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Der Leser taucht ein in die Abgründe, die das Leben schreibt. Ein spannender Kriminalroman, der mit dem Absturz einer Cessna im Bodensee beginnt und den Leser in eine abstruse Welt hineintauchen lässt.
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2019
Axel Buch
Igor betrügt man nicht
Tod über dem Bodensee
Roman
Copyright: © 2019: Axel Buch
Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Inhalt
Zwei Freundinnen
Der Traum vom Fliegen
Der Zuhälter und der Bänker
Hurenalltag
Der charmante Elsässer
Die Idee
Der Alte
Der Pilot
Geldwäsche
Big Deal
Verschollen
Ermittlungen
Eine folgenschwere Recherche
„Die Nadel im Heuhaufen“
Das Tauchboot
Ursachenforschung
Ein Verbrechen wirft Rätsel auf
Dienstreise
Vernehmung
Samstag 12. Februar 1994
Seit dem Ausbau der Infrastruktur des Flugplatzes Altenrhein hatten die Flugbewegungen auf dem kleinen regionalen Flughafen am Ufer des Bodensees, 20 Kilometer nordöstlich von St. Gallen, erheblich zugenommen. Der Tower verzeichnete bis zu 30 000 Flugbewegungen pro Jahr.
Ein ablandiger Wind stürmte aus Richtung der Alpen auf das Wasser des Bodensees. Die eisigen Böen ließen die Temperatur noch kälter als die gemessenen Minus zehn Grad Celsius erscheinen. Richard Tschars saß an einem der zwei Arbeitspulte des Towers und beobachtete auf dem Radarschirm die Linienmaschine der Austrian Airlines, die pünktlich um 19.30 Uhr nach Wien gestartet war, als Eckhard Blümli den Dienstraum des Towers betrat, um seinen Kollegen abzulösen. Er war zu früh. Salü Richard!“
Ohne sich von den Bildschirmen abzuwenden grüßte Tschars zurück. „Salü Ecki, bist aber früh dran, es ist doch erst kurz nach halb Acht.“ „Ich weiß, Katharina hat heute auch Nachtdienst und ist schon vor mir gegangen. Ich hab mir gedacht, dass du nicht traurig sein würdest, etwas früher Feierabend machen zu können! Steht noch was an?“
Über den Lautsprecher schnarrte die Stimme des Piloten der Austrian, der sich vom Tower Altenrhein verabschiedete.
Tschars stand auf und drehte sich seinem Kollegen zu.
Gerade als er Blümli informieren wollte, dass noch eine deutsche Cessna im Anflug auf den Flughafen sei, meldete sich der Pilot der Maschine.
„Tower Altenrhein für Delta, Charly, Bravo, India, Hotel kommen!“ „Da ist er ja schon, ich hol´ den noch runter, dann hau´ ich ab, deine Nacht ist noch lang genug!“
Blümli schälte sich aus seinem dicken Daunenanorak und dem Rollkragenpulli.
„Draußen ist es saukalt!“
Er massierte seine kalten Hände, um die Blutzirkulation anzuregen. Tschars Augen verkleinerten sich zu zwei schmalen Schlitzen, als er gebannt auf den Radarschirm starrte.
„Was meinst Du Ecki, die Cessna ist doch viel zu tief, oder?“
Blümli konzentrierte sich nun ebenfalls auf den Radarschirm.
„Ja Himmel, Arsch und Zwirn, ist der Kerl durchgeknallt, verwechselt der seine Cessna mit einem Wasserflugzeug?“
„Delta, Charly, Bravo, India, Hotel, hier ist Tower Altenrhein, climb, climb! Sie sind viel zu tief!“
Tschars Stimme überschlug sich. Immer wieder brüllte er seine Warnung ins Mikro, als wolle er den Piloten nicht über Funk, sondern unmittelbar mit seiner Stimme erreichen.
„Climb, climb, climb!“
Zwei Freundinnen
„Wenn es Dir nur halb so langweilig ist wie mir, muss es Dir stinklangweilig sein!“, murrte Joana Orlaska, zog die Mundwinkel unzufrieden nach unten und verdrehte die Augen wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Ich finde die Geburtstagsfeier auch spießig. Sind eben alles Kollegen!“, flüsterte Olga Bridlitz hinter vorgehaltener Hand. Sie war Lehrerin für Deutsch und Russisch an der Willy-Brandt-Schule in Warschau.
„Lass uns die Fliege machen, bevor die Veranstaltung völlig zur Lehrerkonferenz ausartet. Samstagabende sind viel zu selten um sie in Langeweile versinken zu lassen. Erklär dem Typ doch einfach, dass Dir nicht gut ist und ich Dich nach Hause bringen werde!“ „Einfach so?“
„Schau mich an und versuch es!“
Joana verdrehte die Augäpfel, als würde sie jede Sekunde in Ohnmacht fallen.
Olgas Nachahmung bestätigte, dass sie das Spiel ebenso perfekt beherrschte.
„Ich sollte nach Hause gehen, mir ist furchtbar übel. Es ist so schade, du hast Dir so viel Mühe gemacht!“ belog sie gekonnt den Gastgeber, der sie mit sorgenvoller Miene betrachtete.
„Geht es Olga? Oder möchtest du nochmals Spucken, bevor wir aufbrechen?“, heuchelte Joana meisterhaft ihre Fürsorge!
Der enttäuschte Kollege brachte die beiden Frauen rasch zur Tür.
„Ja, also dann gute Besserung. Ist ja gut, dass dir deine Freundin nach Hause helfen kann!“
Nur mit Mühe konnten die beiden Ihre Leidensmienen vor die Hautür tragen, ehe sich das angestaute Lachen prustend entlud.
Gedanklich weit davon entfernt nach Hause zu gehen, bummelten die beiden ziellos durch die belebte Innenstadt. Am Plac Artura Zawisky blieben sie vor der prächtigen Fassade des Sobieski Hotels stehen. Die markante Farbgebung des riesigen, über Eck angeordneten Gebäudes, machte es zu einem der architektonischen Highlights des modernen Warschaus. Das Hotel wurde fast ausschließlich von Geschäftsleuten aus dem Ausland besucht.
„Lass uns im Café Alexander etwas trinken!“, schlug Joana voller Tatendrang vor.
Diesen Vorschlag nahm Olga begeistert an. Sie kannte das Café im Sobieski Hotel bisher nur vom Hörensagen. Für einen Durchschnittswarschauer war der Besuch zu kostspielig. Auch mit ihrem Gehalt als Lehrerin zählte Olga zu dieser breiten Masse.
Im prächtigen Foyer fiel ihr Blick zunächst auf den massiven Tresen der Rezeption. Mit einem zaghaften Lächeln erwiderte Olga die Begrüßung des Empfangschefs und folgte ihrer Freundin durch die Eingangshalle. Wie ein Schoßhündchen seinem Frauchen lief sie hinter Joana her und bemerkte, dass diese nicht suchte, sondern gezielt ihren Weg wählte.
„Warst du schon mal hier?“
„Ja, vielleicht ein oder zwei Mal.“, antwortete sie knapp und ging zielstrebig weiter.
Die Freundinnen gingen an mit Blumen geschmückten Säulen vorbei und erreichten die weiträumige Lobby des Hotels. Der Marmor wechselte von Rot in Honiggelb.
Ein Pfeil wies nach links.
Das Café war trotz später Stunde noch immer gut besucht. Bei dezentem Kerzenlicht spielte ein Pianist leise Walzermelodien. Unweit des Musikers entdeckten sie einen freien Tisch.
Olga registrierte, dass die Mehrzahl der Gäste aus Männern bestand. Nur ganz vereinzelt saßen Pärchen beieinander.
„Ich komm mir vor wie auf dem Präsentierteller. Die Kerle glotzen, als hätten sie noch nie zwei Frauen zusammen in einer Bar gesehen. Das ist ja widerlich!“, echauffierte sie sich.
„Schätzchen! Sieh es mal positiv. Wir sind jung, sehen super aus und für die Kerle sind wir der Mittelpunkt! Genieße es einfach. Ich für meine Person fühle mich hier sehr wohl!“ lächelte Joana in den Raum.
„Möchtest du auch Kaffee?“
Olga nickte.
„Schau mal dort, die zwei Typen am Eingang!“, Joanas Knie stieß an das Ihre.„Seitdem sie den Raum betreten haben, fixieren die uns.“, zischelte sie nervös.
Olga schielte desinteressiert in die von Joana angedeutete Richtung. Zwei Männer, um die 40 Jahre alt, standen im Eingangsbereich und stierten interessiert in ihre Richtung. Beide trugen elegante dunkle Anzüge. Im Widerspruch hierzu stand ihr betont legeres Auftreten. Beide hatten die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben.
„Lächle!“ Joana stieß nochmals ihr Knie an. Diesmal heftiger. „Mensch, du sollst lächeln!“
„Warum soll ich lächeln? Und hör auf, mich mit dem Knie anzustoßen, das tut weh!“
„Entschuldige! Aber erstens schauen die Jungs knackig aus. Zweitens wollen wir was erleben! Und drittens – hast du Lust den teuren Kaffee selbst zu bezahlen?“
„Wenn du meinst, dann grinse ich eben, irgendwie ist mir das peinlich.“, trotzte Olga.
Sie setzte ihren Ellenbogen auf den Tisch, stützte ihren Kopf gelangweilt auf die zur Faust geballte Hand und verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln in Richtung der beiden Männer.
Die aufgesetzte Freundlichkeit zeigte Wirkung. Die Männer wechselten einige Worte und kamen dann zielstrebig auf ihren Tisch zu. „Good evening, ladies. Excuse me. Are there still two places available?”
“Of course. Take a seat, please.
Olga war perplex. Joana hatte die Begrüßung des Mannes in geschliffenem Englisch beantwortet und hatte die beiden eingeladen, an ihrem Tisch Platz zu nehmen.
Olgas Peinlichkeit war dahin, besonders der Blonde hatte es ihr angetan. Das markante, kantig geschnittene Gesicht, eingerahmt von halblangen Haaren, machte Eindruck. Am meisten faszinierten sie jedoch die blauen Augen, die sich beim Lachen zu schmalen Schlitzen verengten.
„My name is Michael!“, lächelte der Blonde.
„I´m Olga!“ strahlte Sie zurück.
Die Art und Weise seiner Aussprache ließ sie vermuten, dass es sich um Deutsche handeln könnte.
Olga fasste Mut. Sie begrüßte die beiden nochmals in geschliffenem Deutsch.
Michael zeigte sich überrascht.
„Sie sind aus Deutschland?“, fragte Michaels Begleiter, der sich als Martin vorgestellt hatte.
„Nein, nein, ich habe lediglich die deutsche Sprache studiert! Ich bin Polin und lebe hier in Warschau“, kokettierte Sie lachend.
Schnell entwickelten sich Zwiegespräche. Olga blieb beim ihr vertrauten Deutsch und Joana unterhielt sich angeregt mit Martin in Englisch.
Schon bald wusste Olga von Michael, dass er kaufmännischer Leiter einer Firma aus München war, die in Warschau eine Niederlassung unterhielt. Besonders imponierte ihr, dass er keinen Hehl daraus machte, verheiratet und Vater von zwei Kindern zu sein.
„Wie wäre es jetzt mit einem schönen Cocktail in der Hotelbar? Das Café schließt um eins und die Hotelbar ist noch bis vier geöffnet.“ Michael schaute unternehmungslustig in die Runde.
Auch Ihre Deutschkenntnisse waren deutlich besser als Olgavermutet hatte.
Als Martin beim Kellner die Rechnung anforderte, war es selbstverständlich auch den Kaffee der Damen zu übernehmen.
Olga bekam nochmals das spitze Knie von Joana zu spüren.
Joana grinste sie an und nickte zaghaft mit dem Kopf, als wollte sie sagen: „Hab’s doch gewusst, der Kaffee ist so gut wie bezahlt!“ Gemeinsam verließen die beiden Paare das Café.
Über das Honiggelb gelangten sie zurück in das Rot des Marmors im Foyer. Unweit des Hoteleingangs brachte sie der Aufzug eine Etage höher zur „Zbrojownia Bar“.
Im Kontrast zu dem eher nüchternen Flair des Hotels wirkte die kleine Bar mit ihrem schwarzen von silbernen Sternen durchwirkten Teppichboden eher verspielt. In der Mitte des kleinen Raumes standen sechs Tische, jeweils von vier Stühlen umgeben, deren hohe Rückenlehnen eher an schwere Kaminsessel denn an die Bestuhlung einer Bar erinnerten. Der Tresen aus Teakholz war der Blickfang an der Stirnseite des Raumes. Die komplett verspiegelte Rückwand ließ den Raum bedeutend größer wirken, als er tatsächlich war. Über die gesamte Breite der Glaswand standen unzählige Flaschen aller Größen, Formen und Farben wie Zinnsoldaten aufgereiht.
Da alle Tische belegt waren nahmen sie am Tresen Platz.
Das charmant verpackte Interesse, das Michael an ihrer Person zeigte, genoss Olga ebenso wie den exotischen Geschmack der Pina Colada. Die Süße der Kokosnusscreme gemischt mit der fruchtigen Säure des Ananassaftes und der milden Sahne verheimlichten den hohen Alkoholgehalt des weißen Rums. Sie trank ein zweites und auch noch ein drittes Glas des süffigen Cocktails.
Die Anziehungskraft des Mannes im Einklang mit dem getrunkenen Alkohol veränderte ihre Wahrnehmungsfähigkeit auf angenehme Weise. Sie fühlte sich beschwingt, leicht und anmutig wie eine Vogelfeder, die im Wind schwebt. Als sie bemerkte, dass sie mit Michael alleine an der Bar saß, war es bereits kurz vor Vier. Sie hatte weder das Verstummen der Musik noch das Verschwinden von Martin und Joana wahrgenommen. In ihrem Kopf hatte sich ein Schwips eingenistet.
Der Barkeeper brachte seine Müdigkeit mit einem unmissverständlichen Gähnen zum Ausdruck.
Als Olga die Augen öffnete, fühlte sie ein dumpfes Brummen im Kopf. Desorientiert blickte sie sich in dem ihr unbekannten Raum um. Erschrocken stellte sie fest, dass sie nackt in einem Bett lag, das nicht das ihre war. Zunächst glaubte sie zu träumen und rieb sich die Augen um die vermeintlichen Trugbilder wegzuwischen. Die Bilder blieben. Das Bett neben ihr war leer, doch der Duft nach Mann, der sich in der zerwühlten Bettwäsche eingenistet hatte, bewies ihr die Realität. Sie hatte nicht geträumt.
Zunächst vage verschwommen dann immer konkreter kehrte die Erinnerung zurück.
Olga hatte keine Erklärung was sie bewogen hatte, mit Michael aufsein Zimmer zu gehen und mit ihm zu schlafen. Dieses Verhalten entsprach so gar nicht ihren Gepflogenheiten und den Vorstellungen, die sie von Anstand und Moral hatte.
Olga stand auf. Auf dem Weg zum Bad sammelte sie ihre wahllos im Zimmer verstreuten Kleidungsstücke auf.
Sie duschte ausgiebig mit dem Wunsch das Erlebte wegwaschen zu können.
Sie frischte ihr Make-up auf und kleidete sich an.
Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer fragte sie sich, ob Michael bereits zum Frühstücken gegangen sei.
Erst jetzt sah sie den beschriebenen Zettel auf dem Nachttisch liegen. Sie setzte sich, drehte das Blatt zu sich und las:
„Guten Morgen Olga,
der Abend und die Nacht mit dir waren wunderschön.
Mein Flugzeug geht schon sehr früh. Wollte dich nicht wecken! Komme in 10 Tagen wieder nach Warschau. Es wäre lieb, wenn du mich dann anrufen würdest! Küsse Michael.“
Darunter war die Rufnummer eines Handys aufgeschrieben.
P.S. Mach dir mit dem Geld einen schönen Tag!“
Sie hob das Blatt Papier an und entdeckte drei Hunderteuroscheine. „Der Kerl denkt ich bin eine Nutte!“, schoss es ihr betroffen durch den Kopf.
Die Erniedrigung wie eine Hure bezahlt worden zu sein trieben ihr Tränen in die Augen.
Sie nahm das Geld an sich, verließ das Zimmer, verzichtete auf das Frühstück und schlich sich wie eine Diebin aus dem Hotel. Olga wollte so schnell als möglich nach Hause kommen und bestieg eines der vor dem Hotel geparkten Taxis.
In ihrer Wohnung führte sie ihr erster Weg zum Telefon. Sie wählte die Nummer von Joana.
Erst nach langem Läuten meldete sich ihre Freundin mit verschlafener Stimme.
Wie die Eruption eines Geysirs, sprudelte das unverarbeitete Erlebnis spontan aus Olga.
„Ich hab Mist gebaut, einfach Mist, Mist! Du warst plötzlich weg, und heut morgen wach ich in einem fremden Bett auf …!“, stammelte sie unter heftigem Schluchzen.
„Ich verstehe dich nicht, besser ich komme gleich bei dir vorbei, dann kannst du mir alles im Detail erzählen!“
Es verging keine Stunde bis es an Olgas Tür klingelte. Joanas tief liegenden, dunkel geränderte Augen deuteten an, dass auch sie nur wenig geschlafen haben musste.
Mit gesenktem Kopf betrat sie nachdenklich die Wohnung.
„Du siehst auch nicht gerade ausgeschlafen aus! Ich koche uns erst einmal einen Kaffee!“
Sie setzten sich an den Tisch im Wohnzimmer.
Es tut mir Leid! Ich hätte es dir vorher sagen sollen“, flüsterte Joana leise.
„Ich versteh nicht, was hättest du mir vorher sagen sollen?“, stutzte Olga.
Joanas Wangen verfärbten sich tomatenrot, unpassende Falten legten sich auf ihre makellose Stirn und Tränen schwammen in ihre Augen. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir das erklären soll.“
„Was soll das heißen, wie ich dir das erklären soll?“
„Ich komme schon seit längerem ins Cafe Alexander um Männer kennenzulernen.“, seufzte Joana und rieb sich mit dem Handrücken verlegen die Stirn.
„Wenn es sich ergibt, schlafe ich mit ihnen und nehme Geld dafür“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Wie bitte?“
Bestürzt stierte Olga ihre Freundin mit geöffnetem Mund an.
„Das bedeutet, du gehst auf den Strich! Du gehst anschaffen, nimmst mich mit – und ich blöde Kuh hab keine Ahnung! Du bist ein echter Knaller! Ich bin stinke sauer auf dich!“, giftete Olga.
„Hast du dir noch nie Gedanken gemacht, womit ich meine Klamotten bezahle, die ich trage? Wie ich meine Kosmetik finanziere? Meinst du von den paar Kröten, die ich in der Boutique verdiene? Ich möchte nicht nur Luxus verkaufen, ich habe ein Recht darauf, ihn auch selbst zu genießen!“, blaffte Joana trotzig zurück.
„Ist ja gut, ist ja gut, Joana, beruhige dich. Entschuldige, aber über das wie, oder das womit, du dir deinen Luxus finanzierst habe ich mir bislang noch nie Gedanken gemacht. Das geht mich auch nichts an! Ich mach dir nur den Vorwurf, dass du mich ins Messer hast laufen lassen. Ich hatte keine Ahnung und es wäre schön gewesen, du hättest mich aufgeklärt, bevor wir gemeinsam ins Sobieski gegangen sind.“
Beide schwiegen. Sie hatten sich zuvor noch nie gestritten. Joana stand auf, ging auf Olga zu und legte besänftigend einen Arm über ihre Schulter.
„Du hast Recht Olga, es tut mir leid. Ich wollte dich doch nicht in irgendetwas hineinziehen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass ausgerechnet du in eine solche Situation kommen könntest. Wie konnte das passieren?“
„Ich erinnere mich an den gut aussehenden vor Charme strotzenden Typ, die Cocktails an der Bar, die irre gut geschmeckt haben. Danach hab ich einen echten Riss in meiner Erinnerung!“
„Hier ist übrigens das Ergebnis meines Ausrutschers!“
Wie beiläufig griff sie in ihre Handtasche, zog die drei Geldscheine heraus und hielt sie mit versteinertem Gesichtsausdruck in die Höhe. „Das ist doch gar nicht so schlecht für den Anfang!“, nickte Joana mit breitem Grinsen.
„Ich bin Lehrerin und keine Nutte!“, empörte sich Olga.
„Sieh es doch nicht so spießig, Du hast das Geld von einem reichen Geliebten erhalten, der sich die Zeit mit dir etwas kosten lässt! Das hat doch nichts mit einer Nutte zu tun.“
Die Spannung zwischen den Frauen hatte sich gelegt.
Nachdem Joana gegangen war, verstaute Olga die Geldscheine in ihrem Geldbeutel. Sie würde sie morgen auf ihr Konto einbezahlen.
***
Die folgenden Tage vergingen für Olga alltagsgewohnt rasch.
Joana hatte sich mehrmals bei ihr gemeldet, um sie zu einem gemeinsamen Besuch des Cafes Alexander zu animieren. Sie lehnte jedes Mal aus fadenscheinigen Gründen ab.
Zehn Tage waren vergangen. Michael musste heute in Warschau angekommen sein. Olga war sich unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte.
Am Nachmittag lief sie wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung. Mehrfach hatte sie den Telefonhörer zur Hand genommen, um sich dann doch zu entscheiden Michael nicht anzurufen. Sie würde sich nicht melden.
Gegen Sieben läutete Olgas Telefon.
„Hallo Schätzchen, gerade hat Martin angerufen. Er hat sich mit mir um Acht im Cafe Alexander verabredet. Michael ist auch da. Ich soll dich fragen, ob du nicht Lust hättest mitzukommen. Er möchte dich unbedingt sehen.“
„Ich weiß nicht so. Eigentlich wollte ich den Abend zuhause verbringen!“
„Sei kein Frosch. Wir machen uns einen schönen Abend. Was willst du allein zu Hause bleiben?“
Nach langem hin und her gab Olga dem Drängen von Joana nach. „Sollen wir uns im „Alexander“ treffen?“
„Klar. Also um Acht!“
Während sie sich duschte, schminkte und anzog, kamen nochmals Bedenken auf, ob ihr Verhalten ihrer bisherigen Sittsamkeit entsprechen würde.
Als sie sich mit ihrem neuen „Kleinen Schwarzen“, auf den Weg zu ihrem Date machte, waren die Bedenken über Anstand und Moral verflogen. Sie freute sich auf die Verabredung mit dem gut aussehenden Mann.
Punkt acht Uhr stieg sie aus dem Taxi. Ohne eine Spur von Unsicherheit betrat sie das Hotel. Im Vorbeigehen begrüßte sie den Empfangschef, der ihr freundlich zunickte. Zielstrebig durchquerte sie die hallenartigen Räume. Sie kannte den Weg ins Cafe.
Entgegen ihres letzten Besuches war das Cafe nur schwach besucht. Joana, Martin und Michael saßen am selben Tisch, der gleiche Pianist spielte dieselben Walzermelodien, wie vor zwei Wochen.
„Ist das Zufall?“, fragte sich Olga als sie auf die drei zuging.
Michael war aufgestanden.
„Schön, dass du es einrichten konntest!“, strahlte er mit einem warmherzigen Lächeln.
Olga erfasste seine zum Gruß ausgestreckte Hand. Er führte ihre Hand nach oben und drehte Olga zweimal in einer schnellen Pirouette um ihre Körperachse. Ihr offen getragenes Haar hob sich von den Schultern ab, als würde es frei durch den Raum schweben.
„Du bist wunderschön“, flüsterte Michael ihr ins Ohr, als er sie zu dem freien Stuhl am Tisch führte.
Sie genoss die Worte und spürte, wie ein wohliges Kribbeln Gänsehaut auf ihrem Rücken erzeugte.
Sie tranken Kaffee, unterhielten sich angeregt und lachten viel und ausgelassen.
„Lasst uns zum Tanzen in eine Diskothek gehen!“
Joana hatte das Bedürfnis sich zu bewegen. Sie saß auf der Kante ihres Stuhls, hatte beide Hände gespreizt auf den Tisch gelegt, als wolle sie im Sprung das Cafe verlassen.
Michael beobachtete Olga mit schräg gehaltenem Kopf und hochgezogenen Augenbrauen. Zufrieden registrierte er das kaum wahrnehmbare Schütteln ihres Kopfes.
„Olga und ich tendieren eher zu einem schönen Abendessen.“
Beide genossen den romantischen Abend in verliebter Zweisamkeit in einem der jüdischen Spezialitätenrestaurants in der Warschauer Altstadt.
Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, begleitete sie Michael ins Hotel und verbrachte mit ihm die Nacht.
Er weckte sie gegen Sieben mit einem zärtlichen Kuss auf die nackten Schultern.
Sie frühstückten gemeinsam im Hotel. Als Michael sie am Hoteleingang zum Abschied in die Arme schloss, war sich Olga sicher, dass sie sich wieder treffen würden.
Mit Ausnahme eines Abends, an dem Olga ein Deutschseminar am Goethe Institut abhalten musste, trafen sie sich Abend für Abend und verbrachten anschließend die Nächte im Hotel.
Am Morgen verabschiedeten sie sich vor dem Hoteleingang. Michael ging in seine Firma und Olga schlüpfte in ihre Rolle als Lehrerin.
***
Am Ende der Woche erwachte sie wieder alleine im Hotel. Michaels Abflug nach München war wieder sehr früh. Sie fand einen Briefumschlag auf dem Nachttisch. Im Umschlag entdeckte Olga neben gefühlvollen Zeilen zehn Einhunderteuroscheine.
Olga nahm ein Taxi und ließ sich zur Zweigstelle ihrer Bank in unmittelbarer Nähe der Willy-Brandt-Schule fahren.
Sie wechselte die 1000 Euro in Polnische Zloty. Als sie das Bündel Geldscheine in ihre Handtasche gesteckt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie im Moment mehr Geld bei sich trug, als sie monatlich als Lehrerin verdiente.
Völlig entspannt ging Olga danach an ihren Arbeitsplatz und unterrichtete zwei Stunden Deutsch in der sechsten und danach eine Stunde Russisch in der achten Klasse.
Unmerklich war es für Olga zur Gewohnheit geworden, dass sie die meisten Abende und Nächte der Woche mit dem deutschen Geschäftsmann verbrachte. Als Folge von Michaels regelmäßigen Besuchen bei seiner Familie in München, verbrachte Olga die meisten Wochenenden allein. Ein Los, das sie mit den meisten Frauen teilen musste, die einen verheirateten Mann an ihrer Seite hatten.
Sie war die Geliebte eines verheirateten, reichen Mannes.
Monate vergingen. Ihre Beziehung zu Michael hatte sich eingependelt. Montags holte sie ihn auf dem Flughafen ab und am Freitag flog sein zweites Ich in seine Parallelwelt nach München.
Olga hatte sich wie immer, wenn sie Michael abholte, besonders schick gemacht. Sie trug einen weit geschnittenen, kurzen schwarzen Leinenrock. Ein breiter Gürtel betonte ihre schmale Taille und trennte den Rock von einer weißen, eng geschnittenen Leinenbluse. Es war warm und sie hatte sich die Jacke aus schwarzem Leinen über die Schultern gelegt.
Traditionell zur Begrüßung setzten sie sich an die kleine Bar im Ankunftsbereich des Flughafens, um ein Glas Champagner zu trinken. Michael wirkte fahl im Gesicht. Er sah unausgeglichen und traurig aus.
„Du siehst nicht gut aus! Was ist mit dir? Freust du dich nicht mich zu sehen?“
Ihre Besorgnis war nicht gespielt. Sie hatte sich in Michael nicht direkt verliebt, doch seine Nähe war ihr vertraut geworden. Sie genoss die regelmäßigen Besuche von Restaurants, Konzerten und den damit verbundenen Abwechslungen in ihrem Alltag. Auch ihr monatliches Budget orientierte sich mittlerweile an Michaels regelmäßigen Zuwendungen.
„Natürlich freue ich mich dich zu sehen. Doch wir haben ein Problem!“
„Ein Problem?“
„Ab kommenden Monat werde ich auf unbestimmte Zeit nach Südamerika versetzt!“, erklärte Michael mit gesenktem Blick.
„Gibt es eine Chance, dass du wieder nach Warschau kommen wirst?“
Michael ließ die Frage lange unbeantwortet im Raum stehen. Dann schüttelte er den Kopf.
„Eher nicht!“
Mit einer solchen Veränderung hatte Olga nicht gerechnet. Mit Tränen in den Augen erfasste Sie Michaels Hände und küsste sie. Sie wollte keine Trennung!
Die Woche verging schneller als üblich.
„Bring mich nicht zum Flughafen. Ich möchte keine dramatische Verabschiedung in der Öffentlichkeit!“, flüsterte Michael ihr ins Ohr, während sie sich ein letzte Mal umarmten.
Olga begleitete ihn auf den Flur des Hotels. Sie sah ihm nach wie er ohne sich umzudrehen in Richtung Ausgang ging und im Aufzug verschwand.
Die ersten Wochen vermisste sie Michael sehr. Es war doch eine Spur von Liebeskummer aufgekommen. Die Wochentage waren trist geworden. Es fehlte ihr die vertraute Nähe von Michael, es fehlten die Abende in romantischen Lokalen, es fehlten die kleinen Aufmerksamkeiten, die er sich immer wieder hatte einfallen lassen und es fehlten die finanziellen Zuwendungen, an die sie sich erstaunlich schnell gewöhnt hatte.
Olgas Lebensstandard hatte sich peu a` peu gesteigert und war zur Gewohnheit geworden. Schnell stellte sie fest, dass ihr monatliches Einkommen als Lehrerin nicht ausreichen würde, um sich diesen Luxus weiterhin erhalten zu können.
Als sie mit Joana ihr Problem besprach, kam der Vorschlag gemeinsam Anschaffen zu gehen.
„Zusammen sind wir unschlagbar!“, feixte sie.
Zunächst war ihr diese Idee zuwider. Als ihre Finanzen jedoch in eine kritische Phase schwappten, gab sie dem Drängen ihrer Freundin nach.
Zunächst nur gelegentlich, dann immer regelmäßiger begleitete sie Joana in die Bars und Nachtclubs von Warschau, um Männerbekanntschaften zu machen.
Sie war nicht mehr die Geliebte eines reichen Geschäftsmannes, sie war eine Prostituierte geworden.
Auch nachdem Joana nach Deutschland gegangen war, ging Olga weiterhin dem horizontalen Gewerbe nach. Irgendwie schaffte sie es, ihren Beruf und ihren unmoralischen Job in ein Doppelleben zu packen.
Der Traum vom Fliegen
John Stewart, der ehemalige Jet-Pilot der britischen Luftwaffe der aus Altersgründen bei der Royal Air Force ausgemustert worden war, faszinierte den Studenten, der an der Vaal University of Technology Flugzeugbau studierte. Thomas Friedemann hatte den Piloten auf dem Flughafen von Upington kennengelernt.
Der fast zierlich wirkende Mann mit dem von Falten durchzogenen Gesicht, das Thomas an die Fassade eines unrenovierten Fachwerkhauses erinnerte, war Buschpilot. Er beflog Südafrika und die angrenzenden Länder Namibia, Botsuana Simbabwe und Mosambik. Missionsfliegerei, Transport von Buschärzten, sowie der Transport von Touristen und Expeditionsteilnehmern in unzugängliche Gebiete gehörten zu seinen Aufgaben.
Trotz des beachtlichen Altersunterschieds, John hätte locker sein Vater sein können, entwickelte sich zwischen den beiden Männern eine intensive Freundschaft. Wann immer es Johns Zeit zu ließ, trafen sie sich.
Sobald John Episoden aus seinem abwechslungsreichen Leben erzählte, umgab ihn eine Aura, die Thomas benebelte wie ein Absinthrausch.
Bald war ihm klar, dass die Planung von Flugzeugen nicht seine Zukunft sein konnte. Er wollte die Maschinen nicht entwerfen, er wollte sie fliegen. Er wollte Pilot werden. Ein Buschpilot wie John Stewart. Die beiden Männer saßen am Rand des Rollfelds im Schatten der Markise die sich entlang der Fassade ihres Büros zog und tranken Tee.
„Wie lange fliege ich jetzt für dich, John?“
„Du warst nach deiner Ausbildung drei Jahre mein Copilot. Nach dem Ankauf der neuen Cessna 206er Station Air wurdest Du gleichberechtigter Partner in der „South African Privat Fly Company“, das war vor acht Jahren. Wir sind seit elf Jahren ein Team.“
„Mein Gott, wo sind die Jahre geblieben? Ich denke gerne an die Zeit, als ich noch studierte. Wir hatten mehr Zeit um miteinander zu quatschen.“
„Sei froh, dass die Geschäfte so gut laufen. Wir haben zwei Flugzeuge und die verdienen ihr Geld ausschließlich, wenn sie in der Luft sind und nicht, wenn wir am Boden miteinander quatschen.“ „Apropos Geschäfte. Ich habe einen Anruf von der „Rosebank Clinic“ erhalten. Mein Vater hatte eine Herzattacke und liegt dort auf der Intensivstation. Kannst du für mich einen Medikamententransport von Johannesburg nach Lesotho abnehmen?“
„Kein Problem! Wir fliegen nach Johannesburg, du besuchst deinen Vater, ich übernehme die Ladung und auf dem Rückweg nehme ich dich wieder an Bord!“
Sie starteten mit der „Skyhawk“ gegen Acht in Upington und benötigten drei Stunden für die 444 Meilen bis Johannesburg.
„Grüß mir deinen Vater und gute Besserung für ihn. Für den Rückflug treffen wir uns gegen fünf im Tower, wenn was dazwischen kommen sollte telefonieren wir.“
„Guten Flug John – und nochmals Danke, dass du eingesprungen bist!“
„Mach keinen Aufstand! Schau zu, dass du zu deinem Vater kommst. Ich muss mich jetzt um die Ladung kümmern.“
Als Thomas das Krankenhaus erreicht hatte, war sein Vater bereits von der Intensivstation auf ein Krankenzimmer verlegt worden. Der Herzanfall hatte sich als nicht so schwerwiegend wie ursprünglich angenommen, entpuppt. Thomas blieb bis gegen halb Fünf und nahm dann ein Taxi. Im Flughafenbistro trank er noch einen Kaffee und betrat Punkt fünf den Tower.
Als er die gläserne Tür der Flugüberwachung hinter sich geschlossen hatte, kam ihm Henry Walker, der Chef vom Dienst, kreidebleich entgegen.
„Gut, dass du da bist! Wir befürchten, dass John abgestürzt ist. Die Cessna ist beim Anflug auf Leabua Johnathan plötzlich vom Radarschirm verschwunden!“, überschlug sich seine Stimme.
Ein dunkler Schleier legte sich über Thomas Augen. Er bekam weiche Knie. Unsicher ließ er sich in den nächstgelegenen Sessel fallen. Sie hatten sich vor nicht einmal sechs Stunden voneinander verabschiedet. Jeder Pilot konnte einen Fehler machen, der zu einem Absturz führen konnte. Aber niemals John, niemals John!
„Seid ihr sicher?“, stammelte Thomas mit brüchiger Stimme.
„So gut wie!“
Am kommenden Morgen wurde die Vermutung zur schrecklichen Tatsache. Johns Maschine war beim Überfliegen der Drakensberge am 3482 Meter hohen Thabana Ntlenyana zerschellt.
Die Ursache für den Absturz blieb ungeklärt. Es gab nur die Vermutung, dass er mit der Maschine in einen Vogelschwarm geraten war.
Johns Testamentsöffnung zeigte, dass er Thomas als Universalerben für alle Firmenanteile und sein beachtliches Barvermögen eingesetzt hatte.
Thomas Friedemann hatte Aaron Bekabantu eingestellt. Der Schwarzafrikaner war schon lange auf der Suche nach einer angemessenen Anstellung. Aaron hatte neben Deutsch auch in Betriebswirtschaft sein Studium abgeschlossen. Er entpuppte sich rasch als Glücksgriff. Der Betriebswirt brachte Ordnung in die desolate Buchhaltung der „South African Privat Fly Company“.
Rasch bekam er Prokura und kümmerte sich um den gesamten finanziellen Part der Firma, eine Arbeit, die Thomas schon immer zuwider war. Da Aaron auch Englisch und Afrikaans sprach, bewältigte er zusätzlich den gesamten Telefondienst der Firma.
Die Geschäfte florierten, Thomas war mehr in der Luft unterwegs, als am Boden.
Nie würde er vergessen, als er von einem mehrtätigen Auftrag zurückgekommen war und ihm Aaron aufgelöst gegenübertrat. Sein schwarzes Gesicht war aschgrau.
„Du musst auf dem schnellsten Weg Südafrika verlassen. Wir haben Steuerschulden in Millionenhöhe. Eine Durchsuchung deiner Firma und unsere Festnahmen stehen unmittelbar bevor.“
„Bist du nun völlig durchgeknallt oder stehst du unter Drogen?“, misstrauisch beäugte Thomas seinen Mitarbeiter.
Aaron übergab ihm den Verkaufsvertrag über die 206er Cessna, die er Dank seiner Prokura an einen Kollegen von Thomas verkauft hatte. „Erik holt heut die Maschine ab!“
„Wie bitte?“, Thomas Stimme überschlug sich. Er starrte seinen Mitarbeiter ungläubig mit geöffnetem Mund an.
„Dort auf dem Schreibtisch, in dem Aktenkoffer habe ich deine Bankunterlagen gerichtet. Deine persönlichen Unterlagen und Papiere. Ich habe den Verkaufspreis auf dein Konto der Deutschen Bank in Stuttgart überwiesen. Der Rest vom Geschäftskonto liegt in bar im Koffer und ganz obenauf liegt dein Flugticket nach Deutschland. Dein Flieger geht in“, er blickte kurz auf seine Armbanduhr, „geht in zwei Stunden!“
„Entschuldige Thomas ich habe die Informationen der bevorstehenden Festnahme vor drei Tagen erhalten, als du auf Tour in Botsuana und Simbabwe warst. Die Entscheidungen mussten sofort getroffen werden. Die Zeit drängt!“
„Woher hast du diese Verrücktheit überhaupt?“
„Ein Vetter von mir arbeitet in einer Putzkolonne beim Gericht in Upington. Der hat dort die Anträge der Staatsanwaltschaft liegen sehen.“
„Aber ich hab doch gar nichts gemacht!“
„Du nicht, aber ich Thomas! Ich habe mindestens 70 % unserer Umsätze an der Steuer vorbei gebucht! Wenn sie dich erwischen, ist alles weg. Du wirst alles verlieren, wirst in den Knast wandern und wenn du raus kommst, sowieso nach Deutschland abgeschoben werden.“
„Und wo sollen diese Gelder sein?“
„Hab ich alles über ein Konto in der Schweiz nach Deutschland verschoben!“
„Außerdem ist noch deine Erbschaftssteuer aus der Erbschaft Stewart offen!“
Ich dachte du hast das alles nach deiner Einstellung erledigt!“ „Thomas wir haben keine Zeit zu diskutieren, ich habe es nur gut gemeint. Packe das Notwendigste, ich fahre dich auf den Flughafen. Erik wartet auf dich. Er fliegt dich nach Johannesburg, von dort geht deine Maschine nach Frankfurt!“
„Du bist dir sicher, dass du nichts genommen hast?“
„Schau in deinen Flugkoffer!“
Thomas klappte den Deckel auf. Obenauf lagen sein Reisepass, seine Fluglizenzen und andere Dokumente. Darunter lag Geld, sehr viel Geld!
„Was passiert mit dir?“
„Ich werde irgendwann nachkommen. Ich werde dich finden, Thomas!“
***
Eine Linienmaschine der Lufthansa brachte ihn zurück in seine alte Heimat, die er als Kind verlassen hatte. Er würde gezwungen sein, an einen Neuanfang denken zu müssen.
Thomas nahm Kontakt mit dem Luftfahrtbundesamt auf. Als seine südafrikanische Lizenz bewilligt worden war, konnte er ein privates Flugunternehmen auf dem Stuttgarter Flughafen einrichten.
Er gründete die „Friedemann-Fly“ und kaufte sich nochmals eine Cessna 206 und beförderte Geschäftsleute in die deutschen Wirtschaftsmetropolen und transportierte sensible Fracht, die schnell ihren Weg zum Adressaten finden sollte.
Rasch hatte er sich einen Namen in der privaten Fliegerei gemacht. Die Wirtschaft in der Republik boomte und mit ihr die Auftragslage. Thomas bekam als einer der ersten deutschen Kunden die neue Cessna 425 Conquest I ausgeliefert und machte erfolgreich sein „Rating“ für die zweimotorige Turboprobmaschine. Die hohe Reisegeschwindigkeit und eine Dienstgipfelhöhe von 9140 Metern, erlaubten es ihm auch internationale Flugaufträge anzunehmen.
Sein Engagement füllte seinen Alltag aus. Privatleben war ein Fremdwort für ihn geworden. Eine feste Bindung wäre ein Störfaktor für seine Arbeit gewesen. Nur gelegentlich gönnte es sich kleine Ausflüge ins Rotlichtviertel der Stuttgarter Altstadt.
Schon bald eröffnete er im Flughafen ein neues Büro. Er stellte zwei Sekretärinnen ein und finanzierte ein weiteres Flugzeug, für das er zwei Piloten verpflichtete.
Die Öffnung nach Osten als Folge der Wiedervereinigung Deutschlands, bot Thomas eine neue Herausforderung. Seine Flüge in die Neuen Bundesländer und hinter den ehemaligen „Eisernen Vorhang“ waren ständig ausgebucht. Er gründete auf dem Frederic-Chopin-Flugplatz in Warschau eine Zweigstelle der „Friedemann-Fly“.
Der Zuhälter und der Bänker
Das schummrige Licht der Bar ließ den Tabakqualm noch dichter erscheinen als er tatsächlich war. Mitleidvoll verhüllte er das wahre Alter des Mobiliars und verschleierte die verschossenen Stoffbezüge der Bänke und Sessel. Auf der kleinen runden Bühne des Nachtlokals quälte sich eine, nicht mehr ganz junge Tänzerin lustlos aus ihren Dessous.
Nur wenige Augenpaare folgten der Halbnackten, die sich eher linkisch als grazil um eine Stange schlang, um schließlich die letzten Hüllen fallen zu lassen. Ihr leidenschaftsloser Abgang von der Tanzfläche wurde vom schwachen Beifall der wenigen Gäste begleitet. Erleichtert, ihren Auftritt hinter sich zu haben, verließ sie mit trippelnden Schritten die Bühne und verschwand hinter einem Vorhang. Es war kurz vor Mitternacht. Friedrich Langer, der Inhaber des „Black Roses“ stand an der Bar und hatte der Tänzerin versonnen nachgeschaut.
Langer, ein mittelgroßer, schlank gewachsener Mann mit markant geschnittenem Gesicht, trug das dunkle dichte Haar mit Gel streng nach hinten gekämmt. Auch ohne Moustache erinnerte er an Clark Gable als Rhett Buttler im Filmklassiker „Vom Winde verweht“.
Er war im Stuttgarter Altstadtmilieu seit Jahren erfolgreicher Zuhälter und in der Ludenszene mit seinem Spitznamen „Der lange Friedrich“ ein fester Begriff.
Wie er bei einer Körpergröße von gerade mal 175 cm zu diesem Spitznamen gekommen war, wusste niemand so genau. Man munkelte, dass es nicht an seinem Familiennamen liegen würde, sondern daran, dass die Natur es bei der Ausstattung seines primären Geschlechtsmerkmales besonders gut mit ihm gemeint haben soll. Genau wusste es niemand und keiner wagte nachzufragen.
Im Lauf der Jahre hatten ihm die Huren zu einem ansehnlichen Guthaben auf einem Nummernkonto in der Schweiz verholfen.
Vor zehn Jahren wurde ihm das „Black Roses“ zum Kauf Angeboten. Der Besitzer, ein sechzigjähriger Jude, wollte seinen Lebensabend in Israel verbringen. Für Langer eine gute Möglichkeit seine Schwarzgelder sinnvoll umzuschichten.
Die Lösung, wie man das Geschäft zur Zufriedenheit beider abwickeln konnte, war schnell gefunden.
Eine Schenkungsurkunde bestätigte den Besitzerwechsel von Adam Rosenfeld an Friedrich Langer. Nach Abschluss der notariellen Notwendigkeiten trafen sie sich in Zürich. Auf der Schweizer Nationalbank erhielt der Jude die vereinbarte Kaufsumme der „Schenkung“ und flog noch am selben Abend mit einem One way ticket weiter nach Tel Aviv.
***
„Wir haben Monatsanfang, es ist Samstagabend und die Bude ist so gut wie leer! Verstehst du das Eva?“
„Vielleicht solltest du deinen Laden renovieren und was Jüngeres für Bühne und Animierbereich engagieren!“
Die großgewachsene schlanke Frau hatte ihr langes blondes Haar sorgsam zu einem fetten Zopf geflochten. Obwohl sie in die Jahre gekommen war, besaß sie noch immer diese erotische Ausstrahlung, die Voraussetzung war um in ihrem Job erfolgreich sein zu können. Gekonnt aufgetragenes Make-up und diffuses Licht kaschierten die Spuren, die das Leben auch in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Falten um Augen und Mund waren kaum zu erkennen.
Eva Santor arbeitet seit Jahren im Black Roses und war von Langer als Barfrau vom Vorbesitzer übernommen worden.
Friedrich schmunzelte.
„Mein Mädchen, wir sind beide zu alt um uns was vorzumachen. Ich stecke finanziell bis zum Hals in der Scheiße. Ich weiß nicht mal, mit was ich die Gage der Tänzerinnen bezahlen soll.“
Gedankenverloren drehte er sein Glas in der Hand.
Das finanzielle Desaster hatte begonnen, als er sich auf das Angebot eines Immobilienmaklers aus Leipzig eingelassen hatte, in den Neubau eines Nachtlokals in der Leipziger City zu investieren. Der Makler mit dem Büro in der pompösen Jugendstilvilla in Dresdens Elbauen fand sogar eine Lösung wie sein restliches Schwarzgeld aus der Schweiz in das Projekt einfließen könnte. Er schlug vor die Gelder über Privatkonten seiner Geschäftspartner aus Liechtenstein waschen zu lassen.
Unter dem notorischen Zwang des Zockers ließ sich Langer auf den Vorschlag ein. Fuhr mit dem Makler in die Schweiz und unterschrieb die nötigen Formulare um die Transaktionen starten zu können.
Als sein Warten auf den Notartermin in Dresden vergeblich war und all seine Versuche den Makler telefonisch zu erreichen fehlgeschlagen waren, entschloss er sich zu einem unangemeldeten Besuch in Sachsen.
Die Villa war leer geräumt. Der Makler nebst Personal war spurlos verschwunden.
Auch die Firmen in Liechtenstein erwiesen sich als nicht existent. Der Gang zur Polizei war für Langer ausgeschlossen. Wie hätte er die Herkunft der verschwundenen Millionen erklären sollen?
„Ich geh mal an die frische Luft, das bisschen hier schaffst du auch alleine, oder?“
„Geh mal, vielleicht kommst du auf andere Gedanken!“
***
Georg Nusser gehörte zweifelsohne zu der Kategorie von Männern, die man schlichtweg als Biedermänner bezeichnete. Er war mit Karin, einer Lehrerin mit halbem Lehrauftrag verheiratet. Sie hatten zwei Töchter im Alter von zwölf und vierzehn Jahren. Er war Leiter der Sparkassenfiliale in der Gemeinde, in der er auch sein Reiheneckhaus gebaut hatte und als fraktionsloses Mitglied im Gemeinderat saß. Wie man zu sagen pflegt, hatte er es in seinem bisherigen Leben zu etwas gebracht.
Es war Freitagabend kurz vor elf. Der hatte am Busbahnhof in der Stuttgarter Innenstadt angehalten. Der 48-jährige war bester Stimmung. Nach der Besichtigung der Brauerei hatte der Betriebsausflug in der Gaststätte Löwen seinen Abschluss gefunden. Die kostenlose Bierprobe und die Tatsache, dass seine Frau mit den Kindern über das Wochenende zu seinen Schwiegereltern gefahren waren, hatten Georg animiert, das eine oder andere Glas mehr als üblich zu trinken. Die für den Monat Mai viel zu warme Abendluft in Verbindung mit dem bereits genossenen Alkohol und der Gewissheit, dass Karin nicht wie gewohnt zu Hause auf ihn warten würde, hatte ihn in seinem Wunsch bestärkt noch etwas unternehmen zu wollen.
„Wer hat noch Lust auf einen Altstadtbummel?“
Nusser um die Uhrzeit nicht nach Hause, dazu an einem Freitag und ausgerechnet ins Rotlichtmilieu? Keiner der Kollegen teilte diesen nicht erklärbaren Unternehmungsdrang. Ihre Antwort war verständnisloses Schweigen. Man verabschiedete sich und jeder ging seinen Weg in das bevorstehende Wochenende.
Keineswegs entmutigt, machte sich Nusser allein auf den Weg. Er überquerte den noch immer stark belebten Bahnhofsvorplatz. Vorbei am „Hotel am Schlossgarten“ schlenderte er durch den Schlossgarten. Im Gegensatz zum Bahnhofsbereich war es hier angenehm still. Nur vereinzelt gingen Paare Hand in Hand an ihm vorbei oder standen knutschend unter Bäumen die ihr frisches Frühlingsgrün zeigten. Sein Weg führte ihn entlang der breiten Treppenaufgänge des Württembergischen Staatstheaters, vorbei am Sitz der Landesregierung in Richtung Altstadt, dem Amüsierviertel der Hauptstadt. Er unterquerte den Charlottenplatz, ging durch die Esslinger Straße und stand kurz danach vor der Leonhardskirche im Herzen des Rotlichtmilieus.
Wie bunte Perlen einer Halskette reihten sich entlang der Leonhardstraße die Barbetriebe auf. Die grellen Neonlichter der Reklameschilder harmonierten nicht mit der spätgotischen Kirche und der Steinskulpturengruppe die eine Kreuzigungsgruppe überlebensgroß darstellte. Der Kirchturm überragte die Sündenmeile wie ein mahnend erhobener Zeigefinger.
Frauen, die auch für eine laue Maiennacht zu spärlich bekleidet waren, säumten die mit Kopfsteinpflaster belegte Gasse und erinnerten Georg an bunte Kolibris. Sie schnatterten und lachten, nur wenn ein Mann vorbeiging, verstummten sie kurz und ihre Aufmerksamkeit schwenkte um. Mit dem Instinkt des Profis unterschieden sie echte Freier von den meisten anderen die nur von Neugierde getrieben im Milieu unterwegs waren.
Georg war kurz stehen geblieben.
„Möchtest du ficken?“
Verdattert drehte sich Georg um und starrte mit aufgerissenen Augen in das aufreizende Gesicht einer großgewachsenen Blondine mit langem Pferdeschwanz. Ein tiefes Dekolleté, das den üppigen Busen unseriös drapierte, lockte seine Augen zu einer Wanderung über die in Hot Pants steckende schmale Hüften hinab zu den endlos langen Beinen, die in hohen Pumps steckten. Er spürte seinen Pulsschlag als ein Pochen in den Schläfen und bemerkte, dass sich sein Penis regte. „Willst oder willst nicht? Wenn du keinen Bock, oder keine Kohle hast, hör auf mich anzugaffen und schau zu, dass du Land gewinnst!“ „Entschuldigung, das muss ein Missverständnis sein!“, stotterte er verklemmt aus seinem zu einem schmalen Schlitz geformten Mund.
„Dann rausch ab mit deinem Missverständnis!“, raunzte ihn die Blondine an, drehte sich um und schnatterte mit ihren Kolleginnen weiter, als hätte es den kurzen Auftritt nie gegeben.
Georgs Schwellkörper waren dem vulgären Auftritt dieser Frau nicht gewachsen. Die Beule in seiner Hose löste sich ebenso rasch in Luft auf wie sein Selbstwertgefühl. Beides verschwand im Nichts.
„Ich gehöre einfach nicht hier her!“, murmelte er außer Hörweite der Frauen.
„Außerdem sind das auch keine Kolibris, sondern einfach Nutten!“, realisierte er und ging weiter in Richtung U-Bahn, die ihn in sein gewohntes Leben zurückführen sollte.
Georg war entgangen, dass sich der Himmel mit mächtigen Gewitterwolken bestückt hatte. Plötzlich öffneten sich die dunklen Kolosse. Es begann zu Schütten, als ob eine Sintflut das böse Treiben der Altstadt wegschwemmen sollte.
Georg rannte zu einem Vordach das ihm Schutz bot.
Erst als er im Trockenen stand bemerkte er, dass er im Eingang eines Nachtlokals gestrandet war. „Black Roses“ stand in rot leuchtender Neonschrift über der geöffneten Tür, die den Blick auf eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe freigab. An den ebenfalls Rot tapezierten Wänden hingen in Silberrahmen eingefasste Schwarzweiß-Fotos halbnackter Frauen.
Er drehte dem Eingang den Rücken zu und blickte in die vom Regen leergefegte Straße. Die Wassermassen hatten auch die Kolibris, die in Wirklichkeit Nutten waren, weggespült.
Mit feuchten Fingern klopfte Georg eine Zigarette aus der Packung und steckte sie in den Mundwinkel. Während er in seinen Hosentaschen nach dem Feuerzeug kramte, kam wie aus dem Nichts ein brennendes Streichholz über seine Schulter.
Er hatte den Mann, der hinter ihm stand nicht kommen gehört.
„Na, nass geworden?“
Ein Mann, etwa im gleichen Alter wie er. Mittelgroß, schlank, mit dunklem, nach hinten gegeltem Haar grinste ihn an und steckte sich selbst eine Zigarette an.
„Hab’s gerade noch hierher geschafft!“
„Scheint so schnell auch nicht aufzuhören!“
„Glaub ich auch. Ich war eben auf dem Weg zur U-Bahn.“
„Es ist doch noch keine Zeit nach Hause zu gehen – dazu noch alleine. Kommen sie doch mit in die Bar, es wird ihnen sicher gefallen.“, lachte der Feuergeber und schnippte den Rest der Zigarette von sich. Noch im Flug wurde die Kippe von einem fetten Regentropfen getroffen und erlosch mit einem leisen Zischen.
Ohne zu antworten ging Georg hinter dem Mann die rote Treppe hinauf einer leisen Musik entgegen, die von Treppenstufe zu Treppenstufe intensiver wurde.
So lernten sie sich damals kennen, in dieser zu warmen gewittrigen Mainacht. Der von der Spießigkeit geprägte Banker Georg Nusser und der leichtlebige Zuhälter und Barbesitzer Friedrich Langer.
***
Trotz der unterschiedlichen Charaktere, oder vielleicht auch gerade deswegen, entwickelt sich rasch eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Männern.
Das Milieu, für Friedrich längst zum Alltag geworden, empfand Georg prickelnd wie Champagner.
Als die häufigen Barbesuche sein Budget zu sprengen drohten und die permanenten „abendlichen Besprechungen in der Bankzentrale in Stuttgart“ seiner Frau plausibel zu machen schwieriger wurden, riet ihm die Vernunft zur Rückkehr in sein bisheriges Leben.
„Du und dein Laden sind mir auf Dauer zu teuer Friedrich und plausible Erklärungen für meine häufige abendliche Abwesendheit sind ausgereizt, Karin ist schon jetzt misstrauisch!“
„Das ist doch kein Problem, wenn du keine Flocken hast, bist du mein Gast, wir sind doch Freunde! Nur die Sache mit deiner Frau musst du selber klären!“, lachte Friedrich verschmitzt und schlug Georg so heftig auf den Rücken, dass sich dieser verschluckte und von einem Hustenanfall gebeutelt wurde. Mit hochrotem Kopf bedankte er sich für die ausgeprägte Freundschaftsbekundung.
Noch ehe sich Georgs Vernunft voll entfaltet hatte, verabschiedete sich von ihm auf Nimmerwiedersehen.
Wenige Tage später saßen Georg und Friedrich am Tresen des „Black Roses“. Es war bereits spät.
„Ist ja langweilig zu würfeln wenn es um Nichts geht!“, nörgelte Georg, als sich unvermittelt eine junge Frau mit langen blonden Haaren hinter ihnen mit einem Räuspern bemerkbar machte.
„Muss ich mein Bier selbst zahlen oder gebt Ihr mir eine Chance beim Knobeln zu gewinnen?“
„Hallo Joana! Du hast dich lange nicht sehen lassen.“
Überrascht stand Friedrich auf, umarmte die attraktive Frau, schob sie dann leicht von sich und begutachtete sie mit schräg gehaltenem Kopf und lüsternem Blick vom Kopf bis Fuß.
„Du siehst super aus, vielleicht solltest du doch für mich arbeiten, was meinst du?“
Ob unser Verhältnis dann noch so ungetrübt geschwisterlich wäre? Hast du mir nicht vor einiger Zeit beteuert, dass du dein Loddeldasein an den Nagel gehängt hättest?“
„Du weißt ja, der Kater lässt das Mausen nicht!“
Beide lachten.
„Ach übrigens, das ist mein Kumpel Georg und das ist meine Freundin Joana, die schickste Polin in der Stadt!“
Als Joana sich umdrehte erkannte er sie wieder. Es war der blonde Pferdeschwanz mit dem tiefen Dekolleté und den schmalen Hüften, der kurzfristig für die Beule in seiner Hose verantwortlich gewesen war.
„Hallo!“, säuselte die Erinnerung und streckte ihm lächelnd eine Hand entgegen.
Zögerlich stand er auf und nahm die angebotene Hand an.
„Freut mich“, erwiderte er knapp und setzte sich wieder.
Erneut schenkte sie ihre Aufmerksamkeit Friedrich. Die Frau hatte ihn nicht wiedererkannt. Ein Umstand, der Georg nicht unrecht war.
An diesem Abend begnügte sich Georg mit seiner Rolle als Zuhörer. Er saß neben den beiden an der Bar und beobachte Joana, die sich angeregt mit Friedrich unterhielt. Wenngleich er sie wiedererkannt hatte, passte ihr Auftritt nicht zu der Frau, an die er sich erinnerte. Joana zeigte sich charmant, freundlich, witzig und geistreich. Sie war alles andere als vulgär oder obszön. Hätte er nicht gewusst, wie sie ihr Geld verdient, hätte er vermutet, dass sie in einer Parfümerie, einer Boutique oder hinter einem Bankschalter arbeiten würde.
Er verdrängte die erste Begegnung und bemerkte, dass die räumliche Nähe zu ihr seine Gefühle noch mehr als zuvor aus dem Gleichgewicht brachte.
Aus Zufallsbegegnungen im „Black Roses“ wurden nach und nach Verabredungen außerhalb der Bar. Als sie sich an einem Spätnachmittag in einem Cafe in der Stuttgarter Innenstadt verabredet hatten, offenbarte sich Georg und schilderte Joana, wie sich ihre erste Begegnung mit seinen Augen zugetragen hatte.
„Du hast mich ordentlich geschockt!“, verkündete Georg mit einem Hauch von Rot im Gesicht.
„Weißt du, wenn ich mich bei meiner Arbeit so benehmen würde wie ich wirklich bin, hätte ich nur wenig Erfolg in diesem Job. Entschuldige bitte, es ist mir sehr unangenehm.“
Joana schaute ihn mit großen, fast kindlich geweiteten Augen an. Ihre Peinlichkeit war nicht gespielt. Sie suchte seine Hand.
Georg zuckte kurz zurück, als er sie auf der seinen spürte.
„Weist du, ich war mal Verkäuferin in einer Boutique in Warschau. Kunden waren überwiegend ausländische Geschäftsleute, die auf der Suche nach „Mitbringseln“ für die zu Hause wartenden Frauen waren.
Den eindeutigen Avancen der zumeist älteren Männer ging ich erfolgreich aus dem Weg. So ging das Jahr für Jahr. Irgendwann hatte ich es satt Nobelmarken verkaufen zu müssen ohne jemals selbst solche Designerteile besitzen zu können! Schnell war mir klar, dass mit meinem Arbeitslohn dies ewig ein Traum bleiben würde. Irgendwann gab ich den Verlockungen des Geldes nach und machte dafür die Beine breit.“
Georg, zog seine Hand zurück.
„Entschuldige! Ich bin eben eine Nutte und kein Püppchen. Auch wenn dir das nicht passt!“
Rasch erfasste sie nochmals Georgs Hand und drückte sie so fest, als hätte sie Angs,t dass sie ihr nochmals entgleiten könnte.
„Soll ich weiter machen, oder ist es dir zu viel?“
Georg schluckte trocken, ein Kloß blockierte die Luftröhre. Wortlos nickte er.
„Durch die Vermittlung eines zweifelhaften Eheanbahnungsinstitutes kam ich nach Stuttgart und ließ mich hier auf die Ehe mit einem versoffenen Penner aus der Stuttgarter Obdachlosenszene ein. Mein Besuchervisum und die Eheschließung mit einem gewissen Gustav Obermeier kosteten mich damals zehntausend Euro und viel Nerven. Nachdem ich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte, reichte ich die Scheidung ein. Der Antrag, meinen Geburtsnamen wieder annehmen zu dürfen, wurde vom Standesamt genehmigt. Seit meiner Ankunft in Stuttgart gehe ich in der Altstadt auf den Strich und lebe von der Liebe.“
Es waren zwei Stunden vergangen, als sie Hand in Hand das Cafe verließen und in Joanas kleine Wohnung gingen. In dieser Nacht wollte Joana nicht mit Liebe Geld verdienen und Georg träumte von Möglichkeiten, wie er Joana von der Straße wegbringen könnte.
Hurenalltag
In einem Anfall hirnloser Verliebtheit hatte Georg seiner Frau offenbart, dass er ein Verhältnis hat. Karin ließ nichts unversucht, ihren Mann zurück zu gewinnen. Sie versuchte es mit Bitten und Flehen, mit Appellen an seine Vernunft bis hin zur aggressiven Drohung, sie werde ihn finanziell vernichten, wenn er sein Verhältnis mit diesem Flittchen nicht beenden würde. All ihre Versuche blieben erfolglos. Auch die Bemühungen der gemeinsamen Freunde waren vergeblich. Resigniert stellte Sie ihm die Koffer vor die Tür und setzte zum finalen Todesstoß seines bisherigen Lebens an. Sie unterrichtete die Bank, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer Nutte hat und in Zuhälterkreisen verkehrt.
Nach bestätigten Recherchen eines Privatdetektivs erfolgte Georgs fristlose Entlassung. Die Aufforderung sein Mandat im Gemeinderat abzugeben stand in zeitlicher Nähe.
Selbstkritisch schaute Georg in den Spiegel und schien mit dem was er sah unzufrieden zu sein. Sein Alter war nicht zu übersehen. Im Gegenteil, auch mit viel Charme wäre kaum jemand auf die Idee gekommen ihn unter Fünfzig zu schätzen.
Tiefe Falten hatten sich in seine Stirn und um den Mund eingegraben. Im Gegensatz zu den eingefallenen Wangen hatte sich sein Bauch entgegengesetzt entwickelt – er war schlichtweg zu fett geworden. Das reduzierte Wuchsverhalten seiner dünner gewordenen Haare hatte dazu geführt, dass sich die früher blonde Haarpracht weit hinter den eigentlichen Haaransatz zurückgezogen und einer ausgeprägten Stirnglatze Platz gemacht hatte.
Georg griff zur Zahnbürste. Er quetschte den letzten Rest Zahnpasta aus der gefalteten Tube. Er wollte sich den üblen Nachgeschmack von Nikotin und Alkohol aus seiner Mundhöhle schrubben.
Georg spülte sich den Mund aus und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Das kalte Wasser tat ihm gut.
Nachdem er die Zahnbürste in den Becher zurückgestellt hatte, schaute er nochmals in den Spiegel. Die Hoffnung, durch den Reinigungsvorgang etwas verändert zu haben, hatte sich nicht erfüllt. Dieses zu alte und verhärmte Gesicht, das ihn aus dem Spiegel anglotzte, hatte sich keinen Deut verändert. Lediglich der miese Geschmack im Mund hatte sich etwas reduziert.
Angewidert wandte sich Georg von seinem Konterfei ab. Missmutig schlurfte er in sein Wohnzimmer und ließ sich vornüber auf das nicht gemachte Bett fallen.
Er spürte, wie sich wieder Selbstmitleid in ihm ausbreitete, um schließlich sämtliche Kapazitäten seines Hirns zu vereinnahmen. Immer öfter fühlte er sich als Opfer widriger Ereignisse. Seine Selbstkritik war auf dem Nullpunkt angekommen.#
Georg drehte sich auf den Rücken und stierte an die Decke. Sein Nervensystem schien blockiert. Nur die Bereiche zur Aufrechterhaltung der vegetativen Funktionen schienen lebendig und sein schlagendes Herz hielt den Kreislauf stabil.
Die schrille Klingel an der Haustür holte Georg aus seinem Selbstmitleid zurück. In seinem Leben hatte sich einiges geändert.
Es läutete ein weiteres Mal. Georg öffnete die Tür.
„Hi! Hast Du noch geschlafen?“
Joana stand vor ihm, strahlte mit schräg gehaltenem Kopf und blinzelte mit einem Auge zu.
„Hallo Liebes, nein. Hab nur nachgedacht.“, seufzte er nachhaltig. Sein Seufzer erinnerte an den Klang eines altersschwachen Blasebalgs.
Wie von Zauberhand gestrafft, glätteten sich seine Gesichtsfalten. Joanas Nähe erreichte das, was vorangegangene Restaurierungsversuche vor dem Spiegel nicht geschafft hatten.
„Hast Du wieder Trübsal geblasen?“, kritisierte sie mit mahnend erhobenem Zeigefinger.
Mit schnellen Schritten durchschritt sie die kleine Wohnung und öffnete die Fenster.
„Du könntest ja auch mal Dein Zimmer lüften und Dein Bett machen, Du vergammelst hier total. Vielleicht wäre es besser Du würdest wieder zu mir ziehen?“
„Lieber vergammle ich hier, als das Gestöhne deiner Freier anhören zu müssen!“
„Du machst es Dir einfach mein Lieber. Du liegst den lieben langen Tag in deinem Bett, haderst mit Gott und der Welt und jammerst bloß rum! Von was bitte sollen wir denn leben – wenn nicht von meiner Vögelei. Etwa von den paar Kröten deiner Sozialhilfe?“
Auf ihrer Stirn hatten sich zwei annähernd rechtwinkelige Falten gebildet die ihrem Gesicht eine Strenge verliehen, die nicht zu ihr passen wollte. Energisch drehte sie sich um die eigene Achse und streckte Georg demonstrativ den Rücken zu.
Kaum waren die Worte gesprochen, tat es ihr auch schon Leid, sie gesagt zu haben.
Sie drehte sich zurück.
„Tut mir leid. War nicht so gemeint. Schau, das Geschäft läuft doch ganz gut. Denk immer daran, ich ficke nur mit meinem Körper und nicht mit meinen Gefühlen.“
Die Achtung ihrer Person, die Aufmerksamkeiten, die er ihr entgegenbrachte und seine Zärtlichkeit hatten bei ihr Empfindungen geweckt, die ihr unbekannt waren. Gefühle, die in ihrem bisherigen Leben auch nie eine Rolle gespielt hatten.
„Geh unter die Dusche und mach dich schick für mich. Du hast den dunkelblauen Leinenanzug schon lange nicht mehr getragen.“
Als er zurückkam reichte Sie ihm den über einem Bügel hängenden Anzug.
Georg wählte zum dunkelblauen Anzug ein weißes Leinenhemd. Als er dann die geflochtenen Sommerschuhe an den Füßen hatte, war er mit seinem Outfit zufrieden.
„Lass uns bei Friedrich vorbeigehen. Der ist zwar genau wie du weder mit sich noch mit der Welt zufrieden. Auf jeden Fall ist es für Dich besser dort zu sein als hier in diesem Loch rumzuhängen und Trübsal zu blasen. Ich geh noch zwei Stunden arbeiten und komme dann nach.“
Arm in Arm verließen sie die Wohnung.
Sie gingen durch die Pfarrstraße, vorbei am Leonhardplatz und bogen dann ab in die Weberstraße. In knapp fünf Minuten erreichten sie das „Black Roses“.
Obwohl es Mitternacht war, flanierten noch immer viele amüsierbereite Gäste durch die Gassen der Altstadt.
„Tschüss Georg, bis später!“
Vor dem Eingang der Bar löste sich Joana von seinem Arm, küsste ihn kurz auf den Mund, um sich dann zu der Gruppe von Mädchen zu gesellen, die keine zehn Meter entfernt auf Kundschaft warteten. Georg würde sich nie damit abfinden, dass Joana ihren gemeinsamen Unterhalt mit Liebe verdiente.
Abrupt drehte er sich um und ging den roten Treppenaufgang des „Black Roses“ hinauf, vorbei an den Schwarzweißen Fotos der spärlich bekleideten Tänzerinnen.
Trotz der wenigen Gäste zog Zigarettenqualm in dichten Schwaden durch den Raum. Wie immer, wenn Georg die Bar betrat, tränten ihm sofort die Augen. Wie durch einen Schleier erkannte er schemenhaft Friedrich und Eva. Sie standen am Tresen und unterhielten sich.
Auf der Bühne, in rotes Licht eingetaucht, ließ eine Tänzerin ihren üppigen Busen im Rhythmus der Musik kreisen. Ohne den Rotationen Aufmerksamkeit zu schenken, ging Georg zielstrebig auf den Tresen zu.
Eva bemerkte ihn erst als er unmittelbar hinter ihnen stand.
„Hi, Georg“
„Hallo Ihr beiden!“
„Hallo Alter!“
Georg regte sich schon lange nicht mehr auf wenn Friedrich ihn mit „Alter“ anredete obwohl er nur unwesentlich älter als Friedrich war. „Nicht gerade voll dein Laden“, stellte Georg mit prüfendem Blick fest. Seine Augen wanderten nochmals durch den Raum und er begann laut zu zählen.
„Eins, zwei, drei …!“
„Lass die Zählerei, es sind gerade mal zwölf stiere Freier, die seit Stunden vor ihren abgestandenen Bieren Hocken und die Mädels angaffen.“
„Mit mir wird sich Dein Umsatz auch nicht steigern.“, versuchte Georg die schlechte Laune zu kaschieren und stülpte symbolisch das Futter beider Hosentaschen nach außen.
„Joana hat mich rausgelockt. Sie wollte arbeiten und später vorbeikommen.“
„Mach Georg mal ein Pils!“
Friedrich wirkte alt und müde, der Gesichtsausdruck erinnerte ihn an sein eigenes Konterfei das ihn vor noch keiner Stunde aus seinem Badespiegel angestarrt hatte.
Die Musik endete. Der Abgang der Tänzerin wurde von spärlichem Applaus begleitet. Ihre Dessous vor den nackten Körper gepresst, ging das Mädchen an ihnen vorbei zum Umkleideraum. „Scheißladen!“, schlüpfte es durch die zu einem schmalen Schlitz geformten Lippen.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte die Bemerkung bei Friedrich einen Tobsuchtsanfall ausgelöst.
„Sie hat doch Recht. Ihre Titten hätten es verdient vor einem vollen Haus gezeigt zu werden.“
Sein Versuch zu lächeln wirkte gekünstelt.
„Ich war vergangene Woche im „New Wave“ auf der Königstraße. Ein geiler Laden, sag ich euch. Kein „Gelsenkirchener Barock“ mit Plüsch und Blümchen wie hier. Nein, modern eingerichtet. U-förmiger, breiter Tresen aus Edelstahl. Genial für Table Dance. Drei Mädchen gleichzeitig an den Stangen und in der Mitte eine Drehbühne. Der Laden war bis auf den letzten Platz voll.“
Ich brauch dringend Flocken!“ Friedrich rieb symbolisch Daumen und Zeigefinger aneinander.
„Und die nicht zu knapp bemessen!“
Die zu schmalen Schlitzen verengten Augen stierten auf das leere Glas, das er mit beiden Händen so fest umschlossen hielt, dass sich die Knöchel seiner Handrücken weiß verfärbt hatten.
„Ich muss raus aus diesem Mief, ich brauch dringend frische Luft!“ Er stieß sich vom Tresen ab und verschwand schnell in Richtung Ausgang.
„So schlecht wie heut war er noch nie drauf. Es wurde in den letzten Wochen immer schlimmer mit ihm, aber so schlecht war er noch nie drauf“, wiederholte sich Eva.
Einige Minuten standen sie sich schweigend gegenüber.
„Ich schau mal nach ihm“, unterbrach Georg die Stille. Nachdenklich stand Friedrich an die Hauswand gelehnt. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen versenkt und stierte auf das Kopfsteinpflaster der Webergasse. Als Georg von hinten an ihn herantrat und ihm auf die Schulter tippte erschrak er.
„Ich kenne dich nicht wieder. Wo sind die Lebensfreude und die Vitalität des „Langen Fritz“? Wo sind seine Ideen, wenn es darum geht, etwas auf die Beine zu stellen? Wie war ich immer neidisch auf Dich und Deine Art zu leben. Ich kam mir an Deiner Seite stets spießig vor!“
„Du hast ja recht Georg, aber ich habe riesige Probleme. Mir steht die Scheiße nicht nur bis Oberkante Unterkiefer, wenn ich den Mund öffne verschlucke ich die Kacke. Ich brauch dringen Geld. Einfach Geld. Es muss was passieren. Es muss, es muss, es muss!“, seine Stimme überschlug sich.
Er raufte sich mit beiden Händen das Haar. Abrupt hielt er inne und brüllte Georg an.
„Dir geht’s doch auch mistig! Seit deiner Entlassung bekommst Du deinen Arsch nicht mehr hoch. Liegst den ganzen Tag im Nest und gehst in Selbstmitleid auf, weil du glaubst dein Leben versaut zu haben. Deine Alte geht Ficken für Geld und dich bringt der Gedanke um, von diesem Geld leben zu müssen. Hast Du dir schon mal überlegt, wie es bei euch weiterlaufen soll?“
Georgs Versuch den Wust an Fragen zu beantworten schlug fehl. „Deine pseudomoralischen Ideen Joana vom Strich wegzubekommen sind doch nicht realisierbar! Joana kauft schon lange nicht mehr in den billigen Discountläden. Sie wird auch in Zukunft nicht dort einkaufen! Sieh das doch endlich ein. Joana hat sich ans Geld ausgeben gewöhnt. Somit ist der Besitz von Geld auch zu deinem Problem geworden!“
Wetterte Friedrich weiter.
Jetzt waren es Georgs Augen die das Kopfsteinpflaster fixierten. Friedrichs Worte hatten genau da getroffen wo es ihn am allermeisten schmerzte. Zwischen beiden Männer hatte das Rollenspiel gewechselt. Friedrich war wieder der „Lange Fritz“.