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Die Halbbrüder Joshi und Patrick verbringen ihre Jugend gemeinsam mit ihrem alleinerziehenden Vater. Ihr Verhältnis ist kompliziert, dennoch sind sie miteinander verbunden – und zwar tiefer als es anfangs von außen den Anschein hat. Erst nach und nach wird deutlich, mit wie viel Schuld und Scham dieses Verhältnis belastet ist und wie sich die so gravierenden Ereignisse besonders auf Joshis Leben auswirken. Lange bleibt im Verborgenen, was im Laufe der Jahre passiert ist und Joshi findet sich letztendlich in der Drogenszene wieder. Er erlebt Dinge, die ihn vollkommen aus der Bahn werfen. Und erst dem Sozialarbeiter Leo gelingt es, eine einschneidend positive Wendung in Joshis Leben zu bewirken.
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-852-3
ISBN e-book: 978-3-99146-853-0
Lektorat: Dr. Michaela Schirnhofer
Umschlagabbildungen: Pixabay.com, Arsgera | Dreamstime.com
Illustrationen: Nikolai Ezekiel @davierartist
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Prolog
Montag, 11. April 2011
9:45 Uhr
Die Strahlen der Frühlingssonne fielen durch die spärlich belaubten Zweige auf das Pflaster des Schulhofes, wo Patrick allein auf einer Backsteinmauer hockte und auf den Boden starrte. Die Rufe fußballspielender Sechstklässler hallten zu ihm herüber. Lachen und Kreischen. Dazwischen vereinzeltes Vogelgezwitscher. Der übliche Soundtrack einer jeden Hofpause.
In Gedanken versunken schob Patrick mit dem Turnschuh Steinchen und Sand von links nach rechts, während die Armee von Ameisen zu seinen Füßen hektisch versuchte, ihre einstürzenden Höhlen wieder freizuschaufeln. Patrick hob den Kopf und ließ seinen Blick umherschweifen. Vermeintlich ziellos. Doch er selbst wusste ganz genau, wonach er suchte. Nach wem.
Joshi war wie immer in Begleitung der rothaarigen Zwillinge.
Die drei standen unweit der Tischtennisplatten im hintersten Winkel des Hofes und teilten sich eine Tafel Schokolade aus dem Snackautomaten der Cafeteria. Der Kleine verhielt sich wie immer. So, als wäre nichts vorgefallen an dem gestrigen Abend. Als hätte sein Kinderkopf das Erlebte bereits wieder gelöscht. Verdrängt. Wie einen bösen Traum.
Patrick verschränkte die kräftigen Hände ineinander, auf denen seit einigen Wochen die ersten blonden Haare zu sprießen begannen.
Oder hatte er selbst bloß alles geträumt?
Nein.
Er konnte das Geschehene noch immer spüren, mit jeder Faser seines Körpers.
Sein Kopf mochte wie leergefegt sein, als läge die Erinnerung hinter einem Schleier aus Nebel, der keine genauen Details erkennen ließ. Doch sein Körper erinnerte sich an alles. An jede Minute.
„Was ist wrong with you, today? Wo bleibst du?“
Patrick fuhr zusammen, als Benjin ihn von hinten an den breiten Schultern packte. Der amerikanische Akzent in der selbstbewussten Stimme war unverkennbar.
„Everyone is waiting for you bei die Sporthalle. Und du sitzt hier ganz alone und machst … was exactly?“
Benjin ließ sich neben ihm auf das Mäuerchen sinken und Patrick ließ zu, dass er ihm den Arm um die Schultern legte. Das Paar eisblauer Augen sah ihn durchdringend an.
Patrick hasste diesen Blick.
Seit Benjin im vergangenen Sommer in seine Klasse gekommen war, hatte er den dringenden Verdacht, dass dieser viel zu gutaussehende Junge Gedanken lesen konnte. Eine Fähigkeit, die Patrick gerade verdammt ungelegen kam. Benjins Hand umschloss den kräftigen Nacken seines Freundes und dieser bekam eine Gänsehaut.
„Erzähl mir … was ist los?“
Mitgefühl schwang in den Worten mit. Doch Patrick wusste, dass es nicht echt war. Benjin war berechnend. In allem, was er sagte oder tat.
Interessiert nickte er in Joshis Richtung.
„Ist etwas mit deine kleine Bruder?“
Patricks Herz begann zu klopfen.
Bemerkte Benjin etwa eine Veränderung an dem Kleinen?
Wie eindringlich er ihn betrachtete.
Hastig stand Patrick auf, schüttelte Benjins Hand ab und klopfte sich etwas Sand vom Hosenboden.
„Ist egal, lass uns gehen. Du meintest doch, die anderen warten.“
Benjins Augen folgten Patricks elfjährigem Halbbruder, der allein über den Schulhof zurück zum Haupteingang lief. Die Afrolocken unbeschwert auf und ab wippend.
„Hübsche Junge, deine Bruder“, bemerkte er in gespielt beiläufigem Ton, der in Patricks Ohren wie eine Drohung klang.
Hübscher Junge.
Er nickte nur.
14:02 Uhr
An diesem Nachmittag lief Patrick den weiten Weg von der Schule zu Fuß nach Hause. Er brauchte Zeit für sich. Zeit zum Nachdenken. Und die monotone Tätigkeit des Laufens, der Rhythmus seiner sich zehntausendfach immer auf die gleiche Weise wiederholenden Schritte waren perfekt dafür. Tempo und Schrittlänge auf Autopilot. Ohne dafür etwas von der Kapazität seines Großhirns verschwenden zu müssen. Er hatte seine übliche Strecke entlang der Elbe gewählt. Einen Fußmarsch von zwei Stunden, den er an Tagen wie dem heutigen schon oft zurückgelegt hatte. Immer dann, wenn die Leere in seinem Inneren sich zu der vertrauten Druckwelle aufzustauen drohte. Immer dann, wenn er befürchten musste, die Kontrolle zu verlieren.
So wie gestern.
Der unbeschreibliche Rausch in den Patrick ohne jede Vorwarnung geraten war, hatte ihm Angst gemacht. So schlimm war es noch nie gewesen.
Und das Unheimliche war:
Er wollte, dass es wieder passierte!
Der verzehrende Hunger in ihm war stärker gewesen, als die Scham und die Angst mit denen er für das Geschehene hatte bezahlen müssen. Stärker als die Schuldgefühle, die ihn die ganze Nacht nicht hatten schlafen lassen. Und die ihn noch immer quälten.
Im Laufe der letzten Jahre hatte Patrick Mittel und Wege gefunden, die bedrückende Leere in sich zu füllen. Die Flucht in einen Serienmarathon konnte genauso Abhilfe schaffen wie das exzessive Krafttraining, nach dem Patrick sich teilweise tagelang nicht ohne Schmerzen bewegen konnte. Und auch Mädchen traf er nun ab und zu. Sie schienen sich seit einigen Monaten mehr für ihn zu interessieren, als er es bisher gewohnt war. Was vermutlich nicht zuletzt an seiner Freundschaft zu Benjin lag. Aber das war Patrick egal. Er suchte nicht nach der Frau fürs Leben. Nur nach dem Gefühl von Sichtbarkeit. Wenigstens für einen kurzen Augenblick.
Während er seine Füße auf den betonharten Sand des Flussufers setzte, ohne Spuren zu hinterlassen, sah Patrick aufs Wasser hinaus. Ein voll beladenes Containerschiff lag bäuchlings in der brackbraunen Brühe und wälzte sich die Fahrrinne in Richtung des Hafens hinauf. Die Luft roch nach Schlick und Seetang.
Eine Promenadenmischung kam von der Seite auf Patrick zugesprungen und wetzte kläffend an ihm vorbei, wodurch dieser das Uhrwerk seiner Schritte für einen Herzschlag unterbrechen musste. Ein Junge im Grundschulalter folgte dem Köter auf dem Fuß. Wobei seine Kinderstimme immer und immer wieder den Namen des hässlichen Tieres rief.
„Sid! Sid, bleib hier…! Bleib! Sid!“
Patrick sah den beiden unauffällig nach, ohne den Kopf zu drehen, und setzte sich stockend wieder in Bewegung. Als hätte der Anblick des fremden Jungen eine Blase in seinem Kopf zerplatzen lassen, begannen die Geschehnisse der letzten Woche nun wieder ungebeten und in gestochen scharfen Bildern über den Screen in Patricks Bewusstsein zu flackern.
Joshi, wie er dienstags am Frühstücktisch, bei Cornflakes und Schokoladenkuchen, das Geburtstagsgeschenk seines älteren Bruders auspackte. Als allererstes. Noch vor den beiden Paketen ihres Vaters. Ein irischgrüner Pullover war unter dem Papier zum Vorschein gekommen. Mit einem Print des rundnasigen Dinosauriers Yoshi aus der Welt des Super Mario auf dem Rücken, den der Kleine so überschwänglich an sich gedrückt hatte, dass Patricks Herz bei der bloßen Erinnerung vor Zuneigung flatterte.
Das war der Moment gewesen, in dem die elektrische Spannung sich in ihm aufzubauen begonnen hatte. Stück für Stück. Jeden Tag ein bisschen mehr. Dieses Prickeln. Dieses unaussprechliche, euphorische Gefühl.
Patrick kletterte die mit Algen bewachsenen Ufersteine entlang und setzte über ein schlammiges Rinnsal hinweg, wobei er kurz ins Straucheln geriet.
Er wusste, dass ein weiterer Kontrollverlust ihn den Kopf kosten konnte. Und doch blieb in ihm die Gewissheit, dass diese Gefahr ihn nicht würde aufhalten können, wenn die Alternative wäre, in der Wüste seiner eigenen Seele zu verdursten.
Sein Handy piepte.
Patrick zog es aus seiner Hosentasche hervor und las die kurze Nachricht seines Vaters im Gehen, ohne den Takt seiner Schritte zu verlassen.
- kannst du dich heute Abend um Jonathan kümmern?
hab noch ein Meeting um 20 Uhr
Wie immer …
Patrick tippte, während er mit einem Auge auf das Gelände zu seinen Füßen schielte.
- klar
Ich bleib bei Joshi.
18:00 Uhr
Sophie, die Mutter der Zwillinge, lieferte Jonathan pünktlich zu Hause ab. Das Lächeln auf den Lippen zuvorkommend wie immer. Der Kleine hatte ihr also nichts erzählt. Sonst hätte sie Patrick wohl eher ins Gesicht gespuckt.
Er lächelte zurück.
„Danke, dass du ihn gefahren hast.“
„Ach, gar kein Problem“, Sophie strich sich eine feuerrote Haarsträhne hinter das Ohr, die keinen Zweifel daran ließ, von wem ihre beiden Töchter die auffällige Haarfarbe geerbt hatten.
„Einen schönen Abend euch und liebe Grüße an Volker!“
„Richte ich aus. Bis dann!“
Patrick lauschte auf das Schnurren des Automotors, das Sophies Verschwinden von dem Grundstück begleitete, und schob mit dem Fuß Joshis achtlos in den Eingangsbereich geworfene Schuhe beiseite, damit ihr Vater später im Dunkeln nicht darüber stolperte.
„Was hältst du von Spaghetti?“, fragte er seinen Bruder und ging voran in die Küche, wohin der Kleine ihm mit federnden Schritten folgte. Patrick grinste.
„Und dann gucken wir beim Essen Fernsehen und legen die Füße auf den Tisch! Hast du bei Kalle und Marie schon Hausaufgaben gemacht?“
Bei dem letzten Satz sah er auf Joshi hinunter, der sich gerade an ihm vorbeischob, um sich, wie es seine Gewohnheit war, auf die rustikale Platte des Esstisches hinaufzuziehen und von dort aus die Beine in der Luft baumeln zu lassen.
„Wir hatten nur Mathe auf.“
„Und das habt ihr zusammen gemacht?“
Joshi nickte eifrig, woraufhin Patrick die Hand ausstreckte und seinem Halbbruder die Locken zerzauste.
„Braver Junge.“
Jonathan wischte sich die Haare aus den Augen.
„Gibt es auch Tomatensoße?“
„Wenn du das möchtest.“
„Und Streukäse?“
„Ja klar!“, Patrick zog in gespieltem Unverständnis die Augenbrauen hoch, „Nudeln ohne Käse? Wo gibt’s denn so was?“ Jonathans Kichern ließ auch Patricks Lächeln noch etwas breiter werden und er spürte, wie etwas tief in ihm zu kribbeln begann.
Nein. Nicht jetzt!
Patrick kramte eine Packung Spaghetti hervor, füllte einen Edelstahltopf mit Wasser und schaltete die Herdplatte mit dem Knacken des dazugehörigen Drehknopfes ein.
Er musste atmen! Tief atmen.
Er hatte alles im Griff. Es würde nichts passieren. Nicht heute.
Patrick versuchte, sich selbst zu glauben, während seine eigene Stimme lautlos auf ihn einredete. Er warf Joshi einen verstohlenen Blick zu. Sah dessen Füße in den grün geringelten Socken vor- und zurückschwingen, während sein Bruder von irgendeinem Playstation-Spiel erzählte, welches er heute bei seinen Freundinnen kennengelernt hatte.
Heute Abend bist du sicher, flüsterte Patrick in Gedanken.
Versprochen. Ich hab’ alles unter Kontrolle.
Kapitel 1
Samstag, 19. September 2014
23:05 Uhr
Joshi war wach. Viel zu wach für diese Uhrzeit. Und viel zu wach für eine Teenieparty.
Die dröhnend laute Musik aus dem Wohnzimmer war nicht nur problemlos im ganzen Haus zu hören, sondern Dank der basslastigen Anlage auch zu spüren.
Und Joshi liebte es!
Ohne auch nur das kleinste bisschen zu taumeln, durchquerte er die luxuriös ausgestattete Küche und öffnete den Kühlschrank, dessen Griff bereits von klebrigen Fingerabdrücken übersäht war.
Der Alkoholvorrat war im Laufe des Abends deutlich geschrumpft. Doch Joshi fühlte sich stocknüchtern. Dabei hatte er keinen Schimmer, das wievielte Bier er da grad aus dem untersten Fach herauszog.
Das Koks hielt seinen Kopf kalt und klar. Ohne es wäre er garantiert schon in irgendeiner Ecke eingepennt.
Aber Joshi wollte jetzt nicht schlafen!
Er stellte für Tracy eine der geöffneten Flaschen auf die Arbeitsfläche, während ihre Finger verträumt mit den gefilzten Locks spielten, die in alle Richtungen von Joshis Kopf abstanden.
Tracy war Joshis erste richtige Freundin. Und er war verflucht stolz, dass dieses wunderschöne Mädchen ausgerechnet ihn dazu ausgewählt hatte, mit ihr zusammen zu sein. Obwohl er erst vierzehn war und sie mit ihren sechzehn Jahren schon beinahe erwachsen. Diese Prinzessin mit dem glatten, blauschwarzen Haar und den Augen, die so anmutig geformt waren wie die einer Katze. Tracys Lippen drückten sich auf die seinen.
Sie schmeckten nach Erdbeerlipgloss und Bier.
„In der Küche wird nicht gefummelt!“
Grölend kamen mehrere von Tracys Klassenkameraden hereingetorkelt und schoben das Pärchen zur Seite, um sich ebenfalls am Kühlschrank zu bedienen. Einer von ihnen boxte Joshi gegen den schmächtigen Arm.
„Musst du nicht mal ins Bett, Kleiner?“
Er überragte Joshi um mindestens zwanzig Zentimeter. Und dieser wünschte sich einmal mehr, er hätte die stattliche Statur seines Vaters geerbt.
„Was ist los mit dir, Tracy? Du kannst jeeeden Mann haben, den du willst …“ Er unterdrückte einen Rülpser und schielte erneut auf Joshi hinunter, die Augenbrauen verständnislos gerunzelt. „Und dann nimmst duihn?“
Wie erbärmlich Besoffene doch aussahen … Joshi überlegte kurz, ob er etwas erwidern sollte, hielt dann aber die Klappe.
„Was willste bitte mit ’nem Kind? Ist das überhaupt erlaubt?“
Der Kerl lachte, als hätte er den Witz des Jahrhunderts gemacht.
Was laberte er da für eine Scheiße?
Und was sollte das dämliche Gegrinse seiner Freunde? Hielten sie Joshi auch für ein Kind, wenn sie in der Schule heimlich ihr Gras bei ihm kauften?
„Aberduhältst dich für einen Mann, oder was?“, schnaubte Tracy und nahm Joshi kopfschüttelnd bei der Hand, um sich an den Jungs vorbeizudrängeln. „Die kleinen Kinder hier seid ja wohl ihr …“
Joshi ließ sich von seiner Freundin aus der Küche schleifen und zeigte den dümmlich dreinschauenden Typen im Vorbeigehen den Mittelfinger.
Was für Loser.Er,Joshi, war hier derjenige mit der hübschen Freundin!
Sollten die sich doch alle ficken.
Dutzende Partygäste standen im ganzen Haus verteilt. Mit ihren Getränken hatten sie sich entlang der Wände aufgereiht und Joshis Finger umschlossen Tracys Hand, als fürchte er, jemand könne sie ihm wegnehmen. Er ließ sich von ihr ins Wohnzimmer ziehen, wo die Musik so laut war, dass es Joshi fast die Trommelfelle zerfetzte. Achtlos stellten sie ihre Bierflaschen auf dem nächsten Tisch ab.
Alle Sitzmöbel waren zur Seite geschoben und die Teppiche aufgerollt worden und über der so entstandenen Tanzfläche schwebte eine riesige, silbern glitzernde Sechzehn. Überall blinkten Lichterketten und das herumliegende Konfetti machte den Boden unter ihren Füßen rutschig. Papierschlangen ringelten sich um frei im Raum hängende Lampenschirme und zierten die Hälse einiger Mädchen.
Tracy steckte Joshi zwei Knicklichter ums Handgelenk und er umfasste ihre Hände mit den seinen. Wie Yin und Yang schmiegten ihre Finger sich ineinander. Ihre weiß wie die ersten Blüten im Frühling. Seine braun wie Mahagoni.
Tracys Hüften bewegten sich geschmeidig zu dem Beat, der aus zwei schrankgroßen Boxen drang, und Joshi passte seine Schritte den ihren an, ohne darüber nachzudenken.
Während die meisten Jungs in seinem Alter ihre pubertierenden Körper niemals freiwillig auf eine Tanzfläche bewegt hätten, um dort ihre Gliedmaßen hin- und herpendeln zu lassen, war Joshi hier in seinem Element.
Tanzen.
Seit er denken konnte, gab es nichts, was ihm ein intensiveres Gefühl von Freiheit hätte verschaffen können alsdas. Versunken im Takt der Musik, konnte er für einen Moment einfach alles vergessen. Seinem Körper entfliehen, durch den Rhythmus eines fremden Herzens. Eines Herzens, das nicht voller Angst war.
Als Tracy irgendwann mit ihren besten Freundinnen auf ihr Zimmer verschwand, um dort irgendwelche Geheimnisse zu besprechen, wie Joshi vermutete, gesellte er sich für eine kurze Verschnaufpause zu seiner besten Freundin in den Garten. Es roch nach Feuer und gegrillten Würstchen und Joshi wechselte bei einer Zigarette hibbelig ein paar Worte mit Kalle, was im Klartext bedeutete, dass er sie zehn Minuten ohne Punkt und Komma zulaberte. Dann verschwand er für eine weitere, winzige Line auf dem Klo.
Das Kokain hatte ihn ein Vermögen gekostet. Doch für die Geburtstagsparty seiner Prinzessin hatte Joshi etwas Besonderes haben wollen. Und ehrlicherweise hatte er auch ein bisschen Schiss davor gehabt, Tracys ältere Freunde alle auf einem Haufen zu treffen. Weshalb es ihm ratsam erschienen war, sich etwas Selbstsicherheit durch die Nase in sein Gehirn zu ziehen.
Und sein Plan war aufgegangen.
Der Abend lief nahezu perfekt!
Um eins begann das Haus allerdings leerer zu werden. Immer mehr Leute gingen nach Hause und auch Kalle und Marie mussten los. Ihre Mutter würde in wenigen Minuten mit dem Auto vor dem Haus vorfahren und die Zwillinge wollten auf gar keinen Fall die Peinlichkeit riskieren, dass Sophie an der Haustür klingelte.
Joshi versuchte Kalle in einem weiteren Monolog dazu zu überreden, noch ein ganz kleines bisschen länger zu bleiben. Aber seine beste Freundin tätschelte ihm nur die Schulter, ohne darauf einzugehen. Als er ohne ein Wort des Abschieds zurück ins Haus rennen wollte, hielt sie ihn am Arm fest.
Ihr eng an der Kopfhaut nach hinten geflochtener Zopf und das rotweiße Tanktop, das sie trug, verliehen ihr das Aussehen einer Boxerin, die kurz davor war, Joshi aus dem Ring zu schleifen.
„Du kannst auch bei uns pennen“, schlug sie vor, „ein bisschen Schlaf würde dir nicht schaden.“
Joshi winkte ab. Er spürte, dass er durch das Kokain völlig überdreht war. Aber er hatte noch nicht vor, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren.
„Nee, ich bleib noch hier.“
Er schnappte Kalle die Kippe aus den Fingern, woraufhin sie sich schnell ein Pfefferminzkaugummi in den Mund schob. Ihre Schwester Marie kam über den Rasen zu ihnen herübergelaufen. Sneaker und Socken in der linken Hand, ihre roten Locken auf den Schultern tanzend, als wären sie Spiralen aus Kupfer. Kalle klopfte Joshi zum Abschied kräftig auf den Rücken.
„Na, bis Montag dann!“
Sie drehte sich im Gehen noch einmal um und hielt sich die geballte Faust mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger ans Ohr.
„Und ruf an, falls du doch ein Bett brauchst.“
1:37 Uhr
Kurz nach halb zwei wurde Tracys Geburtstagsparty jäh von ihren heimkommenden Eltern beendet. Freundlich, aber bestimmt komplimentierten sie die feierwütigen Jugendlichen hinaus, riefen ein Taxi für einen von Tracys Freunden, der kaum noch geradeaus gehen konnte, und sorgten dafür, dass keines der Mädchen allein nach Hause fuhr.
Joshi schnappte sich einen großen Müllsack und begann dienstbeflissen, leere Flaschen und Verpackungen einzusammeln. Beim Aufräumen zu helfen, lieferte ihm hoffentlich einen Aufschub und rechtfertigte sein Bleiben für wenigstens noch eine halbe Stunde. Bis dahin würde seine Freundin ihre Eltern sicher überredet haben, Joshi bei sich übernachten zu lassen.
Aber als das Thema fünfzig Pfandflaschen und zwei gefüllte Müllbeutel später zur Sprache kam, war Herr Cheng alles andere als begeistert vom Vorschlag seiner Tochter. Mit einem unverhohlen missbilligenden Blick musterte er Joshi, der angefangen hatte, alle Arbeitsflächen in der großen Küche abzuwischen. Vor Nervosität eine Reihe leerer Glasflaschen umstoßend, die daraufhin klirrend über die Fliesen rollten.
Herr Cheng nahm seine Tochter im Flur beiseite und sprach leise mit ihr. In einer Mischung aus Mandarin und Deutsch. Doch Joshi hörte genug, um zu verstehen, dass er hier nicht länger willkommen war.
„Ich glaube es ist besser, Jonathan fährt jetzt nach Hause und schläft sich aus. Deine Mutter und ich haben uns klar ausgedrückt, was Drogen auf deiner Party angeht, möchte ich meinen …“
Er deutete unauffällig auf Joshi, der den hölzernen Küchentisch bereits zum vierten Mal abwischte und angestrengt die Ohren spitzte.
Verdammt … war es so offensichtlich, dass er drauf war?
In Tracys Erwiderung schwang so viel Unschuld mit, dass es schon unglaubwürdig klang.
„Aber Joshi hat nichts genommen, Papa. Er hat nur etwas zu viel getrunken.“
„Jonathan ist vierzehn und sollte noch nicht einmal Alkohol trinken!“, sagte Herr Cheng leise. „Er ist wirklich nicht der Junge, den ich mir für dich wünsche, meine Kleine.“
„Du kennst ihn doch gar nicht!“
„Eben. Und deshalb möchte ich auch nicht, dass er hier übernachtet. Ich werde ihn jetzt nach Hause fahren.“
Von beiden unbemerkt war Joshi hinaus in den Flur getreten und räusperte sich. Kerzengerade stand er da und sah Tracys Vater mit festem Blick an.
„Sie brauchen mich nicht fahren. Ich laufe.“
Seine rauchige Stimme hatte einen nicht zu überhörenden, schroffen Unterton. Und als Herr Cheng einen Schritt auf ihn zu machte, um ihn zur Tür zu begleiten, hob Joshi abwehrend die Hände.
„Danke, ich weiß wo’s rausgeht. Gute Nacht.“
Tracy kniff die Lippen zusammen und folgte Joshi durch den Flur zur Haustür.
„Tut mir leid“, flüsterte sie zerknirscht, als sie ihm zum Abschied die Arme um den Hals legte. Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, doch ihr Vater war ihnen nicht gefolgt. Vermutlich war er zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer gegangen.
„Und? Hat Papa Recht?“
„Was … womit?“
„Willst du mich verarschen?“
Joshi strich Tracy eine seidige Haarsträhne hinters Ohr.
„Tut mir leid, wirklich …“, murmelte er reumütig, „ich weiß, ich hab’s versprochen.“
„Ja, das hast du. Kein Koks oder sonst was für ein’ Scheiß auf meiner Party!“
Eine kleine, zornige Falte bildete sich über ihrer Nase.
„Warum kannst du es nichteinmallassen?“
„Ich hab doch schon gesagt, dass es mir leidtut …“
Tracy drehte schmollend den Kopf zur Seite, doch Joshi gab ihr einen zaghaften Kuss auf die Wange.
„Verzeih mir … Ich mach es wieder gut, ja?“
Tracy nickte zögerlich.
„Okay …“
„Sehen wir uns morgen?“
2:14 Uhr
Joshi zog sein Handy hervor und wählte Kalles Nummer. Der Wind trug den Geruch von warmen Kiefernadeln die Straße hinauf, den Duft von Erde und nahendem Regen.
Wie gut, dass er einen Plan B zum Übernachten hatte!
Das Freizeichen tutete an seinem Ohr. Fünfmal. Sechsmal. Nach dem zehnten Klingeln sprang die Mailbox an.
Verdammt. Nochmal.
Tuuut. Tuut. Guten Tag, dies ist die Mailbox von …
„Fuck …“
Fluchend steckte Joshi sein Handy wieder ein. Er legte seinen Kopf in den Nacken und sah in den gähnend leeren Nachthimmel hinauf. Kein einziger Stern war zu sehen.
Er wollte nicht nach Hause.
Patrick war dieses Wochenende auf Heimaturlaub in Hamburg. Und für gewöhnlich zog Joshi an diesen Wochenenden immer direkt zu Marie und Kalle, um ihm nicht begegnen zu müssen. Doch dieses Mal hatte er auf Tracys Bett spekuliert.
Wie dumm von ihm!
Nun stand er hier. Allein. Zwischen all den ihm so vertrauten Einfamilienhäusern und Villen mit ihren hübschen Vorgärten, hohen Zäunen und dunklen Fenstern. Joshi tastete seine Hosentaschen erfolglos nach einer letzten Zigarette ab.
Was für ein beschissenes Ende für diesen Abend. Die Euphorie war verflogen und Joshi fühlte sich auf einmal schrecklich einsam. Schwach und schutzlos. Die Schatten hier draußen schienen wie dürre Finger nach ihm zu greifen. Und jetzt, wo die Wirkung des Kokains nachließ, spürte er den Alkohol in seinem Körper.
Viel zu viel davon.
Er unternahm einen weiteren, nutzlosen Versuch Kalle über WhatsApp zu erreichen.
Vielleicht will sie das Handy ja auch gar nicht hören?, flüsterte es feindselig in Joshis Kopf, vielleicht hat sie ja die Schnauze voll von dir und von deiner ewigen Unzuverlässigkeit.
Sollte Joshi es bei Marie versuchen?
Er zögerte. Nein lieber nicht.
Schritte ertönten hinter ihm und Joshi wandte sich dem Geräusch zu, um zu sehen, wer dort kam. Doch die Straße war leer. Er beschleunigte seinen Schritt und verfiel in eine Art Trab, die Füße etwas wackelig auf dem unebenen Gehsteig. Das Rauschen der Blätter über ihm wurde zu bedrohlichem Geflüster und Joshi brach der Schweiß aus.
„Ganz ruhig“, raunte er sich selbst zu, „hier ist niemand.“
Das Knurren eines Hundes in seinem Rücken, das ihn erschrocken zusammenzucken ließ, entpuppte sich als das Knattern einer Vespa, die gemächlich an ihm vorbeischlich.
Joshi lief weiter.
Das Quietschen des Gartentors und das Knirschen des kiesbestreuten Weges unter seinen neuen Nikes waren viel zu laut, als er auf das Grundstück stolperte, welches sein Zuhause war. Das Einfamilienhaus aus den siebziger Jahren wurde durch eine einzige Lampe an der beigen Klinkerfassade beleuchtet und die großen, bei Tageslicht so einladenden Fenster sahen jetzt wie finstere Höhlen in den Garten hinaus. Die Haustür mit den nach außen gewölbten Sprossenfenstern und dem angelaufenen Messinggriff erschien Joshi wie das Tor zur Unterwelt.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Diese beschissene Panik!
Joshi versuchte sich zu beruhigen und lauschte, seinen Haustürschlüssel in der kaltschweißigen Faust. Kein Laut war aus der Küche zu hören und auch nichts aus dem offenen Badezimmerfenster.
Joshi atmete tief durch.
Totenstille.
Vielleicht war Patrick heute Abend ja bei seinen alten Schulfreunden? Joshi würde einfach ins Haus schlüpfen, seine Jacke und die Zahnbürste holen und sich dann bis Montag zu Kalle verpissen. Die Nacht bis morgen früh würde er schon irgendwie rumkriegen. Unten am Elbstrand. Er könnte sich eine Schachtel Zigaretten aus dem Vorrat seines Vaters klauen …
Lautlos schloss Joshi die Tür auf und schlich auf Zehenspitzen hinein, ohne auch nur die Taschenlampenfunktion seines Smartphones einzuschalten. Leise raschelnd nahm er seine Jacke von der Garderobe und zog sie an, als sein Blick auf den Mantel seines Vaters fiel.
War Volker etwa schon wieder zu Hause?
Joshi hatte erst morgen Mittag mit seiner Rückkehr gerechnet. Aus Peking.
Er griff nach dem Portemonnaie, das aus einer der Manteltaschen hervorlugte, und schaute hinein. Es war nicht viel drin, doch das Fehlen von zehn Euro würde schon nicht auffallen. Rasch faltete Joshi den Schein in seine Hosentasche.
„Na, wen haben wir denn da?“
Eine Hand presste sich auf Joshis Mund und ein tiefes Lachen ertönte an seinem Ohr, während Patricks muskulöser Arm sich wie ein Schraubstock um seine Brust schlang.
„Lange nicht gesehen, kleiner Bruder …“
Er hörte das vertraute Lächeln in Patricks Stimme. Der Arm um seine Rippen lockerte sich und Joshi zog nach Luft schnappend die Hand von seinem Gesicht. Taubheit machte sich in seinen Gliedern breit.
Warum war er nur hierhergekommen?!
WARUM?!
Joshi fuhr herum und brachte unwillkürlich einen Schritt Abstand zwischen sich und die grauen Augen, die ohne zu blinzeln auf ihn hinuntersahen. Spärliches Licht fiel auf die markanten Gesichtszüge und Patricks Soldatenhaarschnitt, der sauber ausrasiert in den breiten Nacken überging. Lachfältchen bildeten sich in den Augenwinkeln seines Halbbruders, doch Joshi wusste aus Erfahrung, dass diese keineswegs ein Zeichen der Entwarnung waren. Die Panik fing an, ihn von seinem eigenen Körper zu trennen, und lähmte seine Lungen.
Patrick war der Inbegriff seiner Angst.
Früher hatte Joshi zu ihm aufgeschaut. Zu seinem großen Bruder, der nach dem Tod von Joshis Mutter ganz selbstverständlich ihre Rolle für ihn übernommen hatte. Sei es beim morgendlichen Broteschmieren für die Schule gewesen, bei den Hausaufgaben am Nachmittag oder beim abendlichen Zähneputzen. Patrick warimmerda gewesen. Und Joshi hatte ihn vergöttert!
Bis die Angst sich zwischen sie gedrängt hatte.
Joshi strauchelte rückwärts in Richtung Wohnzimmer.
„Du b…ist wieder zurück …“, stammelte er, um irgendetwas zu sagen, während Patrick die Lücke zwischen ihnen wieder zu verkleinern begann. Ein dicker Kloß verschloss Joshis Hals von innen und einzelne Schweißtropfen rannen ihm über die Stirn.
„Sieht ganz so aus.“ Patrick lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen der Wohnstube. Und Joshi konnte sehen, wie seine Kiefermuskeln sich unter den glatt rasierten Wangen hervorwölbten. Sein großer Bruder starrte ihn mit einem Blick an, den Joshi nur allzu gut kannte. Aus seinen wachen Stunden ebenso, wie aus seinen Albträumen.
Patricks Aufmerksamkeit huschte zu Joshis Fingern, die sich glitschig vom Schweiß um das Holz der Kommode in seinem Rücken klammerten. Erstarrt wie die Gliedmaßen eines Tieres, das in der Falle saß.
Joshi überlegte, ob er schreien sollte. Um Hilfe rufen. Wenn Volker oben in seinem Bett lag und schlief, würde er ihn sicher hören und hinunterkommen.
Aber Joshi blieb stumm.
Wie immer.
Sonntag, 20. September 2014
12:30 Uhr
Joshis Luftröhre fühlte sich noch immer an wie ein zerknickter Strohhalm, als er aus dem Schlaf erwachte, in den die winzigen, lachsfarbenen Tabletten ihn gezwungen hatten. Zwei Stück, 200 mg Quetiapin. Wenn es gut lief, konnte Joshi mit ihnen vierundzwanzig Stunden durchpennen, ohne zu träumen.
Aber diesmal lief es weniger gut.
Das unangenehme Brennen im Hals und die Schmerzen beim Schlucken erinnerten ihn wieder viel zu deutlich an die letzte Nacht und hinderten ihn daran weiterzuschlafen.
Dreimal hintereinander hatte Joshi sich über die Kloschüssel gebeugt. Sich die Finger in den Hals gerammt und so lange gekotzt, bis er meinte, den Geschmack von Blut auf seiner Zunge wahrnehmen zu können. Bei dem Gedanken wurde ihm direkt wieder übel.
Joshi schielte auf das iPhone neben seinem Kopfkissen.
Drei ungelesene Nachrichten von Tracy, ebenso zwei Anrufe. Fünf Nachrichten von Kalle und drei von anderen Leuten aus seiner Schule.
Ohne das Handy auch nur zu entsperren, warf Joshi es ans Fußende seines Bettes und zog sich die Decke über den Kopf. Er rollte sich zusammen und verbarg das Gesicht in seinen Armen. Er tastete nach den weißen und gelben Holzperlen, die sich fein säuberlich aufgefädelt um sein linkes Handgelenk schlangen, so als könnte er sich daran festhalten.
„Mama …“
Weiß und Gelb.
„Sonne und Zitroneneis“, hatte Vivienne lächelnd geantwortet, als Joshi sie einmal nach ihren Lieblingsfarben gefragt hatte.
Gelb und Weiß.
Das Armband war ein Schmuckstück aus ihrer Heimat gewesen. Handbemalte Perlen, zusammengehalten von einem winzigen, goldenen Verschluss, der damals noch in der Sonne geglänzt hatte. Nun war er stumpf und angelaufen, abgenutzt wie der Rest des Armbands, das Joshi seit Viviennes Tod nicht ein einziges Mal abgelegt hatte.
Ein lautes Klopfen an seiner Tür ließ ihn zusammenfahren.
„Jonathan?“, fragte die müde Stimme seines Vaters, der vermutlich selber gerade erst aufgestanden war.
„Jonathan, hier ist eine Tracy für dich am Telefon, kommst du bitte mal raus?“
Joshi reagierte nicht. Seine Muskeln fühlten sich tonnenschwer an. Er war nicht einmal in der Lage, sich auf die andere Seite zu drehen, obwohl sein Nacken höllisch wehtat und eine andere Position es sicher besser gemacht hätte.
Er schloss die Augen wieder, ignorierte die Übelkeit in seinem Magen und fummelte ohne hinzusehen eine Palladon aus der Schachtel unter seinem Kopfkissen hervor, um sie hinunter zu würgen. Gegen die Schmerzen. Gegen diese ekelhaften, vertrauten Schmerzen.
Sein Körper, ausgetrocknet vom Alkohol und geschwächt vom Erbrechen, verlangte nach Wasser. Doch Joshi konnte und wollte es ihm nicht geben. Er wollte nur weiterschlafen.
„Hey, Jonathan…“
Die Stimme seines Vaters rückte in Joshis Bewusstsein in immer weitere Ferne. Eine dicke Watteschicht umhüllte seinen Kopf und ließ den Schlaf zurückkehren. Taub und Gefühllos.
So war es am besten.
Das war das Einzige, was er nun wollte.
Kapitel 2
Montag, 21. September 2014
7:28 Uhr
Joshi erwachte nach fast siebenundzwanzig Stunden Schlaf.
Alter, fühlte er sich beschissen.
Erneute Übelkeit trieb ihn aus dem Bett und er taumelte mit weichen Knien zu seiner verbarrikadierten Tür, zerrte an dem Papierkorb, den er zwischen die Türklinke und seine Kommode geklemmt hatte und stemmte sich gegen das sperrige Möbelstück.
In Filmen sah das immer so einfach aus. Da wurde mal eben ein Lehnstuhl unter die Klinke gestellt und fertig war die Blockade. Einen Scheiß …
Joshi öffnete die Tür einen Spalt breit, schielte zu Patricks Zimmer hinüber, um sicherzugehen, dass es verschlossen war und lief los. Noch bevor er das Bad erreicht hatte, begann sich unangenehm viel Speichel in seinem Mund zu sammeln und aufsteigende Magensäure fraß sich von unten her in seine Speiseröhre. Er kniff die Lippen fester zusammen, um nicht im Laufen auf den Flurteppich zu kotzen. Im Bad angekommen, knallte er die Tür hinter sich zu, schloss ab und stolperte schon halb auf allen Vieren zur Toilette hinüber. Er klappte den Deckel hoch und wurde sofort von schmerzhaften Würgekrämpfen geschüttelt, die jedoch kaum etwas zum Vorschein brachten.
Als es nach wenigen Minuten endlich aufhörte, sackte Joshi auf dem Fußboden in sich zusammen. Die Stirn auf seine angewinkelten Knie gelegt. Er fühlte sich, als hätte jemand seine Innereien gewaltsam nach außen gekrempelt. Alles tat ihm weh.
Von weit weg, aus seinem Zimmer ertönte der Klingelton seines Handys. Doch Joshi rührte sich nicht. Er wollte mit niemandem reden. Nie wieder. Ungebeten kehrten einzelne Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein zurück.
Tracys Geburtstagsparty. Ihr Lächeln. Ihre Hände an Joshis Wangen. Und seine kokaingetränkte Selbstgefälligkeit. Tracy hatte mit ihm getanzt.
Und dann war er allein nach Hause gelaufen.
Direkt in Patricks Arme.
Joshi drückte den Kopf fester gegen seine Kniescheiben und spürte den Knoten der Angst in seinem Bauch. Den Druck in seiner Brust, als würde Patrick ihm noch immer die Luft abschnüren.
In Zeitlupe rappelte Joshi sich vom Boden hoch. Vor dem Spiegel über dem Waschbecken, streifte er sich das T-Shirt über den Kopf und begutachtete den Schaden, den sein Bruder dieses Mal angerichtet hatte.
Sein Gesicht war wie immer verschont geblieben. Nur die Schatten um seine vom Schlaf verklebten Augen waren noch dunkler als sonst.
Joshi wich seinem eigenen Blick aus und betrachtete stattdessen seine Schultern. Die schmale Brust. Das, was das Spiegelbild von seinen Beinen preisgab. Und seine Arme.
Seine schwachen Arme.
An seinem schwachen, kleingewachsenen Körper.
Tiefviolette Verfärbungen zierten Joshis noch unbehaarte Teenagerhaut an Handgelenken und Oberschenkeln. Er hob eine Hand, um seinen Hals zu betasten. Den Teil seines Körpers, der am schwierigsten zu verstecken sein würde. Dunkle Blutergüsse reihten sich wenige Zentimeter über seinen Schlüsselbeinen aneinander. Eingebrannt, als wären Patricks Finger, die sich dort um seine Luftröhre geschlossen hatten, aus heißen Kohlen gewesen.
Joshi wandte sich ab. Nahm ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn und wusch sich halbherzig das Gesicht. Er wollte wieder ins Bett. Zurück ins Vergessen. Vier Tabletten des Quetiapins waren noch übrig und er würde mit ihnen einen weiteren Tag schlafen können.
Das zusammengeknüllte T-Shirt in der Hand drehte Joshi den Schlüssel im Schloss wieder herum und wollte gerade in den Flur zurückschleichen, da hörte er es.
Das leise aber unverkennbare Quietschen von Patricks Zimmertür. Verursacht durch das obere, etwas verzogene Scharnier. Der Klang bedeckte Joshi von Kopf bis Fuß mit Gänsehaut und seine schweißigen Finger umklammerten die Klinke in seiner Hand, während er versuchte, lautlos wieder abzuschließen.
Bitte, flehte er stumm. Bitte bleib, wo du bist.
Ein Ohr an das Holzfurnier gelegt, atmete er so flach, wie es ihm nur möglich war. Er hörte die Schnallen von Patricks Militärrucksack klappern, als sein Bruder sich das Gepäckstück auf den breiten Rücken wuchtete, und erkannte das Rascheln des robusten Uniformstoffes. Eines der unzähligen Geräusche, die sich wie Warnsignale in Joshis Gedächtnis eingeprägt hatten. Einfach nur, weil Patrick derjenige war, der sie verursachte.
Joshi hörte, wie Patrick vor der Tür seine Stiefel zuschnürte. Das Schlackern der Schnürsenkel an den ledrigen Schäften. Das Klimpern von Patricks Schlüsselbund. Vier Schlüssel an einem metallenen Schlüsselring ohne Anhänger.
Mit den Jahren hatte Joshi gelernt, Patricks Stimmung an all den Geräuschen abzulesen, die ihn umgaben. An der Lautstärke seiner Schritte. An seinem Lachen. Manchmal sogar an der Art, wie sein Bruder atmete.
Am ungefährlichsten waren seit jeher die immer gleichen Klänge von Patricks Routinemodus. Und diese bestimmten zum Glück einen Großteil seines Alltags. Sogar jetzt noch, wo Patrick nur noch alle paar Wochen oder Monate zu Besuch kam. Schon als Kind hatte er feste Abläufe geliebt. Ihre Sicherheit. Ihre Berechenbarkeit. Etwas, was Joshi zugutekam. Denn so wusste er stets, wo sein Bruder sich gerade aufhielt und wohin er als nächstes gehen würde. Und suchte Patrick spätestens eine halbe Stunde nach seiner Heimkehr oder direkt nach dem Aufstehen das Bad auf, egal ob vormittags oder mitten in der Nacht, war Joshi außer Gefahr.
Logisch. Wichsen unter der Dusche entspannte ja auch.
Grimmiges Aufstampfen oder Gefluche waren stets ebenso harmlos. Wenn Patrick früher nach der Schule die Treppe hinaufgetrampelt gekommen war, um seine Sporttasche zu holen, war er danach gewöhnlich für mehrere Stunden ins Fitnessstudio verschwunden. Und Joshi hatte nichts mehr zu befürchten gehabt.
Bedrohung, klang anders. Sie war leise. Unberechenbar.
Durchstreifte Patrick ohne ersichtlichen Grund die unteren Räume des Hauses, wie ein eingesperrter Panther, wurde es für Joshi gefährlich. An diesen Tagen spürte er beinahe, wie sein Bruder aktiv die obere Etage mied. Als versuche er einen Sicherheitsabstand zu Joshi einzuhalten. Er setzte die Füße dann bei jedem Schritt fast lautlos auf. Räumte Dinge von links nach rechts. Schaltete den Fernseher mehrmals an und wieder aus. Oder lief ein ums andere Mal in die Küche, um den Kühlschrank zu öffnen, den er dann unverrichteter Dinge wieder schloss.
All diese Geräusche waren, ebenso wie das Zucken von Patricks Kiefermuskeln, wenn er Joshi ansah, unbewusstes Aussetzen seines Atems oder nervöses Fingerknacken, sehr deutliche Vorzeichen dafür, dass etwas passieren würde. Sie waren wie das Zischen eines unter Druck stehenden Ventils, das jeden Moment zu explodieren drohte.
Ebenso dünnes Eis waren Patricks Gute-Laune-Tage. Federnde Schritte, die die Treppe hinaufkamen und lachende Augen, die Joshi als Kind zum Spielen aufgefordert hatten, konnten in den folgenden Stunden alles bedeuten. Auch einen nicht einkalkulierten Ausbruch von Gewalt. Das Risiko lag bei fünfzig Prozent. Fuhr Patrick sich allerdings öfter als sonst durch die kurzen Haare, wippte im Sitzen mit dem Bein oder kam Joshi auffallend nahe, stieg das Risiko auf siebzig bis achtzig Prozent.
Wieder erklang das Quietschen der Tür. Gefolgt von einem dumpfen Klacken. Und Joshi betete, als nächstes Patricks Schritte auf den Treppenstufen nach unten hören zu können. Doch es blieb still.
Drei Sekunden.
Vier Sekunden.
Fünf Sekunden.
Dann kamen die Schritte direkt auf ihn zu.
Schwindel erfasste Joshi. Ein panisches Schluchzen drohte aus seinem Inneren aufzusteigen und er presste sich seine vom Schweiß feuchte Hand auf den Mund, um den Laut zu ersticken.
Nein … bitte. Verschwinde einfach!
Er wollte von der Tür zurückweichen, sich in Sicherheit bringen, falls Patrick versuchen sollte das Schloss gewaltsam zu öffnen. Aber er war außer Stande sich zu bewegen. Er zählte im Kopf die eigenen Herzschläge, bis Patricks Hand nach der Türklinke greifen und sie nach unten drücken, bis sein Gewicht sich gegen das Türblatt lehnen würde.
Sieben, acht, neun, zehn … elf, zwölf …
Aber nichts passierte. Die Klinke bewegte sich keinen Millimeter unter Joshis Fingern und seine Ohren spitzten sich wie die eines witternden Tieres. Er hörte den unterdrückten Atem seines Bruders. Ganz nah.
Die Wandkacheln fingen vor Joshis Augen an zu flimmern und er wusste, dass er es nicht mehr lange schaffen würde, die Luft anzuhalten. Er konnte Patrick durch das Türblatt spüren. Keine Handbreit von sich entfernt.
Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?
Lauschend verharrte Joshi, während er glaubte, die Fingerspitzen seines Bruders an der Maserung des Furniers entlang streifen zu hören. Von oben nach unten und wieder hinauf, als berühre er eine Marmorskulptur, dessen Formen er unbedingt unter seiner Haut spüren musste, weil das Betrachten allein nicht ausreichte.
Verstohlen. Beschämt. Beginnend bei Joshis Gesicht. Dann an seinem Körper entlang. Und Joshi fühlte die Hände auf seiner Haut, wie ein Echo.
Er schloss die Augen. Einzelne Tränen tropften auf die Finger über seinem Mund und er konnte nicht anders als mit bebenden Nasenflügeln einzuatmen. Der Laut hallte durch den gefliesten Raum und Joshi wusste, dass Patrick ihn gehört hatte.
Das ekelhafte Gefühl von Scham gesellte sich zu der Angst. Der Schmerz der Erniedrigung, den Patrick unentwegt mit sich führte, wie eine ihn umkreisende Kreatur aus der Hölle. Und der jedes Mal schattengleich auf Joshi übergriff, sobald er in Patricks Nähe geriet. Durch Blicke, die auf seiner Haut brannten. Durch Berührungen, von denen er wusste, dass sie verboten waren. Von denen er wusste, dass sie geheim bleiben mussten.
Ein lautes Hupen ertönte. Zwei dicht aufeinanderfolgenden Trompetenlaute von der Straße her, die Patrick im Flur zusammenzucken ließen. Vermutlich einer von seinen Freunden, der ihn abholen sollte.
Patrick rührte sich.
Joshis an die Tür gedrückte Gesichtshälfte war bereits eingeschlafen. Angespanntes Luftholen und Stoffrascheln drangen an sein gefühlloses Ohr und er zählte wieder seine Herzschläge, in der Hoffnung, dass Patrick jetzt verschwinden würde.
Fünf, sechs, sieben, acht, neun.
„Es tut mir leid.“
Patrick presste die Worte aus dem letzten Winkel seiner Lunge hervor und Joshi war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
Was …?
Doch Patrick wiederholte sie nicht.
Er ging.
Endlich.
Joshi bemerkte die Unsicherheit seiner Schritte auf der Treppe und wagte nicht sich von der Stelle zu bewegen, bis der Laut der sich schließenden Haustür den Druck in seiner Brust auflöste. Eine Autotür wurde zugeschlagen und ein Motor heulte auf.
Joshi sank mit wackligen Knien zurück auf die Badezimmerfliesen.
Und weinte.
Dienstag, 22. September 2014
9:41 Uhr
„Hey Joshi …“
Kalles Umarmung war ein wenig fester als sonst. Ihr Blick von einer Ahnung erfüllt, als Joshi zur ersten großen Pause auf den vollen Schulhof geschlurft kam. Betont lässig, mit einer Kippe im Mundwinkel, die Kapuze des weißen Hoodies auf dem Haar.
Doch Kalle musste die dunklen Ränder unter seinen Augen bemerkt haben. Außerdem gab es keinen Grund, bei diesen Temperaturen einen Pullover zu tragen.
„Was geht?“
Joshi drückte die Zigarette am nächsten Mülleimer aus, bevor die Pausenaufsicht ihn zurechtweisen konnte.
„Tracy ist angepisst, weil du dich seit ihrer Party nicht mehr bei ihr gemeldet hast“, brachte Kalle ihn auf den neuesten Stand des Tages.
„Aber das weißt du sicher selbst.“
Joshi nickte und folgte ihr in Richtung der Sporthalle. Er hatte ganz vergessen, dass dienstags in der dritten und vierten Stunde Sportunterricht auf dem Plan stand.
Da hätte er auch erst zur nächsten Pause kommen können …
Aber egal.
Wenigstens war die Sportstunde gemeinsam mit Kalles Klasse, zu der auch Joshi noch gehört hatte, bevor er sitzen geblieben war.
„Hast du denn schon mit ihr geschrieben?“
„Nee. Wusste nicht, was …“
„Sag doch, du hättest Hausarrest bekommen. Und dein Vater hätte dein Handy eingezogen“, schlug Kalle vor.
„Warum hätte er das tun sollen? Er war ja nicht mal da.“
Sie rückte ihren Rucksack zurecht.
„Das weiß Tracy doch nicht, oder? Sag einfach, er hätte dir verboten auf ihre Party zu gehen. Wegen der sechs in Mathe.“
Sie grinste verschmitzt und stieß Joshi im Gehen an.
„Dann findet sie es bestimmt noch romantisch, dass du von zu Hause abgehauen bist, nur um auf ihre Party zu kommen.“
Joshi sah Kalle mit einem schiefen Lächeln an.
„Warum hastdueigentlich keine Freundin?“
„Ich hab halt Ansprüche, im Gegensatz zu dir.“
„Ach, halt die Klappe …!“
Joshi schubste sie. Und Kalle, die fast einen Kopf größer war als er, nahm ihn mit einem trainierten Griff in den Schwitzkasten. Sie rieb ihm scherzhaft die Fingerknöchel über den Schädel und Joshi begann theatralisch zu schreien, wobei er gleichzeitig lachen musste, und seine heisere Stimme zerbrach in ein kaum hörbares Kieksen. Er packte eins von Kalles Beinen, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Er war seiner Freundin irgendwie dankbar, dass sie versuchte, ihn auf ihre Weise abzulenken. Kalle wusste, wenn Joshi reden wollte, würde er es tun. Auch wenn das nie der Fall war.
„Na dann bis gleich.“
Mit einem letzten Knuff gegen Kalles Arm folgte Joshi den Jungs aus seiner eigenen Klasse in die stickige, nach altem Fußschweiß müffelnde Umkleidekabine. Kichernde Mädchenstimmen drangen durch die Wand an seine Ohren und Joshi setzte sich, die Augen zu Boden gerichtet, während die anderen Jungs fröhlich schnatternd begannen sich umzuziehen.
„Jonathan Kelani, wo sind deine Sportsachen?“
Die Stimme der Sportlehrerin war eine Mischung aus entnervtem Vorwurf und Resignation, als Joshi mit seinen Mitschülern auf Socken in die Halle getrottet kam.
Er schielte zu Marie hinüber, die Kalle ein paar Meter entfernt etwas zuflüsterte. Sie hatte Joshi den Rücken zugewandt. Und er konnte nicht verhindern, dass sein Blick an ihrem vom Sport trainierten Po hängen blieb, der neuerdings in immer engeren Sporthosen steckte. Kalle zwinkerte ihm zu und Joshi sah ertappt weg.
„Ver…, vergessen“, stotterte er auf die Frage der Lehrerin hin und wusste für einen Moment nicht, wo er hinschauen sollte.
„Hab den Tag verwechselt.“
Frau Schröder nickte.
„Okay. Hast du ein T-Shirt drunter? Dann kannst du von mir aus trotzdem mitmachen.“
Joshi zögerte.
„Ja … aber mir geht’s nicht so gut …“
Seine Lehrerin seufzte. Sie glaubte ihm nicht.
„Dann hilf wenigstens beim Aufbauen, damit ich dir keine Sechs geben muss“, bot sie Joshi an und er stimmte wortlos zu.
Trotz stechender Schmerzen im Unterleib und in den Rippen, packte er tatkräftig mit an. Schleppte Weichbodenmatten und Bänke quer durch die unangenehm aufgeheizte Turnhalle, stapelte Kästen übereinander und holte einen Softball aus dem Netz in der hintersten Ecke des Geräteschuppens, damit die anderen mit dem Spiel beginnen konnten.
Als er sich am Rand zu Boden sinken ließ, um den anderen beim Warmlaufen zuzuschauen, war er unter seinem viel zu warmen Pullover bereits komplett nass geschwitzt. Der dicke Stoff klebte auf seiner Haut und er stank nach Schweiß.
So eine Scheiße.
Er wischte sich unauffällig mit einem Ärmel den feuchten Film von der Stirn, während Frau Schröders Trillerpfeife ertönte. Die beiden Schulklassen setzten sich in Bewegung.
Sie trabten in einem großen Kreis um die aufgebauten Geräte herum und Kalle hielt Joshi bei jeder Runde im Vorbeilaufen die ausgestreckte Hand hin, damit er sie abklatschten konnte. Zweimal, dreimal. Nach zehn Runden war die Lehrerin der Meinung, die schwitzenden Teenies wären jetzt genug aufgewärmt und teilte sie in zwei Gruppen ein.
Der restliche Tag verging für Joshi wie in Zeitlupe. Quälend langsam tröpfelte er dahin und seine Stimmung wechselte von lethargisch zu gereizt.
Alles nervte ihn auf einmal!
Die mädchenhafte Stimme seiner Biolehrerin machte ihn so wütend, dass er schließlich aufstand und den Raum verließ, unter dem Vorwand, er müsse auf die Toilette. Stattdessen zog er hinter dem Naturwissenschaftstrakt den Rest eines angerauchten Joints durch, den er heute Morgen in seiner Tasche gefunden hatte. Der half ihm immerhin, die Doppelstunde Biologie durchzustehen, ohne einen Schreianfall zu bekommen. Auf seinem Stuhl herumlümmelnd tat er so, als müsse er in seinem Rucksack nach den vergessenen Hausaufgaben kramen.
Hatte er nicht noch irgendwo einen Rest Koks vom Wochenende?
Ja, tatsächlich. Allerdings nur ein paar klägliche Krümel …
Während der Pausen sah Joshi sich heimlich nach Tracy um, die ihm bereits den ganzen Tag gekonnt aus dem Weg ging. Stets umringt von ihren Freundinnen, die Joshi über ihre Schultern böse Blicke zuwarfen, während Tracy selbst ihn konsequent ignorierte.
Joshi kochte innerlich.
Tracy war sauer auf ihn!?
Okay.
Aber sie gab ihm ja nicht einmal die Möglichkeit, sich zu erklären oder zu entschuldigen!
Die letzten beiden Unterrichtsstunden kreisten Joshis Gedanken nur noch darum, wie er an sie herankommen könnte, während sich die Wut in seinem Bauch zu einem festen Knoten zusammenzog. Mit jeder Minute wurde er unruhiger und in ihm wuchs das Bedürfnis, irgendjemandem auf die Fresse zu hauen!
Dagegen hätte sicher ein weiterer Joint geholfen, doch sein Gras war alle.
Nur das Kokain war noch da.
Als es um halb vier dann endlich läutete, war Joshi der erste, der seine Sachen packte und aus der Klasse stürmte. Beinahe rannte er den Flur hinunter zu den Toiletten, während aus den anderen Klassenräumen links und rechts von ihm dutzende Schüler herausquollen.
Joshi zog die Tür der Kabine hinter sich zu und legte sein Handy auf dem Spülkasten ab.
Mit raschen, für einen Vierzehnjährigen definitiv zu geübten Handgriffen schob er sich auf dem Display eine Line aus dem Rest Koks zurecht und zog.
Die Wirkung hielt sich in Grenzen. Aber es würde für den Moment reichen.
Er war bereit!
Tracy stand mit ihren Mädels in der Mitte des Schulhofs und begrüßte zwei Jungen aus ihrer Parallelklasse mit viel zu langen Umarmungen.
Schmiss sie sich jetzt etwa schon direkt an den Nächsten ran!?
Nur weil Joshi sich ein einziges Mal nicht zurückgemeldet hatte?
Er hörte sich laut ihren Namen rufen.
„Tracy!“
Er würde die Situation jetzt klären, ob mit oder ohne Zuschauer!
Joshi zwang sich, langsam zu gehen, und steuerte direkt auf die kleine Gruppe zu.
„Tracy!“
Eine Mischung aus Trotz und Verunsicherung erschien auf ihrem makellosen Gesicht.
„Können wir reden?“
Joshi kam vor ihr zum Stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
„Bitte.“
Tracy sah ihre Freundinnen an, als müsse sie diese um Erlaubnis fragen, und die Mädchen schüttelten synchron die Köpfe. Eine Blonde, deren erstaunlich große Brüste Joshi sofort auffielen, wandte sich ihm zu und sah ihn von oben herab an.
Jessie, wenn Joshi sich recht erinnerte …
„Tracy hat zwei ganze Tage aufdichgewartet“, verkündete sie, „jetzt bist du mal dran.“
Joshi warf ihr einen Blick zu, als sei sie nicht ganz dicht.
„Hä? Was …?“
„Du hast mich schon verstanden.“
Joshi wandte sich an Tracy.
„Es tut mir wirklich leid, okay? Können wir bitte kurz reden?“
Sie zögerte noch immer.
„Weißt du, wie dumm ich mir vorgekommen bin?“, fragte sie und Joshi hörte die Verletzung in ihrer Stimme.
„Ich dachte, du ghostest mich jetzt, weil … keine Ahnung, ich dir irgendwas getan hab oder so.“
„Nein!“
Joshis Stimme war viel zu laut und er beeilte sich, sie zu senken.
„Es lag nicht an dir. Wirklich nicht! Es gab einen … Grund.“
„Und der wäre?“
Jessie verschränkte abwehrend die Arme vor ihren Brüsten und Joshi überlegte, ob er Kalles Ausrede von heute Morgen benutzen sollte. Das wäre dann zwar eine Lüge, aber die Wahrheit stand überhaupt nicht zur Debatte. Außerdem hatte er keine Lust, weiter mit Tracys Leibgarde zu diskutieren. Er wollte mitihrsprechen.
Entnervt sah er Jessie an.
„Was willstdudenn eigentlich?“
Die beiden Jungs hinter Tracy stellten sich etwas gerader hin, als witterten sie Ärger.
„Ich bin ihre Freundin“, fauchte Jessie angriffslustig zurück, „und Freundinnen beschützen sich gegenseitig. Vor Losern wie dir!“
„Losern wie mir?“, Joshi schnaubte.
„Loser, die versuchen, sich bei ihrer Freundin zu entschuldigen, oder was?“
Jessies Stimme wurde schrill.
„Ach, jetzt tu hier nicht so unschuldig!“
Sie funkelte Joshi an und machte einen Schritt auf ihn zu.
„Jeder weiß, dass du ein Junkie bist! Du hast Tracy nicht verdient!“
„Halt’s Maul, du Schlampe! Sag mir nicht, was ich verdient hab!“
Nun mischte sich einer der großen Jungs doch ein. Er nahm die sich sträubende Jessie am Arm und schob sie hinter sich. Mit überlegenem Gesichtsausdruck baute er sich vor Joshi auf.
„Okay, das reicht jetzt, wir wollen keinen Stress, ja?“
Die Mädchen schnappten sich Tracy und zogen sie in Richtung Hofeinfahrt davon. Weg von Joshi.
„Geh nach Hause und lass sie in Ruhe, sie will nicht mit dir reden.“
Der ältere Junge klang so herablassend, dass Joshi augenblicklich die Hitze in den Kopf stieg. Er hob beide Hände und stieß sie dem Jungen wütend vor die Brust.
„Bist du ihr Vater, oder was?“
Der Stoß, der Joshi zur Antwort traf, war so heftig, dass er zurückstolperte und hinfiel. Jessie lachte ein paar Meter weiter gehässig und ging mit den anderen davon. Der große Junge wandte Joshi ebenfalls den Rücken zu, als sei nichts passiert, und folgte seinen Freundinnen.
In Joshis Gehirn brannte eine Sicherung durch.
Seinen Rucksack auf dem Boden zurücklassend, sprang er auf die Füße.
Der Junge hörte die Schritte hinter sich zu spät, um den nahenden Angriff noch abwehren zu können, und wirbelte erst herum, als der viel kleinere Joshi sich bereits auf ihn stürzte. Noch ehe jemand begriff, was geschehen war, fielen die beiden gemeinsam zu Boden. Der Junge landete mit voller Wucht auf dem Rücken und alle Luft entwich mit einem keuchenden Husten aus seiner Lunge. Joshi schürfte sich beide Knie auf, rappelte sich jedoch blitzschnell wieder hoch und warf sich auf den am Boden Liegenden. Zweimal schlug er ihm die geballte Faust ins Gesicht und der Junge schrie vor Schmerz auf. Knurrend rangen die beiden miteinander, stießen sich gegenseitig Ellenbogen ins Gesicht und versuchten die Arme des jeweils anderen festzuhalten.
Einige Schüler bemerkten den Streit und kamen neugierig herbeigelaufen. Sie bildeten einen unförmigen Kreis um die zwei Kämpfenden und Stimmen wurden laut. Ein Lehrer, Herr Maibaum, kam über den Schulhof geeilt. Der stämmige Mittfünfziger schob die Gruppe Umstehender zur Seite und trat in den Ring. Beherzt packte er Joshi am Kragen und zog ihn von dem Jungen weg, der mit staubigem Gesicht am Boden lag.
„Was soll das hier!?“, brüllte der Lehrer mit respektgebietender Stimme.
„Ich sehe wohl nicht richtig!“
Er hielt Joshi fest im Griff, als dieser sich losreißen wollte.
„Schluss jetzt! Beruhig dich gefälligst Jonathan! Und du, Lukas … von dir hätte ich wirklich Besseres erwartet!“
Der Junge, der Lukas hieß, setzte sich mühsam auf und verzog das Gesicht.
„Der Wahnsinnige ist einfach so auf mich losgegangen!“
„Einfach so!? Soll ich dir nochmal einfach so auf die Fresse hauen?!“
„Es reicht!“
Herr Maibaum sah die beiden zornig an, während die Umstehenden gebannt auf das Trio in ihrer Mitte blickten. Doch Lukas fuhr fort, als hätte der Lehrer gar nichts gesagt.
„Lass in Zukunft deine Pfoten von Tracy, kapiert? Lutsch lieber Schwänze. Das passt besser zu dir.“
Der Kopf des Jungen flog ihm so ruckartig in den Nacken, dass es knackte, als Joshis Fuß ihn mit voller Wucht im Gesicht traf.
Ein entsetzter Aufschrei ging durch die Menge.
Joshi sprang erneut auf seinen Gegner zu und drosch wie von Sinnen auf dessen Gesicht ein. Blut schoss aus der gebrochenen Nase hervor und bedeckte kurz darauf warm und klebrig Lukas’ ganzes Gesicht.
Chaos brach aus.
Herr Maibaum und drei Jungs aus der Oberstufe stürzten sich auf Joshi, packten ihn an den Schultern, hielten seine Hände fest und schrien alle gleichzeitig auf ihn ein. Sie zerrten ihn von Lukas weg, während zwei Mädchen sich über den blutverschmierten Jungen am Boden beugten, der kaum noch bei Bewusstsein zu sein schien.
„Ich bring dich um!“, schrie Joshi wutentbrannt und kämpfte gegen die ihn festhaltenden Hände.
„Du Scheiß-Hurensohn!“
Wütend trat er nach dem Oberschüler, der seinen linken Arm umklammert hielt, während alle anderen ihn voller Entsetzen ansahen.
Lutsch lieber Schwänze. Das passt besser zu dir.
Unkontrolliert begann Joshi am ganzen Körper zu zittern. Brennende Scham stieg in ihm auf und durchströmte seine Adern wie Säure.
Sie können es sehen, fuhr es ihm durch den Kopf.
Sie können es alle sehen!
Kapitel 3
Freitag, 17. Oktober 2014
11:22 Uhr
Joshis Vater bog auf die Hauptstraße ab und beschleunigte. Der neue Firmenwagen roch nach Kunststoff und Leder. Der leise schnurrende Motor war im Inneren des Wagens kaum zu hören und Joshi starrte bewegungslos durch die Windschutzscheibe nach vorn, während Volker erneut den Blinker setzte.
„Sozialstunden“, die Enttäuschung in der Stimme seines Vaters war nicht zu überhören, „ist dir eigentlich klar, dass das auch ganz anders hätte ausgehen können?“
Ja, natürlich war ihm das klar.
Ohne Volkers Anwalt hätte Joshi zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich schon seinen ersten Monat in Untersuchungshaft abgesessen. Schwere, vorsätzliche Körperverletzung war nicht gerade eine Kleinigkeit. Und Joshi mit vierzehn Jahren strafmündig. Aber dafür hatte er ja schließlich einen gutverdienenden Vater mit Rechtsbeistand. Käme Joshi aus einer finanziell schlechter gestellten Familie, wären seine Chancen auf Bewährung sicherlich kleiner gewesen. Mit seiner Hautfarbe sowieso.
Doch sein Anwalt war nicht müde geworden zu betonen, dass kein Grund zu der Annahme bestünde, Joshi könne in Zukunft eine Gefahr für seine Mitmenschen darstellen. Und dass dieses Vorkommnis Joshis erster Konflikt mit dem Gesetz und ein Einzelfall gewesen sei.
Na ja. Das stimmte zwar nur so halb. Aber warum hätte Joshi sich selbst wegen seiner kleinen Drogengeschäfte in der Schule anschwärzen sollen?
Während der gesamten Verhandlung hatte Joshi niemanden der Anwesenden ansehen können. Weder seinen Vater noch Lukas oder dessen Familie. Nur nach der Urteilsverkündung hatte er einmal kurz zu der Richterin aufgeschaut, bevor diese sich abgewandt und den kleinen, schmucklosen Gerichtssaal verlassen hatte.
Das war’s also gewesen. Und Joshi würde seine Strafe nun in Form von Sozialstunden ableisten müssen, während er gleichzeitig bis Ende Januar vom Unterricht suspendiert worden war.
„Was ist nur los mir dir?“
Hunderte Male hatte Volker ihm diese Frage schon gestellt. Und jedes Mal schossen Joshi dieselben Antworten durch den Kopf, von denen ihm jedoch keine über die Lippen kam.
„Ich erkenne dich nicht mehr wieder, seit … Vivienne fort ist.“
„Dann hast du ja deine Antwort.“
Joshi tastete mit seinen verschwitzen Fingern nach den Holzperlen um sein Handgelenk. „Und sie ist nicht fort. Sie ist tot.“
Sein Vater atmete einmal tief ein und aus, ohne den Blick von der Straße zu wenden.
„Jonathan, das kann nicht ewig so weitergehen“, sagte er mit fester Stimme, „ich weiß, wie sehr du deine Mutter vermisst. Und glaub mir, ich vermisse sie auch. Jeden einzelnen Tag.“
„Ach ja?“, Joshis Stimme klang sarkastisch.
Volker wandte ihm das bartlose Gesicht zu. Kantig wie das seines älteren Sohnes.
„Glaubst du etwa, ich hätte sie vergessen? Glaubst du, es vergeht auch nur ein einziger Tag, an dem ich nicht an sie denke?“
Joshi schwieg.
In seinem Hals bildete sich ein schmerzhafter Kloß.
„Jonathan“, der Wagen kam langsam vor einer roten Ampel zum Stehen, „du musst lernen dich zusammenzureißen. Das nächste Mal fliegst du von der Schule. Und dann wird es schwer eine andere zu finden, die dich noch aufnimmt.“
Joshi schluckte.
„In irgendeine Assischule werd ich schon noch reinkommen. Da pass ich eh besser hin …“
Volker seufzte.
„Nein, da passt du nicht hin“, widersprach er, „wir wissen beide, dass du diese Probleme früher nicht hattest.“
Aber ich bin nicht mehr wie früher.
Nichts ist wie früher.
Joshis Körper krampfte sich unter den aufsteigenden Bildern zusammen und er umfasste den Türgriff, um sich an irgendetwas festzuhalten. Sein Schädel pochte und er wollte nur noch raus aus diesem Auto! Endlich nach Hause. In sein Zimmer. Die Tür hinter sich abschließen und für die nächsten sechs Monate nicht mehr herauskommen. Unbehaglich und möglichst unauffällig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Das nassgeschwitzte T-Shirt klebte an seinem Rücken.
„Okay, wir sprechen später zu Hause“, gab Volker auf und warf einen Blick über die Schulter, „ich muss gleich eh nochmal ins Büro. Danach hole ich uns was zu essen und wir reden in Ruhe, ja?“
Joshi nickte mechanisch. Aber er wusste schon jetzt, dass es nicht zu diesem Gespräch kommen würde.
Was sollte er seinem Vater auch erzählen?
Die Wahrheit?
Niemals.
15:13 Uhr
Joshi hockte auf dem Fußboden im Eingangsbereich der Schwimmhalle und scrollte durch Instagram. Er war mit Kalle verabredet. Bis um drei Uhr hatten die Zwillinge heute Training. Aber tatsächlich saß Joshi schon fast eine Dreiviertelstunde hier drinnen. In der dicken chlorgeschwängerten Luft. Denn allein zu Hause hatte er es dann doch nicht ausgehalten. Eingesperrt mit seinen kreisenden Gedanken.
Hier gab es neben dem Handydisplay vor seiner Nase wenigstens noch ein paar zusätzliche Ablenkungen, um sein Gehirn beschäftigt zu halten. Die Gespräche vorbeigehender Rentnerinnen. Kommend von der Aquagymnastik bei „Bettina“ und nun auf dem Weg in ihr Stammcafé, um es sich bei Schwarzwälder Kirschtorte und Cappuccino so richtig gutgehen zu lassen. Die quietschenden Glückslaute eines Kleinkindes hallten von den gekachelten Wänden wider. Ein Mädchen, vielleicht ein Jahr alt, eingemummelt in eine viel zu warme Daunenjacke, blieb vor Joshi stehen und betrachtete ihn neugierig. Die dicken Fingerchen im Mund gekreuzt. Die Wangen vom Mutter-Kind-Schwimmen gerötet. Joshi lächelte ihr über sein Smartphone hinweg verhalten zu und zwischen den gut eingespeichelten Fingern kam eine Reihe erster Milchzähne zum Vorschein. Verlegen sah die Kleine wieder weg und eilte, noch etwas unsicher auf den Beinen, zurück zu ihrer Mama.
Joshi scrollte weiter.
Er versuchte alles, um nicht an den Film denken zu müssen, der seit jenem Septembertag in seinem Kopf auf Dauerschleife lief. Seit jenem Tag, an dem er Lukas auf dem Schulhof die Nase gebrochen hatte. Und an dem er vor aller Augen von der Polizei abgeführt worden war.
Er fühlte noch immer das Brennen der Demütigung. Ausgelöst durch die Worte mit denen Lukas ihn vor allen Umstehenden erniedrigt hatte.
Lutsch lieber Schwänze. Das passt besser zu dir.
Joshis Gesicht wurde warm. Da war es wieder, dieses widerliche Ziehen in seiner Herzgegend. Und er schielte augenblicklich nach links und rechts, als müsse er sichergehen, dass keine der umstehenden Personen sein Kopfkino mit ansehen konnte.
Sogar im Gericht heute Morgen hatte Joshi Lukas’ Worte nicht wiederholen können. Obwohl er danach gefragt worden war. Er konnte es einfach nicht. Der Gedanke daran, in den Köpfen der anderen Menschen könnten dieselben Bilder entstehen wie in seinem eigenen, war ihm unerträglich. Als könnten sie in Joshis Gehirn hineinschauen, in dem Moment, in dem er diese zwei Sätze aussprach.