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Wolfgang Roth

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Beschreibung

Nach erfolgreichen Vertragsverhandlungen hat der IT-Firmengründer Henning Bergner den ersten Großauftrag für sein Startup-Unternehmen abgeschlossen. Am späten Nachmittag macht er sich mit dem Auto auf den Heimweg zu seiner Familie. Im Hintergrund läuft leise seine Lieblingsmusik. Er genießt entspannt die Fahrt in der landwirtschaftlich geprägten Gegend. Bei einbrechender Dunkelheit ahnt er nichts von den kommenden Ereignissen, die nicht nur sein eigenes Leben schicksalhaft verändern werden.

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Wolfgang Roth

Identities

Das zweite Leben

Zu diesem Buch

Nach erfolgreichen Vertragsverhandlungen hat der IT-Firmengründer Henning Bergner den ersten Großauftrag für sein Startup-Unternehmen abgeschlossen. Am späten Nachmittag macht er sich mit dem Auto auf den Heimweg zu seiner Familie. Im Hintergrund läuft seine Lieblingsmusik. Er genießt entspannt die Fahrt in der landwirtschaftlich geprägten Gegend. Bei einbrechender Dunkelheit ahnt er nichts von den kommenden Ereignissen, die nicht nur sein eigenes Leben schicksalhaft verändern werden.

Wolfgang Roth, geboren 1950 in einem Dorf in Oberfranken, holte nach Mittlerer Reife, Maurerlehre und den Jahren als Zeitsoldat, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und studierte Psychologie in Würzburg und München. Danach arbeitete der promovierte Psychologe und Psychotherapeut lange Jahre in der Luftfahrtpsychologie, zuletzt als leitender Fliegerpsychologe der Luftwaffe. Über eine lang gehegte Romanidee fand er seinen Weg zum literarischen Schreiben. Seit 2016 veröffentlicht er Kurzgeschichten. „Identities“ ist sein erster Roman. Er hat eine erwachsene Tochter und lebt mit seiner Frau in der Nähe von München.

Wolfgang Roth

Identities

Das zweite Leben

Roman

© 2019 Wolfgang Roth Autor: Wolfgang Roth

Umschlaggestaltung: mediastellwerk.de Illustration: StockSnap auf Pixabay

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

978-3-7497-6302-3 (Paperback)

978-3-7497-6303-0 (Hardcover)

978-3-7497-6304-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Ereignisse und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Margitta

1 KAPITEL

Henning Bergner ließ die schwere Limousine laufen. Die Straße war griffig, der Verkehr überschaubar. Klassische Musik klang aus den Lautsprechern. Die Fahrt in der ländlichen Gegend entspannte ihn. Endlos zogen die Felder vorbei.

Nach einiger Zeit verdunkelte sich der frühherbstliche Himmel und aus tief hängenden Wolken fielen erste Regentropfen. Widerwillig quietschend schoben die Wischer das Wasser von der Scheibe.

Von draußen mischte sich ein anschwellendes Knattern und Fauchen in die Musik. „Der dreht ganz schön auf“, dachte er sich. Im selben Augenblick schoss das Motorrad aus der Kurve auf ihn zu. Der Helm ruhte fast auf dem Lenker.

Instinktiv riss er das Lenkrad nach rechts und bremste kurz scharf ab. Die Maschine raste dicht am Seitenspiegel vorbei in die hereinbrechende Nacht. Sekundenbruchteile später spürte er einen Schlag gegen das Auto. Hilflos sah er, wie der Wagen von der Straße abhob. Verzweifelt hielt er das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert. Gedankenfetzen hetzten durch seinen Kopf: … das Auto … ich krieg Dich! … nein! … Christine … Jenny …!! Beim Aufprall in einem Maisfeld wurde er aus dem Wagen geschleudert.

In der beginnenden Abenddämmerung fuhr Franz-Josef Berwanger von der Feldarbeit zu seinem Hof zurück. Die langen Tage fielen dem Bauern zunehmend schwer. Er war müde. In solchen Momenten dachte er wehmütig an Ludwig, seinen verlorenen Sohn, der die Familie vor zwei Jahren im Streit verlassen hatte. Er fehlte ihm. Der Hof drohte zu verfallen. „Mit ihm wäre vieles leichter …“, grübelte er oft schwermütig. Diese Gedanken ließen ihn nicht mehr los und nagten an seiner Seele.

Es hatte leicht zu regnen begonnen. Als er vom Traktor stieg, drang ein aufheulendes Dröhnen an sein Ohr. Es rollte über die Maisfelder auf den Hof zu und verfing sich im Gebälk des Scheunenbodens. Der Ton deutete auf ein schnelles Motorrad hin. Das war nichts Neues für ihn.

Die Strecke war beliebt bei Bikern, da sie hier die Kraft ihrer Maschinen ausreizen konnten. „Sie sind wieder unterwegs“, sinnierte er.

Dann hörte er ein scharfes Bremsen, Sekunden später einen dumpfen Knall. Die Motorradgeräusche entfernten sich.

Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Er schwang sich auf den Trecker und fuhr in Richtung Landstraße.

Nach einigen Minuten sah er im Licht der Scheinwerfer aus einem Maisfeld heraus Rauch aufsteigen. Er hielt an, zog die Stablampe aus der Halterung links vom Steuerpult und stieg vorsichtig herunter. Hastig bahnte er sich einen Weg durch das Maisfeld. Nach einigen Metern erblickte er eine Schneise aus zerfetzten Maisstangen. Keuchend blieb er stehen. Weiter hinten sah er ein Auto auf dem Dach liegen. Ein leichter Wind verwirbelte den Rauch, der aus dem Motorraum drang.

Vorsichtig näherte er sich dem Wrack und suchte das Fahrzeug ab. Es war niemand zu sehen. Dann sah er eine leichte Erhebung zwischen den Maisstangen. Der Lichtkegel der Taschenlampe flatterte.

Als er näher kam, entdeckte er eine Gestalt, die auf der Seite lag. Er beugte sich hinunter und blickte in ein blasses Gesicht. Er erkannte ihn sofort.

„Ludwig!“, entfuhr es Berwanger. Vor Schreck ließ er die Taschenlampe fallen. Der Lichtstrahl verlor sich einige Augenblicke in der Unendlichkeit des Maisfeldes.

Hektisch griff er nach der Lampe und leuchtete die Person noch einmal an. „Ludwig“, flüsterte er, als ob ihn jemand belauschte. „Was ist passiert?“ Er nahm das Licht zur Seite. „Woher kommst Du? Wo warst Du so lange?“, stammelte er hilflos.

Doch er bekam keine Antwort. Dann sah er das Blut. In fliegender Hast sprang er auf den Traktor. Er hatte schon zu viel Zeit verloren. Der Motor heulte auf.

Berwangers Nichte Klara deckte gerade den Tisch für das Abendessen, als sie die kreischenden Bremsen des Traktors und die lauten Rufe ihres Onkels hörte, der ins Haus hetzte. Eine ungute Vorahnung ergriff sie.

Sie hatte sich vorher noch gewundert, dass ihr Onkel nach seiner Rückkehr vom Feld noch einmal weggefahren war. „Hat er wieder etwas vergessen“, hatte sie sich gefragt. Seit dem Tod ihrer Tante Franziska kümmerte sie sich aufopfernd um den Bauern.

Berwanger stürmte herein, sein abgetragener Blaumann war durchnässt, sein Haar hing wirr herunter. „Ein Unfall … schnell!“, stieß er hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Klara an. „Es ist Ludwig.“ „Ludwig?“, fragte sie zweifelnd. „Wo?“

„Dort drüben“, deutete der Bauer fuchtelnd in Richtung der Maisfelder an der Straße. „Er ist verletzt.“

Ihre Gedanken wehrten sich gegen die Vorstellung, dass dort draußen Ludwig liegt. „Bist Du Dir sicher, dass es Ludwig ist?“

„Er ist es!“, sagte er immer wieder. Er presste die Laute buchstäblich zwischen seinen Lippen hervor. Dabei bedeckte er seine Ohren mit beiden Händen, als wolle er seine Gedanken nicht mehr hören.

Klara sah, wie es in ihm arbeitete. „Wir müssen den Notarzt rufen“, sagte sie.

„Nein, keinen Notarzt, bis der hier ist. Du bist doch Krankenschwester! Schnell, er blutet! Er muss ins Haus, komm!“. Er schleuderte ihr seine Wortfetzen mit lauter werdender Stimme entgegen. Sein Gesicht war fratzenhaft verzogen.

Sie versuchte, ihn zu beruhigen. „Gut“, sagte sie, „aber später rufen wir einen Arzt an.“ Berwanger nickte.

Beim Hinausgehen nahm sie den Erste-Hilfe-Koffer mit, der im Hausflur unter dem Treppenaufgang stand.

Als Klara im Licht der Stirnlampe das Gesicht des Unfallopfers betrachtete, erkannte sie sofort, dass es nicht Ludwig war, der da vor ihr lag. „Sag‘ was du willst, es ist nicht Ludwig. Mein Gott, er hat sich schon so verrannt in diesen Gedanken“, dachte sie ratlos. Sie stillte die Blutung, die von einem eingerissenen Ohrläppchen kam. Dann prüfte sie die Vitalfunktionen.

„Lebt er?“, fragte der Bauer aufgeregt. Sie sah, wie seine Hände zitterten.

„Ja, aber er atmet schwach. Wir müssen ihn ins Haus bringen.“

Sie hatte einen Plan: „Fahr‘ zurück zur Scheune, bau‘ den Gabelstapler an und bring‘ ein paar Decken und Kissen mit.“

Der Bauer reagierte sofort. „… und die große Holzplatte, die hinten in der Scheune steht!“, rief sie ihm nach.

Er stieg auf den Traktor, fuhr zurück zum Hof, kurvte in die Scheune, baute eilig den Gabelstapler an, hastete ins Haus, wo er Kissen und Decken zusammenraffte.

„Die Holzplatte“, schoß es ihm durch den Kopf, als er schon wieder auf dem Traktor saß. Er fand sie neben der Kreissäge und hob sie auf.

Dann hörte er Stimmen: „Du bist ein Versager! Du hast Ludwig vom Hof verjagt! Hast Franziska auf dem Gewissen. Und Klaras Glück. Du klammerst Dich an einen Strohhalm, dass dort draußen Ludwig liegt. Aber er ist es nicht. Und Du weißt es!“, tobte es in seinem Kopf. Die Stimmen wollten nicht aufhören. Der Bauer ließ die Platte fallen und rannte in die Ecke, in der er sie vermutete. Ein höhnisches Lachen begleitete ihn.

Draußen im Maisfeld untersuchte Klara den Verletzten genauer. Sie tastete ihn vorsichtig ab. Bei einer Berührung an der Schulter stöhnte er auf. Sie fixierte sie mit einem Verband.

Die Untersuchung beseitigte ihre letzten Zweifel: „Nein, du bist nicht Ludwig. Du siehst ihm ähnlich, das ist aber auch alles. Ich kenne Ludwig besser als alle anderen, seine Ausstrahlung. Wenn du aufwachst, wird sich alles klären“.

In der Zwischenzeit war Berwanger wieder an der Unfallstelle angekommen. Er lud die Holzplatte ab, legte sie mit der langen Seite neben den Verletzten und breitete einige Decken darauf aus.

„Ich habe ihn notdürftig versorgt. Er scheint sich nichts gebrochen zu haben“, raunte Klara dem Bauern zu. „Der Mais hat den Aufprall abgefangen“, vermutete Berwanger. „Wo wollen wir ihn denn unterbringen?“, fragte er.

„Wenn Du einverstanden bist, legen wir ihn in die Kammer hinter der Küche“, sagte Klara zögernd.

Sie wusste, dass das ein heikler Vorschlag war. In der Kammer hatte sie ihre Tante Franziska bis zu ihrem Tod gepflegt. Der Bauer hatte den Raum seither nicht mehr betreten. Nach kurzer Überlegung stimmte er zu.

Vorsichtig hoben sie den Verletzten an der rechten Seite an und schoben die Holzplatte unter seinen Körper. Dann wickelten sie ihn in die Decke, stabilisierten seinen Kopf mit den Kissen und sicherten alles mit zwei Spanngurten. Gemeinsam schoben sie das schwere Paket auf den Gabelstapler. Der Bauer fixierte die Platte auf den glatten Stapler-Gabeln mit zwei weiteren Spanngurten. Klara setzte sich neben dem Unfallopfer auf das kalte Eisen.

Vorsichtig ließ Berwanger den Traktor anrollen. Das Fahrzeug schaukelte, als er auf den Feldweg fuhr. Spontan ergriff Klara die rechte Hand des Mannes und hielt sie fest, bis sie auf dem Hof ankamen. Dabei verspürte sie einen leichten Gegendruck.

***

Die Konferenz mit der Firma „Thalmann & Sohn“ lag zu diesem Zeitpunkt erst wenige Stunden zurück. Bei den Verhandlungen hatte Henning Bergner den Zuschlag für einen Großauftrag bekommen, der das Überleben seiner kleinen Firma sichern sollte.

„Papi, wann kommst Du?“, hatte Jenny sehnsüchtig gefragt, als er kurz vor der Abfahrt noch einmal zuhause angerufen hatte. „Bald Jenny, Papi kommt bald“, hatte er geantwortet und dabei wieder dieses Ziehen in der Magengrube verspürt. „Fahr‘ vorsichtig“, hatte Christine ihn sanft ermahnt, so wie immer, wenn er unterwegs war.

„Auf Wiedersehen, Herr Bergner, kommen Sie gut nach Hause“, hatte Karl Thalmann zum Abschied gesagt, „es ist spät geworden.“ „Spät … ja, das kann man wohl sagen“, hatte er nachdenklich erwidert. Das Angebot des Firmenchefs, doch noch hier zu übernachten, hatte er nach kurzer Überlegung abgelehnt.

Er wollte heim zu seiner Familie.

Und er wollte am nächsten Morgen in der Firma sein, um zusammen mit seinem Kompagnon Burkhart Wagner dem Team von dem wichtigen Vertragsabschluss zu berichten.

„Ich wusste, dass er es schafft“, hatte sich Christine Bergner nach Hennings Anruf gefreut. „Jetzt wird alles besser! Unsere Finanzen, der ganze Druck, der Stress, sein Magen … aber … er muss jetzt kürzertreten.“ Hennings angegriffene Gesundheit war das Thema der letzten Wochen. „Ein Kurzurlaub, das wär‘s! Schon morgen werde ich buchen!“

Sie saß entspannt im Wohnzimmer und hatte sich nach diesem aufregenden Tag ein Glas Wein eingeschenkt. Ein leeres Glas für Henning stand bereit. Jenny schlief schon. Sie war zu müde gewesen, um auf ihren Papi zu warten.

Es war ihr Ritual, wenn sie abends zusammen saßen, nachdem Jenny schon im Bett war. Dann genossen sie die Ruhe. „Unsere kleine Abschlusskonferenz“, sagte er oft scherzhaft. „Das wird heute Abend auch so sein“, sagte sie sich und lächelte zufrieden. Dabei schaute sie auf die Uhr.

Sie war immer etwas beunruhigt, wenn Henning unterwegs war. Der Grund dafür war ein Unfall, den er vor einigen Jahren zusammen mit Burkhart Wagner erlitt. Auf dem Weg zur Baustelle ihres Firmengebäudes krachte ein Auto mit voller Wucht in den Jeep und schleuderte den Wagen in den Straßengraben. Der Wagen überschlug sich zweimal und kam erst auf der Böschung zum Stehen.

Den beiden passierte damals fast nichts, einige leichtere Blessuren. Henning Bergner hatte oft erzählt, dass ihm die Zeit nach dem Aufprall bis zum Stillstand des Wagens „wie eine Ewigkeit“ vorgekommen sei. Sein Leben sei damals wie in Zeitlupe vor seinem geistigen Auge vorbeigezogen.

Sie griff zum Telefon.

„Hallo Burkhart, hast Du etwas von Henning gehört?“

Burkhart Wagner kannte Christine seit dem ersten Schultag. Sie weckte schon damals den Beschützerinstinkt in ihm. Oft hatte er sie gegen andere Kinder verteidigt. Sie waren wie Geschwister. Später hoffte er, dass mehr daraus werden würde. Doch bekommen hat er sie nie. Als Christine mit Henning zusammen war, erkannte er, dass er sie endgültig verloren hatte.

Er spürte ihre Unruhe.

„Nein, ich habe noch nichts von ihm gehört“, sagte er. „Aber mach Dir keine Sorgen. Vielleicht hat er sich mal wieder in seiner Musik verloren, das wäre ja nicht ungewöhnlich!“

***

Ludwig Berwanger hatte seine überstürzte Flucht längst bereut. In seinem Stolz schwer verletzt, sah er damals keine Perspektive auf dem Hof. Selbst die Sorge um die Eltern und die Zuneigung zu Klara konnte ihn nicht zurückhalten. Dabei war er es, der den Hof grundlegend sanieren und modernisieren wollte. Ihm schwebten Solarund Biogasanlagen vor, später vielleicht ein Windrad. Er war begeistert von seinen Plänen und in seinen Träumen sah er die neuen Anlagen schon vor sich. Seine Mutter Franziska unterstützte seine Pläne, allein der alte Berwanger lehnte sie immer wieder brüsk ab.

Doch Ludwig Berwanger hatte schon mit der örtlichen Bank gesprochen und ausgelotet, wie das alles finanzierbar sei.

Als sein Vater durch einen fehlgeleiteten Brief der Bank davon erfahren hatte, kam es zum Eklat. „Ich werde Dich enterben“, hatte er ihn angeschrien. Ludwig Berwangers Traum zerplatzte. Nach seiner Flucht hatte er sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen.

Wieder einmal arbeitslos, blätterte er eines Abends müde und lustlos in den Stellenanzeigen einer Zeitung, die er aus einer Mülltonne gefischt hatte. Als er auf die Anzeige eines großen Ölkonzerns stieß, war er hellwach. Das Unternehmen suchte für eine Off-Shore-Plattform im Atlantik technisch begabte und körperlich belastbare junge Männer, die abenteuerlustig und psychisch stabil waren.

Es war es ihm, als würde sich eine Tür öffnen, zunächst nur einen Spalt, aber der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was ihn hinter dieser Tür erwartete. Und er war in gleichem Maße davon angezogen wie auch abgestoßen. Aber er konnte es drehen und wenden wie er wollte, ihm wurde schnell klar: „Das ist mein Job.“

Als Landmaschinenmechaniker hatte er reichlich Erfahrung im Umgang mit Technik. Zudem war er ein besonnener Mann, der in der Lage war, Risiken einzuschätzen.

Am nächsten Tag fuhr er zur Niederlassung der Firma. Man wurde sich sehr schnell einig. Das Visum war in wenigen Tagen erteilt. Eine Woche später packte er seine Habseligkeiten.

Als er am Flughafen den Abfertigungsbereich verlassen wollte, kamen zwei Polizeibeamte auf ihn zu.

„Herr Berwanger, Ludwig Berwanger?“, fragte der eine.

Ludwig war überrascht: „Ja, das bin ich … aber?“

„Sie verreisen?“

„Ja, beruflich. Gibt es ein Problem?“

„Nein, nicht direkt. Aber es gibt eine Vermisstenanzeige“, antwortete der Beamte, „Ihre Familie.“

„Eine Vermisstenanzeige?“, fragte Ludwig überrascht und erklärte: „Ja, ich bin im Streit gegangen. Aber meine Zukunft liegt jetzt woanders.“

„Das steht Ihnen frei“, erklärte der Beamte. „Oder hat Sie jemand gezwungen?“, fragte er nach.

„Nein, nein“, sagte er lachend, Dabei holte er die zerknitterte Stellenanzeige aus der Geldbörse und reichte sie den Beamten.

„Hier! Das ist der Grund. Und ich habe einen Arbeitsvertrag.“

Er machte Anstalten, den Vertrag aus seinem Rucksack zu nehmen. „Den Vertrag brauchen wir nicht. Sie können sich frei bewegen.“

Der Beamte zögerte. „Sollen wir Ihrer Familie Bescheid sagen?“

Ludwig überlegte einige Sekunden. Mit den Gedanken an Klara sagte er: „Ja, Sie können ihnen sagen, dass es mir gut geht.“

***

Henning und Christine kannten sich seit ihrer Zeit auf dem Gymnasium. Sie fand Gefallen an dem langen und sportlichen Kerl. Schon beim Abschlussball hatten sie mehr als einmal innig getanzt. Gefunkt hat es aber erst in der Zeit nach dem Abitur.

Beide gingen damals mit dem Gefühl auseinander, dass mehr daraus werden könnte. „Sehen wir uns wieder“, fragte sie ihn damals. „Klar!“, erwiderte er locker.

Aber so sicher waren sie sich nicht und es dauerte dann doch einige Zeit, bis sie sich - eher zufällig - wiedertrafen. „Christine, so ein Zufall.“ „Henning, wie geht`s. Das ist ja eine Überraschung.“

Danach verabredeten sie sich immer öfter. Ins Kino, ins Café, zum Tanzen. Sie wurden ein Paar. Beide studierten Wirtschaftsinformatik. Sie heirateten früh.

Als Jenny kam, gab Christine ihr Studium auf, um für ihr Kind da zu sein. Später, als die Kleine in den Kindergarten ging, arbeitete sie halbtags bei der Spedition Brummer, um die Familie finanziell über Wasser zu halten. Zusätzlich unterstützten ihre Eltern die kleine Familie. Es war eine spannende Zeit.

Nach einigen Jahren gründete Henning zusammen mit Burkhart Wagner die Firma BeWaCo-Tec, mit der sie sich auf Sicherheitsnetzwerke für Kleinund Mittelbetriebe spezialisiert hatten. Das war ein gewisses Risiko, denn der Konkurrenzkampf in der Branche war groß.

„Wir schaffen das“, hatte Henning unerschütterlich betont. Er war der Optimist im Team, dem es immer wieder gelang, die Mitarbeiter zu motivieren.

Mit ihren Ideen hatten sie im letzten Jahr den renommierten Preis „newteccom“ gewonnen, der als Anreiz für neu gegründete IT-Unternehmen geschaffen worden war.

Es war eine bewegte Zeit.

***

„Schau Dir das mal an“, rief Mike Manning, der Schichtleiter, als er Ludwig die Treppe heraufkommen sah, „es ist wieder kaputt! Mist!“

„Was ist los Mike? Was ist passiert“, schrie Ludwig gegen den aufkommenden Wind an.

„Es ist wieder das verdammte Ventil“, brüllte Mike zurück. Ludwig kümmerte sich sofort um das Ventil. Es war der Notschalter, der mal wieder hing. Routiniert sorgte er dafür, dass die Förderung nicht unterbrochen werden musste.

Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal diese Treppe zum Deck 3 hinaufgestiegen war, wo der scharfe Wind ihm den Atem raubte, wäre das nicht möglich gewesen. Er erinnerte sich, wie er mit offenem Mund dort oben stand und das stählerne Ungetüm betrachtete. Malcom Bremner, der Chefingenieur, und Mike zeigten ihm alles. Von diesem Standpunkt dort oben, hatte man den besten Blick auf die Anlage.

Der kalte Stahl, der Bohrturm, der bis in den Himmel zu ragen schien, all das flößte ihm Ehrfurcht ein. „Wie eine Kathedrale“, dachte er. Wenn er den Blick nach unten richtete, schaute er in ein tosendes Meer, das bei Sturm die Plattform erzittern ließ, so wie an jenem Tag, als Sie zu dritt da oben standen.

„Kannst Du Dir immer noch vorstellen, hier zu arbeiten?“, hatte Malcolm gebrüllt. Mike stand feixend neben ihm und stemmte sich gegen den Wind. „Ja, das ist es“, schrie er seine Begeisterung hinaus auf das Meer, „… das ist meine Welt.“ Es war die Mischung aus maskuliner Kraft und robuster Technik, die ihn faszinierte.

Auch nach den ersten Wochen und Monaten ließ seine Euphorie nicht nach. Die Witterungsbedingungen und die tägliche Pflicht, die Technik am Laufen zu halten, bestimmten seine Tätigkeit und setzten ihr Grenzen. Er nahm die Herausforderung an. Tag für Tag. „Ich werde es Euch zeigen“, sagte er sich und arbeitete zäh gegen die grauen Gedanken an. Seine Niederlage, seine Flucht, alles, was ihn hierher gebracht hatte.

„War es eine Fügung?“, fragte er sich.

Malcom lobte ihn häufig, meist im Zwiegespräch: „Was Du in dieser kurzen Zeit schon alles gelernt hast! Ich bräuchte mehr von diesen Ludwigs.“ Dann lachte er.

Ludwig war das Lob unangenehm, vor allem bei Besprechungen. Die anfangs wohlwollenden, später neidischen, Blicke, vor allem von Mike, machten ihm mehr und mehr zu schaffen.

***

Unmittelbar nachdem sie den Verletzten in der Kammer untergebracht hatten, fuhr der Bauer wieder zum Maisfeld. Er suchte die Schneise nach Trümmerteilen ab, fand aber nur die nahezu intakte Heckscheibe. Dann hängte er das Auto an ein Stahlseil und stellte es auf die Räder. Die Heckscheibe verstaute er auf dem Rücksitz.

Er schob die Staplergabeln unter den Wagen und hob ihn an. Der Traktor ächzte bedenklich, aber Berwanger schaffte es bis zur Scheune.

Dort stellte er das Wrack in der hinteren linken Ecke ab und deckte es mit einer Plane zu. Dann fuhr er zurück zur Landstraße und beseitigte im Licht der Scheinwerfer die Spuren an der Böschung.

„Morgen ernte ich das Feld ab, dann gibt es keine Spuren mehr“, sagte er leise zu sich selbst.

Er zweifelte keine Sekunde an dem, was er hier tat.

***

Christine Bergner war im Sessel eingenickt. Es war ein oberflächlicher Schlaf.

Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. „Henning?“.

Erwartungsvoll lief sie in den Hausflur. Doch es war nur der auffrischende Wind, der die Terrassentür zugeschlagen hatte. Als sie auf die Uhr schaute, geriet sie in Panik. Sie griff zum Telefon und wählte Hennings Nummer. Das Freizeichen ertönte.

Nach einer Weile hörte sie Hennings vertraute Stimme mit der Ansage, dass er momentan nicht erreichbar sei, er aber bei nächster Gelegenheit zurückrufen werde.

Wenige Sekunden später probierte sie es ein zweites Mal. Berwanger hatte gerade die Scheune abgeschlossen, als er drinnen einen Klingelton hörte.

Eilig öffnete er das Scheunentor und ging hinein. Der Ton kam aus der Ecke, in der das Auto stand. Mit einem Ruck zog er die Plane herunter und folgte dem Ton. Es war eine Kinderstimme. „Hallo Papi, Jenny ruft an!“, schallte es aus dem Telefon.

Es wurde immer lauter; bis zur vollen Lautstärke. „Hallo Papi, Jenny ruft an!!!“, hallte es durch die Scheune. Dann verstummte die Stimme.

Nach hektischer Suche fand Berwanger das Handy unter dem Beifahrersitz. Als er es aufhob, klingelte es erneut. Es meldete sich wieder die Kinderstimme, die mit steigender Lautstärke dazu aufforderte, ans Telefon zu gehen. Er war nicht in der Lage, es auszuschalten. Hastig eilte er zur Werkbank, legte das Handy auf den Amboss, ergriff einen Hammer und schlug wie ein Berserker auf das Gerät ein. „Hallo Papi, Jenny …“. Nach mehreren Hammerschlägen verstummte das Telefon. In der Scheune war es gespenstisch still.

Christine hörte das Rufzeichen, aber noch bevor die Ansage kam, war das Handy stumm. Sie rief sofort bei Burkhart an.

„Beruhige Dich, ich versuch‘ mal, das Handy zu orten, sagte er.“

Schon vor einiger Zeit hatten sie die Handyortung programmiert. Probeweise hatte es damals funktioniert. Aber dieses Mal bekam er kein Signal.

Er probierte es ein zweites Mal, dann rief er zurück. „Ich hatte keine Ortung. Aber es kann ja sein, dass er sein Handy ausgeschaltet hat.“

„Nein, das glaube ich nicht. Er hätte zurückgerufen. Da ist was faul, ich spüre das. Wir müssen zur Polizei!“

„Du hast recht, das passt nicht zu ihm. Okay, ich bin in zehn Minuten bei Dir.“

Burkhart Wagner zog sich eine Jacke über und verließ seine Wohnung.

Berwanger durchsuchte das Auto. Unter dem Beifahrersitz entdeckte er eine Aktentasche. Ohne einen Blick hinein zu werfen, verstaute er sie zusammen mit den Überresten des Telefons unter der Sitzschale des Rücksitzes. „Morgen verbrenne ich das alles“, sagte er sich. Ein höhnisches Lachen in seinem Kopf begleitete ihn.

Klara war noch einmal in das Zimmer gegangen, in dem der Fremde schlief. Alles war unverändert. Er atmete in tiefen und gleichmäßigen Zügen. Als sie den bewusstlosen Mann betrachtete, wurde ihr klar, warum der Bauer annehmen konnte, dass es sich um Ludwig handelt. „Gleiche Größe und Statur, ähnliche Gesichtszüge, gleiche Haarfarbe. Ihr könntet Zwillinge sein. Aber Du bist nicht Ludwig. Keiner war Ludwig jemals emotional so nah wie ich, schon gar nicht der Bauer … nein! Aber wer bist Du? Woher kommst Du? Hast Du Familie, Kinder?“

Dann hörte sie eine Kinderstimme. Sie lauschte. Dann war die Stimme weg, wenige Sekunden wieder da. „Was sind das für Stimmen … da, schon wieder … hört sich an wie ein Kind … ich glaub, ich werd‘ verrückt … was macht der denn … hämmert da herum … was soll das?“

Sie schüttelte den Kopf und schaute wieder zu dem Unbekannten. „Schau‘ bloß zu, dass Du schnell aufwachst … mach‘s gut … bis später.“

Als sie wieder in der Küche war, kam der Bauer rein. „Wie geht es Ludwig?“

„Unverändert. Aber Du sprichst immer von Ludwig. Er ist nicht Ludwig.“

„Warum glaubst Du mir nicht? Es ist Ludwig.“

„Er sieht ihm ähnlich, aber ich spüre, dass es nicht Ludwig ist … mein Gefühl …“

„Gefühle … Gefühle … Ihr Frauen immer mit Euren Gefühlen … es zählen aber die Fakten …“

Klara zog die Schultern hoch und schwieg. Der Disput ließ sich jetzt nicht klären. Außerdem war sie müde nach diesem langen Tag.

In diesem Moment erinnerte sie sich an Ludwigs Flucht. Als der Bauer am nächsten Tag auf Drängen ihrer Tante an seine Zimmertür klopfte, das Zimmer aber leer war und er spurlos und ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden war. Sie hat sein plötzliches Verschwinden bis heute nicht verarbeitet, hatten sich doch beide Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft gemacht. Sie mochte den „Lonely Cowboy“, wie sie ihn nannte. Er war ein sehr fürsorglicher Mann. Ihre leichte Gehbehinderung war nie ein Problem für ihn.

Ihre Tante war nie über die Flucht ihres einzigen Kindes hinweg gekommen. Sie starb im letzten Herbst. Seit ihrem Tod lastete die Betreuung des Bauern alleine auf ihren Schultern. Es war nicht nur sein zunehmender Rückzug, der ihr Sorgen machte, sondern auch sein steigender Alkoholkonsum. In letzter Zeit kam es vermehrt zu nicht erklärbaren Ausfällen.

Dr. Huber, der Hausarzt der Familie hatte es ihr gegenüber auf den Punkt gebracht: „Es hat seine Psyche überfordert. Erst das mit Ludwig. Dann der Tod von Franziska. Das alles hat ihn aus der Bahn geworfen. Wir müssen auf ihn aufpassen.“

2 KAPITEL

Christine Bergners Welt war ins Wanken geraten.

Sie tastete sich mühsam vorwärts, herausgerissen und in eine bizarre Situation katapultiert. Die Fahrt zur Polizeiwache kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Die abendliche Kühle kroch langsam in ihre Seele. Zitternd stand sie vor der schweren Eisentür, die ihr Respekt einflößte. Widerstrebend legte sie ihren Finger auf den abgenutzten Klingelknopf, den sie zaghaft drückte.

„Ja, bitte?“, krächzte es nach einer Weile aus dem Lautsprecher.

„Christine Bergner“, sagte sie mit gedämpfter Stimme und hielt dabei die Hand vor dem Mund. „Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.“ Es war ihr peinlich, obwohl keine Menschenseele in der Nähe war.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die quäkende Stimme nach. „Eine Vermisstenanzeige, schnell“, sagte Burkhart Wagner energisch. Ein kurzes Summen; dann öffnete sich die Tür.

Sie betraten einen Flur mit einer Reihe von abgenutzten Stühlen auf der rechten Seite, an dessen Ende durch die Milchglasscheibe einer vergitterten Tür diffuses Licht in den Flur fiel. Alles war abgesichert. Nachdem sie eine Lichtschranke passiert hatten, öffnete sich die Gittertür und sie standen vor einem Tresen, an dem auf der linken Seite eine hüfthohe Schwenktür angebracht war.

Aus dem angrenzenden Raum vernahmen sie eine verschlafene männliche Stimme. „Einen Moment, ich komme gleich.“

Christine Bergner ließ ihren Blick schweifen. Der Raum war karg möbliert. Schmucklos. Zwei Schreibtische, Computer, einige Aktenschränke und Besucherstühle. Aus der Zeit gefallene Schreibtischlampen. Polizeiposter an den Wänden.

Der groß gewachsene Beamte wirkte müde, sein Haar war zerzaust, der Drei-Tage-Bart ungepflegt.

„Hauptkommissar Brandner, Entschuldigung … aber“, sagte er gähnend, „ich bin eingenickt. Diese Bereitschaft. Zuwenig Personal. Sie verstehen!“ Sie verstanden, aber sie hatten ein anderes Problem.

„Herr Kommissar, ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben“, wiederholte Christine Bergner ungeduldig, „mein Mann, Henning Bergner, ist von einer Geschäftsreise nicht zurückgekehrt.“

Mittlerweile hatte der Polizist den Computer hochgefahren.

„Wie lange ist das her?“, fragte er.

„Seit heute Abend. Er wollte so gegen 21.00 Uhr zurück sein“, preschte Burkhart Wagner vor. Der Beamte hatte die Antwort von Christine Bergner erwartet. „In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Vermissten?“, fragte er den neben Christine Bergner stehenden Mann. „Wagner, Burkhart Wagner. Ich bin Geschäftspartner von Henning Bergner … und sein Freund“, antwortete dieser. Christine Bergner schluchzte. Tröstend legte Burkhart Wagner seinen Arm um Ihre Schultern. Kommissar Brandner registrierte die Szene ohne Regung. „Ich brauche jetzt erst einmal ihre Personalien und die ihres Mannes.“

Sie schoben ihre Personalausweise über den Tresen. Und eine Kopie des Ausweises von Henning Bergner.

Kommissar Brandner war immer wieder mal mit verschwundenen Ehemännern befasst. Nicht häufig - und die Fälle waren selten spektakulär. Oft reine Routine. Meist hatte sich alles schon am nächsten Tag wieder aufgelöst. Gefahr für Leib und Leben hatte so gut wie nie bestanden. Und oft waren es durchaus „menschliche“ Gründe für das Verschwinden.

Dass sich die „Akte Henning Bergner“ zu einem der größten Vermisstenfälle in der Region ausweiten würde, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.

„Jetzt erzählen sie mal“, forderte der Kommissar Christine Bergner und Burkhart Wagner auf. Abwechselnd schilderten beide die bisherige Entwicklung bis zu dem Zeitpunkt, an dem Henning Bergner überfällig war. Gelegentlich fragte Brandner nach.

In der Zwischenzeit war sein Kollege Gerd Kleinert eingetroffen.

„Gerd, wir haben einen Vermisstenfall. Schau Dir bitte mal die bisherigen Daten an und ruf die Einsatzzentrale an. Sie sollen bei den Polizeiinspektionen auf der Strecke nachfragen, ob es einen Unfall mit Personenschaden gegeben hat. Wir brauchen auch alle Notfalleinweisungen in den Krankenhäusern der angegebenen Region.“ „Geht klar, Georg“, sagte Brandners Kollege und machte sich an die Arbeit.

„Ich fasse mal zusammen“, sagte Brandner schließlich. „Ihr Mann hatte einen erfolgreichen Geschäftsabschluss mit der Firma Thalmann. Und er hatte die Absicht, danach direkt nach Hause zu fahren.“

Christine Bergner nickte.

„Sie hatten zunächst abgewartet, da Sie angenommen hatten, dass er sich nach dem Tanken auf jeden Fall melden würde“, resümierte Brandner. Er legte eine kurze Pause ein, bevor er weitersprach: „Als es später wurde, und zwar so spät, dass er längst hätte zuhause sein müssen, haben Sie versucht, Ihren Mann per Handy zu erreichen.“ Christine Bergner nickte bestätigend. „Als Sie den Anrufbeantworter hörten, haben Sie aufgelegt und etwas später wieder angerufen, doch nach dem Freizeichen war das Handy tot. Wie viel Zeit verging zwischen dem ersten und dem zweiten Anrufversuch?“

„Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren“, sagte Christine Bergner und hob schulterzuckend die Hände. „Zehn, maximal zwanzig Sekunden.“ An Burkhart Wagner gewandt fragte Brandner: „Wie oft haben Sie versucht, das Handy zu orten?“ „Mehrmals! Obwohl mir schon nach dem ersten Versuch klar war, dass es nicht mehr zu orten war.“

Er sah die Fragezeichen in Brandners Blick.

„Na, ja, Henning hatte eines der alten Businesshandys. Nur zum Telefonieren. GPS hatte es zwar, aber das war aus Sicherheitsgründen immer aus. Ich habe ihm schon öfter vorgeschlagen, dass er sich ein Smartphone zulegt, aber ihm war die lange Akku-Laufzeit wichtiger.“

Der Beamte nickte verständnisvoll, um im nächsten Moment Christine Bergner anzusprechen.

„Frau Bergner“, sagte er, und wirkte dabei etwas verlegen, „ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, die sehr persönlich sind und die Ihnen eventuell etwas nahe gehen könnten. Ich würde Sie dazu gerne alleine befragen.“ Sie drehte sich mit einem fragenden Blick zu Burkhart Wagner, der bejahend nickte.

„Herr Wagner, Sie könnten in der Zwischenzeit meinem Kollegen weitere Angaben für seine Recherche machen. Er soll noch einmal einen Ortungsversuch unternehmen. Und Kaffee kochen“, gab Brandner ihm ein paar Aufgaben mit.

Als Burkhart Wagner den Raum verlassen hatte, wandte sich der Kommissar wieder Christine Bergner zu.

„Frau Bergner, grundsätzlich ist es so, dass jeder Erwachsene, der im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist, das Recht hat, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, ohne dies seinen Angehörigen oder Freunden mitzuteilen.“ Er holte kurz Luft. „Wir ermitteln erst, wenn eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann. Wenn jemand zum Beispiel Opfer einer Straftat wurde, ein Unfall stattfand, Hilflosigkeit vorliegt. Oder eine Suizidabsicht.“ Christine Bergner hörte mit fragenden Blicken zu.

Es fiel Brandner merklich schwer, den nächsten Satz auszusprechen. „Was ist, wenn ihr Mann nur den Abschluss gefeiert hat, für sich allein, oder mit anderen. Erfolg wirkt manchmal wie eine Droge. Bei dieser Feier ist er womöglich versackt - aus welchem Grund auch immer“, und er setzte salopp nach: „Viele verschwundene Ehemänner sind nach einer Nacht …“, er zögerte, „ … in Freiheit … wieder aufgetaucht und …“.

Aus dem fragenden Blick von Christine Bergner wurden Pfeile, die sich in Brandners Augen bohrten. Sie unterbrach ihn vehement: „Das meinen Sie jetzt nicht ernst, oder? Das würde mein Mann nie machen, schon wegen Jenny! Alles, was wir machen, ist abgesprochen!“

Brandner zuckte zurück. „Schon gut, beruhigen Sie sich.“ Er merkte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. „Ich habe ja nicht gesagt, dass es so war, aber …“

„Da gibt es kein aber!“, sagte Christine Bergner energisch. „Es mag ja sein, dass so etwas schon vorgekommen ist. Aber das passt nicht zu Henning. Er ist zuverlässig. Immer!“. Sie ließ die Schultern sinken. „Glauben Sie mir, ihm ist etwas passiert. Ich spüre das.“

Mittlerweile waren Burkhart Wagner und Gerd Kleinert mit den ersten Ergebnissen - und mit dem Kaffee - dazu gekommen. „Kaffee?“, fragte Kleinert. Christine Bergner lehnte dankend ab.

„Die Einsatzzentrale hat alle Krankenhäuser abgefragt“, berichtete Kleinert, „kein Unfall, auf den die Beschreibung passen würde. Keine Handy-Ortung. Nichts! Auch bei den Taxizentralen war keine Person bekannt, deren Beschreibung auf Henning Bergner zutreffen könnte.“ Komplette Fehlanzeige!

„Was ist, wenn jemand das Handy manipuliert hat“, warf Burkhart Wagner ein. Brandner, der in dem Moment einen Schluck Kaffee getrunken hatte, prustete heraus: „Mensch, der Kaffee! Wer hat denn den gekocht?“

„Ich, wieso?“, sagte Burkhart Wagner. „Da bleibt ja der Löffel drin stehen …“, sagte er und goss Milch nach, „… aber, was war ihre letzte Frage?“

„Ich fragte nach einer möglichen Manipulation des Handys.“

„Ach so, na ja! Aber wer sollte das Handy manipulieren, er war ja alleine unterwegs, nehmen wir an … oder? Und er hatte ja kurz vor der Abfahrt noch telefoniert. Obwohl, …. er könnte es ja selbst manipuliert haben“, stellte Brandner fest. „Oder er hat es einfach abgeschaltet, um ungestört zu sein.“Christine Bergners Blicke bohrten sich in sein Bewusstsein.

„Ich glaube nicht, dass er es abgeschaltet oder manipuliert hat.“, sagte Burkhard Wagner. „Wie sollte er das gemacht haben? Henning ist ein versierter Betriebswirtschaftler und ein effektiver Manager, aber kein Techniker.“

Das leuchtete Brandner ein: „Sie meinen …?“

„Rein technisch wäre er dazu nicht in der Lage gewesen“, ergänzte Burkhart. „Für mich ist er handlungsunfähig. Aus welchem Grund auch immer.“

Brandner zog seinen Kollegen zurate. „Was meinst Du Gerd?“

„Hier passt einiges nicht zusammen“, antwortete Kleinert. „Das mit dem Handy ist ein belastbares Indiz. Andererseits, und das können wir nicht ausschließen, wollte er momentan vielleicht nicht erreicht werden. Aber ob er wirklich handlungsunfähig ist …?“

Brandner zögerte, dann traf er eine Entscheidung: „Wir geben ihm noch ein paar Stunden … morgen“, er blickte auf die Uhr, es war schon nach Mitternacht, „… ich meine heute, wenn er sich bis heute Morgen, acht Uhr nicht gemeldet hat, weder bei Ihnen, noch im Büro, leiten wir die Personenfahndung ein.“ Dabei schaute er Christine Bergner an. Die schüttelte scheinbar unschlüssig den Kopf.

Der Kommissar gab erste Anweisungen: „Gerd, Du kannst schon mal das Fahrzeug und die Personenbeschreibung in die Fahndung geben.“ Dann wandte er sich noch einmal an Christine Bergner.

„Frau Bergner, Sie hatten bei meiner Entscheidung mit dem Kopf geschüttelt. Es ist nicht endgültig“, versuchte er zu erklären, „aber so sind unsere Abläufe. Wir müssen die Leute jetzt informieren, damit sie bereit sind, wenn es losgeht. Aber es geht erst los, wenn Sie das Go geben.“

„Das ist mir klar“, antwortete sie tonlos, „aber ich war plötzlich erschrocken über die grausame Gewissheit Ihrer Entscheidung. Die Realität war für mich …“, sie zögerte und ihr Blick wanderte zu Burkhart Wagner, „… war für uns … bis vor wenigen Stunden eine völlig andere.“