Ich werde leben - Lale Gül - E-Book

Ich werde leben E-Book

Lale Gül

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Beschreibung

Lale Gül hat einen autobiografischen Roman geschrieben: über das Aufwachsen eines muslimischen Mädchens im abgehängten Amsterdamer Westen, über Grenzen, Gebote, Loyalitäten einer ultrakonservativen Familie, über die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben. Bei seiner Veröffentlichung bricht die Hölle los, und plötzlich steht sie zwischen Rechten, Linken und religiösen Fanatikern, im Kampf um die eigene Stimme …

Ich werde leben erzählt in einer Sprache ohne Respekt von einer jungen Frau auf dem Schlachtfeld der Zugehörigkeiten, von ihrem Zickzackkurs entlang Familie, Glaube, Freiheit und unserer Gegenwart, vom modernen Kampf um Identität und Diversität im Abendland. Ein einzigartiges Zeugnis gegen die Kräfte der Unterdrückung, von welcher Seite auch immer.

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Seitenzahl: 417

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Titel

Lale Gül

ICH WERDE LEBEN

Roman

Aus dem Niederländischen von Dania Schüürmann

Suhrkamp

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Die niederländische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Ik ga leven bei Uitgeverij Prometheus, Amsterdam.Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5235.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Copyright © 2021 by Lale GülOriginally published in 2021 by Uitgeverij Prometheus, Amsterdam

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagfoto: Annaleen Louwes

eISBN 978-3-518-77264-5

www.suhrkamp.de

ICH WERDE LEBEN

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Ich werde Leben

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Informationen zum Buch

Ich werde Leben

Für meine inzwischen verstorbene Oma und für Defne

»Wie? Ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?«Friedrich Nietzsche

»Ich will gelesen werden.«Multatuli

»Was macht ihr aus unseren Töchtern, o Sitten! Ihr zwingt sie zum Lügen und Heucheln. Sie dürfen nicht wissen, was sie wissen, nicht fühlen, was sie fühlen, nicht begehren, was sie begehren, nicht sein, was sie sind.«Multatuli

»Das tut kein Mädchen. Das sagt kein Mädchen. Das fragt kein Mädchen. So spricht kein Mädchen.«Multatuli

»Darin liegt das A und O der ganzen Erziehung. Und wenn dann so ein armes, eingeschnürtes Kind glaubt, stille hält, gehorsamt … wenn sie gänzlich unterworfen ihre liebe Blütezeit verbracht hat mit Beschneiden und Kappen, mit Ersticken und Schwächen von Lust, Geist und Gemüt … wenn sie, gehörig verunstaltet, verrunzelt, verdorben, ganz brav geblieben ist – das nennen die Sitten brav! – dann hat sie allenfalls die Aussicht, dass dieser oder jener Lümmel kommt, ihr den Lohn anzubieten für so viel Bravheit, indem er sie anstellt als Aufseherin über seinen Leinenschrank, als von ihm monopolisierter Patentapparat, sein ehrwürdiges Geschlecht zu erhalten. Es ist gewiss der Mühe wert!«Multatuli

»Des Menschen Berufung ist, Mensch zu sein.«

Multatuli

1

Ich hätte mit dem Strom schwimmen können; nichts wäre dann passiert, ich wäre nicht verstoßen worden. Doch heute treffe ich im Wissen um das Übermorgen eine sorglose Entscheidung.

Als Gedankenspiele bereiten viele Dinge im Leben Spaß, man setzt sie jedoch besser nicht in die Wirklichkeit um. Auf die Veröffentlichung dieses Texts trifft das auch zu. Ich gebe daher allen einen guten Rat à la Johan Cruyff: Hüllt euch besser in Schweigen über das, was ihr eines Tages bereuen könntet. Versehe ihn mit der Bitte, mir in meinen Bericht zu folgen. In der Hoffnung, dass ich einen Stein ins Rollen bringe.

Zehn nach elf am Abend, ich bin mit dem Schlüssel an Omas Haustür zugange, drehe ihn im Schloss. Der vertraute schale Geruch, der mir beim Betreten ihres Reichs entgegenschlägt, überwältigt mich auch dieses Mal, doch Sekunden später meine ich ihn nicht mehr wahrzunehmen, zum Glück. Mit üblen Gerüchen ist das so. Kommt man von einer neutralen Umgebung plötzlich an einen Ort des Gestanks – Schultoiletten, Klos im Universitätsgebäude, Umkleidekabinen von Fitness4Ladies Only im Amsterdamer Viertel Bos en Lommer, Freeks vollgerauchtes Zimmer (Hasch), die Wohnung meiner Erzeuger, wenn Mutter frittiert (no Dunstabzugshauben in den Hühnerverschlägen in Amsterdam-West) oder das blutige Schaf fürs Opferfest abgeliefert wird, oder eben Omas Wohnung –, dann wird man erst erschlagen, doch augenblicklich gewöhnt man sich daran; wie an so vieles.

Kaum bin ich in meinem Zimmer, reiße ich die Gardinen zur Seite und das Fenster sperrangelweit auf. Letztens habe ich überall in der Wohnung Duftstäbchen aufgestellt, aber der säuerliche Omageruch vermischte sich einfach mit grünem Apfel und Babypuder; keine Chance. Kann ja nicht wirken, schwant mir, denn der Ursprung allen Miefs besteht fort: Oma. Wie sagt man? Probleme müssen bei der Wurzel gepackt werden.

Mein jüngerer Bruder, Halil, er ist achtzehn, beschwert sich jedes Mal: »Mann, Alter, hier steht ja die Luft, macht doch mal die Fenster auf!« Darauf reagiere ich nicht mehr. Was soll man auch antworten? Die Ursache kennt er genau: Unsere kranke Oma stinkt in ihrem Bett vor sich hin, gehüllt in unzählige Kleidungsstücke, fetter jeden Tag. Speckrollen haben die Kontrolle über ihren Körper übernommen, als ob sie in ihnen versinkt, vor allem, wenn sie versucht aufzustehen. An den Knien leidet sie unter Erosion (etwas mit ihren Bändern oder so, Vater konnte es mir nicht erklären, sein Niederländisch ist mies und er redet mit dem Arzt). Außerdem leidet sie an Verkalkung, Asthma, Diabetes, Parkinson und Gott weiß was noch alles. Bewegung also schwierig. Der Arzt hat gesagt, eine Operation sei möglich, wenn sie mindestens 30 Kilo abnehme, sonst berge der Eingriff zu viele Risiken. Wird dann wohl leider nichts. Schon seit Jahren hören wir von den Männern in Weiß, sie müsse dringend Gewicht verlieren – da können die lange warten. Oma scheißt auf ihre Gesundheit. Läge es an ihr, würde sie erst fluchen, dann seufzen und schließlich sterben. »Dann bin ich erlöst«, sagt sie.

Seit Langem ist sie zynisch und von Schwermut befallen, wird nur noch von ordentlich Zucker einigermaßen munter, und das bisschen Genuss, die verfluchten Plätzchen, Apfelkuchen, Limonaden, das Milcheis und die Chips, will ich ihr nicht wegnehmen, sondern decke sie damit ein. Sie kann nicht lesen, kann sich die Zeit nicht wie andere Omas vertreiben. Türkisch beherrscht sie auf Bauernniveau, keinen einzigen Tag hat sie eine Schule von innen gesehen, ihr Vokabular ist armselig, ihr Horizont beschränkt, sogar das türkische Trash-Fernsehen zu hoch für sie. Ihr Allgemeinwissen ist so kläglich, dass sie glaubt, es gäbe nur drei Länder auf der Welt: Amerika, Türkei und die Niederlande. Amerika darum, weil ihr von vielen Menschen oft über diesen Ort des Verderbens, die geografische Verkörperung des Bösen, erzählt worden war. Die moderne Welt war so neu für sie, dass viele Dinge keinen Namen besaßen, um von ihnen zu sprechen, musste sie auf sie zeigen; daher kann ich über vieles nicht mit ihr reden, nur Belanglosigkeiten austauschen. In meiner Abwesenheit litt sie oft unter beunruhigender Ruhe oder auch Langeweile.

Mit meinen Erzeugern ist es ähnlich; als sie mit ungefähr 25 Jahren (Geburtsdaten unbekannt bzw. nicht registriert) in die Niederlande kamen, waren sie ebenfalls Analphabeten. Auch wenn das Problem seither mehr oder weniger aus der Welt geschafft wurde, gibt es genug andere Bereiche, in denen sie aufzuholen haben. Ihnen sind mehr Länder in der Welt bekannt, sie können aktuelle Ereignisse einordnen, doch sie beziehen Nachrichten plus Weltbild über die türkische Schüssel, also zu faktenfreiem, grellem Kitsch aufbereitete Propaganda, zurechtgestutzt für ein reaktionäres, kollektivistisches und ultrareligiöses Publikum. Nicht nur innenpolitische Anliegen, auch Außenpolitik. In letzter Zeit wurde ich ein paar Mal unfreiwillig Zeugin der Botschaften und hörte etwa, der niederländische Premierminister Rutte habe gesagt, die Türken sollten sich gefälligst aus den Niederlanden verpissen, und der Rechtspopulist Wilders habe zugesichert, das Land wieder muslimfrei zu machen. So weit lagen sie wahrscheinlich gar nicht daneben, man muss nur den Leitspruch »Die Niederlande wieder für die Niederländer« betrachten – was auch immer das bedeuten mag – und die Aufforderung, sich zu verpissen, die der Premierminister an Jugendliche mit Migrationshintergrund richtete, aber die Wirkung wäre eine andere gewesen, hätte man korrekt zitiert. Bombastische Toneffekte samt Bildern eines zornentbrannten Geert Wilders waren dem Beitrag hinzugefügt, und alles wurde in Endlosschleife wie auf HSE Shopping wiederholt.

Ein anderes Mal vernahm ich, dass die Niederlande türkische Pflegekinder bei homosexuellen Pflegeeltern unterbringen, um Muslime zu ärgern. Die biologischen Erzeuger eines Yunus aus Den Haag sprachen einem begierigen Reporter ihre Geschichte ins Mikrofon. »Wir haben gesagt, das stehe in Widerstreit zu unserem Glauben, aber unsere Vorbehalte wurden ignoriert. Das machen sie extra, weil wir Muslime sind!« Beim nächsten Mal wurde ich informiert, eine Abgeordnete der Sozialistischen Partei gebe sich offen als PKK-Anhängerin zu erkennen, was auch nicht weiter verpönt sei. Frau Karabulut werde gar gelobt und in ihrem Türkeihass von den Niederländern noch befeuert, die gemäß dem Motto »Teile und herrsche« die Türkei in einen Krisenherd und Satellitenstaat verwandeln wollten, denn dafür seien die perversen Bleichgesichter und monströsen Schoßhündchen Amerikas und Israels schließlich bekannt. Kuzu, ein niederländischer Politiker türkischer Herkunft, bemühte in regelmäßigen Abständen das Narrativ, die Niederlande seien durch und durch rassistisch, schlimmer, faschistisch, nicht nur die einfachen Bürger, sondern auch die Richter, Polizisten und eigentlich alle Institutionen. Sogar gegen das Grundgesetz werde verstoßen, wenn es um Muslime oder Menschen anderer Hautfarbe gehe. Er zeigte besonderen Eifer beim Namedropping türkischer Politiker in den Niederlanden, die gegen ihn oder seine Ideen waren, sodass die nach der Ausstrahlung ein Problem mehr hatten und ihren Urlaub in der Türkei vergessen konnten.

In letzter Zeit ging es häufig um die Bekehrung eines ehemaligen Rechtspopulisten zum Islam, von Muslimen auch »Rückkehr« genannt, da wir glauben, jeder werde als Muslim geboren und lediglich durch seine Erzeuger vom Weg abgebracht. Schon der zweite Vertreter von Wilders Partei PVV, der eine Metamorphose hinlegte – für uns ein Glücksfall; von notorischem, ungewaschenem, missratenem Rassisten und Islamhasser zum demütigen Muslim. Einst General der vordersten Front bei den Anti-Islam-Braunhemden Hollands, jetzt ein Held, der von seinen religiösen Fanatikerfreunden mit offenen Armen empfangen wird und ihr Wertefundament bestätigt. Die Gemeinschaft der Muslime hatte einen dicken Fisch an der Angel, ein neues Maskottchen, ein Paradepferdchen, und würde es nun unaufhörlich anpreisen. Religion funktioniert wie ein Unternehmen, man möchte große Namen mit sich in Verbindung bringen; wie bekannte Sängerinnen für eine Limonadenmarke über den Boden robben, hatten auch wir unsere Schlampe, unseren helper-whitey, den wir dem Patriarchat zur Prostitution zuführten.

Es gibt sicherlich seriösere Nachrichtensender im türkischen Fernsehen, ich weiß es nicht; meine Erzeuger hatten immer das Schwachsinnigenprogramm laufen. Das Interview mit Bauer Ali in den Straßen Anatoliens ist mir besonders in Erinnerung. Er wurde zu Charlie Hebdo befragt; Tenor war, tugendhaft sei die Tat nicht, Terror müsse verabscheut werden, aber diese Typen, eine Truppe Humoristen ohne Manieren, sogenannte Vorkämpfer des sogenannten freien Wortes, hätten schon auch darum gebeten. Schlaflose Nächte hätten sie jetzt eher nicht deswegen. »Wer ein bisschen Grips hat, kann sich die Gewalt ausmalen, für den Fall, dass man eine Person verspottet, die für so viele Menschen auf der Welt heilig ist. Deswegen weiß ich nicht, warum die Leute sich so aufregen«, sagte ein Mann. Wer braucht schon Wissen und Fachkenntnis, wenn er gesunden Menschenverstand hat? Aber wer weiß, und er hat Recht. Wählt man seine Feinde, sollte man die wirklich gefährlichen Typen besser links liegen lassen.

Auf jeden Anschlag im Namen unseres Glaubens folgt zuverlässig die Entkopplung von Tat und Motiv in meiner Community, man zeigt sich empört wegen der allgemeinen Empörung.

Was wohl eine Umfrage unter Türken, vor allem in der Diaspora, über unsere Haltung hinsichtlich Hebdo zum Vorschein brächte, würde mich interessieren. Zum Glück bedeutet das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht Recht auf eine Bühne.

Der Witz, den wir nicht zum Lachen finden, wird uns bloßstellen. Tiefer als ein guter Witz schneidet nur wenig. Und ich verachte Menschen, die sich von der Pflicht entbunden sehen, zu kränken und zu provozieren, was mächtig ist.

Es ist bemerkenswert, wie Medien Menschen beeinflussen, auch ohne zu lügen. In der regionalen Presse konnte man neulich lesen, Wilders sei verurteilt worden für seine Frage »Wollt ihr weniger oder mehr Marokkaner?« (woraufhin die Menge »Weniger, weniger« skandierte), während die türkischen Blätter »Trotz Genozidsprache keine Strafe für Wilders« titelten. Beim letzten Mal, als ich unfreiwillig beschallt wurde, lief gerade eine Interviewreihe mit Türken aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, die medizinische Eingriffe lieber in der Türkei durchführen ließen. Ihrer Überzeugung nach war die medizinische Versorgung dort besser, sie erzählten Anekdoten von Familie und Freunden, die in den Niederlanden zu hören bekamen, körperlich würde ihnen nichts fehlen, ihre Schmerzen und Beschwerden seien stressbedingt, in ihren Herkunftsländern aber entdecken mussten, dass sich ein wucherndes Krebsgeschwür in ihnen breitmachte und sie schon zu viel Zeit verloren hatten. Bei Tante Kadriye, Eierstockkrebs im Endstadium, ist das so gewesen.

Auch die anderen Interviewpartner ließen, Popschutz unter der Nase, verlauten, sie würden lieber im eigenen Land unterm Messer liegen, denn der Rassismus, Hass, die Fremdenfeindlichkeit in den Niederlanden, Gefühle, die sich auch in der Brust ihrer Ärzte regen konnten, würden ihnen Sorge bereiten. Eine schlicht gekleidete Frau fasste es folgendermaßen in Worte: »Die rechtspopulistische Partei wird von vielen gewählt, auch der Arzt von mir und meinen Kindern ist vielleicht darunter. Blind kann ich dem nicht vertrauen und Vertrauen ist wichtig.« Wollte man Brücken bauen, wäre Vertrauen tatsächlich wichtig, aber mir schien vielmehr, dass die bestehenden, wenn auch wackligen Brücken abgerissen wurden. Die Gräben wurden tiefer, Feinde konnten sich nicht mehr in die Augen blicken, geschweige denn miteinander sprechen.

Heute Mittag wurde ich von demselben Sender informiert, dass eine Gruppe Strenggläubiger in den USA gegen Abtreibung auf die Straße gegangen war. Die Todesstrafe solle auch für Mörder ungeborener Babys gelten. Ich bin genauso Anhängerin der Todesstrafe, aber nur für die, die das Kind in sich selbst getötet haben.

Von allen häuslichen Aufgaben ist Oma befreit. Ich kümmere mich, auch wenn Mutter in letzter Zeit zugegebenermaßen mehr tut als ich, da ich kaum noch zu Hause bin, seit ich zwei Nebenjobs habe, einem Studium nachgehe und dazu noch eine heimliche Fernbeziehung führe.

Die Medikamente, die Oma jeden Tag einnehmen muss, kann man riechen, sie dringen aus ihren Poren. Es ist nicht gerade hilfreich, dass sie selbst nie auf die Idee kommt, die Balkontür oder ein Fenster aufzumachen, vor allem, wenn ich den ganzen Tag außer Haus bin. Ich habe Oma häufiger gebeten, habe es mal angeordnet, sie ein anderes Mal angefleht, die Wohnung in meiner Abwesenheit zu lüften. Sie weigert sich. Geht ihr alles am Arsch vorbei. Sie ist eben ein Häufchen Elend, beschädigt, rundum betrogen von ihrer Vergangenheit, lebensmüde, trübsinnig schon seit Jahrzehnten und zu normalem Funktionieren schlicht nicht in der Lage – unmöglich, ihr böse zu sein. Viel Misere hat Oma durchgestanden, es gleicht einem Gotteswunder, dass sie noch nicht unter die Räder gekommen ist, schließlich war ihr von den Göttern reichlich beschieden: ein Aufwachsen in extremer Armut als Waise mit einem dahinsiechenden, kränklichen, unfähigen Vater, Zwangsverheiratung als Zwölfjährige mit ihrem Cousin, mehrmalige Vergewaltigung und Misshandlung in der Ehe, häusliche Gewalt unfassbaren Ausmaßes, Mutterschaft mit dreizehn, ein spielsüchtiger Partner, der alles Geld verlor und sich als brutaler, unberechenbarer Typ erwies, im Suff regelmäßig bösartig wurde, mehrere ihrer Kinder ermordet oder schwer misshandelt hat (unter anderem meinen Vater) und Onkel Bahattin behindert geprügelt hat, der sich dann, einmal in den Niederlanden angekommen, von Oma scheiden ließ und inzwischen mit einer vierzig Jahre jüngeren Dame aus einem gottverlassenen türkischen Dorf verheiratet ist, die er durch seinen niederländischen Pass – ergo Geld – dazu hat verleiten können. Inzwischen hat er fünf Kinder mit ihr, das jüngste, so sagt man, wenige Tage alt. Opa ist über siebzig, sein Fortpflanzungsapparat funktioniert aber anscheinend prächtig.

Ich habe Opa noch nie gesehen. Er wohnt auch in Amsterdam, vielleicht ist er mir schon über den Weg gelaufen. Nur Vater hat sporadisch Kontakt, der Rest von uns kennt ihn ausschließlich aus Erzählungen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Manchmal spricht Oma noch von Ayse und Atikè, ihren beiden Töchtern, die als Säuglinge von ihrem Vater erdrosselt wurden. Sie plärrten zu viel, das trieb ihn in den Wahnsinn. Als Oma ihn verfluchte, ihn wüst beschimpfte – ihr Mut unerprobt, unanständig –, kriegte sie den Topf kochender Milch über ihre Beine. Nur eine von unzähligen Anekdoten, aber ich belasse es hierbei.

In ihrer Jugend war Oma hübsch, Verehrer bzw. um ihre Hand anhaltende Männer gab es reichlich, aber egal, ihr Vater hatte bereits bei der Geburt die Verheiratung mit dem Cousin besiegelt. In jenen Gegenden sprach man von Wiegenschwur. Erzeuger bestimmten, dass zwei Babys – meistens aus einer Familie, das war so schön vertraut – verheiratet werden sollten, wenn sie denn reif dafür waren. Körperlich reif.

Also ja, Oma macht keiner mehr was vor. Ihr Leidensweg hat sie zu einer müden Frau gemacht. Eine konsequent gelebte Antriebslosigkeit ist radikaler als Selbstmord. Und Gleichgültigkeit eine Gnade. Sie hielt sicheren Abstand zu jedem Fünkchen Begeisterungsfähigkeit. Selbstschutz auf Kosten anderer.

Die Tragik der Geschichte: sie ist inkontinent, kann noch zur Toilette, um einen abzuseilen, aber das Pinkeln wird in ihren Pampers erledigt. Und das riecht man. Tagein, tagaus. Die Wohnung mieft, vor allem im Sommer ist es kaum auszuhalten. Die aus Holz gebauten und renovierungsbedürftigen Wohnungen hier sind winzig, man tritt sich gegenseitig auf die Füße, kann sich nicht ungehindert umdrehen, ohne mit seinem Hintern irgendwo anzustoßen, was das Zusammenleben mit Oma nicht komfortabler macht, dennoch sind alle Nachteile verschwindend gering gegenüber dem einen Vorteil, den ich bei Oma genieße: Sie ist nett zu mir. Sie ist mein Kumpel.

Die Wohnungen haben jeweils zwei Schlafzimmer, es knarrt, knirscht, die Wände sind hellhörig, man kann eigentlich gleich bei offener Tür kacken. 48 m2 sind sie groß und bezahlbar, darum wohnen wir hier. 450 Euro, ein Spottpreis für ein Loch in Amsterdam. Meine Kommilitonen müssen allein 700 für ihr Ein-Zimmer-Studio zahlen. Wir wohnen nicht etwa günstig, weil die Wohnungsbaugesellschaften Menschenfreunde sind, sondern weil wir hier schon mehr als zwanzig Jahre wohnen. Bei einem Auszug würde die Miete sofort angepasst, wahrscheinlich auf 750 Euro für einen vorsintflutlichen Schuhkarton im Problemviertel. Oder Powerviertel. Oder Wowviertel. Oder meinetwegen Gebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf. Weil es sozialer Wohnungsbau ist. Vom freien Markt ganz zu schweigen.

Unser Viertel hatte es damals in die Zeitung geschafft; Kolenkitbuurt wurde offiziell als die schlechteste Wohngegend der Niederlande ausgezeichnet, da der Bezug von Transferleistungen bemerkenswert hoch war, so bemerkenswert wie die sprachlichen Defizite, die Jugendkriminalität, das Ausmaß an Vandalismus und die katastrophalen schulischen Leistungen. Auf dem Foto zum Artikel war Oma abgebildet, die damals noch draußen herumlaufen konnte. Die ganze Nachbarschaft sprach über Oma in der (Gratis-)Zeitung, der Inhalt wurde ignoriert; wahrscheinlich konnten die meisten sie nicht lesen.

2

Sich an den Gesetzen der türkischen Konservativen zu vergehen ist wohl das Schlimmste, was man Mutter antun kann. Sie versteht sich als deren Hüterin. Oma dagegen bricht mit allen Konventionen und auch ich verfüge dahingehend über Talent, daher haben Oma und ich, obwohl wir auch mal aneinandergeraten, ein enges Verhältnis; bei Streitigkeiten stellt sie sich schützend vor mich, nimmt, wenn irgend möglich, den Druck vom Kessel. Wenn meine Erzeuger mich terrorisieren, schließen wir die Reihen. Ich mache das genauso für sie. Auch unter Zeugen flucht Oma oder ruft den Tod an, und das stellt laut unserem Glauben eine entsetzliche Sünde dar. Leid ist mit »Würde, Geduld und Selbstbeherrschung« und so weiter zu erdulden, denn das ist laut Mutter »edelmütig«. Ein jeder hat also sein Kreuz zu tragen, nur ohne Kreuz dann. Den Tod darf man nicht anrufen, Allah allein bestimmt, wann deine Zeit gekommen ist. Leid ist Teil deiner Prüfung und von Gottes Plan. Inzwischen weiß ich, dass sich die besten Pläne durch ihre prinzipielle Unausführbarkeit auszeichnen.

»Er möchte sehen, ob du ohne Gejammer, ohne deinen felsenfesten Glauben an Ihn aufzugeben, Leid ertragen kannst.« Schon als Kind fiel es mir schwer, dieses Konzept zu verstehen. Wurden meine Fragen ihr lästig, sagte Mutter damals, ich sei zu jung, um es zu begreifen, aber mit den Jahren ist es nicht besser geworden, im Gegenteil. Einmal hat sie es mit einer Analogie erklären wollen: »In der Schule musst du doch auch Prüfungen schreiben, und obwohl die Lehrer alle richtigen Antworten verraten könnten, weigern sie sich, wie schwer es dir auch fällt, weil sie nämlich sehen wollen, ob du es eigenständig schaffst. So ist auch dieses Leben eine Prüfung durch Allah, bei der Er der Aufseher ist.«

Prüfung ganz sicher, vielleicht mehr im Sinne von Experiment. Schon als Kind war mir klar, dass der Vergleich hinkte, aber instinktiv beließ ich es dabei.

Oma empfand Widerwillen gegenüber allem Gottesfürchtigen, auch wenn sie es nicht aussprach. Regelmäßig musste Mutter sie auf die Gebetszeit hinweisen, fünf Mal am Tag, also schwierig, sich jedes Mal zu entziehen. Beim Ramadan machte Oma auch nicht mit. Ihre Krankheit dient jetzt als Ausrede, aber es war mir nicht entgangen, dass sie früher schon im Geheimen schmatzte, schlürfte. Damit der Gesetzesbruch in unserem Fanatikerhaushalt verborgen blieb, wurde ich als Kind bestochen; von ihrer Grundrente gab sie sowieso nichts aus, Mutter kümmerte sich schon damals ums Essen und ihre Kleidung (Mutter kann gut schneidern), es war Schmiergeld über.

Lamentiert Oma, sagt Mutter verbissen, Oma habe Bittgebete zu verrichten oder Korankapitel zu rezitieren, das würde sicher helfen. Oma wird dann sauer und sagt nichts mehr, brodelt wie kurz vor dem Ausbruch. Es braut sich etwas zusammen unter ihrer Haut, ich sehe, wie es zuckt. Kürzlich sprang das Ventil auf: »Quatsch«, sagte sie gereizt, als Mutter ihr zum Beten riet. Die Hausdespotin setzte daraufhin mit lauten Gebeten ein, Gott möge die lästerlichen Worte, von Beelzebub eingeflüstert, vergeben, und ermahnte die Sünderin. Oma solle bloß aufpassen und ihr Herz mit Gottesfurcht füllen, im Jenseits müsse sie noch Rechenschaft ablegen für den Zorn, den sie auf sich gerufen habe. Und wenn man ihre Situation bedenke, sei dieser Moment schon gefährlich nah, es fehle ihr an Umsicht. Je älter man wird, desto mehr verliert das Zeitliche seinen ursprünglichen, rein theoretischen Charakter.

Während ich meine Tasche ablege und den Schlüsselbund auf den Schreibtisch werfe, sehe ich aus dem Augenwinkel Oma im Wohnzimmer sitzen. Es glüht, laut Thermometer 27 Grad. Sie trägt einen langen Blümchenrock, wie immer, und eine gestrickte Weste. Selbstverständlich hat sie ihr weißes Kopftuch auf. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich sie das letzte Mal ohne Kopftuch gesehen hätte, es scheint mit ihr verwachsen. Ältere Menschen legen es aus Gewohnheit fast nie ab, lediglich beim Duschen, obwohl es in den eigenen vier Wänden nicht getragen werden muss, jedenfalls wurde mir das auf der Koranschule so beigebracht, als ich dort jedes Wochenende meiner Kindheit und Jugend eine Extra-Ausbildung durchlief.

In der Praxis sind viele Dinge eher kulturell bedingt als durch die Heilige Schrift vorgegeben; die mir vermittelte Doktrin passt merkwürdigerweise gar nicht zum Leben der Muslime in meiner Umgebung, was ich als Jugendliche nur schwer begreifen konnte. Heute weiß ich, dass Heuchelei und Unstimmigkeiten einfach unentbehrlich sind für ein frommes Leben. Ich glaube, es gibt viel mehr Muslime als Menschen, die wahrhaftig an Allah glauben. Viel, viel mehr. Ein frommer Heide ist weniger unwahrscheinlich als ein frommer Muslim.

Zum Beispiel: Ein verzinsliches Geldgeschäft stellt eine unverzeihliche Sünde dar, trotzdem nehmen viele eine Hypothek oder ein Darlehen auf, einschließlich meiner Verwandten, die mir ihrerseits das Schänden unantastbarer Vorschriften vorwerfen. Meine Erzeuger würden es niemals gutheißen, wenn ich mit einem nur zum Glauben bekehrten Muslim nach Hause käme. Wer mit Pech umgeht, besudelt sich, lautet ihr Argument. Besser aus einem Holz geschnitzt sein. Auch übertrieben luxuriöse Prunk-und-Prahl-Hochzeitsfeiern haben in der reinen Lehre keinen Platz; dort wird für Einfachheit im irdischen Leben geworben und extravagante Ausgaben für weltlichen Tand sind verboten. Das Beten fünfmal am Tag ist eine ernste Verpflichtung, doch viele Muslime, vor allem Männer, kommen dem nicht nach.

Natürlich kann man sich fragen, was denn nun die eine Gotteslehre ist; Lesarten gibt es unzählige, damit will ich niemanden langweilen, doch ich beziehe mich hier auf meine, unsere Lehre, wie ich sie auf der Koranschule der islamischen Gemeinschaft Millî Görüş gelernt habe, wo ich von meinem sechsten bis siebzehnten Lebensjahr hinmusste, unter Zwangsherrschaft der Potentatin Karbunkel, auch Mutter genannt, Verkörperung des Bösen, Nesttyrannin, eine Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen ist, eine vom Scheitel bis zur Sohle mit Groll gegen mich erfüllte Frau, Anstifterin aller Verwüstungen und Urheberin meiner Tragödie. Der Name eines Menschen sollte eigentlich von seinen Taten abgeleitet sein.

Geht es um Luxus, Geld oder ein Leben im Wohlstand, also um in der Lehre scharf kritisierte oder vollkommen nebensächliche Angelegenheiten, kokettiert man um die Wette. Für Festlichkeiten wird kein Aufwand gescheut, die Frauen frönen ihrer Abhängigkeit von Soaps über verbotene Liebschaften im türkischen und arabischen Fernsehen (bei den Türken eingekauft und übersetzt), Jugendliche laufen in unbezahlbaren Markenklamotten durch die Gegend, trotz mickrigem Gehalt der Erzeuger und Behausung im Elendsviertel. Als ich einmal auf der Amsterdamer Shoppingmeile P.C. Hooftstraat herumlief, war meine halbe Nachbarschaft da, obwohl sie und ihre Familien noch viel Monat übrig haben, wenn das Geld aufgebraucht ist, jedenfalls nach meinem Kenntnisstand. An Zahltagen erlebe ich regelmäßig, wie sich Kollegen, kaum ist der Regalauffüllerlohn auf dem Konto eingegangen, eine Jacke von Canada Goose, eine Vuitton-Tasche, einen Gucci-Gürtel, eine Bomberjacke oder Schuhe von Isabel Marant, Balenciaga oder Alexander McQueen bestellen, obwohl sie danach keinen Euro mehr für ein Pausenbrot übrig haben. Die Jugend hört Drill Rap von Hautfarben-Buddys, die ein aggressives, promiskuitives, kriminelles und nihilistisches Leben predigen. Beim Rap wird das mit Losungen aus der Glaubenslehre kombiniert, eine giftige Mischung, die mein Fassungsvermögen übersteigt, vor allem, wenn man bedenkt, dass Musik laut Lehre sowieso verboten ist. Wie Regen und Wind einzeln gut zu ertragen sind, in Kombination aber nervtötend wirken, sind Menschen, die die Lehre mit der Beweihräucherung von Straßenkultur und Kriminalität verbinden und einer Art Gangster-Islam anhängen, wirklich von der allerschlimmsten Sorte. Viele legen sich systematisch auf die Sonnenbank, weil Blässe in unserer sozialen Schicht ein No-Go ist: Leicht gebräunte Haut ist das Maximum an Vornehmheit. Sogar Mädchen mit Kopftuch, die, jedenfalls in der Öffentlichkeit, kaum Haut preisgeben, sind kaum hervorzulocken unter den Solariumröhren. Als ich mich ein paar Mal im Kaufhaus Bijenkorf aufhielt, fielen mir die vielen Frauen mit sandfarbigem Teint und Kopftuch sofort auf. Dass unser Glaube, über den die meisten ständig Reden schwingen, mit Hip-Hop-Kultur nicht zu vereinbaren ist, können sie nicht erkennen. Warum, weiß ich nicht. Sie führen sich auf wie Katholiken, die Glaubensgrundsätze der Reformierten Kirchen predigen.

Halil wurde ebenfalls auf der Koranschule unterrichtet. Zu Hause wusste er von Lehrern zu berichten, die einen körperlich züchtigten, wenn man seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte oder die auswendig zu lernenden Texte nicht flott herunterleiern konnte. Meine Erzeuger waren voll des Lobes, körperliche Gewalt sei bei einer anständigen Erziehung unentbehrlich. »Sonst wirst du nie lernen, was Disziplin ist. Der Mensch taugt zu nichts, wenn er frei ist, Freiheit macht lax, Adams Sohn – der Mensch im Frömmlerjargon – hat Regeln und Führung nötig, Disziplin und Angst sind für das zivilisatorische Projekt unabdingbar. Wer Angst hat, wird für den Kampf gestärkt. Wer keine Angst hat, wird schlaff. Das einfache Volk hat sich dem zu fügen, was die Herren bestimmen, schenke dem westlichen Gefasel von Freiraum, Autonomie und Schamlosigkeit kein Gehör. Zwanglosigkeit bedroht das menschliche Glück, den Frieden und die Harmonie in Gesellschaft und Familie. Angst ist die Mutter der Moral, man muss ertragen lernen«, meint Karbunkel, die Kakerlake. Große Laterne, kleines Licht. Ich kann viel über Mutter sagen, aber dass sie sich durch Nachdenken aufhalten ließe, nicht. Oder dass es ihr an Anschauung mangeln würde. Anschauung ist, was sie im Innersten zusammenhält, nur sind ihre Vorstellungen recht grobschlächtig und von niederer Herkunft. Putzig, wie sie stets Weisheiten zum Besten gibt in einem selbstsicheren Ton, als handele es sich um Tatsachen. Doch man bedenke: Je größerer Narr, desto größere Schelle.

Ich selbst habe derartige Züchtigungen zum Glück nicht erlitten, passierte nur bei den Jungen. Defne, meine achtjährige Schwester, wird auf derselben Koranschule, die ich damals besucht habe, lebensanschaulich erzogen. Manchmal erzählt sie Anekdoten aus dem Unterricht, die mich zweifeln lassen, ob es jemals wieder gut wird. In ihrem Fall ist es weitreichender, unübersichtlicher, da auch ihre normale Grundschule eine religiöse Schule ist, im Gegensatz zu meiner damals, aber dann blicke ich auf mich selbst und habe wieder Hoffnung.

Die Koranschule ist eine Einrichtung mit einem einzigen Zweck: Wahrheitsfindung unmöglich machen, bloß kein Bezug zu Wissenschaft oder Vernunft. Ich fand es furchtbar, wollte nie hin und flehte Mutter an, zu Hause bleiben zu können, saß dennoch regelmäßig mit zu vielen Mädchen in einem zu kleinen Raum mit einem wackligen Tischchen, auf dem unsere Koranbücher lagen, wo wir uns mit straff gespannten Kopftüchern heilige Texte in die Köpfe hämmerten. Doch wenn mir die Befreiung von der Doktrin geglückt ist, obwohl mir alle Mittel kritischen Denkens versagt worden waren, muss es auch ihr gelingen. Denke ich. Hoffe ich. Gleichzeitig weiß ich, dass ein Lebensweg von tausenderlei Faktoren bestimmt wird und es mehr Menschen gibt, die sich nicht befreien, als solche, die es tun, Schicksalsgenossen kannte ich nämlich keine, also weiß ich im Grunde nicht, ob meine Hoffnung begründet ist. Hoffnung scheint meistens nichts anderes zu sein, als Verantwortung zu übertragen. Laut Nietzsche glaubt kein Sieger an den Zufall, also tue ich es auch nicht. Allerdings sollte man sich darin üben, die richtigen Dinge dem Schicksal zu überlassen. Die Zukunft ist zu nichts verpflichtet. Trotzdem schätze ich den Menschen als Herrscher über ein Geflecht aus Möglichkeiten statt als Spielball eines im Wesentlichen festgelegten Schicksals.

Vor Kurzem war ich mit Defne für Oma einkaufen und sie sah zwei Männer knutschen. »Iehhh!«, kommentierte sie. »Wie ekelig!« Die beiden dachten bestimmt, sie sei mein missratener Nachwuchs – ich schämte mich. Schimpfte mit ihr; sie müsse sich entschuldigen, was sie auch brav tat, woraufhin ich ihr erklärte, dass man sich nicht über die Zuneigung lustig mache, die andere Menschen füreinander empfinden, egal welchen Geschlechts. Schnell war ihr verziehen, sie war ja nur ein Balg und schämte sich ganz offensichtlich. Scham beweist Zuneigung. Wir schämen uns nur für die, die uns am Herzen liegen.

Kinder können sich alles erlauben, wie Geisteskranke, manchmal erfüllte mich das mit Neid, denn für mich traf das nicht mehr zu, ich galt als erwachsen.

Defne war eine gute Schülerin, sie erkannte ihren Irrtum und zeigte Reue. Als Kind glich sie einem hohlen Gefäß; man kann einfüllen, was man will. Ein intoleranter Mensch ist nicht so geboren. Wir als Menschheit nehmen nur verdammt gerne diejenigen ins Visier, die uns am wenigsten ähneln oder die wir nicht verstehen. Zivilisation muss diese Neigung im Zaum halten. Zivilisation heißt, sich besser zu verhalten, als man ist.

Manchmal kam sie nach einem Wochenende der Indoktrination mit Arbeitsblättern nach Hause, auf denen die Markennamen israelischer Unternehmen aufgeführt waren, die man boykottieren sollte. Nestlé, Coca-Cola, Danone, Evian, Colgate und Maggi zum Beispiel. Eine weitere Liste nannte verbotene Produkte aus dem Supermarkt Albert Heijn, wie etwa Datteln oder Feigen. Kürzlich standen französische Marken auf einem Blatt, nachdem Erdoğan wegen Macrons angeblicher Islamophobie nach dem Anschlag auf Samuel Paty zu einem Boykott aufgerufen hatte.

Gelegentlich stellte sie Fragen, denen ich lieber auswich: Warum Christen und Juden die Muslime hassen, warum Muslime im Irak von Christen bombardiert würden, warum bosnische Muslime in Srebrenica verraten worden seien, warum Muslime in China in Konzentrationslagern einsitzen würden, warum die Welt es zuließe, dass man den Palästinensern ihr Land wegnehme, und warum kürzlich um die zehntausend Menschen in Amsterdam gegen rassistische Polizeigewalt protestiert haben, während sich keine Menschenseele für die Uiguren oder den Krieg im Jemen interessierte, kein Hahn danach krähen würde. Warum es in manchen Ländern gesetzlich untersagt sei, den Holocaust zu leugnen, das für den Genozid in Bosnien aber nicht gelte. Der Grund nämlich sei, dass Un- und Andersgläubige Groll gegen uns hegten, Gott selbst habe uns schließlich darüber aufgeklärt.

Ich wies ihre Schlussfolgerungen zurück, es sei alles komplizierter, die Wirklichkeit häufig ungenau. Ich hatte nicht vor, ihr zu sagen, sie müsse diese Dinge ignorieren, denn sie würde das anschließend unseren Erzeugern berichten, im Verplappern war sie gut, das hatte mich die Erfahrung gelehrt. Ein Geheimnis von mir bewahrt sie allerdings, von dem mehr oder weniger mein ganzes Leben abhängt: Auf meinem Handy hat sie ein Foto entdeckt, auf dem ich Freek küsse, meinen Liebsten. Ich habe ihr ins Gewissen geredet, wenn sie mich weiter in ihrem Leben haben wolle, müsse sie dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen. Ein Kind mit einem Geheimnis zu belasten, grenzt an Folter, sie sind nun mal ungekünstelt, nichtsahnend, tragen das Herz auf der Zunge; ich verlangte also etwas von ihr, was gegen ihr Wesen war, aber ich konnte es nicht ändern.

Defne war dazu verdammt, schnell groß zu werden. Nicht nur weil sie die Geheimnisse ihrer Schwester hüten musste, die ansonsten für immer aus der Familie verstoßen werden würde, sondern auch weil sie bereits ein Kopftuch und langes Gewand zur Schule trug, Sportunterricht nur mit Mädchen hatte, wodurch ihr achtjähriger Körper sexualisiert wurde, und weil sie sich mit vertrackten geopolitischen Fragen rumschlagen musste; sie konnte kein Kind sein wie andere.

Doch wir müssen dankbar sein, denn sie geht, wie ich früher, auf eine Wochenendschule, dabei gibt es auch Internate. Wie in einem Kinderkloster gibt es dort tägliche Unterrichtspläne, die keine freie Minute lassen, so dass man ein Hafiz werden kann, der den Koran von A bis Z auswendig kann. Auf Arabisch. Da sind auch Kinder dabei von sechs oder sieben Jahren, die meisten sind ein bisschen älter. Anschließend mutiert man zum Lehrmeister mit Befugnis, die Neuen zu unterrichten; so funktionieren die Rädchen des islamischen Mahlwerks, getrennt nach Mann und Frau. Eine Lüge bezieht ihren Status durch die Anzahl ihrer Verkünder. So besehen ist eine Wochenendschule noch gar nichts. Mutter wollte ihre Kinder auf dem Internat unterbringen, in den ungestörten und ununterbrochenen Dienst am Schöpfer stellen, aber Vater verhinderte das letztlich, wenn auch zögerlich. Kinder sollten eine Kindheit haben, meinte er. Außerdem sei ein Internat teuer. Jetzt, wo Mutter sieht, was nach elf Jahren Wochenendschule aus Halil und mir geworden ist, denkt sie immer öfter laut über ein Internat für Defne nach; Eisen muss man schmieden, solange es heiß ist. Auf dem Altar der Aufklärung und dem vielköpfigen Monster namens Individualismus wollte sie kein drittes Opfer bringen.

Defnes Lehrerin hatte nach dem letzten Erdbeben in der Türkei verkündet, Naturkatastrophen seien eine Strafe Allahs für die Menschheit, weil diese trotz seiner Botschaft weiter sündige. Wenn Defne mich einer Sünde überführt wie des Augenbrauenzupfens (auf solchen Frauen lastet der Fluch Allahs), des Tragens von Make-up oder von zu kurzer, körperbetonter Kleidung, des Versäumens der Gebete, Handyfotos, auf denen ich halbnackt und kopftuchlos am Strand liege, des Widerstands gegen meine Erzeuger oder der Telefonate mit meinem außerehelichen Lebensgefährten, sagt sie jedes Mal, ich sei mitverantwortlich für das Elend von Menschen am anderen Ende der Welt, die mit Dürren, Erdbeben und Vulkanausbrüchen zu kämpfen haben. Irgendwie straft der liebe Gott nicht nur Verbrecher, sondern vor allem Unbeteiligte, steht auch in den heiligen Texten. Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum! Sagt Nietzsche. Für Gott existiert das Individuum nicht. Denkwürdige Botschaft, in vielerlei Hinsicht. Umweltverbrechen, bei denen nur wenige Menschen Gewissensbisse empfinden, belasten das Kollektiv auch. Das gilt ebenso für unvernünftige Menschen während einer Pandemie. Gott belässt es also ganz augenscheinlich bei immer derselben Art von Ermahnungen, so unergründlich sind seine Wege gar nicht; man erkennt ein Muster. Aber der Mensch lernt nicht dazu, begreift einfach nicht, dass, was schlecht ist für alle, auch schlecht ist für den Einzelnen. Und Dummheit genießt leider immer den Vorteil, in der Mehrheit zu sein. Ich gehörte laut Defne zu den unrettbaren Narren. Der Glaube an Kollektivschuld beraubt den Menschen seiner individuellen Unschuld. Warum werden kollektive Ziele immer auf Kosten Einzelner verfolgt?

Häufig fühlte es sich an, als sei ich die Mutter von Defne. Sie kam zur Welt, als ich in der fünften Klasse war, ich sah, wie sie sich jeden Tag mehr entwickelte. Die Jahre sind nur so vorbeigerauscht, ich erinnere mich noch genau, wie sie in einem Maxi-Cosi nach Hause getragen wurde wie ein überrumpeltes Würmchen. Ich sang Schlaflieder an ihrer Wiege, wachte über sie, wenn Mutter zur Moschee war, um dort Kurse zu besuchen, was sie häufig und leidenschaftlich tat; auch wenn ich eigentlich für eine Klassenarbeit oder einen Test lernen musste, hielt sie ihre eigene Ausbildung für wesentlicher.

Ich fütterte Defne und spielte mit ihr, ich allein zerdrückte abends ihre Bananen, konnte sie besänftigen, wenn sie weinte, sie gesund machen, wenn sie krank war. Nun sorgte ich mich um niemanden mehr als um sie, ich wollte sie behüten und wappnen, mich schützend vor sie stellen. Nicht dasselbe wie ich sollte sie erleiden, sich niemals einsam, geknebelt, minderwertig, unsicher, in Gefahr oder unverstanden fühlen. Ich würde immer für sie bereitstehen, für sie als Kind und Heranwachsende da sein; eine Gefährtin sein, eine Kameradin, eine Wegweiserin, eine Zuhörerin, wie ich es auch gebraucht hätte. Sie würde nicht in aller Einsamkeit, in einem geistigen Irrgarten gefangen, ihren Gedanken nachhängen und grübeln, wie sie ihren Gefühlen und Wünschen begegnen sollte, worüber sie mit ihren Erzeugern nicht sprechen konnte. Aus ihrem Herzen würde sie keine Mördergrube machen. Bei all ihren Fragen, Zweifeln, Hindernissen und Verletzlichkeiten würde ich ihr bedingungslos zur Seite stehen, selbst wenn sie mit vierzehn Jahren von einem Junkie schwanger sein sollte, nachdem sie es zugedröhnt in irgendeiner Gasse getan oder sich verliebt hatte – ich weiß nicht, was schlimmer wäre –, es würde mir nichts ausmachen, ich wäre wie ein Schutzengel da für sie, würde ihr die richtigen Mittel zur Verfügung stellen, sie anleiten und ihr Mut machen, wenn sie nicht mehr weiter wusste, aber ganz sicher würde ich ihr nicht mit Verdammung oder sozialem Boykott wegen »Gesichtsverlust«, »verlorener Ehre« oder »mangelnder Selbstachtung« drohen.

In unserem Hoheitsgebiet galt, dass man die Kirche im Dorf lässt, besser niemandem ans Bein pinkelt, aber bei mir galt das nicht; keine Black Box, wunde Punkte, die nicht berührt werden dürfen, über jeden Schlamassel konnte sie sich mit mir austauschen, sie würde nicht zwischen Fühlen und Müssen in der Klemme sitzen. Hätte ich, als ich aufwuchs, einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester gehabt, wäre mir viel Angst, Bedrängnis und Enttäuschung, kurzum viel Leid, erspart geblieben.

Defne würde Zigaretten und Feuerzeug nicht unter ihrem Kopftuch verstecken, würde nicht auf dem Schulweg ihr Kopftuch ablegen und auf dem Nachhauseweg wieder an, würde nachts nicht vom Balkon springen, um auszugehen oder sich mit einem Kerl zu treffen, um dann erwischt zu werden und Hieben und Schlägen zu trotzen. Sie würde nicht unter quälenden Schuldgefühlen leiden, wenn sie mit ihrem Freund geknutscht hatte, weil sie glaubte, jetzt als Schulmatratze zu gelten, vielleicht sogar in seinen Augen, und Fotos von ihr würden die Runde machen und in einer »Shaming-Gruppe« beleidigend kommentiert werden. Sie würde unter keinen Umständen denselben Dreck mitmachen wie ich, das würde ich nicht zulassen, ich nahm ihr Schicksal in meine Hände. Jedenfalls soweit ich es vermochte, denn von der wissenschaftsfeindlichen, der Verzückung huldigenden Grundschule und Koranschule konnte ich sie nicht holen, sie war nun mal nicht zwischen meinen Beinen hervorgekommen, daher hatte man beschlossen, dass ich kein Sagen hatte; die Schlampe, die gebärt, ist die Schlampe, die bestimmt. Ich war die, die ständig ein Aber auf den Lippen hatte. Vorerst gab ich mich damit zufrieden.

Nietzsche hat schon gesagt: Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden. Überzeugungen bleiben durch Einseitigkeit unangetastet. Eine solche Erkenntnis war entmutigend, schließlich wusste ich, womit ich konfrontiert war, aber ich würde tun, was ich konnte.

Ich würde ihr außerdem beibringen, dass es nicht cool war, andere zu ärgern, boshaft, zynisch und aggressiv zu sein, Dinge, mit denen man auf »Problemschulen« Ansehen erlangte. Es zeugt nicht von Bravour, sondern von Trübsinn. Ich würde ihr sagen, dass sie nicht unterprivilegiert war, dass sie es nicht zulassen durfte, wenn ihr der schwarze Peter zugeschoben wurde. Wenn sie Nachhilfe oder Betreuung oder einen zum Lernen geeigneten Raum brauchte, würde ich das für sie bereitstellen. Wenn sie Bücher brauchte, würde ich sie versorgen, wenn nicht, würde ich ihr trotzdem Bücher geben, statt sie ihr wegzunehmen, wie Mutter es bei mir gemacht hatte, damit ich das Auswendiglernen des Korans, des einzigen bei uns zu Hause gelesenen Buches, nicht vernachlässigte. Wo nicht gesät wird, wird auch nicht geerntet. Ich würde ihr beibringen, dass einem in diesem Land alle Wege offenstehen, es eine Frage des persönlichen Einsatzes ist, erfolgreich zu sein, dass sie kein Opfer ist, sondern in einer Meritokratie lebt, im Gegensatz zur Türkei und vielen anderen Orten. Sie würde als junge Erwachsene natürlich mit einem kleinen intellektuellen Defizit in die pluralistische Gesellschaft eintreten, wegen Faktoren, die ich nicht ändern konnte, aber ihr Rückstand würde bereits kleiner sein als meiner damals. Keine Menschenseele, die mir Nachhilfe oder Hausaufgabenbetreuung hätte anbieten können, unbezahlbar für uns, alphabetisierte Eltern oder andere Erwachsene mit Schulbildung gab es nicht in meiner Umgebung. Ich hatte kein eigenes Zimmer, kein eigenes Bett, keinen Schreibtisch, kein Zimmer zum Lernen. Später ging ich selbst zur Bibliothek, um Lesestoff zu besorgen, welcher mir regelmäßig abgenommen wurde, weil die Verpflichtungen der Koranschule Vorrang hatten. Tag für Tag hatten wir die Bude voller Besucher. Niederländisches Fernsehen konnte ich nicht gucken. Gehobener Sprache, spannenden und herausfordernden Gesprächen, die mich für den Umgang in gebildeter Gesellschaft vorbereitet hätten, war ich nicht ausgesetzt. Mutter schickte mich täglich mit einem Euro zum Supermarkt; damals kostete eine Packung weißes Toastbrot 50 Cent und eine Packung Schmierkäse ebenfalls, das stellte im Prinzip mein tägliches Frühstück und Mittagessen dar. Nüsse, Fisch, verschiedene Obstsorten oder geringfügig teureres Gemüse wie Spargel oder Paprika aßen wir nicht. Fitnessstudio oder Ausgehen war unbekannt, zum Friseur gingen wir nicht. Wenn auf der Grundschule ein Klassenausflug anstand, stöhnten meine Eltern eine Woche lang über die Höhe des Elternbeitrags, fragten, ob ich denn wirklich mitwolle, unbedingt, ob ich mich nicht einfach krankmelden wolle. Meine Defizite waren beachtlich, meine Entwicklung nicht optimal, vor allem die Wochenenden, an denen ich illegalen Indoktrinierungsagentinnen ausgeliefert war, verliefen qualvoll, aber ich hatte Rückstand aufgeholt und getan, was ich konnte. Denn es macht sich lächerlich, wer in diesem Land sein eigenes Scheitern kleineren Hindernissen zuschreibt. Auch würde ich ihr sagen, dass sie sich sicher gelegentlich ausgeschlossen fühlen würde, wie jeder andere auch. Möglicherweise aufgrund ihrer Herkunft oder Religion; vielleicht wegen ihres Gewichts, Geschlechts oder ihrer Existenz – alles möglich, der Mensch ist schließlich böse und ungelehrig; doch das widerfuhr jedem und überall, war unterm Strich gar nicht so schlimm, man wünschte sich trotzdem nicht so bald einen anderen Wohnort auf der Welt (vom Wetter abgesehen).

3

Zu meiner Freude frittiert Oma neuerdings nicht mehr, nimmt die Mahlzeit zu sich, die Mutter ihr zuteilt. Sonst musste ich nach der Uni die Fettspritzer vom Boden schrubben. War ich einmal nachlässig, bekam ich es mit Karbunkel zu tun, nach Multatulis Karikatur des heuchlerischen Tugendwächters auch Droogstoppel genannt, die genauestens kontrollierte, inwiefern ich meiner Pflicht als Hauptpflegekraft nachkam; alles musste jederzeit jungfräulich rein sein. Türkische Hausfrauen sind nämlich besessen; sie schrubben den Boden, als müsse man von ihm essen, in der Befürchtung, es könne unangekündigter Besuch kommen. Immer wieder bin ich über diesen Reinlichkeitswahn hergezogen, habe diskutiert, um mich letztlich – wie auch bei anderen Dingen, bei denen wir, vorsichtig ausgedrückt, Unstimmigkeiten haben – ihrem Diktat zu unterwerfen: einer untadelig reinen Wohnung. Jeden Tag Staubsaugen, Staub putzen, Vogelschiss vom Balkon kratzen (ein Höllenjob), das Schmutzgeschirr keine Minute stehen lassen (und beim Abwasch nicht das Wasser laufen lassen, das ist Geldverschwendung), die nasse Wäsche umgehend an die Wäscheleine auf dem Balkon hängen und die Kleidung, wenn sie trocken ist, augenblicklich abnehmen und bügeln, die Badezimmerkacheln mit Chlor abschrubben und die Bettwäsche täglich wechseln. Mutter rastet aus, wenn das Bett ungemacht ist, meine schmutzigen Socken den Weg in den Wäschekorb noch nicht gefunden haben, die auf dem Balkon hängende Wäsche bei einsetzendem Regen nicht blitzartig ins Haus geholt wurde, ich den drei viertel vollen Mülleimer noch nicht geleert habe, ein Haar im Abflusssieb der Dusche liegt oder wenn ich die Essensreste der letzten Mahlzeit nicht im Kühlschrank aufbewahrt habe, wie es sich gehört, sondern auf dem Herd habe stehen lassen.

Geht es um Reinlichkeit, praktisch wie spirituell, muss man Droogstoppel neurotisch nennen. »Und wenn auf einmal jemand vor der Tür steht?! Was sollen die bloß von uns denken? Willst du das, wenn du verheiratet bist, in deiner Wohnung auch so machen? Dein Mann lässt sich scheiden, und zwar sofort!«, entgegnete sie auf meine Frage, warum sie so verkrampft damit umging. Plötzlich setzte sie ein ernstes Gesicht auf, als sei das ein unheimlich solides, geradezu bestechendes Argument. Mutter lebt für andere, nicht nur dem Anschein nach, mit viel Mühe habe ich das zu ändern versucht. Ist mir nie geglückt sie davon zu heilen. Ihr zweiter Name lautet Collectivum; bei allem, was sie tut, denkt sie daran, was andere darüber denken oder, noch schlimmer, sagen werden. Dabei denkt sie an Leute von ihrer Sorte, die mit wahnsinnig albernen ungeschriebenen Regeln zu Anstand und Tugendhaftigkeit hantieren. Will sie das so handhaben, ist das ihre Sache, aber sie erwartet, trotz meiner Weigerung, dass auch ich diese Haltung verinnerliche. Mein Wille macht keinen Unterschied, sie zwingt es mir einfach auf.

Alle Sachen hatten einen von Mutter zugewiesenen Platz: einen Schrank, ein Regalbrett, eine Schublade, Vase, einen Stellplatz; nur ich war nicht zu platzieren, da wusste sie nicht weiter. Ich wollte alles sein, nur nicht das, was sie von mir verlangte. Brave Bürgerin, Gotteskind, Dienstmagd, ein tugendhaftes und angepasstes Mitglied der Gemeinschaft, die keusche Gattin einer koranfesten besseren Hälfte. Schon bei dem Gedanken bekam ich rote Flecken am Hals.

Letzten Sommer war ich vollkommen baff, als sie mir kurz vor der Abreise in die »Ferien« (sprich Folter) in der Türkei wieder mal eine Erklärung gab. Wie besessen putzte Mutter die Wohnung, als hinge ihr Leben davon ab, und forderte meine Unterstützung, ich aber hatte die Nase voll.

»Und wenn wir im Urlaub sterben? Was sollen die Leute wohl denken, wenn die Wohnung schmutzig ist? Ich lasse nicht über mich sagen, dass ich schlampig bin.«

Da wusste ich, dass sie verrückt ist.

Auseinandersetzungen drehten sich letztlich immer darum; sie hängt ihre Fahne gerne nach dem Wind und ich bin die Laus im Pelz, denn ich sehe nur mich selbst als Maß aller Dinge. Ja klar, manchmal geht es auch um Glaubensvorschriften, die ich nicht befolge, aber auch das hat mit Angst vor dem moralischen Urteil anderer, der Gemeinschaftsangehörigen, zu tun. Die Angst, stigmatisiert und sozial geächtet zu werden, wegen einer Tochter wie mir, einer nicht ins Bild passenden, gar nicht bilderbuchhaften Tochter, ist ihre existenzielle Angst.

4

Wegen Platzmangels in der elterlichen Wohnung wohne ich bei Oma. Die Familie hat die gleiche Wohnung wie Oma, daher bin ich umgezogen, was ich nicht bedauere, gar nicht. Im Gegenteil.

Es gab keinen Platz mehr für mich: ein Schlafzimmer für die Erzeuger, eins für Halil und Defne. Zuvor schliefen Halil und ich in einem Zimmer, Defne pennte im Elternschlafzimmer, wurde aber zu alt dafür und nahm mein Bett in Beschlag. So stellten es jedenfalls meine Erzeuger dar, ohne genauer auszuführen, wofür genau sie zu alt wurde, aber durchschaut hatte ich sie längst; neben einem achtjährigen Kind gestaltet sich Geschlechtsverkehr eher schwierig, der in ihrem Fall so geil sein muss wie das Wort selbst.

Halil und Defne teilen sich jetzt ein Etagenbett. Was bedeutet, dass er nicht zu Hause lernen oder für sich sein kann. Defne bringt Freundinnen mit, guckt in ihrem Bett Zeichentrickfilme und existiert, wie Achtjährige es eben tun. Halil ist eigentlich gar nicht mehr da, könnte sich aber fürs Alleinwohnen entscheiden, wenn er es denn zu beengt findet, eine Möglichkeit, die mir nicht offenstand, mein Mitleid hat er nicht. Er zieht aber nicht aus; in einem Jahr würden wir sowieso in eine größere Wohnung umziehen, da unsere abgerissen werden sollte, dann bekäme er sein eigenes Zimmer. Außerdem hat er keine Lust auf ein Studiendarlehen, seine Universität war um die Ecke, haushälterische Pflichten hat er keine und tun kann er letztlich, was er will, denn Halil hat einen Penis. Eine Frau darf vor der Ehe nicht allein wohnen, zu schweren Sünden würde sie sonst verführt und die Eltern verlören die Kontrolle über sie. Bei einem Penis war das, warum auch immer, egal.

Wenn man so beengt wohnt, davon verstehe ich eine Menge, geht man die vier eigenen Wände hoch, will nicht nach Hause. Doch es geht schlimmer; unsere marokkanischen Nachbarn leben mit sechs Kindern in einer genauso kleinen Wohnung. In einem der Schlafzimmer stehen zwei Etagenbetten, die beiden jüngsten Kinder schlafen auf dem Sofa, das sich, sobald Allah Seine himmlische Decke aufschlägt, in ein Bett verwandelt. Es ist keine Ausnahme; die meisten Familien nordafrikanischer Herkunft in unserem Viertel haben mindestens vier Kinder und wohnen so. Türken haben meistens zwei, drei Kinder, trotzdem ist es eng, denn die marokkanische Wohnkultur ist nicht unsere Bezugsgröße. Alles ist natürlich relativ, aber dass sie sich für Familiengrößen der 6er-Tabelle entscheiden und noch Luft zum Atmen haben, will nicht heißen, dass wir uns nicht mehr beschweren dürfen.