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Auf Drängen ihrer Schwester zieht Lisa aus dem quirligen Berlin in das beschauliche Schöppenstedt am Elm. Kann es noch schlimmer kommen? Es kann! Sie soll künftig in der Kanzlei ihres scheinbar untadeligen Schwagers Mathias arbeiten. Das bedeutet: nie mehr zu spät kommen, rund um die Uhr verfügbar sein, perfektes Styling zu jeder Tageszeit und nicht annähernd so viel Gehalt wie in Berlin. Lausige Aussichten, wäre da nicht der Fremde, mit dem sie gemeinsam einen Igel von der Straße gerettet hat und der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2020
Katrin Winter wurde 1964 in Berlin geboren. Sie lebt heute im ländlichen Niedersachsen. Aus purer Freude am Schreiben verfasst sie dramatische Liebesromane mit einer kleinen Prise Erotik für »große Mädchen«, bei denen gelacht, aber auch geweint werden darf.
Auf Drängen ihrer Schwester zieht Lisa aus dem quirligen Berlin in das beschauliche Schöppenstedt am Elm.
Kann es noch schlimmer kommen?
Es kann!
Sie soll künftig in der Kanzlei ihres scheinbar untadeligen Schwagers Mathias arbeiten. Das bedeutet: nie mehr zu spät kommen, rund um die Uhr verfügbar sein, perfektes Styling zu jeder Tageszeit und nicht annähernd so viel Gehalt wie in Berlin.
Lausige Aussichten, wäre da nicht der Fremde, mit dem sie gemeinsam einen Igel von der Straße gerettet hat und der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.
In Erinnerung an einen Fremden, der ein Herz für Igel hat ...
Die Orte der Handlung befinden sich in Niedersachsen zwischen Elm und Lappwald.
Die Handlung des Romans und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht gewollt.
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
An diesem Morgen will nichts klappen. Mein Wecker gab in der Nacht seinen Geist auf, sodass ich nur durch ein lautes Geräusch meines Nachbarn über mir rechtzeitig wach werde. Das warme Wasser plätschert irgendwo im Haus herum, nur nicht in meiner Wasserleitung. Dann streikt auch noch die Kaffeemaschine. Gut, ich will nicht nörgeln, aber irgendwie habe ich mir für meinen ersten Arbeitstag einen besseren Start gewünscht.
Mein Schwager Mathias wird mir nicht den Kopf abreißen, wenn ich zu spät komme, aber dennoch sollte ich den Schwägerinnen-Bonus nicht gleich am Anfang verspielen.
Zum Glück besitze ich diesen alten Wasserkocher von meinen Eltern mit der pfeifenden Tülle. Diesen fülle ich mit Wasser und stelle ihn anschließend auf den Herd, um Kaffeewasser zu kochen.
So richtig geschmeidig funktioniert der Ablauf morgens noch nicht. Die Handgriffe sitzen noch nicht, und so geschieht es, dass ich mich nach einer Tasse und einem Teller suchend in meiner neuen Küche durch die Schränke wühle. Erst vor einer Woche habe ich die Wohnung fertig eingerichtet, die Umzugskartons ausgepackt und alles an seinem Platz verstaut. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich mich zurechtfinde.
»Na, Minka? Du hast es gut. Du musst dich morgens nicht beeilen«, sage ich zu meiner Katze, als sie sich vor mir ausgiebig streckt und ihren Fressnapf inspiziert.
Nach dem Frühstück ertrage ich das kalte Wasser auf meiner Haut, als ich mich notdürftig wasche. Heute Nachmittag werde ich sofort meinen Vermieter anrufen, denke ich wütend.
Zu allem Unheil klingelt es an der Tür, als ich gerade in Unterwäsche vor meinem Kleiderschrank stehe, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. »Mist«, grummele ich. »Auch das noch.« Ich schlüpfe in meinen Morgenmantel und eile zur Tür, um sie mit etwas zu viel Schwung zu öffnen. Dann starre ich in ein unausgeschlafenes Gesicht mit Dreitagebart.
»Guten Morgen. Es tut mir leid, Sie so früh zu stören, aber ich wollte fragen, ob Sie auch kein warmes Wasser haben.«
»Alles kalt«, ist meine knappe Antwort. Doch mein Gegenüber lässt sich nicht abhalten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. »Mein Name ist Andreas Roth. Ich wohne über Ihnen. Hallo«, erklärt er und streckt mir seine Hand entgegen.
»Hallo«, erwidere ich freundlich und nenne ihm ebenfalls meinen Namen: »Ich bin Lisa Arnstedt. Ich hoffe, mein Einzug und die Renovierungsarbeiten in der Wohnung haben Sie nicht allzu sehr belästigt.«
»Nein, nein, kein Problem. So ist es halt, wenn man umzieht. Haben Sie sich schon eingewöhnt?«, fragt er und ich sehe verstohlen auf meine Armbanduhr. Die Zeit rennt.
»Oh, Entschuldigung. Sie sind sicher in Eile. Das vergesse ich immer gern am Montag. Da muss ich erst zur dritten Stunde in der Schule sein. Ich werde unseren Hauswirt informieren. Ich bin sicher, heute Abend haben wir wieder warmes Wasser«, sagt er mit einem breiten Lächeln und ich blicke auf eine perfekte weiße Zahnreihe.
»Danke, das ist nett. Ich muss jetzt wirklich los. Mein erster Arbeitstag, da möchte ich nicht zu spät kommen«, erkläre ich.
Er wünscht mir viel Glück, dreht sich um und schlendert den Flur entlang zur Treppe.
Süßer Hintern, stelle ich fest, als ich einen letzten Blick auf seine Rückansicht werfe, bevor ich die Tür schließe.
Stefan hatte auch einen süßen Hintern, denke ich wehmütig und schiebe den Gedanken an ihn beiseite. Auch nach so langer Zeit findet die Erinnerung immer wieder einen Weg in meine Gedanken. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden, doch diese Wunde wird wahrscheinlich niemals heilen – sie ist zu tief.
Auf der Fahrt von Schöppenstedt nach Helmstedt muss ich einen Umweg fahren, weil die B 82 gesperrt ist. Auch das noch, denke ich mürrisch. Der Weg führt mich durch ein Waldgebiet. Hoffentlich verfahre ich mich nicht. Wenn ich das gewusst hätte, würde mein Navi vorn an der Scheibe kleben. Aber wie immer liegt es zu Hause auf der Flurgarderobe anstatt in meinem Auto. Wenn meine Schwester Pia behauptet, ich sei chaotisch, hat sie leider manchmal recht.
Ich fahre an einer Lichtung vorbei, auf der der Morgennebel schwer über dem Waldboden liegt. Es hat etwas Mystisches an sich. Von dem Anblick verzaubert, verringere ich unwillkürlich das Tempo. In der Nacht hat es geregnet und die aufsteigende Feuchtigkeit verfängt sich in Büschen und Sträuchern. So etwas kenne ich aus Berlin nicht. Was für ein krasser Gegensatz zur Großstadt. Es ist wunderschön.
Als ich auf einen Kreisverkehr im Wald zurolle und mich orientierend nach dem Schild mit der Aufschrift »Helmstedt« umsehe, entdecke ich einen Igel, der am Kreisel entlangläuft und verzweifelt versucht, den hohen Bordstein zu erklimmen.
Das arme Ding, denke ich und fahre vorsichtig um den Kreisverkehr herum bis zur Ausfahrt in Richtung Helmstedt. Dann biege ich in einen Waldweg ein und stelle den Motor ab.
Fast panisch renne ich die Straße entlang zurück zum Kreisel. Hinter mir fuhr ein kleiner Wagen. Hoffentlich hat er den Igel nicht platt gefahren. Doch wo ist er jetzt? Er müsste doch längst zu sehen sein.
Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da kommt mir der kleine Wagen im Schritttempo und mit eingeschalteter Warnblinkanlage entgegen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Im Auto sitzt ein junger Mann mit sturem Blick auf die Kreiselanhöhe. Als er mich sieht, stoppt er sein Fahrzeug und ruft mir zu: »Da oben! Er ist auf den Hügel geklettert. Sicherlich kommt er gleich auf dieser Seite wieder herunter!«
Ich bin verwirrt. Noch nie habe ich erlebt, dass ein Mann wegen eines Igels seine Fahrt unterbrochen hätte. Wirklich nett. »Ich denke, es ist besser, den Igel einzufangen und ihn dort hinten im Wald wieder auszusetzen. Wenn er hierbleibt, wird er sicherlich vom nächsten Auto erfasst«, rufe ich zurück und erklimme den Hügel inmitten des Kreisels. Natürlich macht sich so etwas in hohen Schuhen und Minirock nicht besonders gut.
Der Mann mit dem kleinen Auto fährt in der Zwischenzeit weiter und parkt hinter meinem Wagen. Dann klettert er ebenfalls auf den Hügel, und gemeinsam suchen wir den Igel. Als wir ihn entdecken, bücke ich mich, um ihn hochzunehmen, lasse jedoch sofort los.
»Aua! Verdammt, der kleine Kerl pikst aber doll.«
Der Mann neben mir lacht amüsiert.
»Ich habe ein Handtuch im Kofferraum, aber dann müsste ich zum Auto zurück …«, sage ich und lasse den Satz theatralisch unbeendet. Natürlich hoffe ich insgeheim, dass er den Igel aufhebt und sich seine Hände zerstechen lässt.
Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie er sich sein Shirt über den Kopf gezogen hat und mit entblößtem Oberkörper vor mir steht. Im Bruchteil einer Sekunde checke ich mein Gegenüber – echt hübsch.
»Ist kein schöner Anblick …«, murmelt er verlegen, als er mir sein Shirt in die Hand drückt.
»Sieht doch gar nicht schlecht aus«, entfährt es mir spontan bei einem zweiten Blick auf einen gebräunten, wohlgeformten Oberkörper, auf dessen Mitte sich eine lange Narbe entlang des Brustbeins zieht. Im selben Moment tut mir meine impulsive Antwort leid, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Ich wickle den Igel in das Shirt. Hoffentlich hat das Biest keine Flöhe, denn wenn, wird er sie auch bald haben, nachdem er sich wieder angezogen hat.
Wir bringen den Igel gemeinsam in den Wald. Ich im Bürolook mit Stöckelschuhen und Minirock, er mit entblößtem Oberkörper.
Nachdem wir dem Igel fernab der Straße seine Freiheit wiedergegeben haben, machen wir uns auf den Rückweg. Ich schüttele fürsorglich das Shirt aus, in der Hoffnung, alle Parasiten daraus zu entfernen. Als wir wieder am Straßenrand stehen und ich immer noch mit seinem Oberteil hantiere, sagt er: »Was mögen die Leute von uns denken? Wir zwei – morgens im Wald – ich mit nacktem Oberkörper …« Er grinst mich von der Seite verlegen an. Ich jedoch sehe erschrocken das Pärchen an, welches langsam an uns vorbeifährt und uns ungläubig anstarrt.
»Oh …«, gebe ich peinlich berührt zurück und drücke ihm mit etwas zu viel Nachdruck sein Oberteil in die Hand. Plötzlich ist mir egal, ob darin Läuse oder Flöhe hausen.
Ohne ein weiteres Wort gehen wir zu unseren Autos, wünschen einander einen schönen Tag und brausen los.
Mathias wird stinksauer sein. So viel ist sicher. Mein erster Arbeitstag, und sofort komme ich zu spät. Er wird sich natürlich in seiner Meinung über mich bestärkt sehen, denn seiner Ansicht nach komme ich immer zu spät, egal zu welchem Anlass. Eben total chaotisch, wie der Rest der Familie.
***
»Guten Morgen«, begrüßt mich die aufgetakelte Schnepfe in der Kanzlei meines Schwagers mit einem bedeutungsschweren Blick auf ihre Armbanduhr. »Herr Buchwald befindet sich in einer Besprechung und hat mich daher gebeten, Ihnen Ihren Arbeitsplatz zu zeigen und Sie den Kollegen vorzustellen.«
»Danke«, erwidere ich knapp und lasse mich von ihr durch die Räume führen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, sie sei die Frau des Chefs. Sie benimmt sich jedenfalls so.
»Ich war von Anfang an dabei, müssen Sie wissen. Herr Buchwald hat vollstes Vertrauen zu mir. Ich bin seine rechte Hand. Sollten Sie einmal Probleme haben oder mit einem Fall nicht weiterkommen, wenden Sie sich bitte an mich«, flötet sie, während sie mir mein Büro zeigt.
Du bist die Letzte, die ich fragen werde, denke ich grimmig. Was bildet die sich überhaupt ein?
»Hier im Büro duzen wir uns alle. Das ist mit der Zeit so entstanden. Nicht, dass ich es für gut befinde, aber Mathias, also Herr Buchwald, möchte es so. Er meint, es stärkt das Wir-Gefühl und überbrückt Hürden«, erklärt sie. Ich könnte mir den Finger in den Hals stecken vor Ekel über ihren Hochmut. Trotzdem lächele ich sie höflich an.
»Ich bin Bille. Alle sagen Bille. Mein richtiger Name lautet Sybille Neunert. Wir werden uns also ebenfalls duzen, auch wenn das nur hier im Büro sein wird. Ich sehe keine Veranlassung, weshalb wir uns anderswo mit unseren Vornamen ansprechen sollten«, flötet sie weiter, und mir fällt es schwer, meine Hände bei mir zu behalten. Am liebsten würde ich ihr den viel zu roten Lippenstift über ihr zu stark geschminktes Gesicht schmieren. Dumme Nuss, denke ich wütend.
Nachdem ich meine Tasche in einer Schublade des Schreibtisches verstaut habe, geht die Tour durchs Büro weiter. Ich lerne eine zweite Anwältin namens Birgit Sommer kennen und einen Volontär namens Ingo Hoppe. Er hat sein Jurastudium abgeschlossen und wird bald unter Vertrag genommen. Dagmar Engel, eine weitere Bürokraft, befindet sich zurzeit im Mutterschaftsurlaub.
Ich begrüße alle freundlich mit: »Lisa Arnstedt, angenehm.«
Nach der Begrüßungszeremonie werde ich erst einmal mir selbst überlassen und setze mich an meinen neuen Schreibtisch. Ein Berg von Akten türmt sich auf der rechten Seite. Ich werfe einen verzweifelten Blick darauf.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, ertönt die angenehme Stimme von Ingo, als er seinen Kopf durch den Türspalt streckt.
»Hoffentlich«, erwidere ich nervös. Dass Mathias mir gleich einen solchen Berg auftischt, finde ich nicht nur unangemessen, sondern vor allem gemein.
»Magst du einen Kaffee trinken? Ich hole mir einen, da könnte ich dir einen mitbringen«, fragt Ingo mich freundlich. Wenigstens einer hier, der nett zu sein scheint.
»Gerne. Danke«, erwidere ich und lasse den Blick erneut über den Aktenberg schweifen. Was denkt Mathias sich nur dabei? Ich weiß, er war nicht begeistert, dass seine chaotische Schwägerin bei ihm arbeiten soll, aber es mir auf diese Weise deutlich zu machen, finde ich nicht nur gemein, sondern vor allem unfair.
Als Pia ihn damals fragte, war er zuerst nicht abgeneigt und hat später, als es ernst wurde, einen Rückzieher gemacht. Pia hat es auf ihre Art geregelt. Eine ungnädige Pia kann eine Heimsuchung darstellen. Mathias hatte noch nie den Schneid, sich wirklich mit ihr anzulegen. Er ist zwar ein knallharter Anwalt, aber ein butterweicher Ehemann.
Alles in allem fing dieser Tag nicht nur chaotisch an, sondern sollte auch so enden. Minka möchte es sich gerade auf meinem Schoß bequem machen, da klingelt es an der Tür. Eigentlich will ich jetzt meine Ruhe haben. Da ich niemanden mehr erwartet habe, bin ich schon im Nachthemd. Ein luftiges kleines Ding. Draußen will die Temperatur nicht unter zwanzig Grad sinken und es ist immer noch schwül und stickig. Eben Hochsommer – Anfang August.
Ich werfe meinen seidenen Morgenmantel über und öffne die Tür. Herr Roth strahlt mich an und berichtet über seine verwegene Heldentat in Bezug auf unser warmes Wasser. »Er wollte mich erst abwimmeln und sich morgen darum kümmern. Ich habe mich aber wie ein Stier vor ihm aufgebäumt und ihm erklärt, das könne er nicht machen. Wir brauchen heute noch warmes Wasser. Etwas anderes würden wir nicht akzeptieren!« Erwartungsvoll legt er eine Pause ein. Ich grinse innerlich bei dem Gedanken, er wäre ein wilder Stier. Er kommt mir eher wie ein frecher Spatz vor.
»Oh, das war sehr mutig von Ihnen. Mit dem Vermieter sollte man es sich aber besser nicht verscherzen«, gebe ich höflich zu bedenken.
»Ach! Axel weiß doch, wie ich bin. Wir kennen uns schon lange«, informiert er mich und fragt dann nach meinem Tag. Wie er war und was ich jetzt vorhabe.
»Der Tag war anstrengend. Ich bin jetzt müde und werde bald zu Bett gehen.«
Er zieht eine Schnute und zaubert eine Sektflasche hinter seinem Rücken hervor. »Ach, schade! Ich dachte, wir stoßen auf gute Nachbarschaft an und lernen uns besser kennen.«
Auch das noch, denke ich genervt und öffne die Tür ein Stück mehr, weil Minka auch unseren Nachbarn begrüßen möchte.
»Oh, wie süß!«, jubelt er, schnappt sich Minka und macht erwartungsvoll einen Schritt auf mich zu.
»Na gut, aber nicht mehr lange. Ich bin wirklich hundemüde und darf morgen auf keinen Fall zu spät kommen«, gebe ich nach und mache ihm Platz. Minka mag ihn. Sie schnurrt und bleibt artig in seinen Arm geschmiegt sitzen.
Nachdem die erste Flasche leer ist, hole ich eine zweite aus dem Kühlschrank. Mittlerweile sind wir bei den Vornamen gelandet und Andreas streckt gemütlich seine langen Beine auf meiner Couch aus. Minka liegt auf seinem Bauch und lässt sich kraulen. Der fühlt sich offensichtlich wie zu Hause, denke ich amüsiert.
»Hübsch hast du es hier. Ich mag die hellen Farben. Ist aber schwer zu pflegen, oder?«
»Nein, das geht schon. Auf dunklen Möbeln sieht man den Staub viel schneller.«
»Da magst du recht haben, ich muss ständig Staub wischen«, antwortet er und macht eine theatralische Handbewegung, die mich zum Lachen bringt.
Andreas ist unkompliziert und einfach nur nett. Er arbeitet als Grundschullehrer in Helmstedt. Ich glaube, das ist genau sein Ding. Er hat selbst noch etwas Verspieltes an sich, und ich kann ihn mir gut als kumpelhaften Klassenlehrer vorstellen.
Je später der Abend wird, desto lustiger werden wir, und ich erzähle ihm von meinem Erlebnis im Wald heute Morgen.
»Oh, wow! Das muss ja ein knackiges Bürschlein gewesen sein. Hast du dir seine Telefonnummer geben lassen?«
»Also bitte«, empöre ich mich. »Daran war überhaupt nicht zu denken. Es ging alles so schnell. An so etwas habe ich nun wirklich nicht gedacht!«
Andreas zwinkert mir zu und grinst spöttisch. »Na dann wirst du wohl nie erfahren, wer der nette Adonis war. Pech gehabt.«
»Also, jetzt mal ehrlich. Mache ich auf dich einen so bedürftigen Eindruck? Im Moment steht mir wirklich nicht der Sinn nach einer Beziehung«, gebe ich leicht angesäuert zurück.
»Wer spricht denn von Beziehung? Und wenn du nicht bedürftig wärst, hättest du wohl kaum einen Fremden so schnell in deine Wohnung gelassen«, zieht er mich auf.
Für diese freche Bemerkung fliegt mit Wucht eines meiner Sofakissen in seine Richtung. Minka springt erzürnt zur Seite, und Andreas fängt es laut lachend auf. »Tut mir leid! War doch nur ein Scherz!«, kreischt er übermütig.
»Na, das will ich hoffen. Sonst bist du heute zum ersten und zum letzten Mal mein Gast gewesen.«
Irgendwann gegen Mitternacht bugsiere ich Andreas aus meiner Wohnung. Davor haben wir mit der dritten Flasche Sekt erneut Brüderschaft getrunken und gemeinsam »Und morgen früh küss ich dich wach« gesungen. Ich möchte jetzt nicht daran denken, von wem dieses Lied ist, das wäre mir peinlich, denn sie ist nicht die Art Interpretin, die normalerweise auf meiner Playlist zu finden ist. Aber in sturzbetrunkenem Zustand ist alles erlaubt.
»Was hast du dir denn dabei gedacht? Ein wildfremder Mann! Bist du verrückt?«, keift Pia mich im Restaurant an, in dem ich mit ihr meine Mittagspause verbringe. Seit dem Tod unserer Eltern benimmt sie sich manchmal wie eine Glucke.
»Pia, beruhige dich doch. Er ist mein Nachbar!«, erwidere ich genervt, als würde es selbstredend alles erklären. »Er ist harmlos, Grundschullehrer, kein Zombie!« Mein Schädel brummt fürchterlich nach der Sauforgie von gestern Nacht.
»Mathias hat mich gestern Abend fertiggemacht. Er meinte, er hätte es genau gewusst. Und – peng – er hatte recht. Du bist an deinem ersten Arbeitstag zu spät gekommen. Was meinst du, wie ich nun vor ihm dastehe? Ich kann dir nur immer wieder ans Herz legen, es dir nicht mit Mathias zu verscherzen. So eine Stelle bekommst du so schnell nicht wieder«, belehrt sie mich, und ich halte stöhnend meinen Kopf fest. Ich befürchte, er platzt gleich.
»Ich gelobe Besserung«, versichere ich ihr in der Hoffnung, sie möge aufhören, zu schimpfen. Das Schlimme daran ist, dass sie recht hat. Am ersten Tag komme ich zu spät, und am zweiten Tag taumele ich halb trunken in die Kanzlei. Echt peinlich, und leider typisch für mich. Irgendwie scheint sich mir der Ernst des Lebens noch nicht recht verinnerlicht zu haben. Oder er ist mir egal, seit Stefan fort ist. Aber Pia wird mir Beine machen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
»Wie geht es Minka? Kümmerst du dich anständig um sie, oder muss ich das etwa auch noch machen?«, fragt sie mit spitzer Zunge. In meinem Herzen sticht es heftig. Nachdem unsere Eltern im Urlaub bei einem Rundflug über dem Grand Canyon abstürzten, übernahm ich ihre Katze. Es war für mich selbstverständlich, denn ich brachte Minka damals mit nach Hause. Ich fand sie im Straßengraben – halb tot. Mama und ich haben sie nach Anweisung unseres Tierarztes liebevoll aufgepäppelt.
»Natürlich kümmere ich mich um Minka!«, antworte ich erbost. Wie kann sie nur daran zweifeln?
»Schon gut. Tut mir leid. Aber manchmal habe ich das Gefühl, du kannst dich nicht einmal um dich selbst kümmern«, gibt sie liebevoll zurück und lächelt entschuldigend.
Ich blicke sie schmollend an. Was soll ich auch sonst tun? Ich weiß, dass ich manchmal eine echte Plage sein kann. Besonders für Pia mit ihrem Perfektionswahn. Die perfekt gekleidete Gattin für den perfekten Anwalt mit dem von ihr perfekt gestylten Haus und den perfekten Vorzeigefreunden aus der High Society Niedersachsens. Manchmal finde ich es zum Kotzen, wie oberflächlich sie sein kann. Aber sie ist meine große Schwester. Sie fühlt sich seit dem Tod unserer Eltern für mich verantwortlich, und nach der Sache mit Stefan, an der ich fast zerbrochen wäre, behütet sie mich wie ein goldenes Ei. Ich bin froh, dass ich sie habe. Denn wir haben nur noch einander.
»Möchtest du am Samstag zu uns zum Essen kommen? Wir haben Gäste. Ich würde dich gern unseren Freunden vorstellen. Wir werden den neuen Pavillon im Garten einweihen. Er sieht toll aus. Schneeweiß mit weißen Volants. Mathias findet ihn zu protzig, aber ich finde, er passt perfekt zum Haus.«
»Gerne«, antworte ich und ringe mir ein dankbares Lächeln ab. »Muss ich mich dafür verkleiden?«
»Also ehrlich, Lisa! Das kleine Schwarze muss es nicht sein, aber auch keine used Jeans mit zerfranstem Saum«, gibt sie gekränkt zurück.
»Okay. Wann geht das Theater los?«, erkundige ich mich sarkastisch.
»Um neunzehn Uhr. Aber bitte sei etwas früher da.«
»Damit du mir, falls nötig, noch mal das Gesicht und die Hände waschen kannst?«, frage ich spöttisch.
Sie verdreht genervt die Augen und schüttelt den Kopf. »Was du immer denkst!«
Es ist sinnlos, darüber mit ihr zu debattieren. Natürlich möchte sie sichergehen, dass ich auch vorzeigbar bin. Ich kann mich durchaus korrekt kleiden. Im Büro laufe ich ja auch nicht wie ein Hippie rum. Nur dass ich dem konservativen Stil immer etwas Cooles oder Stylishes hinzufüge. Ich finde, die Mischung macht es. Eine used Jeans mit Seidenbluse und teuren High Heels zum Beispiel.
»Ich muss jetzt los«, sage ich bei einem vielsagenden Blick auf meine Armbanduhr. »Sonst hat Mathias gleich wieder einen Grund, auf mir herumzuhacken. Na, und diese dumme Nuss, die meint, sie wäre die Chefin, wird mich dann auch wieder schief ansehen.«
Pia lacht angewidert. »Das billige Bille-Flittchen. Die sieht doch aus wie eine, die ihr Geld im horizontalen Gewerbe verdient. Ich weiß nicht, was er an der findet. Wenn sie schon ihren wulstigen, knallrot geschminkten Mund aufmacht, könnte ich ihr eine reinhauen. Aber er hält große Stücke auf sie. Er meint, man würde so schnell keine andere Sekretärin finden, die bereit ist, mit ihm die Nächte durchzuarbeiten.« Sie sieht mich gespielt zickig an und stülpt ihre Lippen nach außen, um Bille nachzumachen. Ich breche in schallendes Gelächter aus, und Pia kichert. In diesem Punkt sind wir uns einig. Unser Feindbild hat den Namen Sybille Neunert, oder: das billige Bille-Flittchen.
Am Abend, als ich nach Hause fahre, muss ich wieder den Umweg durch den Wald nehmen. Die B 82 wird noch einige Zeit gesperrt bleiben. Die Sonne steht tief und wirft funkelnde Lichtreflexe durch die Baumreihen. Ich fahre bewusst langsam, um den Anblick der sich abwechselnden Licht- und Schattenspiele zu genießen.
In Berlin waren die Straßen im Feierabendverkehr immer verstopft und die Autofahrer lebten ihre Aggressionen im dichten Gedränge aus. Jemand, der die vorgeschriebenen fünfzig km/h einhielt, wurde bereits als Verkehrshindernis betrachtet und gnadenlos angehupt. Hier sind die Straßen nicht so voll. Wenn jemand schnell fahren möchte, überholt er ohne viel Spektakel. Insgesamt empfinde ich das Leben hier als ruhiger. Auch beim Einkaufen habe ich bemerkt, dass die Menschen ausgeglichener sind. Nicht zu vergleichen mit der Großstadthektik. Das Miteinander stimmt. Man hält ein Schwätzchen an der Kasse und hat immer Zeit, um ein paar freundliche Worte zu wechseln. In Berlin wäre das undenkbar.
Im Kreisel auf der Waldlichtung fällt mir mein Erlebnis mit dem Igel wieder ein. Der Mann wirkte, wenn ich jetzt darüber nachdenke, eher zurückhaltend – vielleicht sogar verunsichert. Seine Narbe kommt mir ins Gedächtnis. Sie zeichnete sich entlang des Brustbeins. Meistens stammen solche Narben von einer Herzoperation. Die Brust wird mittig geöffnet und das Brustbein durchtrennt. Ob er einen Herzfehler hatte? Der arme Kerl, denke ich mitfühlend. Was er wohl alles durchmachen musste?
Plötzlich denke ich an Stefan. Er fehlt mir so. Es ist noch nicht lange her, erst zwei Jahre, aber die Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle sind immer noch sehr stark. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals verblassen werden. Damals bin ich aus der Bahn geworfen worden. Von jetzt auf gleich ins Nichts. Allein bin ich nicht aus dieser Hölle der Verzweiflung herausgekommen. Stefan war mein Fels in der Brandung. Er und Pia gaben mir Halt, als meine Eltern starben und als Pia Mathias heiratete und nach Schöppenstedt zog, war er meine einzige Bezugsperson in Berlin. Jetzt ist er fort – für immer.
Ich muss mich zusammenreißen und auf den Verkehr achten. Wo ist die Abzweigung nach Schöppenstedt? Bin ich schon an ihr vorbeigefahren?
Ich finde schließlich den Heimweg und freue mich auf einen entspannten Abend auf meiner Terrasse. Noch ein Vorteil gegenüber Berlin. Die Wohnung dort war zwar groß und geräumig, mit hohen Decken und wundervollem Stuck, aber der Luxus einer Terrasse mit kleinem Gartenanteil hat mich schnell überzeugt. Es ist geradezu paradiesisch. In den kommenden Wochen werde ich den Garten hübsch anlegen. Das wird wunderbar.
Minka begrüßt mich mit ausgiebigem Schnurren. Ich nehme sie hoch und setze mich mit ihr auf die Couch im Wohnzimmer, um sie zu streicheln. Am Anfang lasse ich sie besser noch nicht ins Freie. Sie hat immer in einer Wohnung gelebt und soll sich langsam an die Freiheit gewöhnen. Ich habe auch die Befürchtung, sie könnte weglaufen. Das würde ich nicht ertragen – bitte nicht noch ein Verlust. Minka ist eine sogenannte Glückskatze. Sie ist dreifarbig. Nichts Besonderes, aber eine Freundin in einsamen Stunden und eine große Persönlichkeit, die es immer wieder schafft, mich um den Finger zu wickeln.
An der Tür klingelt es. Andreas, mein Nachbar, denke ich genervt. Noch eine endlose Nacht stehe ich nicht durch. Ich schleppe mich mit Minka im Arm zur Tür und öffne sie. Er strahlt mir entgegen und fragt: »Na? Wieder nüchtern?«
»Ja«, grummele ich und deute ihm mit einem Kopfnicken an, einzutreten.
Er kommt herein und nimmt mir beim Eintreten Minka ab, um sie liebevoll an sich zu drücken. »Hallo, kleine Schönheit«, gurrt er ihr entgegen und steuert auf die Terrassentür zu.
»Stopp!«, schreie ich, aber es ist zu spät. Er steht schon mit ihr draußen. »Nicht! Sie kennt die Freiheit nicht. Ich habe Angst, dass sie wegläuft.«
»Ach was. Wenn sie es nicht kennt, wird sie nicht weglaufen. Sie wird vorsichtig ihr neues Revier erkunden. Du musst nur bei ihr bleiben. In deiner Nähe wird sie sich sicher fühlen«, erklärt er mir wie der Lehrer, der er ist.
Verwundert und ängstlich stehe ich neben ihm und beobachte Minka, die sich vorsichtig umsieht. Andreas streichelt sie und flüstert ihr beruhigende Worte zu, dann setzt er sie auf den Boden.
Minka steht für einen Moment stocksteif da, dann springt sie mit einem großen Satz ins Haus zurück.
»Siehst du? Jetzt hat sie Angst bekommen«, schelte ich Andreas und sehe ihr nach.
»Lass die Tür einfach offen. Sie wird es nicht lange aushalten, drinnen zu sein, wenn wir draußen sind. Dafür sind Katzen viel zu neugierig. Entspann dich, das wird schon.«
Ich schmunzele über seinen Optimismus. »Woher kennst du dich so gut mit Katzen aus? Hast du auch eine?«
»Nein. Axel hat eine«, antwortet er kleinlaut.
»Axel? Unser Vermieter?«
»Ja. Genau der Axel«, gibt er mit einem Seufzer zurück und lässt sich in einen der Gartenstühle fallen. Ich schmunzele nachsichtig. Andreas benimmt sich, als würde er hier wohnen. »Kennst du ihn näher?«, frage ich, weil sie sich duzen.
»Ja und nein. Ja, ich dachte mal, ihn zu kennen, und nein, ich habe mich da wohl ziemlich getäuscht«, gibt er wehmütig zurück und weckt damit meine Aufmerksamkeit. Ich glaube, nach der gestrigen Nacht gibt es keine persönlichen Tabus mehr zwischen uns. Wir haben uns schnell angefreundet. Anfangs dachte ich, er will etwas von mir, aber dann habe ich mitbekommen, dass er nur rein freundschaftlich an mir interessiert ist. Darüber war ich froh. Auf eine Beziehung habe ich definitiv keine Lust. Stefan ist und bleibt nicht zu toppen.
»Klingt enttäuscht. Habt ihr euch gestritten?«
Er dreht den Kopf in meine Richtung und sieht mich gequält an. Dann fragt er: »Bist du schon mal so verliebt gewesen, dass es dir den Boden unter den Füßen weggezogen hat?«
Verwundert antworte ich: »Ja. Aber was hat das mit Axel zu tun? Ach, du liebe Güte! Hat er dir etwa die Freundin ausgespannt?«
»Nein. So war es nicht. Er hat … Ach, was soll’s«, sagt er nach einer kurzen Denkpause. Er hat mit sich gerungen, ob er es mir erzählt. »Er hat seine Frau nicht verlassen, obwohl er es mir versprochen hat. Wir wollten gemeinsam neu anfangen … irgendwo.«
Mir klappt der Unterkiefer runter. »Habe ich das richtig verstanden? Ich meine … du und Axel …«, stottere ich und kann den Satz nicht beenden. Meine Verwirrung ist perfekt.
»Ja. Ich und Axel … Ha! Er war dann doch zu feige, zu mir zu stehen, und hat es vorgezogen, sich und seiner Umwelt weiterhin etwas vorzumachen. Ich würde alles dafür geben, ihn zu überzeugen, aber er lässt diesbezüglich nicht mit sich reden«, sagt er traurig.
»Es tut mir leid für dich«, flüstere ich. »Wie kannst du es nur aushalten, ihm immer wieder zu begegnen? Ich könnte das nicht«, sage ich teilnahmsvoll.
»Von Zeit zu Zeit besucht er mich. Ich glaube, ich bedeute ihm schon etwas. Ihm fehlt einfach nur der Mut. Weißt du, wenn wir in einer Großstadt leben würden, in Berlin oder vielleicht Hamburg, wäre es nicht so schlimm. Aber hier, wo jeder jeden kennt, ist das natürlich ein gewaltiger Schritt, sich zu outen. Axel hat Angst davor. Also nehme ich von ihm, was ich bekommen kann. Klingt krank, oder?« Jetzt seufzt er und ich schüttle langsam den Kopf. Ich kann ihn irgendwie verstehen. Wenn man verliebt ist, ist man zu vielem bereit. Selbst dazu.
»Aber er hat kein Problem damit, seine Frau zu hintergehen? Das verstehe ich nicht. Ehrlich gesagt finde ich das fast noch schlimmer. Er tut euch beiden damit weh. Hast du mal daran gedacht?«
»Die weiß gar nichts. Und wenn doch, macht sie gekonnt die Augen zu. Er sagt, er schläft schon lange nicht mehr mit ihr, weil er immer Sehnsucht nach mir hat. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob er lügt.«
»Denkst du, er nutzt dich aus? Kann doch sein, dass er nur seine sexuellen Bedürfnisse mit dir befriedigen möchte«, stelle ich meine Vermutung in den Raum. Was mir aber sofort leidtut.
»Ach!«, seufzt er. »Ich weiß nicht. Manchmal, wenn wir eng umschlungen danach im Bett liegen, habe ich das Gefühl, er liebt mich. Darum mache ich weiter damit. Vielleicht entscheidet er sich doch irgendwann anders. Er braucht Zeit, und die will ich ihm geben.«
»Na ja, man soll die Hoffnung nie aufgeben. Aber gelegentlich ist es besser, den Tatsachen ins Auge zu sehen und seine Konsequenzen zu ziehen«, sage ich mitfühlend. Ich glaube, Axel nutzt Andreas nur aus.
»Ach … lass uns das Thema wechseln«, sagt er resigniert und erkundigt sich nach meinem Tag. Ich berichte von der blöden Kuh namens Bille und von meinem Schwager, der mir anscheinend das Leben in der Kanzlei schwer machen will.
Ich bin erstaunt darüber, wie schnell Andreas sich mir gegenüber geöffnet hat. Vielleicht hat er niemanden, mit dem er darüber reden kann.
Axels Frau tut mir allerdings auch leid. Wenn ich von meinem Mann hintergangen werden würde, und dann noch mit einem Mann, wäre ich am Boden zerstört. Meine Meinung dazu ist zwiegespalten. Einerseits mag ich Andreas gern und kann mit ihm mitfühlen. Andererseits finde ich es unfair, Menschen zu hintergehen. Ich denke, Alex sollte mit offenen Karten spielen. Seiner Frau gegenüber und auch Andreas gegenüber.
Minka späht vorsichtig durch die Terrassentür und Andreas lockt sie mit liebevollen Worten zu uns heraus. »Komm her, meine Schöne. Wir passen auf dich auf. Sieh mal, dein Frauchen ist auch hier.«
Gemeinsam verbringen wir einen wundervollen Abend im Freien. Die Luft ist mild, und der süßliche Geruch von Blüten liegt in der Luft. Minka unternimmt vorsichtig ihre ersten Streifzüge durch den Garten.
Die erste Woche in der Kanzlei war alles in allem anstrengend, jedoch auch schön. Mathias hat seinen Frieden mit mir gemacht und behandelte mich freundlich, aber mit abwartender Zurückhaltung. Ich glaube, er hat niemandem erzählt, dass wir miteinander verwandt sind. Ich werde es auch nicht sagen. Es ist seine Aufgabe, die Mitarbeiter darüber in Kenntnis zu setzen.
Bille, das rotmundige Billigmodell einer Barbiepuppe, beobachtete mich argwöhnisch. Sie wartete darauf, dass ich einen Fehler begehe. Ingo mag mich, glaube ich, gern. Er versorgte mich jeden Morgen mit Kaffee. Seine Worte waren: »Wenn ich hier erst einmal als Anwalt arbeite, werde ich es zur Bedingung machen, dass du meine rechte Hand wirst.« Na, mal sehen, was Mathias dazu sagt.
Birgit, die zweite Anwältin in der Kanzlei, ist nett. Mit ihr habe ich jedoch wenig zu tun.
Andreas ist zu einem festen Bestandteil in meinem Leben geworden. Innerhalb kürzester Zeit ist er mir dermaßen ans Herz gewachsen, dass ich über mich selbst staune. Normalerweise schließe ich nicht so schnell Freundschaft, aber Andreas macht es einem leicht, ihn zu mögen. Außerdem kann er ganz schön penetrant sein. Es ist mir also unmöglich, auch nur einen Tag zu verbringen, ohne dass wir uns wenigstens kurz Hallo gesagt haben.
Pia war die ganze Woche mit den Vorbereitungen zu ihrem Empfang beschäftigt. Aus einem zwanglosen Abendessen wird nun eine Gartenparty. Natürlich perfekt wie immer, wenn Pia etwas plant. Ich muss doch das kleine Schwarze anziehen beziehungsweise ein luftiges cremefarbenes Sommerkleid mit kleinem Jäckchen, falls der Abend kühl wird.
Da Andreas fast schon in meiner Wohnung lebt, ist es daher nicht verwunderlich, dass er auch heute meinen Nachmittag versüßt. Minka liebt ihn bereits mehr als mich. So langsam werde ich eifersüchtig. Während meiner Modenschau vor dem Schlafzimmerspiegel fläzt er mit Minka auf meinem Bett und beäugt die Schätze, die ich nacheinander aus dem Schrank zaubere. Bei dem knielangen und sehr eng geschnittenen cremefarbenen Sommerkleid pfeift er anerkennend. »Also ehrlich, Lisa. Wenn ich auf deine Sorte stehen würde, könnte dein Anblick mich in die Knie zwingen. Du siehst fantastisch aus. Das Kleid ist genau richtig für den Etepetete-Empfang deiner Schwester.«
Erfreut drehe ich mich vor dem Spiegel und begutachte meine drallen Kurven. »Es ist grenzwertig. Findest du nicht, ich bin ein wenig zu rundlich für dieses Outfit?«, frage ich unsicher.
»Ganz und gar nicht! Eine Frau ist doch kein Bügelbrett. Da muss vorn und hinten etwas dran sein. Und bei dir ist es auch noch außergewöhnlich gut verteilt. Echt süß.«
Ich lächle ihn glücklich an. Wenn er nicht vom anderen Ufer wäre, wäre er der perfekte Mann. Hübsch, mit gut gebautem Fahrgestell, schönen blauen Augen, blonden Haaren und äußerst gepflegt. Dazu ein charmantes Auftreten und mir gegenüber immer sehr zuvorkommend. Er ist unkompliziert und liebenswürdig. Wäre ich auf der Suche nach einem geeigneten Partner, würde er auf jeden Fall in die engere Wahl kommen. Wenn er hetero wäre, was er definitiv nicht ist!
»Ach, Andreas … warum bist du nur andersherum gestrickt?«, frage ich mit einem breiten Grinsen und sehe ihn liebevoll an.
Er wirft mir eine Kusshand zu. »Und warum bist du kein Mann?«, ist seine ebenso liebevolle Antwort.
Ach, es ist schön. Ich bin noch nicht lange hier, aber bereits mit allem, was dazugehört, angekommen. Ich bin rundum zufrieden. Seitdem ich Andreas kenne, höre ich endlich wieder den Klang meiner Stimme beim Lachen. Wie lange habe ich das vermisst. Jemanden, mit dem ich mich ohne viele Worte verstehe und der mich zum Lachen bringt. Andreas ist ein Geschenk – ein Geschenk des Schicksals an mich. Er ist wie eine beste Freundin – mein bester Freund, mit dem ich über alles reden kann. Nur über eines habe ich noch nicht mit ihm gesprochen – über Stefan. Über den Mann, der bis vor zwei Jahren mein Leben war – der wichtigste Mensch auf Erden. Derjenige, der immer den größten Teil meines Herzens ausfüllen wird. Vielleicht werde ich Andreas eines Tages von ihm erzählen. Von dem Schicksal, welches uns ereilte und mich zwang, neu anzufangen.
»Oh, Lisa! Du siehst umwerfend aus!«, begrüßt Pia mich überschwänglich, als ich das Haus betrete. Andreas hat mich hergefahren und wird mich später abholen, dann kann ich ein Glas Sekt trinken, oder auch zwei.
»Danke«, ist meine knappe Antwort. Aus Gemeinheit sage ich nichts über ihr Äußeres. Ich habe mich zu sehr darüber geärgert, als sie mir zu verstehen gab, dass ich mich eventuell nicht angemessen kleiden würde. Trotzdem muss ich neidvoll zugestehen, dass sie natürlich perfekt aussieht. Sie kommt nach unserem Vater. Groß und schlank, ja fast gazellengleich schreitet sie daher. Dabei fallen ihre schwarz glänzenden Haare glatt über ihren Rücken. Ihre majestätische Haltung gleicht der unseres Vaters. Papa hatte diese natürliche, dominante Ausstrahlung. Wenn er einen Raum betrat, verstummten alle Menschen. Ähnlich ist es bei Pia. Sie ist von Natur aus anmutig, also genau das Gegenteil von mir.
»Lisa Mausezahn, welch wunderbarer Anblick lässt unsere bescheidene Hütte glänzen!«, vernehme ich die unverschämte Stimme meines Schwagers aus dem Hintergrund. Dieser Blödmann, denke ich wütend. Er weiß doch genau, ich mag es nicht, wenn ich auf meine schräg zueinanderstehenden Zähne angesprochen werde. Also begrüße ich ihn wie sonst, wenn ich ihn verärgern will: »Mr. Eulenspiegel. Ich sehe, Sie haben etwas zugelegt. Ist das etwa ein kleines Speckröllchen, das über Ihren Hosenbund quillt?«
Pia prustet vor Lachen. Mathias greift unwillkürlich an seinen Bauch. Natürlich ist da kein Gramm Fett zu sehen. Er ist der schlaksigste Mann, den ich kenne. Er achtet auch darauf, kein Gramm zuzunehmen. Mr. Eulenspiegel hört er gar nicht gern. Ich ziehe ihn immer damit auf, seitdem Pia ihn kennengelernt hat. Till Eulenspiegel stammt aus der Samtgemeinde Schöppenstedt. Ein nichtsnutziger Zeitgenosse, der seine Mitmenschen mit dem Verdrehen von Bibelsprüchen zum Narren hielt. Mit dem Mathias natürlich nicht gern verglichen wird.
»Gut, eins zu eins, würde ich sagen. Wenn ihr es schafft, euch den ganzen Abend zu benehmen und mit Respekt zu behandeln, bekommt ihr beide einen Lolli von mir zur Belohnung«, sagt Pia genervt und zieht mich ins Haus.
Ich blicke verstohlen zu Mathias. Er grinst frech und zwickt in meinen Hintern. Ich schlage ihm reflexartig auf die Hand.
»Wie die Kinder …«, höre ich Pia nörgeln und werfe Mathias einen grimmigen Blick zu.
Bis die ersten Gäste kommen, ist noch etwas Zeit. Natürlich ist bereits alles fertig. Ich würde jetzt, wenn es meine Party wäre, noch kopflos durch den Garten sausen, aber Pias Planung ist wie immer vorbildlich. Alles lief nach Zeitplan und so setzen wir uns in die gemütliche Ecke unter der Linde und trinken ein Glas kalten Weißwein.
»Ich freue mich, dich endlich meinen Freunden vorstellen zu können«, sagt Pia liebevoll, und Mathias ergänzt den Satz mit: »Es sind circa fünfzig Personen, natürlich nicht nur Freunde, sondern auch Geschäftsfreunde und Klienten. Wir haben das Schöne mit dem Nützlichen verbunden. Pia ist eine begnadete Gastgeberin und es wird gut für die Kanzlei sein, dass wir alle zur Party eingeladen haben.«
»Aha«, gebe ich erstaunt zurück. Ein Schauder überkommt mich. Menschenansammlungen haben für mich etwas Beängstigendes. Hoffentlich stehe ich das durch.
Pia bemerkt meinen ängstlichen Gesichtsausdruck und drückt ermutigend meine Hand. »Keine Angst, ich werde immer in deiner Nähe bleiben. Es wird dir gefallen, bestimmt«, sagt sie zuversichtlich. Mathias lässt verlauten, er sei ja schließlich auch noch da.
Na, herzlichen Glückwunsch – Mathias, der heldenhafte Ritter an Lisas Seite, denke ich boshaft. Wer es glaubt, wird selig!
Gegen kurz vor sieben Uhr füllt sich der Garten. Ein eigens engagierter Kellner hat alle Hände voll zu tun, die Gäste mit Getränken und kleinen Häppchen zu versorgen. Später gibt es Spanferkel von einem Partyservice und weitere Leckereien, die meine Hüften strapazieren werden. Pia hat keine Kosten gescheut. Mathias sieht zufrieden aus. Alles perfekt, wie immer. Herr Anwalt nebst Gattin gibt sich zufrieden dem Spektakel hin und badet im Wohlwollen seiner Gäste.
Ich werde einigen Leuten vorgestellt, die mir mit vorgetäuschtem Interesse die Hand schütteln und Fragen stellen. Das muss der engere Freundeskreis sein, denn aus ihren Fragen kann ich entnehmen, dass Pia bereits einiges über mich erzählt hat.
Im hinteren Teil des Gartens sehe ich einen Mann mit hellbraunen Haaren. Sie sind ordentlich zurückgekämmt. Eine Sonnenbrille ist lässig hineingesteckt. Eine Strähne fällt in sein Gesicht, was sehr sexy wirkt. Er hat einen hellen Anzug an. Eine Hand hat er lässig in die Hosentasche geschoben, in der anderen hält er ein Longdrinkglas. Er unterhält sich angeregt mit einer Frau. Die gesamte Erscheinung strahlt eine kühle Überlegenheit aus. Ich meine, in ihm den Mann aus dem Wald zu erkennen, den, der mit mir den Igel gerettet hat, bin mir aber nicht sicher. Dieser hier wirkt anders, nicht so schüchtern. Seine Körpersprache deutet darauf hin, dass er ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein aufweist. Der Mann im Wald wirkte eher unsicher und schüchtern. Das ganze Gegenteil von diesem Mann.
»Was ist?«, fragt Pia, als sie bemerkt, wie ich ihn beobachte.
»Wie? Ach, entschuldige. Ich musste nur gerade an etwas denken«, antworte ich verlegen. Doch dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage: »Wer ist der Mann dahinten? Der mit dem hellen Anzug.«
Pia folgt meiner Blickrichtung und atmet geräuschvoll ein. »Das ist Elard – Elard von Lauenberg. Ein echter Hingucker, stimmt’s?«
»Ja, kann man so sagen. Woher kennst du ihn? Lebt er auch in Schöppenstedt?«
»Nein, in Wolfsburg. Aber du solltest besser die Finger von ihm lassen. Er hat das Arschloch-Gen«, ist Pias knappe Beschreibung, die so ziemlich alles sagt. Ich sehe sie verwundert an. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so ist.
»Bist du sicher?«, frage ich daher und sie antwortet mit einem abschätzigen Grinsen: »Einhundert Prozent Arschloch!«
»Ach!«, gebe ich enttäuscht zurück. Schade, auf mich hat er ganz anders gewirkt. Vielleicht irre ich mich, aber so desolat ist mein Erinnerungsvermögen doch nicht. Er sieht genau so aus. Er ist es, da bin ich sicher.
»Warum denkst du, er ist ein Arschloch?«, hake ich noch einmal nach.
»Weil er eines ist. Eingebildet, selbstherrlich, großkotzig. Aber erfolgreich, das muss man ihm lassen. Er vögelt alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, und behandelt Frauen wie Nutten. Aber vielleicht bekommt er ja gerade deshalb immer wieder eine. Da gibt es viele, die hoffen, er würde sich für sie ändern. Aber glaube mir, solche Menschen ändern sich nie.«
Fassungslos starre ich sie an. Pias Meinung von ihm verwirrt mich. Ich hätte ihn ganz anders eingeschätzt. Wie kann dieser Mann derselbe sein, der völlig selbstlos mit mir den Igel gerettet hat? Doch Pia scheint ihn besser zu kennen. Ich nahm ihn ja zu dem Zeitpunkt im Wald nicht einmal bewusst wahr. Wie kann ich mir da ein Urteil über seinen Charakter erlauben?
Im Laufe des Abends kümmern sich Pia und Mathias im Wechsel um mich, damit ich mir nicht so fremd vorkomme. Aus dem Büro kann ich niemanden entdecken. Auch nicht die andere Anwältin. Sie zählt wohl nicht zum engeren Kreis.
Als es dunkel wird, werden Fackeln angezündet. Bunte Lampions hängen von den Bäumen herab und schaukeln im Wind. Romantik pur, denke ich und lehne mich an einen der Bäume, genieße den Anblick und die leichte Brise, die allen etwas Abkühlung verschafft. Die schöne Stimmung wird von klassischer Musik untermalt. Ich fühle mich rundum wohl.
»Hallo, so allein?«, fragt eine angenehme Stimme hinter mir. Ich sehe mich um. Er ist es, schießt es durch meinen Kopf. Ich gebe ein hektisches »Hallo!« zurück. Erinnert er sich an mich? Er nimmt keinen Bezug auf unser gemeinsames Abenteuer, sondern hält mir nur die Hand entgegen. »Ich bin Elard. Ein Tennisfreund von Mathias.«
Verwirrt sehe ich auf seine Hand. Erkennt er mich denn nicht? Warum tut er so, als würden wir uns zum ersten Mal sehen? Etwas verunsichert denke ich, dass er sich wahrscheinlich nicht an mich erinnert. Wie denn auch? Bei wem hinterlasse ich schon einen bleibenden Eindruck? Also nehme ich höflich seine Hand und sage: »Freut mich. Ich bin Lisa. Pias Schwester.«
»Nein!«, ruft er gespielt erstaunt. »Also, das hätte ich nicht vermutet. Du siehst ihr gar nicht ähnlich. Ach, entschuldige, ich darf doch Du sagen?«
»Ja, ist schon okay. Und nein, wir sehen uns nicht ähnlich«, gebe ich etwas mürrisch zurück. Was hat er denn erwartet? Dass alle Frauen in Pias Familie wie Models aussehen? Gertenschlank, von natürlicher Eleganz, mit den Genen einer Göttin aus dem Olymp ausgestattet? Pass nur auf. Du bist gerade dabei, dich unbeliebt zu machen, denke ich mit aufsteigender Wut.
»Sicherlich hört ihr das oft. Meistens kommt ein Kind nach der Mutter und das andere nach dem Vater. Ist aber auch gut so, finde ich. Nach wem du auch immer kommen magst, ist mir egal. Ich finde dich auf jeden Fall äußerst hinreißend«, sagt er, beugt sich zu mir herab, um mit seinem Glas an meines zu stoßen. »Auf einen schönen Abend«, haucht er mir mit einem Augenzwinkern zu.
Ich lächle ihn verlegen an. »Danke, ebenso.«
Er führt mich zu einer Bank, die ein Stück entfernt vor einer Hecke steht. Wir setzen uns und unterhalten uns zwanglos. Ob ich ihn auf das Erlebnis im Wald ansprechen sollte? Besser nicht. Es könnte peinlich für uns beide sein, wenn er zugeben müsste, sich nicht an mich zu erinnern.
Elard ist charmant. Pias Meinung über ihn kann ich nicht teilen. Er wirkt zwar eher kühl, aber tief in ihm scheint ein weicher Kern zu schlummern. Er ist sehr wortgewandt und in kürzester Zeit sind wir auf einer Ebene gelandet, die ins Private driftet. Ich kann es selbst kaum glauben. Er hat irgendetwas an sich, etwas, das mich fasziniert.
»Und was genau machst du dort? Ich meine, Karosseriedesign … Was ein Designer für Mode macht, kann ich mir in etwa vorstellen, aber für Autos? Entwirfst du zuerst eine Zeichnung und dann ein Modell aus Knete?«, frage ich interessiert.
Er lacht jungenhaft, was mir gut gefällt. Er gefällt mir überhaupt sehr gut. Er scheint an mir interessiert zu sein – warum auch immer.
»So ähnlich ist es tatsächlich. Natürlich geht allem eine Zeichnung voran. Dann haben wir unterschiedliche Werkstoffe zur Verfügung, mit denen wir die ersten Modelle fertigen. Erst im Maßstab verkleinert, später in Originalgröße. Bis es so weit ist, trugen jedoch bereits eine Menge Mitarbeiter ihren Teil dazu bei. Techniker und Ingenieure, na, und noch einige mehr«, erklärt er mir und legt dabei den Arm wie selbstverständlich um meine Schultern.
Ich nicke aufmerksam und lehne mich vorsichtig in seinen Arm zurück. Ich möchte ihn spüren. Lange Zeit sitzen wir so vertraut aneinandergelehnt und sehen uns den Sternenhimmel an.
»Sieh mal da, der Große Wagen.« Ich folge seinem Finger in der Dunkelheit. Er zieht mich dabei ein Stück näher zu sich. Mein Atem stockt. Schon lange habe ich nicht mehr so viel Nähe zugelassen.
»Schön«, flüstere ich gedankenverloren.
Er dreht sein Gesicht zu mir und fragt leise: »Magst du die Sterne und das, was wir in ihnen lesen können?«
Ich schmelze fast dahin. Ein Romantiker, denke ich selig und hauche zaghaft: »Ja.«
»Ich auch«, flüstert er und legt seinen Kopf an meinen. Wie in Trance bleibe ich starr sitzen und erspüre, was die zarte Berührung seines Kopfes an meinem in mir auslöst. Es ist wunderbar.
Nach einer endlosen Weile löst er sich von mir und dankt mir für den wundervollen Abend. »Es war schön, Lisa. Danke. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
Verwirrt sehe ich ihn an. »Gehst du schon? Es ist doch noch nicht spät.«
Er lächelt mich bedauernd an und gibt mir einen zärtlichen Kuss auf die Hand. »Ich habe noch etwas vor, leider. Hätte ich gewusst, dass ich dir begegnen werde, hätte ich mir alle Zeit der Welt genommen. Darf ich dich anrufen?«
Ein verzücktes Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit. Ich nicke heftig.
»Gut, dann gib mir deine Nummer.« Er holt sein Handy aus der Tasche, tippt etwas hinein und hält es mir anschließend entgegen.
Mit zittrigen Händen gebe ich meine Nummer in sein Telefon und halte dabei vor Aufregung den Atem an. Ich kann es kaum glauben. Er will mich wiedersehen. Ich könnte vor Freude einen Luftsprung machen.
Elard führt mich zurück an den Tisch meiner Schwester und verabschiedet sich höflich.
»Ach, schade, Elard. Musst du wirklich schon gehen?«, fragt Pia gespielt bedauernd.
»Ja, es muss sein. Wir haben doch darüber gesprochen, dass ich nicht lange bleiben kann. Obwohl ich es zutiefst bedauere«, antwortet er mit einem verstohlenen Blick in meine Richtung. Pia bemerkt es natürlich und sieht mich fragend an. Ich zucke unwissend mit den Schultern. Geht dich gar nichts an, denke ich grimmig. Kannst ihn ja sowieso nicht leiden.
Nachdem Elard sich verabschiedet hat, zieht Pia mich zur Seite. »Bist du wahnsinnig? Lass mich raten. Es ist folgendermaßen abgelaufen: Bla, bla, bla … du bist hinreißend… bla, bla, bla … meine Arbeit ist toll … bla, bla, bla … Sterne und so weiter … bla, bla, bla … er legt seinen Kopf an deinen und ihr blickt zu den Sternen auf … bla, bla, bla … Handkuss … bla, bla, bla … du tippst deine Nummer in sein Handy!«
Mit weit aufgerissenen Augen folge ich ihren Ausführungen. Als sie endlich fertig ist, schlucke ich laut. Es ist unglaublich, aber genau so war es. Ich krächze: »Woher weißt du das?«
Sie antwortet knapp: »Willkommen im Klub.«
»Was?«, bringe ich völlig verwirrt heraus.
»Was?«, äfft Pia mich nach. »Brauchst du noch eine Zeichnung?«
»Das darf doch nicht wahr sein. Pia, ich dachte immer …«
Sie fällt mir ins Wort: »Was dachtest du? Perfekte Pia, perfektes Leben? Nix da perfekt, alles nur Show. Mein Motto lautet: The Show must go on! Es ist nicht alles Gold, was glänzt.« In ihren Augen ist für einen Augenblick tiefe Trauer zu sehen, doch genauso schnell fängt sie sich wieder und lächelt, als hätten wir gerade über das schöne Wetter gesprochen. »Komm. Wir holen uns noch etwas Sekt.«
Schockiert laufe ich neben ihr her zur Bar. Was Pia mir soeben offenbart hat, versetzt mir einen heftigen Schlag. Ich nahm immer an, sie sei glücklich. Nie im Leben hätte ich vermutet, wie unglücklich sie hier ist. Ich war so mit mir selbst beschäftigt – ich habe nichts bemerkt und schäme mich jetzt dafür. Betroffen halte ich sie am Arm fest und sehe sie mitfühlend an.
»Sieh mich nicht an wie ein geprügelter Hund. Wir reden später darüber, ja?«
»Ja«, gebe ich leise zurück und ringe mir ein Lächeln ab.
»Lieb, dass du mich abholst«, begrüße ich Andreas. Endlich wieder ein normaler Mensch in meiner Nähe. Die versnobten Freunde von Rechtsanwalt Buchwald nebst Gattin fand ich, gelinde gesagt, zum Erbrechen.
»Hab ich dir doch versprochen.«
»Mmh …«
»Was hast du? War der Abend nicht schön?«
»Doch, doch, aber auch anstrengend. So viele neue Gesichter.«
»Aha.«
»Mmh.«
»Komm schon. Irgendetwas hast du doch. Raus mit der Sprache!«, drängelt er.
Ich vertröste ihn auf später. »Lass uns erst einmal zu Hause sein. Trinkst du noch ein Glas Wein mit mir?«
»Na klar, gerne.«
Andreas ist toll. An diesem Abend tauschen wir die Schlüssel zu unseren Wohnungen. Ich erzähle ihm zum zweiten Mal von meinem Erlebnis im Wald mit dem Igel. Andreas hört geduldig zu und krault Minka, die wie selbstverständlich auf seinem Schoß sitzt. Er lümmelt dabei auf meiner Couch, und ich sitze ihm gegenüber, mit angezogenen Beinen, in meinem XXL-Sessel. Er hat so viel Anstand, mich nicht zu unterbrechen, denn die Story aus dem Wald kennt er bereits. Zwar nicht so ausführlich, aber er kennt sie. Nachdem ich fertig bin, setzt Schweigen ein und nur Minkas Schnurren ist zu hören. Warum sagt er nichts? Ich recke meinen Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen.
Prompt erwidert er fragend meinen Blick. »Und? War das alles? Da kommt doch noch etwas!«
Oh ja, denke ich. Da kommt noch etwas. Also komme ich jetzt zum Kern der Sache. Zu dem Punkt, der mir zu schaffen macht. »Kannst du dir vorstellen, wie verwirrt ich war, als er mich nicht wiedererkannt hat? Ich habe nichts mehr von unserem Erlebnis im Wald gesagt, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen und mir die Peinlichkeit zu ersparen, dass er wohl keinerlei Notiz von mir nahm. Doch dann fing er an, mir Komplimente zu machen. Er war sehr um mich bemüht. Er wollte meine Telefonnummer haben. Dann musste er gehen. Pia hat mir zu verstehen gegeben, sie hätte keine gute Meinung von ihm. Sie sagt, er hätte das Arschloch-Gen.«
Andreas bricht in schallendes Gelächter aus. »Arschloch-Gen, super! Deine Schwester gefällt mir. Das muss ich mir merken!«
»Also, ich finde es weniger komisch. Ich bin immer noch schrecklich verwirrt. Elard hat mir gut gefallen. Dann muss ich erfahren, dass er ein Frauenheld ist. Nun hat er meine Nummer und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet ich seine große Liebe werde. Er wird mich genauso benutzen wollen wie alle anderen«, gebe ich etwas zu theatralisch von mir.
»Dann lass es nicht so weit kommen. Du musst dich ja nicht mit ihm treffen.«
»Aber genau das ist ja der Punkt. Ich möchte ihn wiedersehen, denn ich glaube, er ist nicht so, wie Pia sagt. Ich glaube, er hat einen weichen Kern. Hätte er sonst den Igel retten wollen?«
»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Er kann doch ein Frauenheld sein und trotzdem Tiere mögen. Ich glaube, ich hätte auch angehalten, um dem Igel zu helfen.«
»Ja, du schon, aber macht so was jemand, der nach der Meinung meiner Schwester das Arschloch-Gen in sich trägt?«
Andreas fängt wieder an, zu lachen, und schüttelt den Kopf. »Nein, wahrscheinlich hätte dich der Träger des Arschloch-Gens an Ort und Stelle im Wald vernascht. Du solltest dich nicht von deiner Schwester beeinflussen lassen. Mach deine eigenen Erfahrungen. So wie es aussieht, scheint er doch recht nett zu sein. Warte, ob er sich bei dir meldet«, sagt er mit dieser einfühlsamen Lehrerstimme. Ich komme mir vor wie eine Achtjährige.
Aber er hat recht. Wenn es so ist, wie Pia es mir anvertraut hat, ist sie sicherlich nur enttäuscht von Elard. Er hat sie danach einfach sitzen lassen. Aber was hat sie denn als verheiratete Frau erwartet? Für ihn war es sicherlich nur ein Abenteuer. Pia ist ausgesprochen hübsch, und wenn sie ihm Interesse signalisiert hat, wäre er doch schön blöd gewesen, das zu ignorieren.