästerten über die unterbelichteten Kunden und gingen alles noch mal durch, was am Tag so passiert war, damit wir uns sagen konnten, wir hätten mal wieder alles richtig gemacht. Ich hatte eine Sportwette laufen, so dass ich immer mal wieder auf mein Handy schaute, um den Punktestand zu checken.

Gegen halb zehn beschloss ich, nach Hause zu gehen. Die Seife auf der Herrentoilette war mal wieder ausgegangen, so dass man sich die Hände nur mit Wasser waschen konnte. Danach fühle ich mich immer ein bisschen schmutzig und werde irgendwann unleidlich. Außerdem gehe ich nicht so gern nach elf Uhr schlafen, wenn ich am nächsten Tag arbeiten muss, und die Fahrt nach Hause dauert eine Stunde.

Mein Kumpel Clem brach zur gleichen Zeit auf wie ich, aber er ging in die entgegengesetzte Richtung nach Hause, und ich war allein. Mir war nicht danach, Musik zu hören, also setzte ich meine Kopfhörer auf und wählte einen True-Crime-Podcast aus, über einen Jugendlichen, der in Vermont verschwunden war. Ein paar amerikanische Bundesstaaten vergesse ich immer wieder, die gehen irgendwie unter, weil man nie darüber redet.

Ich kannte eine Abkürzung zum U-Bahnhof, durch die der Fußweg ein paar Minuten kürzer wurde. Es gibt da diese kleine Gasse beim Café, die an einer Baustelle vorbeiführt, dann muss man nicht den ganzen Weg außen um den Bahnhof herum nehmen, um zum Eingang zu gelangen. Ich lief also los, hörte den Podcast und chattete über WhatsApp mit meinem Arbeitskollegen Jack. Er hatte bei der gleichen Wette verloren wie ich. Es passierte oft, dass wir unabhängig voneinander die gleiche Wette abschlossen, vermutlich folgten wir denselben Tippgebern in den sozialen Medien und suchten auch nach denselben Teams.

Ich bog in die kleine Gasse neben diesem Café namens Limon ein und lief an der Baustelle vorbei. Es war ungewöhnlich kühl, und ich trug einen Pullover, eine dünne Regenjacke und Handschuhe, doch ich sah auch ein paar Leute mit richtigen Mänteln, Schals und Mützen, als sei es tiefster Winter, was ich ziemlich übertrieben fand. Okay, ich hatte selbst Handschuhe an, aber manchmal trage ich sogar Handschuhe zum T-Shirt. Meine Hände sind irgendwie immer viel kälter als der Rest meines Körpers, also trage ich normalerweise schon Handschuhe, bevor ich mir einen Pullover überziehe. Ich glaube, wenn die gesellschaftlichen Konventionen nicht wären, würden das viel mehr Leute machen.

In der schmalen Gasse war niemand unterwegs, es war ziemlich still. Vielleicht hätte ich nicht dort durchgehen dürfen, aber eine Menge Leute nahmen nach der Arbeit gegen fünf oder sechs diesen Weg zum Bahnhof. Dem Besitzer des Limon schien es egal zu sein. Manchmal sehe ich ihn, wie er stirnrunzelnd und mit verschränkten Armen die Leute beobachtet, die an seinem Café vorbeigehen. Aber ich habe ihn auch schon in genau derselben Pose Fußball schauen sehen, also steht er vielleicht einfach gern so da und beobachtet etwas.

Überall standen Paletten mit Ziegelsteinen, Sandsäcke und Kaffeebecher herum, die die Bauarbeiter zurückgelassen hatten. Ich weiß nicht, was sie dort bauten, aber über den Boden verliefen jede Menge von diesen klobigen gelben Röhren, wahrscheinlich Abwasserrohre für ein Gebäude oder so etwas, dachte ich. In diesem Moment verstummten meine Kopfhörer. Der blöde Akku war leer. Das ist das Problem bei diesem kabellosen Kram. Ich nahm sie ab und stopfte sie in die Tasche. Ich hasse Zugfahren ohne Kopfhörer – das führt nur dazu, dass ich meinen eigenen Gedanken zuhöre, obwohl ich den Tag lieber vergessen würde, statt ihn zu analysieren. Als ich es endlich geschafft hatte, meine ziemlich großen Kopfhörer in die Tasche zu quetschen, schaute ich auf und sah eine Gestalt, die sich durch die Dunkelheit langsam auf mich zubewegte. Es war ein Mann, und mir fiel auf, dass er nicht in gerader Linie ging. Wahrscheinlich war er betrunken.

Eine Menge betrunkener Banker nehmen diese Abkürzung zur Old Street Station, wo sie in ihre Züge steigen, die sie raus in den Speckgürtel nach Hertfordshire oder Essex oder weiß der Teufel wohin bringen. Diese Banker können ganz schön arrogant sein, wenn sie in unserem Pub auftauchen. Auf mich blicken sie runter, weil ich mich für die Arbeit nicht schick anziehe. Aber das muss ich auch nicht, und das ist auch gut so. Wenn du keinen Anzug zu tragen brauchst, gehörst du meiner Meinung nach zu den Gewinnern. Doch diese Businesstypen aus der City sehen darin ein Zeichen der Schwäche, als wärst du weniger wichtig.

Als der Typ vielleicht zehn Meter von mir entfernt war, bemerkte er mich. Er blieb stehen. Dann lachte er laut und sagte etwas – was ich hören sollte, glaube ich. Aber was immer er auch sagte, ich konnte es nicht verstehen. Er spuckte auf den Boden.

Warum machen die Leute so was?

Dann tat er etwas, was ich nicht kapierte: Er steuerte auf dem schmalen Weg direkt auf mich zu. An seiner Silhouette konnte ich erkennen, dass er mich ansah. Ich hatte keine Lust auf irgendwelchen Stress, also wich ich ihm ein wenig aus, damit genug Platz für uns beide war und wir ungehindert aneinander vorbeilaufen konnten. Als er näher kam, konnte ich ihn unter einer der wenigen Laternen ein bisschen besser erkennen. Er arbeitete eindeutig irgendwas in der City, aber er sah beschissen aus.

2

Ich muss kurz etwas über mich und Prügeleien sagen. Ich gebe mir darin selbst 5,5 von 10 Punkten. Nicht vollkommen nutzlos, irgendwo zwischen Überlebenslevel und »gewinnt ab und zu«. Bis ich sechzehn war, habe ich, glaube ich, jede Rangelei verloren, in die ich verwickelt war. Mein Dad behauptet, er habe in seinem Leben noch nie zugeschlagen; zu wissen, wie man sich verteidigt, findet er brutal und vulgär. Meine Mum hat mir immer den Rücken gestärkt; sie konnte nicht selbst kämpfen, aber sie ist eine Kämpfernatur und wünschte sich wahrscheinlich insgeheim, ich wäre ein wenig zäher.

Jedenfalls wurde ich früher ziemlich oft von Jugendgangs in unserer Gegend provoziert, und es endete immer damit, dass ich verprügelt wurde. Es war nicht so, dass ich schwach gewesen wäre, aber das Adrenalin überwältigte und lähmte mich, bis meine Arme und Beine sich taub und nutzlos anfühlten, als befände ich mich in einem Traum. Ich bin niemals vor irgendwas davongelaufen. Ich stand einfach da und verlor.

Hauptsächlich deswegen, weil ich nie sauer genug war. Als Jugendlicher war ich so gechillt, dass ich nie wütend genug war, um irgendjemandem weh tun zu wollen. Ich hatte einfach keinen Bock. Aber dann, mit sechzehn, siebzehn, änderte sich das, und ich wurde wütend, wenn ich provoziert wurde. Ich weiß nicht, warum das plötzlich so war, wahrscheinlich hatte ich einfach genug von diesen ständigen Dreistigkeiten der anderen.

Das Gesamtergebnis der Prügeleien, die ich in meinem Leben hatte, liegt jedenfalls bei ungefähr vier Siegen, zehn Niederlagen und ein paar Unentschieden. Ich kann also auf mich selbst aufpassen. Ich komme klar. Aber Medaillen würde ich keine gewinnen.

3

Der Anzug des Bankers war total zerknittert und saß nicht mehr ordentlich. Die obersten zwei oder drei Hemdknöpfe waren offen, und die Krawatte hing schief, als könnte sie sich für keine Richtung entscheiden. Er hatte kurzes, mausgraues Haar, das ein wenig zurückging, und obwohl er nicht wirklich dick war, konnte man einen kleinen Bierbauch sehen, der gegen sein Hemd drückte. Das Hemd war grauweiß mit diesen schmalen, hellblauen Streifen. Es sah aus, als würde er diese Sorte Hemd bereits seit Jahren tragen und schon lange nicht mehr mögen, aber er trug sie weiter, weil er das schon immer getan hatte. Es war die Sorte Hemd, bei der man denkt: Dieser Typ lebt nicht mit jemandem zusammen, der ihn liebt. Singlemänner sind ziemlich tolerant, was abgenutzte Klamotten angeht.

Als er näher kam, schaute ich nach unten. Nicht weil ich Angst hatte oder so, aber ich war einfach nicht in der Stimmung für irgendeine Art Interaktion oder betrunkenen Geplänkels mit diesem nuschelnden einsamen Wolf. Was konnte dabei schon herauskommen? Selbst sein Gang ließ meine Alarmglocken schrillen. Dieses unbeholfene, schiefe Torkeln.

Kurz bevor er an mir vorbeiging, konnte ich sein Gesicht sehen. Er hatte kleine, eingefallene Augen und eine spitze Nase, wie ein kleiner Schnabel. Dazu dieser höhnische Gesichtsausdruck, was ziemlich verächtlich und herablassend wirkte.

Dann machte er aus heiterem Himmel einen Schritt zur Seite, so dass er wieder auf mich zukam – direkt auf mich zu, so dass ich nicht an ihm vorbeikommen würde, ohne ihm Platz zu machen. Nur damit es kein Missverständnis gibt: Ich hatte mir die Mühe gemacht, ihm aus dem Weg zu gehen, um es für uns beide einfacher und angenehmer zu gestalten, und dann geht er absichtlich einen Schritt zur Seite, um es wieder peinlich werden zu lassen. Das ist ganz schön respektlos. Im Ernst, stellt euch das mal vor: Jemand weicht von seinem Weg ab, um dir Probleme zu machen. Und dabei kannte dieser Typ mich nicht einmal. Warum nimmt er ausgerechnet mich aufs Korn? Was habe ich an mir, dass jeder auf mir herumhacken will?

Wir würden unweigerlich zusammenprallen, doch ich versuchte nicht mehr, es zu verhindern. Scheiß drauf, ich habe meinen Anteil geleistet. Ich versteifte mich und wappnete mich für den Aufprall. Ich schaute stur geradeaus und versuchte, ruhig und lässig zu wirken. Ich schaute sogar auf meine Uhr, als würde ich dieses kleine Kräftemessen gar nicht bemerken und mich nur um meine Angelegenheiten kümmern.

Jetzt konnte ich sehen, dass der Typ etwa so groß war wie ich, einen Meter dreiundsiebzig, und wahrscheinlich ein bisschen schlanker und leichter. Mein Adrenalinpegel stieg, aber ich fühlte nichts, außer dass ich genervt war von diesem Kerl, der glaubte, er könne mich ohne jeden Grund schikanieren. Warum hat er mich ausgesucht? Strahlte ich für diesen Mann irgendwelche »Schwach-und-verletzlich«-Signale aus? Der Gedanke machte mich sauer.

Als unsere Wege sich kreuzten, rempelte er mich mit der Schulter an. Wir stießen kräftig zusammen und gingen beide weiter, keiner von uns gab dem anderen die Genugtuung, seinen Kurs zu ändern. Ich ging weiter, ohne zurückzuschauen. Ich hörte ihn anhalten; die Sohlen seiner Schuhe scharrten auf dem Boden, als er sich zu mir umdrehte. Ich ging einfach weiter.

Bis er seelenruhig sagte: »Du Pussy.«

Das Wort brachte mich sofort auf die Palme. Es war gar nicht so sehr das Wort »Pussy«, sondern vielmehr die Art, wie er es gesagt hatte. Mit so viel Verachtung in der Stimme, das »P« völlig überbetont, damit es möglichst hart und scharf klang. Im Weitergehen wandte ich mich zu ihm um und lachte. Mir fiel nichts anderes ein, außer so zu tun, als würde ich ihn jämmerlich finden. Was für ein Idiot.

Das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich ging weiter, doch meine Vernunft wurde vom Ärger einfach weggespült. Mein Herz begann zu rasen. Wieso glaubt er, er könne mich einfach so beleidigen? Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, ich fühle mich nicht gut, und jetzt kann ich nicht einmal zur Bahn gehen, ohne dass jemand sich mir gegenüber Unverschämtheiten rausnimmt. Mich beschimpft und mich rumschubst.

Schließlich drehte ich mich um und biss die Zähne richtig fest zusammen. Das Feixen verschwand aus seinem Gesicht. Er wollte mich wissen lassen, dass er sauer war, weil ich mich umgedreht hatte. Wie konnte ich es wagen, mich umzudrehen?, dachte er. Er dachte: Du bist ein Niemand. Halt mal schön den Ball flach, Junge.

Als ich mich ihm näherte, spürte ich, dass ich aus irgendeinem Grund nickte. Ein paar Schritte vor ihm blieb ich stehen. Seine Stirn war gerunzelt, und er hatte die Schultern hochgezogen. Ich wollte ihm sagen, dass er verdammt bescheuert aussah. Jetzt schob er den Unterkiefer ein Stückchen vor, und das schummrige Licht der Straßenlaterne hob die Stoppeln an seinem Kinn hervor und ließ sie feuerrot aussehen.

»Hast du etwas zu mir gesagt?«, fragte ich mit einem tiefen Raunen – so tief, wie ich konnte, und gerade laut genug, damit er es hörte. Mein Kehlkopf fühlte sich an, als hätte er sich zusammengezogen, und ich zitterte; ich habe kein Problem damit, das zuzugeben.

Er grinste und schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ich starrte ihn eine Weile an und lächelte leicht. »Das denke ich auch.«

Das war’s, abgehakt, dachte ich. Damit konnte ich leben. Ich werde es einfach dabei belassen. Jetzt hatte ich wenigstens das letzte Wort.

Doch dann packte mich der Zorn erneut. Dieses fiese Grinsen in seiner Fresse.

»Selber Pussy«, schrie ich und zielte mit der Faust auf seinen Kopf. Keine Ahnung, warum ich das gerufen habe. Ich wollte es ihm wohl einfach mit gleicher Münze heimzahlen. Ihm irgendwie zeigen, das ist dafür, dass du mich beleidigt hast, damit klar war, dass ich in dieser Sache immer noch der Gute war. Ich war der Anständige von uns beiden!

Ich erwischte ihn direkt oberhalb des Kieferknochens. Bang.

Ich hörte seine Zähne aufeinanderschlagen. Das hatte er nicht erwartet. Ich weiß nicht, ob es an der Trunkenheit lag oder an seiner Arroganz, aber er hatte den Schlag nicht kommen sehen. Er wirbelte mit den Armen herum wie ein Kreisel, wie eines dieser altmodischen Kinderspielzeuge. Als er sich einmal halb um sich selbst gedreht hatte, kippte er einfach nach vorn und krachte mit dem Kopf voran auf den Gehweg. Er wurde ganz still, dann kam dieses Geräusch. Ein leises Winseln, wie ein kleines Tier.

Ich war immer noch mit Adrenalin vollgepumpt, also baute ich mich breitbeinig über ihm auf. Ich war immer noch sauer und zitterte heftig. Ich fühlte mich stark.

»Na los, sag’s noch mal!« Die Worte waren so schnell aus meinem Mund heraus, dass eine Menge Speichel mitkam und das Wort »Sag’s« leicht gelispelt klang. Ich war so überdreht, dass ich nicht mal mehr richtig sprechen konnte. Es regnete. Ich hatte es bis jetzt nicht einmal bemerkt, aber es regnete schon seit ein paar Minuten. Große Regentropfen, die auf dem Pflaster wie Farbspritzer aussahen.

Er rührte sich nicht. Starrte nur mit entrüsteter Miene zu mir hoch. Immer noch ein bisschen feixend. Um zu zeigen, dass ihm das Ganze sonst wo vorbeiging. Ich murmelte etwas, an das ich mich nicht erinnere, bevor ich mich umdrehte und ihn kopfschüttelnd zurückließ. In welchen Blödsinn war ich hier bloß hineingezogen worden?

4

Ich kam zum Ende der Abkürzung und schaute zurück. Ich wollte das gar nicht, denn jetzt sah es so aus, als hätte ich Angst, er würde mir folgen. Ich hatte keine Angst. Ich wusste auch so, dass er mir nicht hinterherkam. Ich konnte zum Beispiel seine merkwürdigen, scharrenden Schritte nicht hören.

Er war immer noch da. Ich wusste, dass ich ihn nicht k.o. geschlagen hatte. Als ich neben ihm gestanden hatte, hatte er noch Geräusche von sich gegeben. Er war eindeutig besoffen. Vielleicht war er so betrunken, dass er ohnmächtig geworden war? Aber so besoffen war er auch wieder nicht. So, wie er sich bewegt hat, war er nicht sternhagelvoll. Er hatte mich viel zu konzentriert angesehen, so hinüber war er nicht. Zum Teufel mit dem Kerl. Ich gehe nach Hause.

Kurz darauf beschloss ich, doch zurückzugehen und nach ihm zu sehen. Ich war in Richtung Bahnhof gelaufen, und irgendwann war mir klargeworden, dass ich mich morgen beim Aufwachen wegen der Sache ziemlich mies fühlen würde. Sobald die Wirkung des Adrenalins etwas nachgelassen hatte, hatte ich das Gefühl, nachsehen zu müssen, ob mit ihm wirklich alles in Ordnung war.

Ich bezweifelte, dass mein Schlag großen Schaden angerichtet hatte, aber er war mit dem Kopf aufgeschlagen, und vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung. Er war auf dieser leicht vorstehenden Betonkante gelandet, die den Gehweg vom Randstreifen trennte. Nicht ganz eine Bordsteinkante; eher so ein Konstruktionsding, eine Bürgersteigeinfassung oder so etwas. Ich hatte die ganze Zeit nicht darüber nachgedacht, doch plötzlich konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Ich wusste nicht, warum, aber ich geriet ein wenig in Panik. Mein Mund wurde trocken, und meine Zunge kribbelte, als hätte ich Nadeln und Reißzwecken im Mund. Er war auf diese Kante geknallt, und es hatte ein echt komisches Geräusch gegeben. Ein ganz übles Geräusch, wie ein kurzes, stumpfes Knack. Wenn ich recht überlege, hatte ich so ein Geräusch noch nie zuvor gehört. Meine Schritte wurden schneller. Mein Adrenalinpegel stieg erneut, aber dieses Mal war es anders. Vorher hatte es mich hitzig gemacht, dieses Mal wurde mir ganz kalt. Als ich mich der Ecke näherte, an der die Gasse abzweigte, merkte ich, dass ich zu rennen begonnen hatte.

5

Er war immer noch da. Er hatte sich überhaupt nicht bewegt. Lag immer noch auf der Seite, die Arme vor sich, die Handflächen berührten sich fast, die Beine wie in einer Laufbewegung auf dem Boden. Ich lief zu ihm, wurde langsamer und näherte mich zögernd.

»Brauchst du einen Krankenwagen?« Die Worte platzten aus mir heraus, ehe mein Verstand der Frage richtig zugestimmt hatte.

Keine Reaktion.

Ich ging noch ein wenig näher. Nicht zu nahe, für den Fall, dass er nach mir schlagen würde. Etwa einen Meter entfernt blieb ich stehen.

»Nenn mich nie wieder ohne jeden Grund Pussy«, sagte ich langsam und ruhig. Ich sagte es, um die Wogen zu glätten, bevor er reagierte. Er sollte wissen, dass es unentschieden stand und er keine offene Rechnung zu begleichen hatte.

Ich ging um ihn herum, hielt dabei immer meinen Ein-Meter-Abstand ein und sah ihm ins Gesicht. Er starrte ausdruckslos in meine Richtung. Schaute direkt durch mich hindurch.

»Hey, Alter«, sagte ich. Meine Souveränität verpuffte.

Ich fühlte mich wie ein Kind, das darauf wartete, dass ein Erwachsener auftauchte, der sich der Sache annahm. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Ich schaute die Gasse hoch und runter. Absolute Stille, absolute Leere.

Vergiss den Meter. Ich ging zu ihm, kniete mich hin und streckte meine Finger in den Handschuhen nach seinem Gesicht aus. Mit der linken Hand stützte ich mich ab und legte den Zeige- und Mittelfinger der rechten vorsichtig auf seinen Wangenknochen. Er reagierte nicht.

Ich wedelte mit der Hand vor seinen Augen herum und flüsterte: »Hallo?«

Ich wusste nicht, wie man nach dem Puls tastete, also rollte ich ihn auf den Rücken, und dabei wurde ein Blutfleck sichtbar, den sein Kopf bisher verborgen hatte, direkt unter seiner Schläfe. Ich zuckte zurück und schnappte nach Luft. Ich konnte nicht erkennen, woher das Blut kam, aber es war ziemlich viel und verklebte die ganze Seite seines Gesichts. Die Stoppeln an seinem Kinn sahen jetzt pechschwarz aus, dort, wo sie vom Blut und dem Schatten verdunkelt wurden.

Mit rasendem Herzen zog ich mein Telefon aus der Tasche. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, versuchte ich ein paarmal, das Display zu entsperren, bis ich kapierte, dass ich meine Handschuhe anhatte und es nicht funktionieren würde. Ich griff nach dem Saum des Handschuhs, um ihn auszuziehen, hielt dann aber inne. Soll ich meine Handschuhe lieber anbehalten? Holy shit.

Ich sah mich erneut in der engen Gasse um. Ich hörte meinen eigenen Atem, ziemlich schwer und ziemlich schnell. Ich versuchte, mehr Luft zu bekommen, als bekäme ich plötzlich nicht genug. Ich murmelte etwas, war aber nicht sicher, was. Ich konnte mich selbst nicht hören, als wären meine Ohren zusammengeschrumpft.

Ich stand auf und ging an ihm vorbei, wobei ich die ganze Zeit die Gasse beobachtete und blinzelnd in die Dunkelheit spähte, um zu sehen, ob jemand in der Nähe war. Ich schaute über die Baustelle und zu den hellgelben Fenstern in dem Bürokomplex in mittlerer Entfernung. Keine Bewegung, nirgendwo.

Ich schaute wieder zu ihm hinunter. Trotz allem wirkte er irgendwie friedlich. Ich drehte mich um und lief wieder los in Richtung Bahnhof. Das Telefon hielt ich in der Hand, damit ich, falls irgendjemand sah, wie ich mich entfernte, sagen könnte, dass ich ihn dort gefunden hatte und zu helfen versuchte. Und dann, wenn ich wieder zu Hause und weit weg war, würde ich den Notruf wählen und erklären: »Es ist wahrscheinlich gar nichts, aber ich habe einen Betrunkenen gesehen, der da auf dem Boden lag, als ich vorbeigegangen bin.«

Aber ich hatte bereits entschieden, dass ich nicht dort in der Gasse bleiben würde. Ich hätte ja ohnehin nicht helfen können. Tatsache war, dass ich diesen Typen geschlagen hatte –, und er war gefallen und hatte sich am Kopf verletzt, weil er betrunken gewesen war. Hätte ich ihn nicht geschlagen, wäre er wahrscheinlich nicht umgekippt. Vielleicht aber doch.

Meine DNA und kleine Fasern von meinen Kleidern klebten wahrscheinlich überall an ihm. Ich hatte genug True-Crime-Dokumentationen gesehen, um zu wissen, dass es, sobald sie herausfanden, dass ich zur selben Zeit wie er vor Ort gewesen war, nicht lange dauern würde, bis sich die Schlinge zuzog. Es brauchte nur ein paar Wollfäden von meinen Handschuhen, ein winziges Stück Baumwolle von meiner Jacke oder ein Haar von mir, eine Wimper oder ein paar Hautzellen, und ich war erledigt. Ich hatte Geschichten aus den 90ern gehört, wo irgendwelche Quadratschädel bei Prügeleien durch einen »Glückstreffer« unabsichtlich jemanden umgebracht hatten. Die tragischsten Fälle waren diejenigen, bei denen es nur ein ganz normaler Typ von nebenan gewesen war. Ein einziger unglücklicher Schlag, und der Kerl wanderte für zehn Jahre ins Gefängnis, und sein ganzes Leben war ruiniert.

Ich torkelte zu einem Mülleimer und übergab mich.

6

Die Zugfahrt nach Hause schien mehr als drei Stunden zu dauern. In Wirklichkeit war es wahrscheinlich nicht mehr als eine halbe Stunde, weil ich eine Direktverbindung erwischte. Ich ging mit schnellem Schritt nach Hause, ohne anzufangen zu joggen. Ich kam mir vor wie einer von diesen olympischen Gehern, die den Schwung aus der Hüfte holen.

Am liebsten wäre ich gerannt, aber ich tat es nicht. Ich dachte die ganze Zeit an die Kameras, die überall auf mich gerichtet waren und die später wahrscheinlich benutzt werden würden, um mein Verhalten nach dem Vorfall zu dokumentieren. Es fühlte sich an, als würde sich plötzlich die ganze Welt nach mir umdrehen und mich anstarren. Wenn sie anfingen, die Schlinge um mich enger zu ziehen, würden solche Details wichtig werden. Also ging ich so langsam und lässig, wie ich konnte, mit den Händen in den Jackentaschen. Ich schüttelte unaufhörlich den Kopf, wie ein Hund, der sein Fell ausschüttelt.

Als ich endlich zu Hause war, schloss ich die Wohnungstür ab und ging direkt in die Küche. Ich brauchte ein großes Glas Wasser. Als ich mit den Handschuhen nach der Schranktür griff, hielt ich inne, streifte die Handschuhe ab und steckte sie in eine Supermarkttüte. Ich beschloss, sie wegzuwerfen. Ich wusch mir die Hände, dann zog ich meine restlichen Kleider aus und stopfte sie ebenfalls in die Tüte. Anschließend duschte ich lange und heiß. Als ich fertig war, packte ich die Stiefel, die ich getragen hatte, in einen Müllsack und stopfte diesen ebenfalls in die Tüte. Ich vernichtete den letzten Rest von der angebrochenen Flasche Wein, die ich noch im Kühlschrank hatte, und rauchte einen Joint im Schlafzimmer. Er war ziemlich schwach, und ich rauchte das ganze Ding in vielleicht zehn Minuten, ohne husten zu müssen. Dann nahm ich zwei Wick-MediNait-Tabletten, legte mich aufs Bett und starrte gegen die Zimmerdecke. Mein Herz raste immer noch, doch ich hatte das Gefühl, wieder etwas klarer denken zu können.

Eine Stunde später war ich eingeschlafen.

7

Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und schlief bis fast elf Uhr durch. Als ich aufwachte, nahm ich mein Telefon, um auf die Uhr zu schauen, und saß mit einem Ruck aufrecht im Bett. Verdammt. Wick-MediNait hat diese Wirkung, wenn man es zusammen mit Alkohol nimmt.

Zwei verpasste Anrufe und ein Haufen E-Mail-Benachrichtigungen auf dem Display.

Hastig tippte ich eine E-Mail, dass ich krank sei, und schickte sie meiner Chefin. Dann schickte ich ihr sofort noch eine E-Mail, in der ich erklärte, dass die erste in meinem Postausgang hängen geblieben war, seit ich sie um sieben Uhr morgens versucht hatte zu senden. Danach wurde ich etwas ruhiger. Eine Verschnaufpause.

Ich ging die Nachrichten der letzten Nacht durch und überflog die E-Mails, die ich bekommen hatte. Nichts. Während ich erleichtert Luft holte, wechselte ich gedankenverloren zur BBC-App, um mir die Spielstände anzusehen. Keine Ahnung, warum ich in diesem Moment dachte, die Fußballergebnisse wären wichtig. Es war fast ein Reflex, als Erstes am Morgen diese App zu starten. Dann sah ich etwas, das mir den Magen umdrehte. Und ich begriff, dass nichts je wieder so sein würde wie zuvor.

8

Alles ist so einfach, wie du es dir machst. Wenn du dich konzentrierst, kannst du die meisten Situationen so weit vereinfachen, bis sie beherrschbar sind. Deshalb reden die Leute ständig von Atemübungen und so etwas. Weil es hilft. Keine Aufgabe ist zu kompliziert, wenn du sie herunterbrichst auf Dinge, die du bewältigen kannst. Du musst nur die entsprechenden Techniken erlernen.

Aber ich hatte gerade einen Menschen getötet. Ich war mir nicht sicher, wie ich das herunterbrechen sollte. Auf der BBC-Site war es die am zweithäufigsten gelesene Story in London.

Atmen.

Schon das kleine Bild neben dem Artikel verriet, dass es eine große Sache war. Zwei Polizeitransporter und ein Streifenwagen parkten vor der Gasse. Mein Magen flatterte, als ich den Rettungswagen sah. Vielleicht ist er ja doch nicht tot. Doch die Schlagzeile sprach von einem »tödlichen Vorfall«.

Atmen.

Vielleicht ging es hier ja um einen anderen Vorfall? Könnte das alles ein Riesenzufall sein? Verdammt, verdammt.

Eine Hitzewallung trieb mich ins Badezimmer, wo ich mir am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Ich betrachtete mich im Spiegel und konnte nicht glauben, wie alt ich aussah. Für einen Moment dachte ich, wie trivial meine gewöhnlichen Probleme doch waren. Am Montag war ich gestresst gewesen, weil ich eine Präsentation für eine neue Craftbeermarke halten musste. Craftbeer ist mir im Großen und Ganzen komplett egal.

Ich hörte mein Telefon auf dem Nachttisch im Nebenzimmer klingeln. Ich rannte, um den Anruf entgegenzunehmen. Vielleicht wollte ich irgendeine Reaktion von der Welt, um mich von meinen Gedanken abzulenken. Es war eine der Frauen aus meinem Team, Anna, die mir Bescheid gab, dass meine Chefin gar nicht glücklich über mein Fernbleiben war. Sie konnte meine hastig zurechtgeschusterten E-Mails noch nicht gelesen haben.

»Ich komme gleich«, sagte ich. »Ich fühle mich schon viel besser – ich hatte ein paar Magenprobleme.« Die guten alten Magenprobleme. Plötzlich war ich ganz versessen darauf, zur Arbeit zu gehen, zurück zur Normalität. Keine ungewöhnlichen Vorfälle, alles lief, wie es sollte.

Ich riss meinen Kleiderschrank auf und kaute an den Nägeln, während ich die Kleiderstange von links nach rechts absuchte. Immer wieder schaute ich dabei auf mein Telefon – Gott weiß, was ich erwartete, wer mich anrufen würde. Ich zog ein graues Hemd an, zusammen mit der schwarzen Jeans, die über meinem Bett hing. Danach verbrachte ich zehn Minuten mit der Suche nach meinen schwarzen Stiefeln, bis mir einfiel, dass ich sie und die Mülltüte dringend loswerden musste, was mir einen heftigen Schauer über den Rücken jagte.

In was zum Teufel hatte ich mich da bloß reingeritten?

 

Eine Stunde später war ich in London-Farringdon. Die Stadt war feucht, kalt und grau. Schon allein durch London zu laufen kann dich beim falschen Wetter völlig fertigmachen. Im Sommer ist es eine ganz andere Stadt. Obwohl der Regen aufgehört hatte, waren die Straßen noch tiefschwarz von der Nässe, und überall an den Straßenrändern hatten sich Pfützen gebildet.

In Farringdon wimmelte es von Leuten, die zum Lunch wollten. Zur Mittagszeit an einem Donnerstag waren die Pubs halb voll. Ich ging schneller als alle anderen, sprang von links nach rechts über den Gehweg, um mich zwischen den Langsamgehern hindurchzuschlängeln. Ich bog um die Ecke auf die Hauptstraße neben dem Bahnhof, aber ich brachte es nicht über mich, nach vorn zu blicken. Als ich schließlich doch aufschaute, an der Express-Reinigung vorbei zum Ausgang der Gasse, in der es am Abend zuvor passiert war, konnte ich nichts Ungewöhnliches erkennen. Alles sah ziemlich normal aus, was mir einen sanften, kurzen Endorphinrausch bescherte. War das alles nur ein Missverständnis? Hatte ich etwas falsch verstanden?

Als ich an der Gasse vorbeiging, warf ich verstohlen einen Blick hinein. Ich konnte nicht weit hineinsehen, aber mir fielen keinerlei Aktivitäten auf. Nur ein einzelner Absperrkegel stand etwa drei Meter tief in der Gasse. Doch die Kräne bewegten sich; die Arbeit auf der Baustelle ging also weiter. Das war doch bestimmt ein gutes Zeichen, oder? Ich suchte die Gesichter um mich herum ab, versuchte, ein Gefühl für die Stimmung zu bekommen. Die ganze Zeit über tat ich unbeteiligt, doch unter der Oberfläche nahm ich alles in mich auf; sah mich verstohlen um, um die Positionen der Kameras zu erfassen, musterte Gesichtsausdrücke und lauschte angestrengt, was die Leute möglicherweise zueinander sagten.

Es gab ziemlich viele Kameras in dieser Gegend. Ich zählte mindestens sieben, aber weil ich möglichst entspannt wirken wollte, übersah ich vermutlich ein paar. An der Kreuzung stand ein hoher Pfosten mit drei Kameras, die alle in verschiedene Richtungen zeigten. Eine war direkt auf das Café Limon neben dem Eingang zur Gasse gerichtet. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Am Ende der Straße bog ich um die Ecke, und da sah ich schließlich den ganzen Zirkus.

Eine Polizeiabsperrung. Die Gasse war mit gelbem Flatterband abgesperrt, und da hing ein Schild, auf dem um Informationen gebeten wurde. Ich las keine Details. Ich spürte, wie Übelkeit in mir aufstieg, aber ich musste cool bleiben. Hastig lief ich weiter zum Büro.

9

Bei der Arbeit war die Stimmung anders, als ich erwartet hatte. Allerdings war ich mir nicht sicher, was ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte mit einer halben Trauerstimmung gerechnet. Niemand erwähnte das Treiben da draußen in Farringdon. Andererseits, warum sollten sie? Es hatte nichts mit uns zu tun.

Währenddessen passierte etwas Merkwürdiges mit mir. Ich stellte fest, dass ich mir ausgesprochene Mühe gab, besonders nett zu den Leuten zu sein; ich war super zuvorkommend. Vermutlich war es so ein schräger Nebeneffekt, der Versuch klarzustellen, was für ein netter Kerl ich eigentlich war. Der Versuch, mir selbst zu beweisen, dass ich ganz anders war als gestern Abend und dass das gar nicht mein Stil war.

Doch je länger sich der Nachmittag hinzog, desto schlechter konnte ich mich konzentrieren. Ich saß geistesabwesend in Meetings, den geöffneten Laptop vor mir, und googelte Sachen wie »Farringdon«, wobei ich meine Suche bewusst vage hielt. Nur ein Mann, der mehr über Farringdon erfahren wollte. In den sozialen Medien war alles ruhig, aber auf lokalen Nachrichtenseiten gab es ziemlich viele Berichte. Sein Name war Richard King. Er war Versicherungsmakler und allem Anschein nach ein anständiger, hart arbeitender Kerl, der von allen gemocht wurde. Ja klar. Wann sagt man jemals etwas anderes über jemanden, der gerade gestorben ist?

Jemand fragte mich etwas, und mein Kopf schoss unwillkürlich in die Höhe. Ich bin in einem Meeting. Jemand hat mich etwas zu einer E-Mail wegen der Auftragsvergabe gefragt. »Ja, ich bleibe dran.« Ich tat, als würde ich etwas in meinem Notebook notieren. Ein paar Leute nickten, und das Gespräch ging weiter. Niemand sah mich merkwürdig an.

Richard King kam aus Colchester in Essex. Er war ein umgänglicher Mann und schon lange mit seiner Freundin zusammen; er liebte seine Mum, mochte seine Kumpels und war Fan der Blackburn Rovers. Sein Dad stammte aus Blackburn.

Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich mich stellen sollte. Ist es das Beste, was ich im Moment tun konnte? Ist es das Beste für mich? Ich könnte haargenau erklären, dass es ein absolutes Versehen war und dass keinerlei Absicht dahintergesteckt hatte und dass ich erst heute begriffen habe, dass er ernsthaft verletzt gewesen war. Dafür würden sie mich doch nicht bestrafen. Jedenfalls nicht ins Gefängnis stecken.

Bei dieser Vorstellung wurde mein ganzer Körper eiskalt. In diesem einen Gedanken nahm das gesamte Entsetzen, das an meinen Eingeweiden zerrte, Gestalt an. Ich, im Gefängnis. Ich war nicht einmal gerne auch nur eine einzige Nacht von zu Hause fort. Die Vorstellung, dass sich mein ganzes Leben so krass verändern könnte, war unerträglich.

Ich hielt mein Telefon unter den Tisch und begann, nach ähnlichen Fällen zu googeln. Nachdem ich mich durch ein paar Artikel geklickt hatte, hörte ich auf. Ich hinterlasse eine deutliche Spur aus Brotkrumen. Die Polizei hat auf alles Zugriff. Das sind alles Indizienbeweise. Sie können deine gesamten Internetaktivitäten nachverfolgen, wenn sie wollen. Hastig löschte ich den Verlauf auf meinem Telefon und dem Arbeitslaptop.

10

Als ich nach Hause kam, nahm ich die Tüte mit den Kleidern vom Vorabend, fuhr zum Park in der Nähe meiner Wohnung und warf sie in den Altkleidercontainer auf dem Parkplatz am Eingang. Irgendwie fühlte sich das sicherer an, als wenn ich sie in meine Mülltonne geworfen hätte. Als würden sich die Sachen so nicht so leicht zurückverfolgen lassen. Wenn man etwas in diesen Spendencontainer wirft, wird es gereinigt und wieder in Umlauf gebracht. Es war nicht länger etwas von mir, das ich weggeworfen hatte, sondern wurde zu einem Gegenstand, der jemand anderem gehörte.

Obwohl es mich in den Fingern juckte, weiter nach dem Fortschritt der polizeilichen Ermittlungen zu googeln, schaffte ich es, den ganzen Abend nicht ins Internet zu gehen. Ich fasste den Entschluss, dass ich mich ab jetzt wie eine normale Person verhalten würde, die nichts von der ganzen Sache und von Richard King wusste.

Ich sagte mir immer wieder, dass es nicht meine Schuld war, dass irgendetwas davon passiert war. Aus den paar Fällen, auf die ich im Internet gestoßen war, schloss ich, dass es möglich wäre, für das, was ich getan hatte, acht oder zehn oder sogar fünfzehn Jahre Gefängnis zu bekommen – für einen einzigen Impuls in einem hitzigen Moment. Es gab sogar ziemlich viele Präzedenzfälle. In den letzten Jahren kam häufig etwas darüber in den Nachrichten.

Der Fatale Faustschlag, wie die Boulevardpresse es nannte. Eine Seuche, die ausgemerzt werden musste, wie religiöser Extremismus oder Messerstechereien in der Innenstadt. Der jüngste Angstmacher, über den man sich in den Vorstädten aufregen konnte. Eine kleine Dosis Panik, damit wir uns lebendig fühlen, ein Schreckgespenst, vor dem wir uns alle wegducken. So ein Mann kann unmöglich ich sein.

Nachdem ich gefühlte Stunden in meiner Küche auf und ab gelaufen war, entschied ich, dass ich alles herunterschlucken und einen dicken Strich unter die ganze Geschichte ziehen musste. Ich würde mir ein oder zwei Tage Reue und Bedauern gestatten und dann den Namen Richard King vergessen und vollkommen normal mit meinem Leben weitermachen. Das war der einzige Weg, mir von dieser Sache nicht den Rest meines Lebens bestimmen zu lassen. Ich hatte nicht darum gebeten, ich hatte Richard King nie zuvor gesehen, und vor vierundzwanzig Stunden hatte ich nichts über ihn gewusst. Ich hatte ihn nicht darum gebeten, sich in mein Leben zu drängen.

Also, mich könnt ihr da raushalten.

11

Am nächsten Morgen fuhr ich sehr früh zur Arbeit. Um halb fünf wachte ich von allein auf und konnte nicht wieder einschlafen; mir schwirrte der Kopf. Unablässig wiederholte ich diesen einen Gedanken wie ein Mantra: Der einzige Weg, um nicht den Verstand zu verlieren, bestand darin, einen Schlussstrich unter alles zu ziehen und in meinem Kopf eine Null-Toleranz-Strategie zu etablieren, die mir schon das Nachdenken darüber verbot. Ich musste jedes Gefühl von Besorgnis oder Angst wegen dieser Geschichte sofort und mit aller Gewalt zurückdrängen, sobald es auftauchte, und irgendwann würde es nur noch ein Fleck in der Landschaft im Rückspiegel sein.

Meine Aufgabe war es, die ganze Sache energisch hinter mir zu lassen, sie in einem Teil meines Verstandes zu archivieren, den ich nicht oft abrufe, und mich mit Arbeit auf Trab zu halten. Aber vorher musste ich noch eine letzte Sache erledigen. Ich musste etwas überprüfen.

Auf meinem Weg zur Arbeit nahm ich die Abkürzung durch die Gasse, die wieder für die Öffentlichkeit zugänglich war. Drei oder vier Meter von der Stelle entfernt, wo es passiert war, lagen fünf, sechs Blumensträuße und ein Blackburn-Fußballtrikot, auf dem etwas mit einem Filzstift geschrieben stand. Ich hielt nicht an, um es mir anzusehen oder Interesse daran zu zeigen.

Vor dem Café Limon hing das Hinweisschild der Polizei, auf dem um Informationen gebeten wurde. Wenn sie die Öffentlichkeit fragten, was passiert war, fischten sie vermutlich ziemlich im Trüben – falls sich bisher niemand gemeldet hatte. Niemand lief herum und achtete groß auf das, was vor sich ging. Wir sind alle viel zu beschäftigt. Dieser Gedanke stimmte mich für einen kurzen Moment optimistisch.

Doch das Wichtigste war, dass es dort keine Überwachungskameras gab. Keine einzige. Genau das wollte ich herausfinden, als ich dort herumschnüffelte. Ich passte den ganzen Weg über auf, und es war ausgeschlossen, dass irgendetwas von einer Kamera aufgezeichnet worden war. Ein Silberstreif. Es gab nicht einmal eine unverbaute Blickachse in irgendeine Richtung, bis auf die Fenster ganz oben in den hohen Gebäuden drum herum. Die Gasse wurde ziemlich gut durch die umstehenden Häuser verborgen.

 

Das Büro war so gut wie leer. Ich hatte erwartet, der Erste zu sein, aber als ich meinen Chip vor den Sensor hielt, sprang die Eingangstür rumpelnd auf. Sie war nicht verriegelt, was bedeutete, dass jemand vor mir gekommen war. Normalerweise füllte ich, sobald ich das Büro betreten hatte, als Erstes meine Wasserflasche am Spender bei der Rezeption auf. Heute nicht. Ich lief direkt durchs Büro zu meinem Schreibtisch, der in einer Ecke neben einem großen Schild mit dem Aufdruck Planung stand.

Aus dem Konferenzraum konnte ich murmelnde Stimmen hören, also reckte ich den Kopf, um über den Streifen aus Milchglas zu blicken, als ich daran vorbeiging. Ich konnte niemanden entdecken. Doch als ich weiterlief, sah ich unter dem Milchglasbereich der Glasfront vier Paar Füße unter dem Konferenztisch.

Ich ließ mich auf meinen Bürostuhl fallen und klappte meinen Laptop auf, drückte den Power-Button mit dem Zeigefinger und warf mein Handy und die Geldbörse auf den Tisch. Als ich mich vorbeugte, um ein halbes, altbackenes Croissant aus der offenen Tüte in der obersten Schublade zu nehmen, weckten schlurfende Schritte aus Richtung Küche meine Aufmerksamkeit. Meine Kollegin Emily kam gerade mit einem Tablett mit Kaffee und Wassergläsern heraus. Ich nickte ihr zu, den Mund voll Croissant.

»Morgen.«

Als Em mich sah, riss sie die Augen auf und nickte in Richtung Konferenzraum, während sie das Tablett auf ihrem Schreibtisch abstellte und in ihrer Handtasche nach einem Päckchen Taschentücher suchte. Sie grinste nervös und formte mit den Lippen ein paar Worte, während sie das Tablett wieder aufnahm und damit zur Tür des Sitzungszimmers deutete.

»Was?«, fragte ich tonlos zurück.

Sie antwortete nicht, sondern ging zum Konferenzraum und stieß die Tür auf. Musste ein Kundengespräch sein.

Nach ein paar Minuten siegte die Neugier. Ich hatte da drin ein klobiges Paar Schuhe mit dicken Kunststoffsohlen gesehen. Das waren nicht die Schuhe eines gewöhnlichen Marketingfuzzis. Ich stand auf und schlenderte am Sitzungszimmer entlang in den Druckerbereich. Ich tat, als würde ich nach einem Ausdruck suchen, stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte in den Raum.

Dort saßen zwei Polizisten, ein Mann und eine Frau.

O Gott.

12

Die Frau blickte auf und sah mir in die Augen. Instinktiv duckte ich mich, doch sie hatte mich bemerkt. Und jetzt? Ich ging zurück zu meinem Schreibtisch, schnappte mir aber vorher einen Stoß Druckerpapier aus dem Gerät. Mein Mund war trocken. Als ich mich zögernd setzte, schwang die Tür zum Konferenzraum auf. Meine Chefin beugte sich um die Ecke und winkte mich herein.

Ich schluckte schwer und stand auf; mein Herz hatte angefangen, heftig zu schlagen. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, also ging ich zuerst auf die Toilette. Ich ließ das Wasser gute dreißig Sekunden laufen, damit es richtig kalt war, ehe ich ein paar Hände voll direkt in mein rotes, heißes Gesicht spritzte. Zuletzt schöpfte ich eine Handvoll Wasser in meinen trockenen Mund und nahm mir ein paar Handtücher aus dem Spender.

Atmen.

Ich hatte das überwältigende Verlangen, mich hinter einer Sonnenbrille zu verstecken. Aber würde die Polizei es nicht merkwürdig finden, wenn ich bei diesem Treffen eine Sonnenbrille trug?

Ich stieß die Tür zum Konferenzzimmer auf, und da saßen sie. Meine Chefin Julia, Brian, der Leiter der Finanzabteilung, und die beiden Officers, ein Mann und eine Frau.

»Hallo«, krächzte ich, »was ist denn los?«

Ein paar entsetzliche Momente lang starrten mich alle nur schweigend an.

»Das ist Will«, verkündete Julia und zog den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor.

Die Polizistin sah mich nur ausdruckslos an. Ihr Kollege, der eine teuer wirkende silberne Brille trug, deutete mit offener Hand auf den Stuhl. »Hallo, Will, ich bin Detective Inspector Matt Probert, und das ist Police Sergeant Sarah Kane.«

Ich nickte Kane zu und zwang mich, Probert anzulächeln. »Worum geht’s?, platzte ich mit vorgetäuschter Neugier heraus. In meinem Bemühen, so zu tun, als fände ich die Sache aufregend und irgendwie lustig, schrie ich den Satz beinahe.

Probert öffnete ein kleines Notizbuch vor sich, nahm ein Foto heraus und schob es zu mir. »Sie haben vielleicht von dem Vorfall am Mittwochabend gehört, ganz in der Nähe des Bahnhofs? Wir versuchen, uns ein Bild davon zu machen, was zu dieser Zeit dort vorgefallen ist.«

So emotionslos wie möglich sah ich den Detective an. Mein Mund und meine Kehle fühlten sich an, als seien sie fest mit Baumwolle ausgestopft.

»Verzeihung … was für ein Vorfall?«

Die Officers sahen sich an, und Kane antwortete. Du meine Güte, hatte die ein hartes Gesicht. Sarkastisch blickende Augen in diesem merkwürdigen Winkel, die dir verraten, dass jemand ein harter Brocken ist. Sie sah gut aus, keine Frage. Wahrscheinlich Anfang oder Mitte dreißig. Ihre Haut wirkte frisch, und sie hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar, das sich unten ein wenig kräuselte. Ihr Mund war perfekt geformt und rahmte eine Reihe gerader weißer Zähne ein.

»Am Mittwochabend gab es einen tödlichen Vorfall in der Gasse, die zur Bahnstation führt, zwischen 21.15 und 21.50 Uhr«, sagte sie.

Ihre wachen, braunen Augen waren direkt auf mich gerichtet, und sie hatte einen Tonfall wie eine alte ungeduldige und überhebliche Lehrerin.

»Ach ja! Ich habe das Schild gesehen, neben dem …«

»Neben dem Café Limon«, unterbrach sie mich. Sie musste gewusst haben, dass ich vorgeben würde, nicht auf den Namen des Cafés zu kommen. Irgendwie dachte ich, wenn ich so tat, als könnte ich mich nicht an den Namen des Lokals erinnern, bliebe ich vor weiteren Fragen verschont. Doch sie schien mir einen Schritt voraus zu sein.

Probert deutete mit einem Nicken auf Brian. »Sie waren an dem Abend zu mehreren in dem Pub gegenüber dem Park? Ihr Kollege hier hat erwähnt, dass Sie dabei waren. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns kurz unterhalten?«

»Oh … ja, klar! Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihnen helfen kann.« Ich lächelte verlegen und suchte den Tisch nach Wasser oder etwas Ähnlichem ab. Vor Probert und Kane stand jeweils ein unangerührtes Glas Wasser. Ich malte mir aus, eines davon zu nehmen und einen tiefen Schluck zu nehmen. Ich könnte behaupten, ich hätte gedacht, das Glas wäre übrig. Ich konnte hören, wie mein Mund sich mit einem leisen Schnalzen öffnete und schloss, und ich nahm an, dass alle anderen es ebenfalls hören konnten.

»Alles, woran Sie sich von diesem Abend erinnern, könnte hilfreich sein«, fuhr Probert fort und zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Jacketts. »Wissen Sie noch, um welche Zeit Sie gegangen sind?«

Ich blies die Wangen auf und hob den Blick zur Zimmerdecke. »Puh. Gegen halb elf?«

Mir schwirrte der Kopf. Warum hatte ich mir noch keine Geschichte ausgedacht? Was war meine Geschichte?

Probert schaute zu Brian. Brian blinzelte mir kurz zu, ehe er nachdenklich zur Decke schaute. Er würde mich nicht berichtigen, aber seine Miene schien zu fragen: Bist du dir sicher?

Ich beschloss, ihm zuvorzukommen. »Nein, warten Sie, es muss früher gewesen sein. Das Fußballspiel lief noch. Eher halb zehn, viertel vor zehn.«

Probert nickte; Kane notierte sich etwas.

»Genau, ich bin ja vor dir gegangen, oder?«, sagte ich und nickte Brian zu, als würde es mir gerade erst wieder einfallen.

»Ja, ich glaube, wir haben den Pub um halb elf verlassen«, erwiderte Brian.

»Welchen Weg haben Sie nach Hause genommen?«, fragte Kane. »Sind Sie zum Bahnhof Farringdon gegangen?«

Probert ging dazwischen. »Tut uns übrigens leid, Sie bei Ihren Aufgaben zu stören. Es wird nicht lange dauern, wir versuchen nur, die Einzelteile zusammenzusetzen und uns ein Bild vom gesamten Abend zu machen. Der Wirt vom Three Kings