»Ich wünschte, dass ich Ihnen ein wenig fehlte« - Stefan Zweig - E-Book

»Ich wünschte, dass ich Ihnen ein wenig fehlte« E-Book

Zweig Stefan

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes hatte Stefan Zweig 1934 Salzburg verlassen und in London eine Wohnung gemietet. Von dort versuchte er seine Arbeit weiterzuführen und stellte die aus Deutschland geflüchtete Lotte Altmann als Sekretärin ein. Fünf Jahre später, wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, sollte sie seine zweite Frau werden. Dazwischen liegt eine Zeit der vorsichtigen Annäherung an die um 27 Jahre jüngere Lotte und erheblicher Spannungen mit Zweigs Ehefrau Friderike, von der er 1938 geschieden wurde. Der mit zahlreichen unbekannten Bildern ergänzte Band enthält die bisher unveröffentlichten Briefe Stefan Zweigs an Lotte Altmann und die Korrespondenz der beiden mit Lottes Familie bis zum Abschied von Europa im Sommer 1940. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 380

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Zweig

»Ich wünschte, dass ich Ihnen ein wenig fehlte«

Briefe an Lotte Zweig 1934-1940

Herausgegeben von Oliver Matuschek

Fischer e-books

Teil I

1933

Frankfurt am Main

Lotte Altmanns Ausweiskarte der Universität Frankfurt am Main für das Wintersemester 1932/1933

Quelle: Universitätsarchiv Frankfurt

Die Verantwortlichen der Universität Frankfurt am Main ließen sich keine Zeit. Erst Ende April 1933 war ein Reichsgesetz gegen die angebliche Überfüllung der Hochschulen beschlossen worden, und schon Anfang Mai wurde von der Universitätsverwaltung ein Fragebogen für nichtarische Studierende verteilt. Am oberen Rand des Blattes war handschriftlich eigens die Aufforderung »sofort ausgefüllt an Sekretariat zurücksenden« hinzugefügt worden. Das Ziel dieser Maßnahme war für jedermann leicht zu erkennen: Es ging schon jetzt, ein Vierteljahr nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, darum, jüdische Studierende und Professoren aus den Hochschulen zu verbannen.

Der von Lotte Altmann ausgefüllte Fragebogen für nichtarische Studierende vom Mai 1933

Quelle: Universitätsarchiv Frankfurt

Am 16. Mai 1933, elf Tage nach ihrem 25. Geburtstag, gab Elisabet Charlotte Altmann, von allen Lotte genannt, das ausgefüllte Formular an die Universität zurück. Sie wird sich wenig Hoffnung gemacht haben, dass sie ihr Studium weiter fortsetzen dürfte. Weder konnte sie die Frage nach einem arischen Elternteil noch jene nach arischen Großeltern bejahen. Es nützte schon gar nichts, dass sich die Reihe ihrer Vorfahren in Deutschland mütterlicherseits über ihren 1888 verstorbenen Urgroßvater, den bedeutenden Rabbiner Samson Raphael Hirsch, angeblich bis ins 13. Jahrhundert nachweisen ließ. Die letzte Frage lautete: »Welche sonstigen, für Ihre Weiterzulassung zum Studium sprechenden besonderen Gesichtspunkte haben Sie noch anzugeben? (z.B. Bruder gefallen)«. Den Platz für die Antwort hat Lotte Altmann freigelassen.

Therese und Joseph Altmann mit ihren Kindern Richard, Manfred und Lotte in Kattowitz um 1918

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Lotte Altmanns Familie stammte mütterlicherseits aus Frankfurt am Main und väterlicherseits aus Oberschlesien, wo Lotte am 5. Mai 1908 in Kattowitz geboren wurde. Nachdem das Gebiet 1920 von Deutschland an Polen abgetreten worden war, verlegten ihre Eltern Joseph Georg und Therese Altmann ihren Wohnsitz nach Frankfurt am Main. Der Familienbetrieb, der mit Eisenwaren und Bergbauausrüstungen handelte, blieb jedoch in Kattowitz bestehen und wurde dort von Lottes älteren Brüdern Hans und Richard weitergeführt.

Lotte Altmann mit ihren Brüdern Manfred, Hans und Richard in Garmisch im August 1926

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Durch mehrere Schulwechsel und eine längere Krankheit – wahrscheinlich litt Lotte Altmann schon früh unter allergischem Asthma – verlor sie gegenüber ihren gleichaltrigen Mitschülern beinahe ein Schuljahr. Sie stellte deshalb, noch während sie sich im Herbst 1929 auf die Reifeprüfung am Realgymnasium vorbereitete, den Antrag, an Lehrveranstaltungen der Universität teilnehmen zu dürfen, was ihr nach einer Anhörung ohne Einschränkung gestattet wurde. Als Studienwunsch gab sie Neuere Sprachen an, später schrieb sie sich für Französisch, Englisch und Volkswirtschaft ein und plante, nach ihrem Abschluss als Bibliothekarin zu arbeiten. Nachdem sie je ein Semester in Berlin und Kiel studiert hatte, kehrte sie wieder an die Universität Frankfurt zurück. Mit der Abgabe des ausgefüllten Fragebogens war Lotte Altmanns Studium nach sieben Semestern beendet. Am 14. Juni 1933 bekam sie ihr Abgangszeugnis und war gezwungen, die Universität ohne Abschluss zu verlassen.

Lotte Altmann mit ihrer Nichte Eva in Frankfurt am Main 1931

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Die Familie Altmann stand Maßnahmen wie diesen nicht hilflos gegenüber und handelte schnell. Lottes acht Jahre älterer Bruder Manfred wanderte mit seiner Frau Johanna, genannt Hannah, und Tochter Eva schon Mitte Mai 1933 nach England aus, wo er eine Arztpraxis eröffnen wollte. Ihm war kurz zuvor seine Arbeitsstelle als Arzt in einer Berliner Klinik gekündigt worden. Die Begründung dafür war dieselbe wie für den Verweis seiner Schwester von der Universität: Jüdische Akademiker waren aus öffentlichen Einrichtungen in Deutschland auszuschließen. Manfred Altmann kannte England bereits von Verwandtenbesuchen und Urlaubsreisen, an denen auch Lotte teilgenommen hatte. Unter den gegebenen Umständen bestand er nun darauf, dass seine Schwester Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte. Ende Juni ließ Lotte sich einen Reisepass ausstellen und fuhr kurz darauf nach London, um Manfred und seine Familie zu besuchen, wie sie bei der Einreise angab. Sie bekam eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate und meldete sich im Whittingham College in Hove an der Kanalküste an, um ihr Englisch zu verbessern. Im September kehrte Lotte Altmann wieder nach London zurück und zog in das Haus ihres Bruders in der Willesden Lane. Eine Arbeit durfte sie auch nach der Verlängerung ihres Visums nicht annehmen, doch war sie bei der Organisation für Jüdische Flüchtlinge im Woburn House gemeldet, die half, mehr oder weniger inoffizielle Anstellungen zu vermitteln. So hätte Lotte wenigstens etwas zum Einkommen der Familie beitragen können, denn noch war es ihrem Bruder nicht gestattet worden, eine eigene Arztpraxis zu eröffnen. Außerdem kamen immer mehr Flüchtlinge aus Deutschland nach Großbritannien, und man musste darauf vorbereitet sein, bald die eigenen Eltern aufnehmen zu müssen, wenn sich die Lage in Frankfurt für sie verschlimmern sollte.

Ob Lotte Altmann je in ihrem Wunschberuf arbeiten und Bibliothekarin werden würde, war zu diesem Zeitpunkt mehr als ungewiss. Mit ihren Sprachkenntnissen in Deutsch, Englisch und Französisch hatte sie nicht die allerschlechtesten Chancen, eine kleinere Anstellung in einem fremden Land zu bekommen. Um ihre Fähigkeiten weiter auszubauen, beschäftigte sie sich mit Aktenführung und belegte einen Schreibmaschinenkurs. Vielleicht wäre es ja möglich, als Sekretärin zu arbeiten?

1933

Salzburg

Hochsommer 1933. Festspielzeit in Salzburg. Die Hotels der Stadt sind ausgebucht, obwohl die von der deutschen Reichsregierung kurz zuvor eingeführte Tausend-Mark-Sperre die Zahl der Besucher erheblich reduziert hat. Nach der neuen Regelung muss jeder Deutsche, der die Grenze nach Österreich übertritt, diesen horrenden Betrag entrichten. Eine Provokation für ein Land, das auf zahlungskräftige Touristen angewiesen ist.

Neben den offiziellen Veranstaltungen der Festspiele wie Max Reinhardts Neuinszenierung von Goethes Faust mit einem spektakulären Bühnenbild in der Felsenreitschule gab es wie in jedem Jahr auch eine ganze Reihe privater Empfänge und Festlichkeiten. Die Schauspielerin Frida Richard lud an einem Nachmittag zum Künstlertee in ihren Garten. Ihre Kollegen Dagny Servaes, Richard Eybner, der Kammersänger Franz Völker und viele andere erschienen zu diesem gesellschaftlichen Ereignis. Einen Herrn im hellen Sommerhemd mit gestreifter Krawatte verabschiedete Frida Richard besonders herzlich: »Herr Doktor, ich freue mich riesig, dass Sie mir das Vergnügen gemacht haben, heute bei uns zu Gast zu sein!« Darauf lächelte der Angesprochene verlegen, sprach kein Wort, wechselte seine glimmende Zigarre von der rechten in die linke Hand und gab der Gastgeberin einen Handkuss. Eine formvollendete Verabschiedung, und dennoch wirkt die Szene ein wenig ungelenk. Zwar ist der Gast weltberühmt, doch Auftritte vor Publikum oder in größeren Gesellschaften sind ihm ein Graus. Dass hier eine Tonfilmkamera mitlief, muss die Angelegenheit für ihn noch unangenehmer gemacht haben. Es ist Stefan Zweig deutlich anzusehen, dass er es nicht gewohnt ist, im Rampenlicht der Öffentlichkeit oder gar vor Filmkameras zu stehen, und dass er sich auch nicht daran gewöhnen möchte.

Stefan Zweig zu Besuch beim Künstlertee der Schauspielerin Frida Richard während der Salzburger Festspiele im Sommer 1933

Quelle: Filmarchiv Austria, Wien

Es war schon bemerkenswert genug, dass Zweig sich während der Festspielzeit überhaupt in der Stadt aufhielt. Zwar wohnte er hier seit 1919 in einer beeindruckenden Villa auf dem Kapuzinerberg, doch versuchte er für gewöhnlich, der sommerlichen Massenveranstaltung aus dem Weg zu gehen. Seine Frau Friderike, die er 1912 kennengelernt hatte, konnte dem mondänen Leben dagegen viel mehr abgewinnen. In der Szene, die in einem Dokumentarfilm über die Festspiele des Jahres 1933 später vor die oben erwähnte Sequenz mit dem Handkuss geschnitten wurde, sieht man Friderike Zweig inmitten des Trubels mit einem kleinen Kind auf dem Schoß neben der Gastgeberin sitzen.

Stefan Zweig mit seiner italienischen Übersetzerin Lavinia Mazzucchetti vor dem Salzburger Festspielhaus

Stefan und Friderike Zweig mit einer Freundin in der Hofstallgasse in Salzburg

Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem

Friderike und ihre beiden Töchter aus erster Ehe, die 1907 geborene Elisabeth Maria Alexia, genannt Lix oder Alix, und die drei Jahre jüngere Susanne Benediktine Louise, genannt Suse, lebten gemeinsam mit Stefan Zweig in dem großen Haus mit weitläufigem Garten. Es gab dort einen von Friderike so genannten »Herrschaftsdiener« namens Johann, eine Köchin und einen Gärtner, und selbstverständlich beschäftigte Stefan Zweig für seine Arbeit eine Sekretärin. Sie hieß Anna Meingast und hatte kurz nach seinem Einzug in das Haus ihre Aufgabe übernommen. Seitdem hatte sie Tausende von Manuskriptseiten und Briefen für ihren Chef getippt, der zur Optimierung der Arbeit sogar eines jener neuartigen Diktiergeräte mit Wachswalzen anschaffte, so dass sie seine Texte auch während seiner Abwesenheit zu Papier bringen konnte.

Stefan Zweig war zu Beginn der dreißiger Jahre auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Seine allseits bekannten Bücher Sternstunden der Menschheit und die Novellensammlung Verwirrung der Gefühle waren in den vergangenen Jahren erschienen. Fast alle seine Werke wurden umgehend in mehrere Sprachen übersetzt und erreichten Leser in aller Welt. Finanzielle Sorgen musste Zweig sich im Gegensatz zu vielen Autorenkollegen nicht machen, zumal er auch noch Anteile am Unternehmen seiner Familie besaß. Sein bereits 1926 verstorbener Vater Moriz Zweig hatte noch vor Stefans Geburt eine Weberei in Böhmen gekauft, die er bis zur Jahrhundertwende zu einem gut laufenden Industriebetrieb ausbaute. Die Geschäfte der Fabrik führte seit langem Stefan Zweigs zwei Jahre älterer Bruder Alfred von Wien aus, wo die beiden als einzige Kinder von Moriz und Ida Zweig 1879 und 1881 zur Welt gekommen waren. Eigentlich schien alles in bester Ordnung zu sein, doch war es gerade in den vergangenen Jahren zu einigen Spannungen in der Familie gekommen.

Stefan Zweig, Suse und Alix von Winternitz und Friderike Zweig mit dem Hund Kaspar im Garten ihres Salzburger Hauses

Friderike Zweig war eine brillante Organisatorin und eine resolute Dame mit gewissen Ansprüchen an eine großbürgerliche Lebensweise, gepaart mit einer Bewunderung für die Welt des Adels. Außerdem hatte sie eigene schriftstellerische Ambitionen, die sie an der Seite ihres Mannes nie im größeren Stil verwirklichen konnte. Und sie hatte ihre beiden Töchter. Nachdem Friderike 1914 von deren Vater, dem Finanzrat Felix von Winternitz, geschieden worden war, schien sie ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben, das sie oftmals mit Großzügigkeit und Nachsichtigkeit auszugleichen versuchte. Stefan Zweig wiederum sah sich nie wirklich in der Rolle des Ersatzvaters. Er hatte die beiden Mädchen nach der Hochzeit mit Friderike im Jahr 1920 nicht adoptiert und konnte sich, je älter Alix und Suse wurden, immer weniger mit deren zeitweise demonstrativ zur Schau gestellten Desinteresse an seinem Leben, seinen Freunden und seiner Arbeit abfinden. Der Streit um das Verhalten der Töchter führte so weit, dass Zweig am Ostermontag 1931 in einem Brief an den Vater der beiden deutliche Worte fand und Felix von Winternitz dringend darum bat, ein Machtwort zu sprechen. Doch Aktionen wie diese führten letztlich eher zu größeren Anspannungen als zu einer Lösung des Konfliktes.

Stefan Zweig vor seinem Haus in Salzburg im Sommer 1931

Quelle: Österreichisches Theatermuseum Wien

Aber auch wenn die Nerven gelegentlich blank lagen, war Stefan Zweigs Arbeitskraft offenbar durch nichts wirklich zu erschüttern, denn trotz politischer Wirren und familiärer Unruhe erschienen seine Bücher im Jahrestakt. Um seinen 50. Geburtstag am 28. November 1931 verdüsterte sich seine Stimmung allerdings erheblich. Ohnehin zu Depressionen neigend, sah er diesem besonderen Datum in seinem Leben mit Grauen entgegen. Alle Lobgesänge auf den großen Autor nutzten wenig. Er trat die Flucht an, fuhr von Salzburg nach München und feierte dort allein mit seinem Schriftstellerkollegen und Freund Carl Zuckmayer.

Zwar besserte sich Zweigs Zustand bald wieder, und er schrieb gerade in diesem Jahr an der Biographie der französischen Königin Marie Antoinette, die vor dem Weihnachtsfest 1932 erschien und noch lange darüber hinaus zum Verkaufsschlager werden sollte, doch in seinem Leben machte sich zu diesem Zeitpunkt eine immer größere innere Unruhe und Unzufriedenheit bemerkbar. In seinen frühen Jahren war er viel und weit gereist, und auch jetzt packte er wieder häufiger seine Koffer. Hatte ihn damals noch eher die Neugierde getrieben, so zeigte sich nun immer deutlicher seine Tendenz zur Flucht vor unangenehmen oder als bedrohlich empfundenen Begebenheiten. Andererseits bemerkte Zweig im Frühjahr 1933 mehrfach, dass er sich kaum von zu Hause fortbewegen möge, weil nicht zu ahnen sei, was nach der Machtübernahme Adolf Hitlers als Nächstes in Deutschland geschehen werde und welche Auswirkungen auf Österreich damit verbunden seien. Die bereits erwähnte Tausend-Mark-Sperre bekam man knapp hinter der deutschen Grenze in Salzburg ganz direkt zu spüren, von anderen Maßnahmen hatte man gehört und betrachtete sie je nach eigener politischer Ausrichtung ganz unterschiedlich, wobei die Zustimmung nicht gering war. Stefan Zweig verfolgte die Nachrichten mit größter Aufmerksamkeit. Reisen in das Nachbarland, in dem die meisten seiner Leser zu Hause waren, kamen für ihn unter den gegebenen Umständen nicht mehr in Betracht. Einige seiner Werke standen in Deutschland inzwischen auf der Liste jener Bücher, die auf öffentlichen Kundgebungen verbrannt wurden. Wie lange konnten sie überhaupt noch erscheinen? Hatte er als Jude auch im Ausland mit Repressalien zu rechnen? Fragen, die sich zu diesem Zeitpunkt kaum beantworten ließen, doch waren Zweig bereits Gerüchte zu Ohren gekommen, die nichts Gutes verhießen. Willkürlich hatten die Nationalsozialisten 1933 das bestehende Waffengesetz der Weimarer Republik zu ihren Gunsten ausgelegt und im Sommerhaus Albert Einsteins in Caputh bei Potsdam eine Durchsuchung nach Waffen vorgenommen. Dass dabei angeblich einzig ein Brotmesser als Fundstück registriert wurde, nahm der Angelegenheit nichts von ihrer symbolischen Bedeutung, die Stefan Zweig sehr wohl erkannte, wie aus einem der Briefe an seinen argentinischen Übersetzter Alfredo Cahn deutlich wird.

Nach dem Ende der Festspielzeit war Zweig wieder auf Reisen. Zunächst arbeitete er einige Zeit in der Schweiz, doch dann fuhr er weiter nach Norden an ein für ihn sehr ungewöhnliches Ziel. Seit seiner Jugendzeit war er eng mit Frankreich verbunden und hielt sich dort oft für Monate auf, doch diesmal ließ er Paris hinter sich und reiste weiter nach London. Erst einmal war er hier gewesen, und dieser Besuch lag beinahe dreißig Jahre zurück. Damals war ihm die Stadt nicht gerade als offen und entgegenkommend erschienen, aber nun bot sie ihm genau jene Ruhe und Abgeschiedenheit von allen Freunden, Bekannten und der Familie, die er dringend benötigte. Nach wenigen Tagen in Brown’s Hotel zog er in ein möbliertes Apartment mit der Adresse 11 Portland Place, das nur wenige Gehminuten vom Oxford Circus entfernt lag.

Stefan und Friderike Zweig im Garten ihres Hauses in Salzburg im Sommer 1933

Quelle: Imagno brandstätter images

Zweig wählte London nicht zuletzt deshalb als Arbeitsort, weil Großbritannien seinerzeit noch nicht so sehr in die Konflikte des Kontinents verwickelt war, doch ließen sich die Auswirkungen der Politik Adolf Hitlers auch hier nicht übersehen. Immer mehr Flüchtlinge kamen im Lauf des Jahres 1933 aus Deutschland nach England. Und selbst Zweig, der sich ansonsten mit politischen Äußerungen zurückhielt, sah sich veranlasst, Ende November im Haus des Bankiers Anthony de Rothschild einen Hilfeaufruf für jüdische Kinder in Deutschland zu verlesen. Gleichzeitig erreichte eine Affäre um die von Klaus Mann herausgegebene Exilzeitschrift Die Sammlung ihren Höhepunkt. Wegen einer Auseinandersetzung über die politische Ausrichtung des Magazins wurde ein Brief, den der Insel Verlag von Stefan Zweig erhalten hatte, ohne dessen Zustimmung im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels abgedruckt. Nach diesem Vertrauensbruch beendete Zweig nach beinahe dreißig Jahren die Zusammenarbeit mit dem Verlag, in dem fast alle seine Bücher erschienen waren. Wie sich schon bald zeigen sollte, griff er mit diesem schwer gefassten Entschluss letztlich nur dem Lauf der Geschichte voraus.

Im Dezember reiste er über Paris nach Österreich. Im Gepäck hatte er Skizzen zu einem Buch über Maria Stuart, an denen er in den vergangenen Wochen gearbeitet hatte. Wenn er die Idee, eine Biographie der schottischen Königin zu schreiben, tatsächlich weiter ausführen wollte, würde er bald wieder nach Großbritannien kommen müssen, um dort weitere Recherchen zu betreiben. Doch zunächst kehrte Stefan Zweig in sein Haus nach Salzburg zurück.

1934

Salzburg und London

Nach der Trennung vom Insel Verlag stand die Suche nach einem neuen Verleger außerhalb des Deutschen Reiches für Stefan Zweig an erster Stelle seiner Tagesordnung. Mit Herbert Reichner in Wien schien er den geeigneten Partner gefunden zu haben, wie sich zu Beginn des Jahres 1934 immer deutlicher abzeichnete. Die beiden hatten schon früher für einige bibliophile Projekte zusammengearbeitet, doch nun bot sich für Reichner die Chance, einen der auflagenstärksten Autoren der Welt in seinen Verlag zu übernehmen. Das kleine Unternehmen musste dafür allerdings noch umstrukturiert werden. Stefan Zweig sorgte dafür, dass einer seiner engsten Freunde, sein Schachpartner Emil Fuchs, der »Schachfuchs«, als Lektor und inoffizieller Kontaktmann in den Verlag übernommen wurde. Im Februar fuhr Zweig für ein paar Tage nach Wien, um dort mit Reichner an der Drucklegung seines beinahe vollendeten Buches über Erasmus von Rotterdam zu arbeiten. Dass es während dieses Aufenthalts in einigen Vororten Wiens und den Industriestädten Österreichs zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zwischen Anhängern der austrofaschistischen Diktatur des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß und der sozialdemokratischen Opposition kam, nahm Zweig eher am Rande wahr. Als die Zugverbindungen nach kurzer Unterbrechung wieder funktionierten, fuhr er zurück nach Salzburg, wo er am Abend den üblichen Stapel Post vorfand und bis tief in die Nacht arbeitete. Am nächsten Morgen, so beschreibt Zweig das Geschehen in seinen Memoiren, wurde er von seinem Diener geweckt, der ihm mitteilte, einige Herren von der Polizei wünschten ihn zu sprechen. Was darauf folgte, war eine amtliche Suche nach Waffen im Haus eines der bekanntesten Pazifisten Europas. Man vermutete, so die offizielle Mitteilung, dass der Republikanische Schutzbund, der die Sozialdemokraten unterstützte, ein Lager auf dem Kapuzinerberg errichtet habe. Selbstverständlich war diese Idee absurd, nicht einmal die Polizisten, so lässt Zweigs Bericht vermuten, schienen die Vorwürfe ernst genommen zu haben, doch die eigentliche Absicht hinter dieser Maßnahme war ebenso leicht zu erkennen wie vor gut einem Jahr im Hause Albert Einsteins. Zweig war über diesen massiven Eingriff in seine Privatsphäre empört, packte umgehend seine Koffer und kam am 26. Februar 1934 wieder am Portland Place in London an. Zwar hatte er dem Schriftsteller Josef Leftwich noch am 17. Februar, vermutlich am Abend vor der Durchsuchung, geschrieben, dass er ohnehin Anfang März nach London zurückkomme, doch hatte Zweig ursprünglich nicht vorgehabt, sich bei den österreichischen Behörden abzumelden. Dies geschah nun, und er verlegte seinen Wohnsitz offiziell nach England.

Seine Frau reiste ihm nach, versuchte ihn umzustimmen, ahnte aber schnell, dass seine Entscheidung unumstößlich war. Schon jetzt merkte Zweig gegenüber Bekannten an, dass Friderike und ihre Töchter zu sehr an Salzburg und dem Haus hingen. Um die Situation nicht noch weiter zu belasten, übernahm es Friderike auf bewährte Weise, ihrem Mann die für seine Arbeit nötige Umgebung zu schaffen. Sie wusste genau, dass er dringend eine Sekretärin brauchen würde, wenn er auf unbestimmte Zeit in London bleiben und arbeiten wollte. Die eigentliche Arbeit an neuen Büchern hätte sich bis zur Reinschrift der Manuskripte für den Verlag wohl noch allein erledigen lassen, doch führte Zweig parallel eine geradezu überbordende Korrespondenz, die ohne Hilfe kaum zu bewältigen gewesen wäre. Am besten wäre es, wenn die neue Londoner Sekretärin nicht nur Deutsch, sondern auch die Landessprache perfekt beherrschte, in der Zweig noch alles andere als sicher war. Sollte sie auch noch Französisch können, wäre das für seine Arbeit nur von Vorteil. Bei diesen Anforderungen war es naheliegend, sich in Kreisen der deutschen Flüchtlinge umzuhören, ob es dort nicht eine passende Bewerberin für diese Stelle gebe. Hier nun sollten sich die Wege der beinahe sechsundzwanzigjährigen deutschen Emigrantin Lotte Altmann und des zweiundfünfzigjährigen österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig kreuzen.

Lotte Altmann nach ihrer Ankunft in England

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Wahrscheinlich noch im März, spätestens aber ab April 1934 wurde Lotte Altmann von Stefan Zweig für Schreibarbeiten beschäftigt. Friderike Zweig berichtete später, dass sie Lotte Altmann ausgewählt habe, nachdem sie bei der jüdischen Flüchtlingsorganisation im Woburn House nach möglichen Bewerberinnen gefragt hatte. Dies scheint eine verkürzte Darstellung der Ereignisse zu sein, denn nach mündlicher Überlieferung in den Familien Altmann und Smolka kamen Lotte Altmann und Stefan Zweig über ihren gemeinsamen Bekannten Peter Smolka in Kontakt, der als Korrespondent der in Wien erscheinenden Zeitung Neue Freie Presse in London arbeitete, für die Zweig selbst jahrzehntelang Beiträge geliefert hatte. Lotte Altmanns Bruder Manfred wiederum versorgte die Familie Smolka als Arzt. Friderike Zweigs Fassung der Ereignisse wird insofern der Wahrheit entsprechen, als sie ganz gewiss an der Auswahl der Sekretärin ihres Mannes beteiligt war. Und da Lotte Altmann beim Jewish Refugees Committee gemeldet war, könnte es von dort durchaus zu einer zusätzlichen Empfehlung gekommen sein. Die eine Variante der Geschichte schließt die andere keinesfalls aus.

Da Stefan Zweig auch in der kommenden Zeit oft genug verreiste, war es immer wieder nötig, den Kontakt zu seiner neuen Sekretärin über Briefe zu halten. Sein erstes bekanntes Schreiben an Lotte Altmann wurde allerdings von seiner Londoner Wohnung am Portland Place nach Frankfurt am Main geschickt. Während Zweig intensiv an den letzten Korrekturen seines Buches Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam arbeitete und das Material für seine inzwischen geplante Biographie Maria Stuarts vorbereitete, hatte sich Lotte Altmann gemeinsam mit ihrem Bruder Manfred noch einmal zurück nach Deutschland begeben, um dort ihrem schwerkranken Vater beistehen zu können.

[1]Stefan Zweig an Lotte Altmann, [London], 1. Mai 1934

Liebes Fräulein,

lassen Sie sich nur sagen, dass wir in diesen sorgenvollen Stunden ganz mit Ihnen sind. Es drückt nur ein wenig das Gewissen, dass ich vor Ihnen die Wichtigkeit der Fertigstellung meiner Arbeit übertrieben habe; bitte lassen Sie sich keinesfalls den Gedanken kommen, ich drängte auf Ihre Rückkehr. Ich weiss doch zwischen wirklich Wichtigem und Scheinwichtigem genau zu unterscheiden und es ist für meine Bequemlichkeit eine ganz gute Schule, wenn ich lerne, für einige Zeit meine Arbeit ganz allein zu tun. Um so mehr werde ich mich dann freuen, Sie wieder hier zu wissen – heute nur eben die aufrichtigsten und teilnehmendsten Gedanken von meiner Frau und mir! Herzlichst Ihr

 

1. Mai 1934

Stefan Zweig

Am 1. Mai 1934 verstarb Lotte Altmanns Vater Joseph Georg Altmann in Frankfurt. Für seine Kinder Lotte und Manfred war es keine Frage, dass sie so schnell wie möglich wieder nach London zurückkehren würden. Auch ihre Mutter Therese verließ Deutschland noch im selben Jahr und siedelte im Herbst 1934 nach England über.

Die korrekte Anschrift der Familie Altmann in Frankfurt lautete Eppsteiner Straße 45.

[2]Stefan Zweig an Lotte Altmann, London, 9. Mai 1934, Kuvert

Fräulein Lotte Altmann

Frankfurt a/Main / Germany

Eppsteiner Strasse 25 oder 35

 

9. Mai 1934

 

Liebes Fräulein,

wir haben sehr lebhaft an Sie gedacht in all den schweren Stunden, die Sie jetzt mitmachen mussten. Hoffentlich kommen Sie hier wieder zur inneren Ruhe. Ich freue mich schon sehr, Sie wieder zu sehen und wenn ich mich auch inzwischen selbst an die Arbeit gemacht habe, so wird sie mit Ihrer guten Hilfe dann wieder lebendiger von statten gehen. Aber denken Sie, bitte, bei allen Ihren Entschliessungen nicht an mich, sondern nur an die innern Pflichten, die Ihnen eine solche Schicksalswende jetzt auferlegt. Mit sehr herzlichen Grüssen Ihr

Stefan Zweig

Lotte Altmann landete am 14. Mai 1934 wieder in Dover. Die Behörden erteilten ihr wie zuvor eine dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung unter der Voraussetzung, dass sie auch künftig weder bezahlte noch unbezahlte Arbeit annehme. Einen Beruf gab sie in ihren Papieren nicht an. Offiziell besuchte sie wiederum ihren Bruder, der sich weiter um eine Erlaubnis bemühte, in England eine Arztpraxis eröffnen zu dürfen.

Offensichtlich war auch Friderike Zweig von der Eignung der neuen Sekretärin ihres Mannes überzeugt, denn nach ihrer Rückkehr nach Österreich legte sie kurz vor Beginn der Salzburger Festspiele einem Brief an ihren Mann eine Karte an Lotte Altmann bei, die sich mit weiteren Sprachkursen in ihrem neuen Beruf erfolgreich fortbildete. Auch Lottes Schwägerin Hannah Altmann hatte Friderike in London kennengelernt, nun dankte Friderike für deren Grüße, die Lotte ihr in einem Brief übermittelt hatte.

[3]Friderike Zweig an Lotte Altmann, [Salzburg, Mitte Juli 1934]

Für Fräulein Lotte

 

Liebes Fräulein Lotte,

 

vielen guten Dank für Ihren lieben Brief und die freundlichen Worte Ihrer Schwägerin. Ja, auch ich würde mich herzlich freuen, Sie wiederzusehen. Ich hoffe zuversichtlich, daß mein Mann mit Ihnen weiterarbeiten wird, und eine Unterbrechung wird Ihnen gewiß zur Erholung gut tun, so daß Sie nicht gleich etwas anderes beginnen. Hier scheint es jetzt Gott sei Dank ruhig zu werden. Es sind schon viele Freunde hier. Ich bin leider nicht sehr leistungsfähig wegen Schlaflosigkeit, also auch gar nicht erpicht auf die kommenden Festspiele, auf die man sich das ganze Jahr freut, was also schon im Vorhinein Vorteile hat. Indem ich Ihnen ein sehr gutes Sommerende wünsche und noch gratuliere (zum Prüfungserfolg) bin ich Ihre Sie sehr schätzende Fr[iderike]. M[aria]. Zweig

Das Haus der Zweigs auf dem Kapuzinerberg in Salzburg, Abbildung auf der Postkarte Friderike Zweigs an Lotte Altmann vom Juli 1934

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Etwa in jenen Tagen als Friderike Zweigs Karte in London eintraf, begab Stefan Zweig sich zu Studien für sein Buch über Maria Stuart nach Schottland. Lotte Altmann begleitete ihn auf der Reise. Nach der Rückkehr erkrankte sie, ohnehin an Asthma leidend, an einer durch Feinstaub hervorgerufenen Reizung der Atemwege. Im Volksmund war die Krankheit nach einem seinerzeit besonders belasteten Londoner Stadtteil unter der Bezeichnung Wimbledon throat bekannt.

[4]Stefan Zweig an Lotte Altmann, London, 30. Juli 1934 (Poststempel), Postkarte

Miss Lotte Altmann

[London] N. W. 6

174, Willesden Lane

 

Liebes Fräulein Altmann,

das ist mir sehr leid, dass Sie jetzt den Wimbledon throat sich zugelegt haben, aber vor allem für Sie; machen Sie sich keine Sorge, ich komme schon durch und schiebe allenfalls meine Abreise um zwei drei Tage. Aber curieren Sie sich gründlich aus, keine Experimente mit zu frühem Aufstehen! Ich vertraue da ganz der Strenge Ihres brüderlichen Doctors! Mit besten Wünschen Ihr

tefan Zweig

Für Stefan Zweig stand im Spätsommer 1934 seine erste Reise nach Österreich seit der Hausdurchsuchung auf dem Kapuzinerberg an. Wichtigstes Ziel war Wien, wo Verhandlungen mit seinem neuen Verleger Herbert Reichner zu führen waren. Salzburg mied er dagegen, so gut er konnte, und hielt sich dort nur wenige Tage auf. Die möblierte Wohnung am Portland Place in London blieb währenddessen nicht reserviert, doch hatte Zweig die Option, bei seiner Rückkehr wieder im selben Haus wohnen zu können und auch während seiner Abwesenheit Post an diese Adresse senden zu lassen.

Frans Masereels Gemälde mit einer Ansicht des Hafens von Boulogne, das er Stefan und Friderike Zweig 1929 geschenkt hatte

Quelle: Erben Stefan Zweigs, London

Nach der Überfahrt von Folkestone nach Boulogne traf er dort seinen langjährigen Freund, den belgischen Graphiker und Maler Frans Masereel, der für Lotte Altmann einige Urlaubsorte mit einem für sie günstigen Klima vorschlug, die Zweig auf der Rückseite des Kuverts nachtrug. In jenem Umschlag steckte ein Brief mit Anweisungen für seine Londoner Sekretärin und ein weiteres Blatt mit persönlichen Worten.

[5]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Boulogne-sur-Mer, 5. August 1934 (Poststempel), Kuvert mit Anschrift London, Willesden Lane

Liebes Fräulein Altmann,

die See ist dermassen still bis auf ein paar weisse Schafe, die herumhupfen, dass ich Ihnen noch vom Schiff aus schreiben kann und Ihnen auf das herzlichste danken für all die Mühe, die ich Ihnen gemacht habe. Ich hatte besonders in den letzten Tagen, da Sie nicht gesund waren, das schlimme Gefühl den »Sclavenhalter« zu spielen und schämte mich innerlich vor meiner Frau. Aber Sie wissen ja welcher Andrang gerade jetzt zu bewältigen war und entschuldigen meine Hartnäckigkeit.

 Nun bitte noch einmal die Instructionen. Ich telegrafiere Ihnen sobald ich eine Adresse habe, an die Sie jenen Aufsatz und die Teile Maria Stuart schicken können. Das geschieht selbstverständlich recommandiert und zwar, bitte ich Sie, in zwei (nicht am gleichen Tag abgehenden) Sendungen, damit wenn die eine (Original) verloren geht, die andere (Kopie) gesichert bleibt. Lächeln Sie bitte nicht über diese Schrulle, ich fühle mich dann sicherer.

 Die Briefe besorgen Sie freundlichst, die noch zu erledigen sind. Und wegen allfälligen Besorgungen muss ich Sie vielleicht noch bemühen. Alles andere wird sich ja erst in nächster Zeit deuten und klären. Ich weiss durchaus nicht, was das Schicksal mit mir vor hat und muss alles der Entwicklung überlassen. Ich möchte Ihnen aber noch in aller Herzlichkeit sagen, wie sehr ich mich Ihnen für die Hilfe bei meiner Arbeit verpflichtet fühle und wie sehr ich mich freuen würde, diese Hilfe bald wieder in Anspruch nehmen zu dürfen. Ich bin etwas ungeschickt und gehemmt im Danken, aber ich bitte Sie, liebes Fräulein Altmann, meiner aufrichtigen Erkenntlichkeit darum doch gewiss zu sein.

 Bitte seien Sie nicht ungehalten, wenn ich Sie ab und zu in London noch mit kleinen Aufträgen belästige, Sie wissen, ich behellige Sie wirklich nur im Notfall. Sie müssen sich zunächst einmal gründlich erholen.

 Bitte sagen Sie noch Ihrer Frau Schwägerin und Ihrem Herrn Bruder, wie ärgerlich es mir war, so überstürzt mich empfehlen zu müssen, aber diese letzten Tage waren ja wirklich bis zum Rande angefüllt und ich wundere mich selbst, wie wir schliesslich doch alles bewältigt haben. Ich bin gewiss, dass Ihrem Herrn Bruder alles nach Wunsch gelingen wird und ich beim nächsten Besuche in London schon ein blankes Doktorschild an der Tür sehe.

 Also nochmals vielen Dank, ich hoffe bald über meine nächsten Wochen im klaren zu sein. Mit vielen Grüssen (das Schiff wackelt doch, Sie sehen es an der Schrift) Ihr aufrichtiger

Stefan Zweig

Folkestone – Boulogne

 

Noch einen Nachtrag. Ich glaube Ihnen nämlich wirklich schlecht und unzulänglich gedankt zu haben, für alle die Güte, die Sie mir erwiesen haben. Es ist nicht so leicht wie Sie als junges Mädchen meinen, jemanden zu finden, der mit solcher Hingabefähigkeit Wünsche versteht und sogar errät; mir ist es immer ein Angstgefühl, als sei ich zu alt, zu zeitfremd um von einem jungen Menschen ein wirkliches Eingehen erhoffen oder gar verlangen zu können und es wird mir eine dankbare Erinnerung bleiben, bitte, glauben Sie mir das, dass in all diesen Wochen nicht eine einzige Misstimmung zwischen uns war. Ich bin vielleicht keine ganz leichte Natur, im allgemeinen werde ich Menschen rasch müde, es stört mich bald eine ihrer im Anfang verborgenen Eigenschaften, aber bei Ihnen spürte ich von Anfang eine solche Aufrichtigkeit, dass ich mich sicher fühlte. Ich werde mit Bedauern an diese Londoner Zeit denken. Sie haben mich sehr verwöhnt und meine treue Frau Meingast und manche andere werden, fürchte ich, das merken, dass ich jetzt andere Ansprüche stelle; ja man gewöhnt sich unheimlich rasch an das Gute und es ist fast ein Glück, wenn man es nicht ununterbrochen hat, sonst merkte man es am Ende gar nicht mehr und verlernte die Dankbarkeit dafür. Nun, dies danke ich Gott, ich habe sie, und manchmal ist mir sogar gegeben sie auszudrücken.

 Es wäre für mich ein guter Gedanke, Sie jetzt heiter, glücklich und mit neuen Dingen beschäftigt zu wissen. Sie müssen sich ganz erholen und sich frisch fühlen und [zu] allem freudig bereit. Manchmal hatte ich das Gefühl, als ob Ihnen Ihr eigenes Glück nicht wichtig genug wäre, als ob Sie nur nehmen wollten, was Ihnen zufällt, ohne ihm einen Schritt entgegenzugehen, als ob Sie nicht genug Mut hätten, glücklich sein zu wollen. Wenn ich Ihnen da doch helfen könnte und ein Beispiel geben. Ich habe immer das Beste begehrt und oft ist es mir zugefallen und gerade wenn ich es nicht zu hoffen wagte, war es doppelt schön.

 Bitte glauben Sie mir auch dies: meine Freundschaft ist nicht vergesslich. Ich vergesse Bekannte und Begegnungen. Aber wo ich wirklich Freundschaft empfand, habe ich immer standgehalten und treuer als andere, die es laut und pathetisch versprechen. Ich glaube, dass wer immer mir einmal geholfen hat, auf mich zählen kann.

 Also nochmals: innigen Dank für alles! Ihr ergebener

 St. Z.

 

PS: Sollten Sie bei Woolworth gelegentlich vorbeikommen, so bitte denken Sie dann freundlich an all die Kleinigkeiten die ich dort besorgte; man kann das leider per Post (wegen der Zollplackereien) nicht schicken, aber es ist mir doch ein gutes Gefühl, dass Sie es allenfalls für mich besorgen könnten und daran denken.

[Auf der Rückseite des Kuverts handschriftlicher Zusatz:]

Masereel rät Ihnen Paris-Plage Le Touquet oder Wimereux bei Boulogne

Vor der Fahrt nach Österreich hielt sich Zweig noch einige Tage in der Schweiz auf, um weitere Kapitel für Maria Stuart zu entwerfen und einige Besuche zu machen, darunter bei Thomas Mann, mit dessen Kindern Klaus und Erika er sich offensichtlich mehr vergnügte als mit dem Vater.

Die nachfolgenden Briefe aus Zürich und Klosters geben einen ersten Eindruck der nun notwendigen Koordination der Arbeit in zwei Büros und auf Reisen zwischen Salzburg und London, die in den kommenden Jahren zum Alltag werden sollte. Das erwähnte Telegramm befindet sich nicht unter den erhaltenen Papieren.

[6]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Zürich, 6. August 1934 (Poststempel), Postkarte mit Anschrift London, Willesden Lane

Zürich, Montag abends

 

Liebes Fräulein Altmann,

Sie haben hoffentlich mein Telegramm erhalten, ich gehe morgen Dienstag nach Klosters (knapp vor Davos) bis jedenfalls Samstag abends, dann ist meine Adresse, falls ich nichts anderes melde Salzburg (aber ich bleibe nur einen Tag.) Verzeihen Sie, dass ich Sie mit diesem nomadischen Zustand belästige und lassen Sie sich es so gut gehen als möglich. Sie brauchen wirklich Erholung. Herzlichst ergeben Ihr

 Stefan Zweig

 

Viele Grüsse den Ihren.

[7]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Klosters, [8. August 1934]

Klosters (Schweiz) Hotel Weisskreuz

Mittwoch

 

Liebes Fräulein Altmann,

hoffentlich haben Sie das Telegramm richtig erhalten. Ich bleibe hier in Klosters bis etwa Montag abends, bitte Sie aber, alle Post, falls ich nicht anders telegrafiere, nach Salzburg zu senden. Bald wird ja das Hin- und Herwandern ein Ende haben und ich etwas klarer sehen, ich melde dann alles sofort.

 Hier ist es sehr nett und still, ein einfacher Ort, gutes Essen, ich vermisse nur sehr die Hors d’œvres aus dem Marine Hôtel und nach der Belebtheit einer grossen Stadt kommt einem die Einsamkeit zunächst etwas befremdlich vor. Die Arbeit geht vielleicht dadurch besser fort, weil sie ununterbrochen läuft, aber schliesslich gehören auch die Pausen zum richtigen Rhythmus und die Unterbrechungen haben ihren schönen Sinn. Ich hoffe jetzt scharf vorwärts zu kommen, je früher ich fertig werde umso freier werde ich sein und ich bin manchmal recht ungeduldig, die gute Maria Stuart unter [= auf] das Schaffott zu bringen. Vorläufig ist es noch lange nicht so weit und ich muss meinen Blutdurst bezähmen. Aber wenn ich still und unabgelenkt arbeite, hoffe ich doch im Spätherbst ganz mir und meiner Freude leben zu können.

 Soll ich mich schämen zu sagen, dass Sie mir sehr bei meiner Arbeit fehlen? Ich habe mich so sehr gewöhnt an Ihre gute Hilfe, dass ich mich jetzt ein bisschen hilflos fühle und manchmal blicke ich die Maschine, die schwarz und verschlafen in der Ecke des Zimmers steht, mit bösem Blick an, es war doch besser als sie rastlos klapperte und mit meinen eigenen dummen Fingern weiss ich nichts anzufangen, sie sind an solche harte Maschinenarbeit nicht gewöhnt und nicht mehr daran zu gewöhnen. Aber andererseits freue ich mich, dass Sie sich jetzt erholen, ich hatte schon ein schlechtes Gewissen in der letzten Zeit, Sie zu sehr für meine Arbeit eingespannt zu haben. Hoffentlich geniessen Sie sehr den Zustand der Faulenzerei ausgiebig aus und ich darf, sobald ich wieder festen Boden unter mir habe, auf Sie zählen.

 Neues gibt es aus diesem Nest nicht zu berichten. In Zürich war ich bei Thomas Mann und bummelte abends mit Klaus und Erika, was amüsanter war, jetzt ist Maria Stuart meine einzige Gesellschaft; meine Frau kommt wahrscheinlich morgen und wir fahren dann nach Salzburg zurück, ich nur für einen Tag und dann nach Wien weiter. Bitte grüssen Sie mir die Ihren und seien Sie gewiss, dass ich immer dankbar an Sie denke. Herzlichst Ihr

 Stefan Zweig

 

Masereel war an dem Schiff, ich freute mich sehr mit ihm. Er riet Le Touquet oder Paris Plage die belebte Orte sind, nobel, aber auch mit der Möglichkeit ganz einfach zu leben. Wenn Sie hinfahren, müssen Sie ihn und seine Bilder sehen, er ist ein prachtvoller Kerl!

Lotte Altmann plante unterdessen einen gemeinsamen Urlaub mit ihrer Mutter Therese an der französischen Küste. Dabei war zu berücksichtigen, dass Therese Altmann im Gegensatz zu ihren Kindern die Bräuche und religiösen Regeln des Judentums streng beachtete.

[8]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Klosters-Platz, 11. August 1934 (Poststempel), Postkarte mit Anschrift London, Willesden Lane

Liebes Fräulein Altmann,

die Manuskriptsendung (Cap. XVIII (Teil) und XIX) ist wohlbehalten eingetroffen: vielen Dank! In den kleineren französischen Orten werden Sie kaum Hotels finden, die das Ritual einhalten, am sichersten in Ostende oder Blankenberghe, die leider aber nicht sehr erbaulich sind (kein freies Bad, provinciell belgisch-kölnisches Publicum). Möglich, dass in Paris-Plage etwas sich findet, Sie erfahren das übrigens gewiss im Londoner Rabbinat: wir frevlerische Ungläubige haben keine solchen Sorgen. Ich dürfte Donnerstag in Salzburg sein und telegrafiere noch die Wiener Adresse, sobald ich sie weiss. Immer Ihr aufrichtiger

 Stefan Zweig

 

Ich arbeite sehr brav. Es fehlen alle Störungen und Ablenkungen in diesem stillen Nest.

 

Manchmal tut es mir leid, dass alles was Sie so sauber und flüssig geschrieben haben, jetzt durch völlige Überarbeitung zerstört wird. Ihr tadelloses Manuskript sieht wie ein Schlachtfeld aus. Aber ich will fertig werden, um wieder nach London zu kommen.

Während Lotte Altmann weiter die noch in London entstandenen Kapitel der Biographie Maria Stuarts mit der Schreibmaschine übertrug, arbeitete Stefan Zweig die Texte in Klosters wieder und wieder um. Mit ihren Abschriften schickte sie ihm auch einige neu erschienene Bücher nach, die an die Londoner Adresse gelangt waren, wie die Biographie Heinrich Heines von Antonia Vallentin und The Nephew of the Almighty von Cecil Roth.

Ob das von Zweig auf der Reise nach Wien geplante Treffen mit seinem italienischen Verleger Arnoldo Mondadori in Zell am See zustande kam, ist nicht bekannt. Der Platz vor dem Hotel Regina in Wien, dessen Adresse Zweig hier bereits mitteilte, hieß seinerzeit Freiheitsplatz, nicht Votivkirchenplatz, wie er im Brief angibt.

[9]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Klosters, 13. August 1934

Montag, Klosters, 13. August 34

 

Liebes Fräulein Altmann,

ich bestätige Ihnen dankbar den Empfang von Schluss Capitel XIX, Heine und Copie von Nephew of the Almighty. Aber welcher Jammer! Sie schreiben das alles schön und rein, ich aber zerstöre und verschmiere Ihren schönen glatten Text immer wieder! Sie kennen ja (und haben sie zuerst nicht ganz verstanden) meine Ungenügsamkeit, ich habe Angst, irgend eine einzige Stelle zu übersehen, so geht es von unten nach oben, von oben bis unten, von rechts nach links, von links nach rechts, bis nicht eine einzige Stelle vernachlässigt oder übersehen ist. Mit dieser passionierten Arbeitsmethode werden Sie sich bei mir als tapfere Secretärin schon abfinden müssen – ich empfand es nur jetzt so stark, als ich Ihr herrlich sauberes Manuscript sah, auf das ich mich zu stürzen gesinnt bin. Die ganzen ersten Capitel werden jetzt von Frau Meingast noch einmal ganz neu geschrieben. Aber das ist, weiss Gott, nicht Ihre Schuld!

 Wir haben hier den Regen, der uns in London fehlte, vollzählig nachgeliefert bekommen, dennoch bleibt zu Spaziergängen Zeit und die Luft ist herrlich, sie würde Ihnen wohl tun. Ich reise wahrscheinlich am 15. ab, bleibe einen Tag in Zell am See bei meinem italienischen Verleger, dann zwei Tage in Salzburg und bin cca. am 20. August für paar Tage in Wien. Adressen telegrafiere ich noch, bitte warten Sie das Telegramm ab. Ich telegrafiere nur Wien, die Adresse ist Wien, Hotel Regina, Votivkirchenplatz (bitte das zu vermerken).

 Sehr gespannt bin ich auf Ihre Pläne. Ich sehe ungefähr so, dass ich im September zu Anfang irgendwo in der Schweiz oder in Frankreich bleibe, dann allein für einen Monat nach dem mir fast schon unentbehrlichen London gehe, von dort wohl Ende October nach America, dann vielleicht Italien mit meiner Frau, die sich sehr freuen würde, wenn Sie dann nichts besseres vorhaben und mit uns sein könnten. Aber all das ist noch nicht gewiss, es kann sich unermesslich viel ereignen; lassen Sie mich nur wissen, wo Sie sind, es freut mich immer von Ihnen zu hören und Sie wissen ja, wie dankbar ich Ihrer gedenke – auch wenn Sie die restlichen Manuscripte schon abgeliefert haben werden. Es ist nicht nur Sorge um meinen Text, dass ich Ihnen schreibe, sondern auch herzliche Gesinnung. Ich weiss genau, dass ich ohne Ihre Hilfe nicht so gut und so angenehm vorwärtsgekommen wäre. Aber ruhen Sie sich jetzt gründlich aus, ich fürchte, dass ich, kaum mit dieser Arbeit fertig, Ihnen im Herbst schon wieder viel zumuten werde. Mit den aufrichtigsten Grüssen an Ihre Familie Ihr

 Stefan Zweig

Inzwischen war auch Friderike Zweig in der Schweiz eingetroffen, um ihren Mann nach einigen Tagen gemeinsamen Aufenthalts in Richtung Österreich zu begleiten. Der bevorstehenden Reise in sein Heimatland sah Zweig mit größtem Unbehagen entgegen, denn der Affront der Hausdurchsuchung hatte seit dem Frühjahr nichts von seiner Wirkung auf ihn verloren, ganz im Gegenteil. Vor diesem Hintergrund und gewiss auch mit Blick auf die vergangenen Monate in London eröffnete Zweig seiner Frau noch in Klosters, dass er das Haus auf dem Kapuzinerberg verkaufen wolle, notfalls auch gegen ihren Willen. Lotte Altmann gegenüber sprach er in diesem Zusammenhang von Entscheidungen, die er »in der guten Londoner Zeit klug und feige hinausgeschoben« habe. Dass zudem im Juli auch noch sein Spaniel Kaspar gestorben und im Garten begraben worden war, steigerte die Abneigung gegen den Besuch in Salzburg nur, denn mehr als einmal hatte Zweig den Hund als seinen »Sohn« bezeichnet.

Die im Brief erwähnten Fotografien sind nicht erhalten.

10]Stefan Zweig an Lotte Altmann, Klosters, [wohl 14. August 1934]

z.Zt. Klosters, Hotel Weisskreuz

Adresse zunächst Salzburg

 

Verzeihen Sie, liebes Fräulein Altmann,

wenn ich Ihnen nur knapp für Brief und Sendung danke, beides gleich erfreulich. Aber ich habe hier keine so gute und hilfreiche Secretärin wie in London und Salzburg, ich muss die ganze Correspondenz allein besorgen.

 Also nur dies: ich dürfte Mittwoch oder Donnerstag in Salzburg sein, wo ich Ihre Post erwarte: inzwischen haben Sie schon telegrafischen Bescheid, wohin weiter und ich Ihre Adresse. Ist einmal die Mary Stuart abgeliefert, so haben Sie unter diesen telegrafischen Belästigungen nicht mehr zu leiden.

 Ich bin etwas beschämt, dass jene Photografien Ihrer Frau Schwägerin unsympathisch und beinahe beleidigend ausfielen, der Apparat war anscheinend schlecht gelaunt. Ich lege Ihnen sie bei, bitte Sie aber nur eine Ihrer Frau Schwägerin zu zeigen, sie würde mir mit Recht diese caricaturistisch ausgefallenen Bilder nicht verzeihen.

 Sehr freue ich mich für Sie, dass Sie an die See gehen, Sie haben es wahrhaft nötig nach all den Monaten der Plage, die ich Ihnen zugemutet habe. Ruhen Sie sich gründlich aus, trinken Sie die schöne scharfe Seeluft auf Vorrat ein für die Londoner Nebeltage!

 Alles Herzliche und Erkenntliche! Und wollen Sie so gütig sein, mich unbekannterweise Ihrer Frau Mama auf das ergebenste zu empfehlen. Meine Frau ist seit gestern hier und sendet viele Grüsse mit – etwas der schönen starken Alpenluft möchte ich gerne beilegen.

 Herzlichst Ihr

 Stefan Zweig

 

Noch einen Nachtrag. Ich weiss noch immer nicht deutlich zu sagen wie sich die nächsten Wochen gestalten werden, weil viele Entscheidungen getroffen werden müssen, alle jene, welche ich in der guten Londoner Zeit klug und feige hinausgeschoben habe. Aber Ende August sehe ich bestimmt schon klar.

 Hier in Klosters ist es still und hell, eine wunderbare Luft von den Bergen her, aber ich bin so sonderbar, mich gerade hier nach London zu sehnen. Ich verstehe es eigentlich selbst nicht wie es mir mit dieser Stadt ergangen ist. Zuerst liess sie mich gleichgiltig, ich betrachtete sie einzig vom Gesichtswinkel der Arbeit her und London ist doch wirklich keine einladende, keine froh entgegenkommende Stadt, sondern verschlossen, eine Stadt mit lauter heruntergelassenen Fensterläden. Aber je mehr ich mich einlebte und gewöhnte, desto mehr entdeckte ich mir, ich liebte die Farben, die Formen dieser Stadt, ihre besondere Atmosphäre, ich liebte sogar ihre Sonderbarkeiten dankbar, ihre Anomalien und jetzt fehlt mir unter diesem strahlend blauem Himmel dieses gedämpfte Licht und ich sässe lieber [am] Portland Place als hier unter den schönsten Bergen. Es ist schon lange her, dass eine neue Stadt, eine junge Landschaft mich so stark angefasst hat; am liebsten möchte ich ganz in London leben und ehe ich nach America reise, zieht es mich wohl noch einmal hin: auch mit meinen Verlegern habe ich dort vielerlei zu besprechen und vielleicht kommen auch die theatralischen Angelegenheiten in Schwung.

 Alles um mich ist jetzt ungewiss, aber ich fühle mich in diesem Zustand recht wohl, er hat etwas von Freiheit. Ich habe etwas Furcht, nächste Woche Salzburg zu sehen, denn im Garten hat man meinen braven Kaspar eingegraben und niemand wird begeistert an der Treppe stehen, mir entgegenzuwedeln. Aber es werden dafür so viele Menschen und Dinge auf mich warten, dass ich nach einem Tage wegfliehe und nach Wien [weiterfahre]. Im September bin ich wohl aus Österreich fort, Arbeit will getan sein und hoffentlich können Sie mir dann Ihre gute Hilfe leihen. Ich denke immer oft und herzlich an Sie – jedesmal wenn ich ärgerlich den Stoss der jetzt selbst zu schreibenden Briefe sehe, aber auch in den guten Augenblicken. Geniessen Sie gut und ausgiebig jede Stunde, ich würde mich innig freuen, hätten Sie jetzt Freude und helle Tage. Sie haben sie verdient!

Die Wiener Ballettmeisterin Margarete Wallmann mit ihrem Trauzeugen Stefan Zweig bei einem Ausflug nach Hampton Court bei London im Frühjahr 1934

Zweig begab sich mit Friderike zunächst für nur wenige Tage nach Salzburg, wo am 29. Juli die Festspiele begonnen hatten und er Bekannte und Kollegen traf. Einer namentlich nicht genannten Freundin aus Frankfurt war es offenbar gelungen, die Tausend-Mark-Sperre erfolgreich zu umgehen und die Grenze ohne Zahlung zu passieren. Zweig sah die Sopranistin Rose Walter, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten für einige Zeit am Mozarteum in Salzburg lehrte und später nach London ging, wo auch Lotte Altmann Kontakt mit ihr hatte. Außerdem kam es zu einem Wiedersehen mit der Ballettmeisterin der Wiener Staatsoper Margarete Wallmann, zu der Zweig seit geraumer Zeit ein geradezu schwärmerisches Verhältnis unterhielt und deren Trauzeuge er im Frühjahr in London gewesen war. Und schließlich besprach er mit Richard Strauss die Weiterarbeit an der Oper Die schweigsame Frau, für die er das Libretto geliefert hatte. Mit der veränderten politischen Lage in Deutschland und Strauss’ Ernennung zum Präsidenten der Reichsmusikkammer im Herbst 1933