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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Ratternd und brausend fuhr der D-Zug in den Bahnhof des kleinen Städtchens. An den Wagenfenstern wurden die Köpfe gelangweilter Menschen sichtbar, die der kleinen Station kein Interesse abgewinnen konnten. Doch halt, es gab doch etwas Interessantes zu sehen, dort der Jagdwagen, der mit rasender Schnelligkeit dahinflog. Er hielt kaum vor dem Stationsgebäude, da sprang auch schon der Lenker des Gefährtes auf den Boden, warf dem hintensitzenden Boy die Zügel hin und eilte auf einen Herrn zu, der ihm lächelnd entgegenkam. Ganz der alte Henner, stellte dieser fest, als er den Freund auf sich zukommen sah. Die lange, hagere Gestalt mit den eckigen Bewegungen, die Schultern hochgezogen, den Hut nach hinten geschoben, die Hände in den Taschen – so stiefelte er mit Riesenschritten auf den Angekommenen zu. Das ebenfalls hagere Gesicht mit der langen Nase darin strahlte vor Wiedersehensfreude. Und wahrhaftig, er hatte Tränen in den hellen Augen, als er die Schulter des Freundes mit festem, hartem Griff umfaßte. »Siegmar, alter lieber Kerl, endlich! Ich habe schon nicht mehr zu hoffen gewagt. Sechs Jahre warst du fort, mein Alter, eine unendlich lange Zeit für einen Menschen, der wartet.« Der Freund konnte nicht sprechen, er schlug ihm nur auf die Schulter und erwiderte den Händedruck. »Ich habe diesen Wagen absichtlich gewählt, Siegmar; wird dir lieber sein als die Galakutsche mit Kutscher und Diener in Livree. Auch sind wir so ungestörter, und ich glaube, wir haben uns wirklich etwas zu sagen. Erst jetzt bemerkte der Graf den Diener, der in respektvoller Entfernung hinter ihnen her ging. »Ei, sieh da, Sie alter Getreuer, immer noch auf dem Posten?« Er schüttelte dem Bedienten fast die Hand aus dem Gelenk, und dieser strahlte vor Freude. »Ich bin froh, daß wir wieder hier sind, Herr Graf.« »Glaube ich Ihnen ohne weiteres, Heinrich«, meinte Lehnherr.
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ratternd und brausend fuhr der D-Zug in den Bahnhof des kleinen Städtchens. An den Wagenfenstern wurden die Köpfe gelangweilter Menschen sichtbar, die der kleinen Station kein Interesse abgewinnen konnten.
Doch halt, es gab doch etwas Interessantes zu sehen, dort der Jagdwagen, der mit rasender Schnelligkeit dahinflog. Er hielt kaum vor dem Stationsgebäude, da sprang auch schon der Lenker des Gefährtes auf den Boden, warf dem hintensitzenden Boy die Zügel hin und eilte auf einen Herrn zu, der ihm lächelnd entgegenkam.
Ganz der alte Henner, stellte dieser fest, als er den Freund auf sich zukommen sah. Die lange, hagere Gestalt mit den eckigen Bewegungen, die Schultern hochgezogen, den Hut nach hinten geschoben, die Hände in den Taschen – so stiefelte er mit Riesenschritten auf den Angekommenen zu. Das ebenfalls hagere Gesicht mit der langen Nase darin strahlte vor Wiedersehensfreude. Und wahrhaftig, er hatte Tränen in den hellen Augen, als er die Schulter des Freundes mit festem, hartem Griff umfaßte.
»Siegmar, alter lieber Kerl, endlich! Ich habe schon nicht mehr zu hoffen gewagt. Sechs Jahre warst du fort, mein Alter, eine unendlich lange Zeit für einen Menschen, der wartet.«
Der Freund konnte nicht sprechen, er schlug ihm nur auf die Schulter und erwiderte den Händedruck.
»Ich habe diesen Wagen absichtlich gewählt, Siegmar; wird dir lieber sein als die Galakutsche mit Kutscher und Diener in Livree. Auch sind wir so ungestörter, und ich glaube, wir haben uns wirklich etwas zu sagen.
Erst jetzt bemerkte der Graf den Diener, der in respektvoller Entfernung hinter ihnen her ging.
»Ei, sieh da, Sie alter Getreuer, immer noch auf dem Posten?«
Er schüttelte dem Bedienten fast die Hand aus dem Gelenk, und dieser strahlte vor Freude.
»Ich bin froh, daß wir wieder hier sind, Herr Graf.«
»Glaube ich Ihnen ohne weiteres, Heinrich«, meinte Lehnherr. »Sie sorgen wohl für das Gepäck des Herrn Grafen? Der Wagen dafür ist bereits hier.«
Er winkte ihm freundlich zu und kletterte dann auf den Wagen, auf dem der Freund schon saß. Zuerst fuhren sie eine Weile schweigend dahin, Graf Lehnherr respektierte die Stimmung seines Gastes. Sechs Jahre hatte er den Freund entbehren müssen, mit dem er fest verwachsen war von frühester Kindheit an. Leid und Freud hatten sie miteinander geteilt. Zuerst als Spielkinder, dann als Schulbuben, als Husaren – und zuletzt Seite an Seite in der furchtbaren Zeit des Weltkrieges. Und glaubten auch weiter beieinander bleiben zu dürfen, da die Güter ihrer Väter Nachbargüter waren.
Doch es stand schlecht um die großen Besitze der Grafen Lehnherr und Wultringen, als die beiden Söhne aus dem Kriege in die Heimat zurückkehrten. In Lehnshagen war es teils die schlechte Wirtschaft ungetreuer Beamten, teils die mißliche Lage der Verhältnisse, was den großen Besitz heruntergebracht hatte. Doch in Freienhofen, dem alten hochfeudalen Sitz der Grafen Wultringen, Edlen zu Freienhofen, trug der Besitzer die Schuld, daß diese einstmals so blühende Herrschaft zuerst verlottert wurde und dann versteigert werden mußte.
Als der Sohn aus dem furchtbaren Kriege heimkam, elend an Leib und Seele, da mußte er erfahren, daß seine heißgeliebte Heimat für ihn verloren war.
Es ging hart auf hart in der letzten Stunde, in der Vater und Sohn einander gegenüberstanden. Und als dem Grafen Siegmar dann die Gewißheit wurde, daß von Freienhofen nichts, aber auch nichts mehr zu retten war, da floh er nach Afrika, um nicht mitansehen zu müssen, wie man ihm die geliebte Heimat nahm.
Kurze Zeit darauf wurde die Herrschaft versteigert, und fünf Monate später verunglückte der alte Graf Wultringen bei einem Rennen.
Heute nun war Siegmar Graf Wultringen heimgekehrt, sehnlich erwartet von seinem Freunde. Der saß jetzt geduldig neben Siegmar und störte ihn nicht, obgleich er vieles zu fragen hatte. Er war noch ganz der alte Hans-Henner Lehnherr, doch Siegmar Wultringen war nicht mehr der alte, wenigstens äußerlich nicht. Er hatte sich in den Jahren durchaus nicht zu seinem Nachteil verändert, o nein. Sehnig und kraftvoll die hohe Gestalt, wie Bronze das harte, rassige, von südlicher Sonne tiefbraun gefärbte Gesicht. Nur die Stirn, die der Tropenhelm geschützt hatte, zeigte die Hautfarbe von einst. Und die Augen, die einst so sonnig und frohgemut in das Leben geblickt hatten, waren hart geworden, hell und blitzend wie Metall. Und hart war auch das schöne Gesicht, spöttisch der Zug des früher immer lachenden Mundes. Die Linien, die von den Mundwinkeln herabliefen, zeugten von Verbitterung und Kampf, Abhärtung und eiserner Willensstärke. Auf dem schmalen, rassigen Kopf lockte sich das dunkelblonde Haar in eigensinnigen Wellen.
»Warum fährst du diesen wundervollen Weg nicht weiter, Henner?« fragte Graf Wultringen verwundert. Doch als er dem verlegenen Blick des Freundes begegnete, verstand er. Er schlug ihm auf die Schulter, sein schmales Gesicht zuckte.
»Bist immer noch der alte, liebe Kerl, Henner, zartfühlend und rücksichtsvoll. Doch fahre den Weg nur weiter, ich muß mich ja daran gewöhnen, daß Freienhofen nicht mehr mein eigen ist. Solange ich es immer noch nicht konnte, bin ich ja weggeblieben.«
Graf Lehnherr sah ihn verstohlen von der Seite an. So beruhigend die Worte auch waren – er war doch mißtrauisch, so recht traute er dem Frieden nicht. Er atmete auf und fuhr den Weg weiter. Sie fuhren an einem Besitz vorbei, der mit Recht herrlich zu nennen war. Das große, hochfeudale Schloß schimmerte durch die dichten Bäume des Parkes, den ein kunstvoll gearbeiteter Zaun umgab, wo vor einigen Jahren ein schadhafter gestanden hatte. Finster ruhte der Blick des Grafen darauf, und der Freund ahnte, was in seinem Innern vorging, daß er beim Anblick der heißgeliebten Heimat noch lange – lange – nicht ruhig sein konnte. Er sah, wie er die Zähne aufeinanderbiß, wie er sich mühte, mit eiserner Willensstärke den Aufruhr seines Innern niederzuzwingen. Doch er konnte und wollte ihm seine Teilnahme nicht zeigen, er hätte damit mehr verdorben als genutzt. – Graf Wultringen war nicht der Mann, der sich bedauern ließ.
Den Wirtschaftshof konnte man vom Wege aus frei übersehen. Die Gebäude waren im neuzeitlichen Stil erbaut, blitzende Sauberkeit herrschte überall, wo vor sechs Jahren Verfall und Verwahrlosung überhand genommen hatten.
»So kann es sein, wenn man Geld hat, Henner«, sagte Graf Wultringen endlich, und der Freund hörte die tiefe Bitterkeit in seiner Stimme. »Fragt sich nur, ob alle Neuerungen, die der jetzige Besitzer vorgenommen, ebenso gut sind wie die, die ich bisher sah.«
»O ja, das sind sie, wenigstens die äußeren«, berichtete der Freund bereitwillig und froh, daß der Gast nun endlich sprach. »Sogar den Park haben sie gelassen, nein, verbessert, verschönert. Haben die Blumenrabatten nicht in Gemüsebeete umgewandelt, in gewohnter Ausnutzungswut der Neureichen, die ja auf Schönheit und alte Überlieferung pfeifen und alles zu Geld machen. Weißt du übrigens, daß der alte Uhleweit in Freienhofen geblieben ist, Siegmar?«
»Nein, wie sollte ich – es ist mir nur bekannt, was du mir in deinen Briefen mitteiltest.«
»Na ja – Uhleweit blieb, der Rentmeister, die Inspektoren – kurz und gut – alle Wirtschaftsbeamten. Dann Oberförster und Förster – der größte Teil der Dienstboten. Selbst euer feudaler Hausmeister ist noch da, der doch nur Höhenluft atmen kann, wie er sich immer ausdrückte. Ist also seinem Vorsatz untreu geworden und widmet seine Dienste diesen von unten heraufgekommenen Herrschaften genauso wie vordem den Grafen Wultringen. Bis vor ungefähr einem halben Jahre war Freienhofen unbewohnt. Der neue Besitzer hatte mehr zu tun, als in Freienhofen der Ruhe zu pflegen. Doch er starb, und seine Tochter, die übrigens die einzige Erbin dieses unverschämt reichen Emporkömmlings ist, besann sich mit einem Male auf ihre landwirtschaftlichen Fähigkeiten. Jedenfalls wohnt sie nun in Freienhofen und soll es sozusagen selbst bewirtschaften, womit der borstige Uhleweit ja sehr einverstanden sein wird. Ich kenne dieses extravagante Weibsbild nicht, habe noch nicht die Ehre gehabt, sie kennenzulernen. Einige berichten, sie wäre schön wie eine Märchenfee, andere wieder wissen zu sagen, daß sie wie ein wilder Cowboy im Sattel hängt und sich auch so benimmt. Doch darüber sind sich alle einig, daß sie unerhört herumflirtet, eine Gesellschaftspuppe ist und ständig eine Schar winselnder Verehrer um sich hat. Kunststück – dieses holde Kind ist reich, und es gibt ja solcher Helden genug, die ihr Wappenschild vergolden möchten. Unerhört dreist und unverfroren muß diese Person sein, daß sie den Mut hat, sich in Kreise zu drängen, in die sie wirklich nicht hineingehört. Verschiedene Familien sind wahrhaftig so charakterlos gewesen und haben nicht die Energie besessen, sich dieses unverschämte Kind vom Halse zu halten«, sagte er wegwerfend. »Doch Gott sei Dank, es sind nur wenige. Die meisten von uns wissen, was sie sich selbst schuldig sind.«
Er hatte überhaupt voll tiefen Grimmes gesprochen; er schien die junge Dame zu hassen und es ihr nicht verzeihen zu können, daß sie auf dem Platze saß, an dem der Freund ein heiliges Anrecht hatte.
Sie bogen in einen breiten Weg ein, der zum Lehnshagener Schlosse führte. Voll Interesse sah Graf Wultringen auch hier die Neuerungen, die in den Jahren seiner Abwesenheit entstanden waren.
Und dann stand er der Gattin des Freundes gegenüber, die ihm beide Hände entgegenstreckte.
»Seien Sie mir willkommen, Graf Wultringen. Ich kenne Sie aus Henners Erzählungen so genau, als wären auch wir Kindheitsgefährten.«
Der so Begrüßte zog die schlanken weißen Hände an die Lippen und sah in die schönen dunklen Augen, die zu ihm emporlachten. O ja, der Freund hatte Geschmack bewiesen, als er sich diese Frau zur Lebensgefährtin erwählte.
Sein Herz wurde warm bei dem herzlichen Empfang.
»Und ich glaubte immer, Henner übertriebe«, lachte sie, »er stempelte Sie direkt zum Übermenschen. Nun muß ich aber feststellen, daß er in einer Beziehung zu wenig gesagt hat – nämlich, was Ihren äußeren Menschen anbetrifft –«
»Du, Christa, ein so schneidiger Kerl ist er erst in seiner Abwesenheit geworden«, unterbrach der Gatte sie lebhaft. »Er hat mich zwar immer schon in den Schatten gestellt –«
»Was auch kein Kunststück sein dürfte«, neckte ihn die Gattin und rief damit die Entrüstung ihres Eheherrn hervor.
Nichtsdestoweniger saßen sie hernach in bester Eintracht an der Mittagstafel gegenüber. Und der Graf mußte immer wieder feststellen, daß der Freund mit dieser Gattin in der Lebenslotterie das Große Los gewonnen hatte.
»Wo sind denn Ihre Söhne, Gräfin?« wandte er sich an die Schloßherrin.
»Die halten ihr Mittagsschläfchen. Hans-Henner mit seinen viereinhalb Jahren ist schon soweit, daß er den interessanten Onkel genügend zu würdigen weiß. Doch Siegmar, unser Kleiner –«
»Hat für Schokolade mehr Verständnis«, warf der Graf lächelnd ein. »Er wird nicht zu kurz kommen. Wohl aber Hans-Henner – ich wüßte nicht, was interessant an mir wäre.«
»Nun, daß Sie ein so weitgereister Mann sind und doch wohl Erlebnisse haben werden, die ein Jungenherz entzücken müssen. Sie werden Ihre Not mit dem Quälgeist haben, der Sie mit seinen Fragen belästigen wird.«
»Und wenn ich mich nicht als der Held entpuppe, für den er mich hält, dann wird er arg enttäuscht sein«, ergänzte der Graf lächelnd. »Erlebnisse gab es drüben genug, doch sie waren alles andere als interessant; höchstens nur widerwärtig. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß ich Heimatluft atme.«
»Denke dir, Christa, Siegmar wird wahrscheinlich in unserer Nähe bleiben«, rief der Gatte lebhaft. »Er wird das kleine Vorwerk kaufen, das ich schon lange los sein wollte.«
»Vorausgesetzt, daß ich den Kaufpreis zahlen kann«, warf der Gast ein. »Ich bin nicht als Krösus zurückgekehrt, wie es ja eigentlich hätte sein müssen, ich besitze nicht viel und möchte nicht, daß Henner durch seine Gutmütigkeit geschädigt wird.«
»Ja, was wollen Sie denn auf dem kleinen Vorwerk?« fragte die Gräfin verwundert.
»Ich will dort als mein eigener Herr leben, will ein Stückchen Land besitzen, das mir gehört.«
»Aber Sie passen doch ganz und gar nicht da hinein. Das Haus ist klein und primitiv, überhaupt die ganze Umgebung ärmlich. Wie Henner Ihnen den Vorschlag machen kann, das begreife ich einfach nicht. Da habe ich einen viel besseren Vorschlag. Herr von Stein sucht einen Herrn, der ihn vertritt, weil er kränklich ist und die Oberaufsicht über sein Gut nicht mehr führen kann –«
»Christa, nun hör aber auf!« rief der Gatte dazwischen. »Der gute Herr hat nämlich drei Töchter, Siegmar, entzückende Steinchen, sage ich dir! Haben alle schon Altertumswert. Es ist ein Wunder, Christa, daß du nicht gleich den Vorschlag machst, daß Siegmar Fräulein Tango heiraten soll.«
»Erstens mal heißt das Fräulein nicht Tango, sondern Tanger«, lachte die Gattin, »daß du den Namen doch nie behalten kannst! Und dann besitze ich so viel Geschmacklosigkeit noch lange nicht, dem Grafen eine solche Frau auszusuchen. Du kannst die Damen Stein doch unmöglich mit Fräulein Tanger vergleichen. Die sind aus vornehmem, altem Hause, während Fräulein Tanger die Tochter eines Emporkömmlings ist. Und so alt sind die Damen Stein übrigens noch gar nicht, die älteste ist wohl kaum fünfunddreißig Jahre –«
»Da ist sie also noch ein Backfisch. Oh, Siegmar, nimm dich in acht, meine Christa will dich unter die Haube bringen!«
Graf Wultringen lachte, und auch die Schloßherrin fiel mit ein. –
Wenige Tage später ließ Graf Lehnherr das kleine Vorwerk abschätzen, und der Freund erwarb es mit erheblich verringerter Morgenzahl.
*
Baron Bronner gab ein Fest. Er und seine Gattin gehörten gleichfalls zu denen, die nur mit den alteingesessenen Familien Verkehr pflegten und die neu hinzugekommenen, bürgerlichen Nachbarn übersahen.
Und Graf Lehnherr, der auch unter den Gästen war, stellte mit Befriedigung fest, daß niemand unter den Geladenen war, der nicht in ihren Kreis gehörte.
»Ist denn Ihr Freund nicht mit Ihnen gekommen?« fragte der Gastgeber ihn.
»Nein, er wird aber gleich erscheinen.«
»Na eben, wäre ja auch sehr schade, wenn er ausgeblieben wäre. Ich freue mich wirklich, ihn wiederzusehen, den lieben, tapferen Kerl, der sein verpfuschtes Leben so fest in die Hände genommen hat. Ah, da ist er übrigens schon.«
Er eilte dem Grafen Wultringen mit ausgestreckten Händen entgegen.
»Siegmar, lieber alter Junge, ich freue mich wirklich! Potztausend, was sind Sie für ein interessanter Kerl geworden. Wenn Sie dazu noch der Schwerenöter von einst sind, dann werden Sie ja eine schöne Verheerung unter meinen weiblichen Gästen anrichten!«
Graf Wultringen ergriff die Hand des alternden Herrn und verbeugte sich lächelnd.
»Das war einmal, Baron.«
»Na, na«, meinte dieser zweifelnd, »Sie machen einen sehr begehrenswerten Eindruck. Doch sehen Sie Ihren Freund Henner an, er ist schon eifersüchtig, daß ich Sie ihm so lange vorenthalte.«
Er eilte lachend davon, um andere Gäste zu begrüßen. Graf Wultringen trat zu seinem Freunde und dessen Gattin. Er zog die Hand der Gräfin an die Lippen, die lächelnd zu ihm aufsah.
»Und ich glaube doch, daß Baron Bronner mit seiner Voraussagung recht behält, Graf Wultringen. Sehen Sie nur die Unruhe unter dem Damenflor – wem anders gilt sie wohl als Ihnen?«
Der Graf sah zu den Damen hinüber, die in Gruppen standen und zweifellos an seiner Person Kritik übten. Ein Zug trat in sein Gesicht, verächtlich, voll grausamer Ironie. Doch er sagte nichts, sondern wandte sich dem Freunde zu, der ihn auch gleich mit Beschlag belegte und sich mit ihm in wirtschaftliche Fragen vertiefte.
Gräfin Christa interessierte das Gespräch nicht sonderlich, und so beobachtete sie von ihrem Platze aus all die Menschen, die den Saal füllten. Eigentlich gab es hier nichts von Bedeutung für sie, denn alle Anwesenden waren ihr bekannt.
Doch plötzlich wurde sie aufmerksam. Eine Dame betrat den Saal, die sie nicht kannte, die hier aber dennoch bekannt sein mußte, denn sie wurde lebhaft begrüßt.
»Henner, sieh doch mal her, kennst du die Dame?« fragte sie ungeduldig.
Der Graf schaute auf und schüttelte den Kopf. »Nein, total unbekannte Größe«, erwiderte er zerstreut. Doch als die Dame näher kam, wurde er aufmerksam.
»Alle Wetter, ja«, sagte er verblüfft, »das ist ja eine unerhörte Schönheit! Sagen Sie mal, Baron, Sie sind ja der reinste Schatzgräber, wo bekommen Sie bloß immer die schönen Kinder her?« hielt er den Gastgeber an, der vorübergehen wollte. Dieser blieb stehen, und ein feines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Sie kennen die Dame nicht, Graf Lehnherr, nein? Das wundert mich – es ist doch Fräulein Tanger –«
Er schwieg, als er die erstarrten Mienen seiner Gäste sah, nickte verabschiedend mit dem Kopfe, entfernte sich einige Schritte und kam dann aber wieder zurück.
»Dagegen läßt sich nichts machen«, erklärte er, immer noch das merkwürdige Lächeln im Gesicht, »meine Frau und ich haben nun mal einen kompletten Narren an dem Mädel gefressen–«
Er hielt inne, denn die junge Dame stand gerade hinter ihm.
Er wandte sich um und stellte vor: »Graf Lehnherr auf Lehnshagen mit Gattin – Graf Wultringen, Edler von Freienhofen –«
Seine Stirn rötete sich jäh. »Auf Freienhofen«, hatte er sagen wollen, nach alter Gewohnheit – besann sich jedoch noch. Verstohlen musterte er den Grafen, dessen Gestalt wie von Eiseskälte umweht und dessen dunkles Antlitz wie erstarrt war. Unwillkürlich blitzte es in den Augen Fräulein Tangers auf – dann neigte sie das feine Köpfchen mit hochmütiger Gebärde. Sie wollte weitergehen, doch die Baronin Bronner kam auf sie zugeeilt; ihr noch faltenloses rundes Gesicht strahlte.
»Kommen Sie, Nixchen, es ist doch noch rechtzeitig eingetroffen. Ich fürchtete schon –«
Was sie fürchtete, verstand sie nicht mehr, denn sie hatte sich entfernt und Fräulein Tanger mit sich gezogen.
Nixchen hatte sie das wundersüße, ätherisch zarte Geschöpf genannt. Den Namen hatte sich die junge Dame, die Beatrix hieß, selbst im zartesten Kindesalter gegeben. Nixchen – kein Name hätte passender sein können. Schimmernd und gleißend das blonde Gelock, das ein unbeschreiblich süßes Gesichtchen von fast unnatürlicher Weiße umgab. Gertenschlank die mittelgroße Gestalt und von bezaubernder Grazie. Und die Augen? Groß, von tiefgrauer Farbe, umrahmt von dunklen Wimpern und Brauen – tief, unergründlich, märchenhaft – Nixenaugen. Man hatte beim ersten Sehen das Gefühl, dieses seltsam schöne Geschöpf müsse von der Sanftmut eines Engels sein. Doch wenn man sie kennenlernte, bekam man ein anderes Bild. Ein kleines Teufelchen war sie, keck, schlagfertig, übermütig – flirtete, kokettierte – jedenfalls ließ ihr Benehmen auf einen zwar gutmütigen, jedoch auf keinen allzu tief veranlagten Charakter schließen.
Verstohlen musterte Baron Bronner seine drei Gäste mit der unnahbaren, hochmütigen Haltung.
»Tja, da ist nun nichts zu machen«, sagte er wieder, doch diesmal mit einem Anflug von Humor. »Ich bin ja durchaus nicht dafür, daß man diese neuen Menschen in unseren Kreis aufnimmt, doch bei dieser jungen Dame läßt es sich nicht anders machen, der sind wir wirklich sehr verpflichtet. Sie war es, die meiner Frau zu Hilfe kam, als die Pferde durchgingen. Sie fuhr allein mit den nervösen Tieren, hatte nur ein kleines Dienerlein auf dem Rücksitz. Es ging ja auch alles glatt und wunderschön, bis die Chausseewalze kam. Die Gäule hatten ein solches Exemplar noch nie gesehen, scheuten, spürten keinen richtigen Halt und rasten los. Das mutige Dienerlein sprang in heller Angst vom Wagen, und meine Frau war der Verzweiflung nahe. Da kam Fräulein Tanger dem rasenden Gefährt entgegengeritten. Sie sprang von ihrem Gaul direkt in den Wagen und zügelte mit einiger Mühe die wild gewordenen Pferde. Das war ja für sie gerade keine Leistung, denn sie ist eine tollkühne Reiterin, Autolenkerin und so weiter. Doch ohne ihre Hilfe hätte ich meine Frau irgendwo auflesen können. Wir sind ihr zu Dank verpflichtet, hätten diesen jedoch irgendwie abtragen können, wenn wir das süße Mädel nicht kennengelernt hätten. Sie bildet wirklich eine rühmliche Ausnahme ihrer Kreise, die Kleine, sie ist ohne Frage ein liebenswertes Geschöpf, fein, reizend, von herzerquickende Natürlichkeit. Hat ein süßes Engelsköpfchen – jedoch ein ausgewachsenes Teufelchen im Nacken. Doch nun muß ich gehen. Unterdessen –«
Er eilte davon, froh, den schweigenden, in Hochmut erstarrten Gästen entrinnen zu können. Da waren ja noch verschiedene unter den hier Anwesenden, die ihn Fräulein Tangers wegen zur Rechenschaft ziehen würden. Doch die Schlimmsten waren wohl diese drei.
Die standen eine ganze Weile schweigend, bis Graf Lehnherr spöttisch auflachte.
»Ist doch die Höhe! Ich sehe schon, Christa, wir werden uns nächstens ganz zurückziehen müssen. Der alte Baron, dieser Narr! Als wenn das schon eine besondere Leistung ist, wenn man Pferden in die Zügel fällt! So große Dankbarkeit ist bestimmt übertrieben. Überhaupt die Geschmacklosigkeit, dich diesem Fräulein als Edler von Freienhofen vorzustellen – eine Taktlosigkeit ohnegleichen!«
Ärger und Grimm tobten in ihm, und der Freund betrachtete ihn lächelnd.
»Warum du dich nur so für mich aufregst, mein Langer! Der Baron weiß gar nicht, daß er taktlos gewesen sein soll, er hat doch nichts Unerlaubtes gesagt. Meinetwegen mag das Fräulein Tanger überall sichtbar werden, mich stört das nicht. Da kannst du dich noch so entrüsten, du getreuer Langer, eines Tages wird das Fräulein doch überall verkehren. Ihr fehlt nur ein Mann aus unsern Kreisen, um ihr Leben wunschlos glücklich zu gestalten. Und daß sie diesen Mann bekommt, daran zweifle ich keinen Augenblick. Geld hat sie, schön ist sie auch – und du hast ja selbst gesagt, daß es sehr viele Männer hier gibt, die ihr Wappenschild vergolden möchten. Also, lieber Henner, empöre dich nicht allzu sehr, es hat keinen Zweck.«
*
»Nixchen, kleines Murmeltier, willst du nun endlich aufwachen!«
Fräulein Eva Tanger, die Tante der Herrin von Freienhofen, die als deren Gesellschaftsdame daselbst lebte, rüttelte ihre Nichte, die noch in tiefem Schlaf lag.
Sie rüttelte und schüttelte das zarte Geschöpf. Und endlich schlug Beatrix die Augen auf, blinzelte in das helle Sonnenlicht, das das Zimmer überflutete, und lachte die Tante an.
»Was gibt es denn, Tante Eve, du schüttelst mir ja die Knochen durcheinander?«
»Es ist ja unerhört, so zu schlafen! Ich glaubte in allem Ernst, du hättest die Schlafkrankheit.«
Nun lachte das Mädchen hellauf.
»Und da hat mein borstiges Tantchen die Angst gepackt«, neckte sie. »Und um sich nicht ganz zu verraten, rüttelt und schüttelt sie mich, daß mir Hören und Sehen vergeht.«
Die Tante lachte. Sie war ein Fräulein von fast fünfzig Jahren und alles andere als schön. Derbknochig und untersetzt war die vor Gesundheit strotzende Gestalt, derb und resolut auch ihr ganzes Wesen. Gefühlssachen hielt sie für unnützen Ballast, tat immer sehr borstig, besaß aber ein weiches Herz, das ihrer schönen Nichte ganz und gar gehörte. Als die Kleine sehr früh die Mutter verlor, nahm sie sie an ihr Herz und versuchte ihr diese zu ersetzen. Auch nach dem Tode ihres Bruders blieb sie bei der Nichte.
»Nun erzähle, Nixchen, wie war es?«
Beatrix lachte, dehnte und reckte die schlanken Gieder.
»Es war gar nicht so übel, Tante Eva. Die Leutchen beginnen sich allmählich daran zu gewöhnen, daß die Tochter eines Emporkömmlings in ihre Kreise geschmuggelt worden ist.«
»Aber Nixchen, dein Vater ist doch kein Emporkömmling!«
»Für die Leutchen allemal, Tante Eve. Doch du mußt mich nicht immer unterbrechen, sonst verliere ich den Faden. Also ja – daß die Tochter eines Emporkömmlings in ihre Kreise geschmuggelt worden ist.
Am gestrigen Abend war es nun schon das dritte Mal, daß ich da geladen war, wo ich von Rechts wegen nicht hingehöre. Sie rümpften ja sehr die Nasen, doch im allgemeinen ging es. Am hochmütigsten sind wohl Lehnherrs und der Graf Wultringen. Letzterem ist es ja auch nicht zu verdenken, wenn er keine besondere Vorliebe für mich aufbringen kann. Und den Grafen Lehnherr nebst Gattin will ich auch nicht verurteilen, denn das Schicksal des Freundes macht ihnen Kummer.«
»Dafür kannst du doch aber nichts, Nixchen, daß er von Freienhofen mußte.«
»Nein, dafür kann ich nichts – doch ich verstehe den Groll.«
»Ich wußte ja gar nicht, daß du mit dem Grafen Wultringen schon zusammengekommen bist, ist er auch immer auf den Gesellschaften?«