Ida Butterblum und die Tür nach Anderswo - Irmgard Kramer - E-Book

Ida Butterblum und die Tür nach Anderswo E-Book

Irmgard Kramer

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein zeitlos schönes Buch für alle ab 9, die Geheimnisse lieben! Ida liebt Geheimnisse jeder Art. Niemand kennt die alte Holzmanufaktur besser als sie, wo sie mit ihrem Papa, Nicht-wirklich-Tanten und Eigentlich-keinen-Großonkeln wohnt. Dabei ist natürlich ihre zahme Krähe Holly stets an ihrer Seite. Als eines Tages ein rätselhafter Schlüssel vom uralten Walnussbaum im Hof fällt, probiert ihn Ida in jedem Schlüsselloch aus, bis sie plötzlich vor einer geheimen Tür steht. Klopfklopf!, ertönt es von der anderen Seite und ein Junge mit blauen Haaren stolpert in Idas Leben. Sein Name ist Storm und ganz offensichtlich erzählt er nicht die Wahrheit darüber, wo er herkommt. Doch während Ida versucht, Storms Geheimnis zu ergründen, ahnt sie nicht, dass sie eigentlich ihrem eigenen Geheimnis auf der Spur ist. Herrlich bildreich und fantasievoll erzählt von der vielfach ausgezeichneten österreichischen Schriftstellerin Irmgard Kramer. Für alle ab 9 Jahren zum Selberlesen und Zusammenlesen! Mit ganzseitigen, farbigen Illustrationen von Florentine Prechtel.   Ebenfalls von Irmgard Kramer im Arena Verlag erschienen: Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 247

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Von Irmgard Kramer im Arena Verlag erschienen:Wisperwasser. Es ist unser Geheimnis.

Irmgard Kramer,

1969 geboren, arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich als Schriftstellerin selbstständig machte.Durch ihre Kinderbücher ist sie einem breiten Lesepublikum bekannt und verzaubert Klein und Groß mit ihren abenteuerlichen und humorvollen Büchern. Irmgard Kramer lebt in Wien und im Bregenzerwald und hat den Kopf stets voller kunterbunter Geschichten.

Florentine Prechtel

alias Betina Gotzen-Beek, 1965 in Mönchengladbach geboren, wusste bereits in ihrer Kindheit, was ihre Leidenschaft ist – das Malen. Seit ihrem Grafik-Design- und Malerei-Studium illustriert sie Kinderbücher. Dabei liebt sie es, immer wieder neue Techniken auszuprobieren. Die Illustratorin lebt mit ihrer Familie in Freiburg.

Gewidmet allen Tischlerinnen und Tischlernund jenen, die das gerne werden möchten

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Innenillustrationen: Florentine Prechtel

Vorlesen macht Spaß!

Arena ist Partner der Stiftung Lesen

www.stiftunglesen.de

E-Book ISBN 978-3-401-81049-2

Besuche den Arena Verlag im Netz:www.arena-verlag.de

Die Tischlerfamilie»Holzwerk, Töchter & Compagnie«

Walnussbaum

(mindestens 1.000 Jahre alt oder so)

Ida (12),Tochter

Leonhard (38),Idas Papa, Tischler

Jasmin (35),Werkstattleiterin

Xenia (36),Tischlermeisterin

Herr Spiegel (54),Küchenplaner

Peregrinus Wunderbaldinger (89),Modellbaumeister

Alexander (23),Blasser Lackierer

Sieben-Finger-Herbert (62),Tischlergeselle

Holly,Krähe

Jeremias,Erdkröte

Apollonia,Heuschrecke

Hamlet,Norfolk-Terrier

Kapitel 1

Die Krähe und der Junge

Eine Krähe flog frühmorgens über die Stadt. Die Krähe hieß Holly. Der Sommerwind griff unter ihr Gefieder und trug sie fort aus ihrem Nussbaum, in dem sie wohnte. Holly flog weit. Sie flog über die Zuckerfabrik, über die Kirchtürme der Altstadt und den Friedhof. Sie flog über die Hochhäuser der Neustadt bis zu den Hügeln, wo reiche Leute mit verwöhnten Katzen in großen Villen lebten.

In der Platanen-Allee, vor einer besonders prachtvollen Villa, saßen vier Jugendliche auf einer Bank und schauten auf ihre Handys. Holly flog über ihre Köpfe und landete auf einem schmiedeeisernen Tor. Die Überwachungskameras zu beiden Seiten des Tors bewegten sich wie Augen in ihre Richtung. Holly putzte sich das Gefieder.

Da drangen plötzlich laute Stimmen aus der Villa. Holly flog auf einen Fenstersims und äugte hinein. Eine Stimme gehörte einem Jungen. Die andere Stimme gehörte einem Mann. Die Sonne spiegelte sich im Fenster. Holly trippelte auf dem Sims hin und her.

Unter einem Kronleuchter standen sich der Junge und der Mann an den Enden eines Tisches feindselig gegenüber. Der Junge hatte blaues Haar. Der Mann trug einen Goldring am Finger. Sie schrien sich an. Vor allem der Junge schrie. Die Zimmertür öffnete sich. Zwei andere Männer kamen herein. Ihre Muskeln passten kaum unter ihre Anzüge. Jeder trug einen Knopf im Ohr. Breitbeinig stellten sie sich links und rechts der Tür auf. Der Junge rannte auf sie zu und wollte zwischen ihnen hindurch. Hände griffen nach ihm. Ellenbogen wurden ausgefahren. Es gab ein großes Durcheinander. Der Junge ging in die Knie und presste sich beide Handflächen auf ein Auge. Herr Goldring beugte sich über ihn, um sich das Auge anzusehen. Der Junge stieß ihn weg, sprang auf und sauste um den Tisch. Einmal. Zweimal. Alle rannten ihm hinterher. Beim dritten Mal schlug der Junge einen Haken und sprintete durch die Tür, die Muskelmänner dicht auf den Fersen. Herr Goldring blieb, wo er war, und brüllte ihnen etwas nach.

Holly flatterte in den Affenschwanzbaum des parkähnlichen Gartens. Von dort hatte sie die beste Sicht auf die Haustür, die in diesem Moment aufflog. Der Junge stürmte heraus. Er hatte eine Verletzung rund um ein Auge. Während er die Marmortreppe hinunterrannte, setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf, zog eine Wollmütze auf den Kopf und ließ sein blaues Haar darunter verschwinden.

Am Ende der Treppe, wo ein Löwe aus Stein stand, bog er scharf ums Hauseck. Er sprang über ein Rosenbeet, ehe er im Sprint am Pool vorbei den Garten mit den Baumriesen durchquerte. Herr Goldring beobachtete alles vom Fenster aus. Die Muskelmänner stürmten dem Jungen hinterher. Gleichzeitig kam Leben in die Jugendlichen vor dem Tor. Sie standen von der Bank auf und rannten die Allee hinab, am Zaun entlang, außen um den Garten herum und filmten die Verfolgungsjagd. Der Junge mit den blauen Haaren zwängte sich durch eine Hecke, kletterte über die Metallspitzen des Zauns. Überwachungskameras surrten aus allen Richtungen.

Der Junge landete auf dem Asphalt und spurtete weiter. Holly flatterte auf und glitt auf leisen Flügeln hinterher. Nach wenigen Metern sprang der Junge über einen heruntergefallenen Ast in eine Regenlache, die nach dem Gewitter von letzter Nacht übrig geblieben war. Das Wasser spritzte über seine Knie bis zu den Oberschenkeln. Ohne sich nach seinen Verfolgern umzusehen, wischte sich der Junge Laub von den Jeans. Im Rennen zog er sein Handy aus der Hosentasche. Als er über eine Brücke kam, schleuderte er es in den Bach.

»Dort ist er!«, schallte es durch die Allee.

Jetzt warf der Junge doch einen Blick über seine Schulter. Die Muskelmänner waren immer noch hinter ihm her. Die Jugendlichen ebenfalls, sie filmten ihn. Hollys Herz klopfte.

Die Platanenallee ließ er hinter sich. Bei Rot flitzte er über die Kreuzung. Glück gehabt. Der Junge bog rechts ab und links, noch einmal rechts und noch mal links, während er sich fiebrig umschaute, wahrscheinlich nach einem Versteck.

Holly kannte das beste Versteck der Welt. Ein Versteck, wo man den Jungen niemals finden würde. Ein Versteck, das ihn an den sichersten Ort der Welt bringen würde. Holly hatte schon vielen Kindern in Not den richtigen Weg gewiesen. In einem Bogen flog sie tiefer, bis sie neben dem Jungen war. Er erschrak. Aber nur kurz. Im Rennen streckte er seine Hand nach ihr aus. Holly zwickte seinen kleinen Finger, flog voraus und flatterte nach links in eine Wohnsiedlung. Der Junge folgte ihr. Leider folgten ihnen auch die Muskelmänner und die Jugendlichen.

Im Zickzack flatterte Holly durch Vorgärten. Sie lotste den Jungen in die Neustadt voller Menschen, Hochhäuser und Verkehr. Innerhalb weniger Jahre war dieses Viertel aus dem Boden gestampft worden. Hier glitzerte alles. Manche Fenster funkelten wie Diamantsplitter im Licht der Sonne, die konnte Holly gut sehen. Andere hingegen lagen im Schatten und waren so sauber geputzt, dass sie höllisch aufpassen musste, nicht dagegenzuknallen. Holly lenkte den Jungen an Glastempeln vorbei, die über Wege miteinander verbunden waren. Er wurde langsamer. Die Muskelmänner holten auf. Nur wenige Meter dahinter folgten die Jugendlichen, ihre Handys auf den Jungen und auf die Krähe gerichtet. Holly und der Junge umrundeten einen gigantischen Turm aus Stahlknoten, der sich wie eine Rakete auf der Abschussrampe aus dem Boden erhob. Der Junge wich einem Typen auf einem Scooter aus und rannte vor der U-Bahn-Station im Zickzack zwischen den Menschen hindurch, die wie Ameisen aus dem Inneren der Erde kamen und kopflos in alle Richtungen eilten. Er schaffte sich freie Bahn und schloss zu Holly auf, die auf einer eingetopften Palme wartete und ein lautes »KRÄH« ausstieß. Schweiß lief ihm unter der Mütze hervor. Die Männer waren fast da, trampelten quer über den Platz. Nein, nein, nein. Holly pickte Steinchen aus dem Pflanzenkübel, flog hoch und warf sie auf die Verfolger. Verwirrt blickten die Männer nach oben und rieben sich die Köpfe. »KRÄH.« Sie hatte dem Jungen ein paar Meter Vorsprung verschafft. Leider kamen da die Jugendlichen von rechts. Holly ließ es noch einmal Steinchen regnen. Der Junge lachte.

Holly flog an der schattigen Wand eines Wohnblocks entlang. Sie setzte sich auf eine Ampel, die den Verkehr auf einer vierspurigen Straße regelte. Auf der gegenüberliegenden Seite standen zwei Hochhäuser. Dazwischen eingeklemmt war die Villa Marie, die gar nicht mehr zum Rest der in den Himmel wachsenden Neustadt passte. Die Villa stand hier schon zweihundert Jahre. Alles drum herum war neu.

Holly konnte sich noch an die alte Frau erinnern, die zuletzt hier gewohnt hatte. Seit sie tot war – und das war schon eine Ewigkeit her –, kümmerte sich keiner mehr um das Gemäuer. Die Fenster waren zerschlagen, das Dach undicht und der Kamin abgebrochen. Der wilde Garten auf der Rückseite eroberte das Haus zurück. Wurzeln krochen unter die Türen und sprengten sie heraus. Efeu überwucherte die rückwärtige Wand des Hauses. Der Junge sprang über kaputte Steinstufen zur Haustür. Auf einem Warnschild stand: »Einsturzgefahr! Betreten verboten!« Er wollte durch eine Scheibe neben der Tür ins Innere schauen, aber sie war schmutzig. Er wischte im Kreis und spähte durch das Loch hinein. Holly ließ sich sachte auf seiner Schulter nieder.

»Hier hast du mich also hingeführt«, murmelte er. »Wusstest du, dass ich als kleines Kind oft hier war? Und jetzt … du liebe Güte, schau dir das an. Ist das ein Skelett mit Hut?«

Die Krähe sah nur einen Hut auf einem Garderobenständer. Auf einmal kroch ein unangenehmer Geruch in ihre Nase. Pfui Teufel, den kannte sie nur zu gut. Das war der Hund aus der Nachbarschaft, der ständig ausbüxte. Mephisto kam laut kläffend von links und suchte Ärger. Er war muskelbepackt und hatte eine platte Schnauze. Unterdessen hatten die Männer und die Jugendlichen eine Lücke im Verkehr genutzt und eilten auf den Jungen zu. Holly stieß einen Schrei aus. Der Junge fuhr herum und sah seine Verfolger. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Abwechselnd schaute er zur Tür, auf seine Verfolger und zu Mephisto. Endlich warf er sich mit all seiner Kraft gegen die Tür. KRACH. Das Schloss brach. Er hechtete hinein und knallte – RUMS – von innen die Tür wieder zu. Holly flog auf den Fenstersims und sah, wie er mit dem Garderobenständer die Tür abriegelte. Vergeblich rüttelten die Männer am Griff. Die Jugendlichen suchten einen anderen Weg hinein.

Noch war der Junge nicht am Ziel. Holly musste ihm das letzte Stück des Weges weisen. Sie flog um die Villa Marie herum in den wilden Garten, fand ein zerbrochenes Fenster und flatterte in das finstere Gemäuer. Tauben stoben auf. Ratten sausten davon. Ansonsten war es so still, als hätte jemand den Lärm der Stadt abgeschaltet. Holly hörte nur den schnellen Atem ihres Schützlings. Der Junge schlich durch die Flure. Die Krähe konnte seine Angst fühlen. Wo war die Tür, die ihn retten würde? Holly flog von Zimmer zu Zimmer. Von Flur zu Flur. Es war lange her, seit sie zuletzt hier gewesen war.

Grelle Lichter von Handykameras huschten von draußen durch die Fensterscheiben. Holly flatterte ein Stockwerk höher. Sie flatterte ans Ende eines Gangs. Sie flog noch ein Stockwerk höher. Sie sah ein Spinnrad. Dann sah sie den Rundbogen. Und die Tür am anderen Ende des Musikzimmers. Die Tür war fast schwarz geworden. Jahrelang hatte es durchs Dach geregnet. Jahrelang war das Wasser an der Mauer entlang und über die Tür getropft. »KRÄH. KRÄH. KRÄH.«

Der Junge hatte sie gehört. Leise und schnell näherten sich seine Schritte. Schon kam er durch den Rundbogen. Er eilte auf die Tür zu, auf deren Klinke Holly wartete und ihn mit schief gelegtem Kopf ansah. Sobald er die Tür erreicht hatte, war Hollys Mission beendet. Sie beobachtete noch, wie er erst an der Türklinke rüttelte und am Boden eine Haarspange fand, mit der er im Schlüsselloch bohrte. Dann flog Holly zurück – durch die Neustadt, an der Zuckerfabrik vorbei an das andere Ende der Altstadt, zu ihrem Nussbaum, in dem normalerweise ein Mädchen saß und schnitzte.

Kapitel 2

Was einen Tag zuvor passierte

Einen Tag vorher fielen Walnüsse und ein Geheimnis vom Baum.

Der Baum war alt. Sehr alt. Eigentlich sollte er schon tot sein. Er war der einzige Baum am äußersten Rand der Altstadt, in einer Gegend, wo die Zuckerfabrik, Baumärkte, Einrichtungshäuser, Fast-Food-Ketten und eine Durchzugsstraße um jeden Quadratmeter kämpften.

Wenn der Walnussbaum starb, würde man ihn fällen, aufschneiden und zum Trocknen stapeln, so wie die dicken Holzbretter neben der Tischlerei. Manchmal blieben dort kleine Reststücke liegen, die Ida vor dem Ofen rettete. Dann kletterte sie zum Schnitzen weit hinauf in den Baum und suchte sich einen bequemen Ast. Auch jetzt hatte sie es sich im Nussbaum gemütlich gemacht, dort, wo die Blätter am dichtesten waren und einen aromatischen Duft verströmten. Rund um sie herum hingen waschkorbweise Walnüsse. Das war sehr ungewöhnlich. Die kleinen grünen Nüsse waren viel zu früh reif geworden. In Windeseile hatten sie sich eine dicke lederbraune Schale wachsen lassen, als müssten sie sich vor einer drohenden Gefahr schützen. Noch hatte niemand Zeit gefunden, sie abzunehmen.

Ida zog das Stück Holz aus der Tasche, es lag weich in ihrer Hand. Es war ein Schmeichler. Ida bearbeitete es mit dem Schnitzmesser. Am liebsten schnitzte sie Vögel. Jede ihrer Freundinnen sollte einen Vogel kriegen: Mia, Josefine, Natsuki, Lilly und Lilli. Eigentlich wollte Ida fünf verschiedene Vögel schnitzen, aber irgendwie sahen alle wie ihre Krähe Holly aus. Ida beschloss, die Vögel verschieden bunt anzumalen.

Es waren Sommerferien und Idas Freundinnen hatten die Stadt verlassen. Sie waren ans Wasser gefahren, tummelten sich am Meer, an Badeseen und Flüssen. Sosehr Ida ihre Freundinnen vermisste, freute sie sich, endlich den ganzen Tag das machen zu können, was sie am liebsten tat: Vögel schnitzen, Gitarre spielen, die Tischlerei erforschen und Geheimnisse entdecken. Es würde der beste Sommer aller Zeiten werden. Und die beste Wiedersehensparty. Ida malte sich schon aus, wie sie jeder Freundin einen kleinen bunten Vogel schenkte.

Im alten Baum schnitzte es sich am besten – nur nicht ganz, ganz oben. Denn ganz, ganz oben hatte vor langer Zeit Idas Mutter Ada gesessen. Diesen Platz würde ihr Ida ganz sicher nicht wegnehmen. Aber mal abgesehen von dem ganz-ganz-obenen Ast gab es neuerdings ein weiteres Problem: nämlich dass sie eigentlich auf überhaupt keinem Ast mehr sitzen durfte. Jeder, der in der Firma Holzwerk, Töchter und Compagnie arbeitete, hatte ihr verboten, auf den Baum zu klettern.

»Dieser Baum war schon alt, als ich ein Kind war«, sagte Peregrinus Wunderbaldinger und der war immerhin schon fast neunzig.

»Der ist hohl und verschluckt dich«, sagte Alexander, der blasse Lackierer.

»Aus dem Holz können wir nicht mal mehr einen Hocker schreinern. Wenn wir Glück haben, langt’s noch für ein paar Zahnstocher, so morsch ist der«, sagte Herr Spiegel, der silberhaarige Küchenplaner.

»Unter keinen Umständen will ich dich auf diesem Baum sehen«, sagte Tante Xenia, die Werkstattleiterin.

»Da oben hört sich der Spaß auf!«, sagte Tante Jasmin, die Tischlermeisterin.

»Tu mir das nicht an, Ida minn«, sagte Idas Vater, Leonhard Butterblum. »Ich habe schon Todesängste ausgestanden, als Ada auf dem höchsten Ast des Baumes herumgeturnt ist wie ein Eichhörnchen – da wussten wir noch nicht, dass du dich schon in ihrem Bauch eingenistet hattest.« Wie immer, wenn er über Idas Mutter sprach, bekam er diesen verliebten, traurigen Ausdruck.

Ida wollte nicht, dass ihr Vater, ihre Tanten, der uralte Peregrinus Wunderbaldinger, der blasse Lackierer Alexander, Herr Spiegel oder sonst jemand traurig wurde, nur weil sie im Baum saß. Aber wie sollte sie widerstehen? Wo das nun mal ihr Lieblingsplatz war.

Die Sonne spiegelte sich auf dem Dach der Tischlerwerkstatt, die wie das Möbelgeschäft, das Lager, die Lackiererei, der Schuppen und die vier Wohnungen (von Leonhard und Ida, von Jasmin und Xenia, von Peregrinus Wunderbaldinger und seinem Hund Hamlet, von Herrn Spiegel und seinem Fernseher) zum Vierkanthof gehörte. Hinter den Fenstern wurde gesägt, geleimt, geschraubt, gehämmert und geschliffen. Sehen konnte Ida das nicht, denn durch den vielen Staub waren die Fenster längst blind geworden.

Aus der offen stehenden Werkstatttür kreischten Bandsägen, Schleifmaschinen und Musik aus einem Radio, das immer lief. Der Lärm wurde gefressen vom noch lauteren Verkehr der Schnellstraße, die an der Hofeinfahrt vorbeiführte und im Viereck um den Hof verlief, so dicht, dass oben in den Wohnungen die Gläser in den Küchenschränken klirrten.

Manchmal in der Nacht träumte Ida, dass plötzlich alle Autos anhielten, dass es leise wurde in der Stadt, dass sich Grashalme einen Weg ans Licht suchten, den Asphalt sprengten und alles schluckten, was die Menschen gebaut hatten. Ida träumte davon, fliegen zu können. Sie träumte, über Flüsse zu fliegen, die sich statt der Straßen durch die Stadt zogen, und nichts war lauter als das Schwappen und Glucksen des Wassers gegen das Ufer und die Schläge von Idas Flügeln.

Ida lächelte den kleinen Vogel an, der sich aus ihrem Holzstück herausschälte. Und als könnte ihre Krähe Gedanken lesen, flatterte sie genau in dem Moment an ihrer Wange vorbei. Ida senkte das Schnitzmesser, zog den Kopf zwischen ihre Schultern und kicherte, als sie ein Schnabel ins Ohr zwickte. Zwei schwarze Krähenaugen blickten sie an.

»Holly!« Vorsichtig strich Ida über ihr glänzendes schwarzes Gefieder. »Wo kommst du denn her?«

Holly war die einzige Krähe, die sich von Ida streicheln ließ. Ihr Vater hatte erzählt, dass Holly zum ersten Mal aufgetaucht war, als Idas Mutter zur Welt gekommen war. Erst hatte ihm Ida nicht geglaubt, bis sie herausfand, dass Krähen so alt werden konnten wie Menschen, viel älter jedenfalls, als Ada geworden war. Aber Tote, fand Ida, sollte man tot sein lassen. Sie kümmerte sich lieber um das, was jetzt war.

Holly hatte – sofern Ida das von einer Krähe behaupten konnte – auch nicht lange um Ada getrauert, sondern war schnurstracks auf die Wiege geflattert und hatte sich neugierig Baby Ida zugewandt. Seitdem waren sie befreundet, also schon Idas ganzes Leben lang. Sie hatte Holly nun aber schon eine Weile nicht mehr gesehen. Vielleicht war die Krähe beleidigt gewesen, weil Ida in letzter Zeit so viel für die Schule hatte machen müssen. Umso mehr freute sie sich jetzt.

»Na? Wo hast du dich rumgetrieben? Ist dir langweilig ohne mich?«

Holly legte den Kopf schief. Ida streichelte sie und entdeckte eine einzelne weiße Feder. »Was ist das denn? Wirst du jetzt so alt wie der Baum?« Ida seufzte laut, dann kramte sie eine Rosine aus ihren abgeschnittenen Jeans. Geschickt schnappte Holly die Rosine mit dem Schnabel.

Reifen quietschten. Autos hupten. Holly flatterte auf, breitete ihre Schwingen aus, segelte über die Dächer und verschwand hinter einer Satellitenschüssel.

Was war da unten nur schon wieder los? Der Verkehr rund um den Vierkanthof war nervös. Irgendetwas störte seinen Fluss. Ida schob Blätter zur Seite, als würde sie einen Vorhang öffnen, und spähte nach unten.

Tante Jasmin kam aus der Werkstatt gerannt, hielt ihr Telefon ans Ohr und rief: »Ich komme hinaus auf die Straße und weise Sie ein.« Vor der Hofeinfahrt tauchte das Hinterteil eines monströsen Transporters auf. Rückwärts quälte sich das Fahrzeug durch das Tor, während es schrecklich laut piepste. Tante Xenia kam nun auch noch aus der Werkstatt geeilt – einen Moment glaubte Ida, Xenia sei plötzlich grau geworden wie Holly, aber es war nur eine Staubschicht, die auf ihrem raspelkurzen, akkurat geschnittenen dunklen Haar lag.

Die beiden Tanten wiesen den Transporter ein und achteten darauf, dass er nicht rückwärts in den Brunnen fuhr und keines der im Innenhof geparkten Fahrräder, Leonhards Lastenrad, Herrn Spiegels poliertes Auto, Jasmins Motorrad oder Alexanders Moped streifte. Nur nach oben sah niemand.

»Haaalt!«, brüllte Ida, klappte ihr Messer ein und steckte es mit dem kleinen Vogel in die Hosentasche, um nach unten zu klettern. Zu spät. Ein Kranausleger rammte den Nussbaum und erschütterte ihn bis ins Mark. Holly krähte laut über die Dächer. Ida fuhr zusammen, als hätte sie selbst den harten Stoß in die Rippen bekommen. Sie schlang ihre Arme um den Stamm, während der alte Baum zitternd seine reifen Früchte abwarf, als müsste er sich damit gegen den Angreifer verteidigen.

Es prasselte Nüsse. Jasmin und Xenia hielten sich schützend die Arme über die Köpfe. Dann krachte es. Ein großer Ast, tief unter Ida, brach ab. Ida hielt die Luft an. Mit dem Bauch presste sie sich gegen den Stamm, atmete den Duft der Rinde ein und hoffte, nicht aus der Krone geschüttelt zu werden. Ihr war, als stoße der Baum einen tiefen Seufzer aus. Nur langsam kam er zur Ruhe. Ida strich über die Rinde.

Nüsse lagen auf dem Transporter und auf dem Kies. Die Tanten starrten den heruntergekrachten Ast an und hoben sorgenvoll ihre Blicke, als der Fahrer des Transporters seinen Kopf aus dem Fenster steckte und rief: »Ist was passiert?«

Die Tanten drehten sich zu ihm. Glück gehabt, dachte Ida, weil niemand zu ihr heraufsah.

»Keinen Meter weiter!«, rief Tante Xenia dem Fahrer zu.

»Lassen Sie den Transporter stehen, wo er ist«, befahl Tante Jasmin. »Wir sind in einer Minute zurück!«, rief Tante Xenia.

»Wir holen nur rasch Handschuhe und den Rollwagen«, sagte Tante Jasmin.

Während die Tanten in die Werkstatt eilten, bot sich Ida die letzte Chance zu verschwinden, ohne dass wegen ihr alle unglücklich wurden.

Mit klopfendem Herzen kletterte sie vom Baum. Und dann war da plötzlich dieser tiefe Abgrund, der entstanden war, weil der unterste, größte Ast fehlte. Angst hatte Ida keine. Schließlich war sie schon im Kindergarten vom Zehnmeterbrett gesprungen – wofür es übrigens ein Riesendonnerwetter von Leonhard gegeben hatte, weil sie noch nicht schwimmen konnte. Trotzdem war sie sich nicht ganz sicher, wie sie den Sprung von diesem Baum schaffen sollte.

Unter der Spitze des Astes, auf dem sie kauerte, sah sie die Ladefläche des Transporters. Dorthin müsste es zu schaffen sein … falls der Ast nicht brach. Für den Rest musste ihr Glück sorgen und das Glück hatte Ida noch nie verlassen.

Auf dem Bauch liegend robbte sie den Ast entlang nach außen. Holly hatte da leicht krähen – ihre gefiederte Freundin saß auf der Dachrinne und schrie sich die Kehle aus dem Leib. Du wirfst mich nicht ab, lieber Baum, ja? Ida verfrachtete eine grüne Raupe auf einen Zweig, um sie nicht zu zerquetschen. Ein kleines Stückchen noch. Sie duckte sich unter einer Spinne hindurch, die ihr Netz flickte. Der Ast wurde dünn und dünner. Er ächzte wie ein Schiffswrack und bog sich durch. Jedes einzelne Blatt zitterte. »Jetzt seid mal nicht alle so nervös hier«, murmelte Ida. Sobald sie über der Ladefläche angekommen war, schwang sie beide Beine nach unten und ließ sich darauf fallen. PLONK. Danke, lieber Baum! Danke, liebes Glück!

»Was machst du denn da oben?«, rief Tante Xenia, die sich aus der Werkstatt kommend ihre Arbeitshandschuhe anzog.

»Ähm … Nüsse auflesen«, sagte Ida wie die Unschuld in Person, kroch auf der Ladefläche herum und stopfte sich die Nüsse unters T-Shirt und von allen Seiten in ihre kurzen Hosen.

»Eine einzige Sauerei hier«, begann Ida sich aufzuregen. »Ist ja auch allerhand! Man kann doch nicht einfach unseren Baum rammen. Der ist ja nicht mehr der jüngste. Hat schon eine Menge mitgemacht, Milben und Läuse und das alles. Armer alter Baum. Ein ganzer Ast ist abgebrochen. Stellt euch mal vor, was da alles passieren kann. Erschlagen könnte man werden. Herrjemine. Stellt euch mal vor, da kommt in einer Vollmondnacht ein Liebespaar, um unter dem Baum zu knutschen, und wird dabei erschlagen. Oder eine Kundschaft zum Beispiel – kommt wegen einer verklemmten Schublade und geht mit einer Gehirnerschütterung. Oder eine knutschende Kundschaft mit verklemmter Schublade. Nicht auszudenken!« Künstlich schimpfend sprang sie vom Transporter und fiel mit den nackten Knien auf den Kies. Aua! Ida biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und klopfte sich den Dreck von den Knien, wobei Nüsse aus ihrem T-Shirt kullerten.

»Tut mir leid«, sagte der Fahrer und stieg mit erhobenen Armen aus dem Führerhaus.

»Mir tut es leid!«, entgegnete Ida. »Leid um den Ast und den Baum und die Nüsse und das alles! Zum Glück haben sie es noch geschafft, reif zu werden, bevor Sie gekommen sind.« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und eilte an den Tanten vorbei, die ihr verblüfft hinterhersahen und auch ein kleines bisschen lächelten.

Kaum außer Sichtweite, hielt Ida inne und rieb ihre schmerzenden Knie.

Lackgeruch stach ihr in die Nase. Alexander, der blasse Lackierer, fuhr mit der fauchenden Spritzpistole über Holzplatten und färbte sie taubenblau, keiner konnte das so gut wie er. Er war so in seine Arbeit versunken, dass er Ida nicht bemerkte. Kurzerhand schüttete sie alte Lumpen aus der dafür vorgesehenen Kiste.

»Darf ich mir die kurz ausleihen?«

»Kannst du behalten«, sagte Alexander, »aber du könntest mir mal wieder Gesellschaft leisten und mir einen Schwank aus deinem Leben erzählen.«

»Wo denkst du hin?«, rief Ida. »Ich hab große Ferien. Ich hab zu tun.« Mit der Kiste in beiden Händen ging sie zurück in den Hof, um die Nüsse aufzulesen, bevor sie von dem tonnenschweren Transporter zu Nussbrei gewalzt wurden.

Ida liebte Nüsse. Wegen der harten Schale und der gemütlichen Winterabende, die sie gemeinsam mit Aufklopfen verbrachten – Ida, Leonhard, Tante Xenia und Tante Jasmin, die eigentlich gar nicht Idas Tanten, ja nicht einmal Schwestern, sondern nur verheiratet waren. Sie leiteten die Werkstatt schon länger, als Ida auf der Welt war.

Während es draußen schneite, schlürften sie Orangenpunsch, stopften Spekulatius und Walnusshälften in sich hinein und die Erwachsenen erzählten Geschichten aus der Tischlerei, über die Ida so viel lachen musste. Ohne Nüsse keine Winterabende.

Also sammelte sie Nüsse im Akkord auf, während der Lieferant breitbeinig auf seinem Transporter stand und mit einem Kran dicke Eichenholzbretter herunterhievte, die Xenia und Jasmin entgegennahmen und auf dem Rollwagen stapelten.

Unterdessen brauste der Verkehr, der niemals stillstand, an der Einfahrt vorbei und schickte seinen Geschmack von Diesel und Benzin in den Hof. Einige Nüsse lagen unter dem heruntergebrochenen Ast. Ida strich über den Ast und zupfte ein wenig Moos ab. »Na, was möchtest du in deinem neuen Leben werden? Was soll ich aus dir schnitzen? Einen Storch? Einen Seeadler? Einen Flamingo oder doch eine Holly?«

Der Transporter fuhr aus dem Hof. Der Boden vibrierte und die Äste zitterten noch einmal. Und plötzlich, als hätte es sich mit letzter Kraft oben festgekrallt, landete etwas Klobiges auf Idas Hinterkopf.

Sie schüttelte sich und rubbelte über die schmerzende Stelle. Vor ihren Füßen lag ein großes, altes Nest. Ein zauberhaftes Gebilde aus Zweigen, Federn, Flaum, Wolle, Papier, Bändern, Sägespänen und Rinde. Eng verflochten und stabil. War das etwa … Hollys Nest? Aber es schien schon alt zu sein. Ida hob es auf. Es war richtig schwer! Deswegen also tat ihr die Stelle am Hinterkopf so weh. Das würde eine Beule geben.

Ida drehte das Nest. Im Inneren glänzte etwas. Alupapier? Ein Stück Drahtbügel? Ein Schmuckstück? Nein, das sah nach etwas anderem aus. Ida platzte vor Neugier, sie liebte Geheimnisse und musste unbedingt wissen, was für Schätze Holly in ihrem Nest versteckte. Das konnte nur ein großer Schatz sein! Denn die Krähe, das wusste Ida schon lange, war insgesamt das größte aller Geheimnisse.

Kapitel 3

Der Schatz

Schnell vergrub Ida das Nest mit dem Schatz unter den Nüssen in der Kiste und überlegte sich, wo sie es in Ruhe erforschen konnte. Rund um sie herum arbeiteten zu viele Menschen, die es sich angewöhnt hatten, ein, meistens aber zwei Augen auf Ida zu werfen. Das war vielleicht noch ganz okay gewesen, als Ida in Windeln gesteckt hatte und zu laufen begann. Aber inzwischen ging es ihr ordentlich auf den Wecker, dass es immer höchstens eine Stunde dauerte, bevor ihr Verschwinden jemandem auffiel und der Erste anfing zu fragen: »Wo steckt eigentlich Ida?«

Wie ein seidener Papierflieger flog dieser Satz von einer Wohnung in die andere, von Balkon zu Balkon, hinunter in die Tischlerei, wurde von Werkbank zu Werkbank getragen, durchquerte den Spritzraum, die Modellbauwerkstatt von Peregrinus und das Lager, bis er zuletzt bei Leonhard im Verkaufsraum landete, der sich dann daranmachte, Ida zu suchen.

Zum Glück kannte Ida eine Menge Verstecke in den verwinkelten Gemäuern. Das musste einen nicht wundern, schließlich hatte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als die Tischlerei zu erforschen. Das machte ihr großen Spaß. Ganz bestimmt war sie die größte Entdeckerin unter den Butterblums.

Im Erdkeller, hinter dem Heizungskeller, wo Kartoffeln und Äpfel lagerten, hatte sie einmal einen Knochen ausgegraben, der nun auf ihrem Schreibtisch lag. Im Weinkeller hatte sie unter einem leeren Fass eine Steinplatte entdeckt. Sie hatte nicht lockergelassen, ehe Leonhard, Xenia und Jasmin die Platte zur Seite geschoben hatten. Darunter war ein Brunnenschacht zum Vorschein gekommen, in dem es tief unten plätscherte. In einer Ziegelmauer hatte Ida einen Pfotenabdruck gefunden, der Hunderte von Jahren alt sein mochte und vielleicht von einem Wolf stammte. Im Dachboden hatte sie Postsäcke aus dem Krieg und einen verrosteten Säbel von einem Ururur-irgendwas-Opa im Gebälk aufgestöbert. Als Leonhard in das neue Büro gezogen war, hatten sie den Teppich herausgerissen, und Ida war auf eine Falltür gestoßen, die über eine Treppe in einen Geheimgang führte, der unterhalb des Hofes in einen anderen Keller mündete. Hinter einer Ziegelwand hatte Ida ein Röhrchen mit der Aufschrift »Alka-Seltzer« gefunden. Darin waren aber keine Tabletten gewesen, sondern Münzen aus vergangenen Zeiten.

Mit allem, was Ida schon entdeckt hatte, war sie sich sicher, würde sie bald ein Museum eröffnen können. Nun also ein Krähennest, in dem ein Schatz verborgen war. Ida beschloss, sich in ihrem eigenen Nest im Dachboden zu verkriechen. Dort hatte sie am meisten Ruhe, weil es allen viel zu heiß war unter dem Dach.

Sie zerrte, schob und zog die Kiste mal von hinten, mal von vorne, zur Hintertür des Möbelgeschäfts, das für seine Küchen nach Maß in der ganzen Stadt bekannt war. Hier lag kein Staub. Die Böden waren spiegelglatt und die ausgestellten Küchen strahlten im glänzenden Licht perfekt ausgerichteter Scheinwerfer.

Die Nägel der Kiste kreischten über den glatten Boden, als Ida sie am Schaufenster vorbeizog, in Richtung der Theke, wo Idas Vater mit einer Kundschaft Kaffee trank und eine Küche plante.

»Für die Arbeitsfläche würde ich Ihnen Naturstein empfehlen, strapazierfähig und sehr elegant. Da hätten wir Granit, Marmor oder Schiefer«, sagte Leonhard Butterblum mit seiner warmen, vertrauenerweckenden Stimme und schaute von dem quadratischen Muster, das er in der Hand hielt, neugierig zu seiner Tochter, die die Nusskiste zu seinen Füßen vorbeizog.

»Ida minn, bist du unter die Nussknacker gegangen?« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu.