Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
IM SONNENWINKEL ist eine Familienroman-Serie, bestehend aus 75 in sich abgeschlossenen Romanen. Schauplatz ist der am Sternsee verträumt gelegene SONNENWINKEL. Als weitere Kulisse dient die FELSENBURG, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Der Sonnenwinkel ist eine Zusammenfassung der kleinen Orte Erlenried und Hohenborn, in denen die Akteure der Serie beheimatet sind. Die einzelnen Folgen behandeln Familienschicksale, deren Personen wechseln, wenn eine Handlung abgeschlossen ist. Im Mittelpunkt, jedoch als Rahmenhandlung, stehen die immer wiederkehrenden Hauptpersonen, die sich langsam weiterentwickeln. So trennt den ersten und letzten Roman in etwa ein Jahrzehnt. »Ich kann nicht mit dir nach Paris fahren«, sagte Sandra Münster betrübt zu ihrem Mann. »Du musst es einsehen, Felix. Mutti ist so stark erkältet, dass sie sich nicht um die Kinder kümmern kann, und für Teta wird es einfach zu viel.« Felix Münster grollte. An sich gab es keine Differenzen in seiner Ehe, und auch jetzt konnte man eigentlich nicht davon sprechen, aber er war nicht sehr erbaut von dieser Eröffnung. »Mir ist es einfach zu dumm, auf diesem Empfang wieder ohne meine Frau zu erscheinen«, meinte er brummig. »Dauernd kann ich mich nicht drücken, und die Franzosen sind sowieso ein bisschen komisch. Ich habe ja immer gesagt, dass eine Kinderpflegerin ins Haus muss. Leider haben wir gesellschaftliche Verpflichtungen, die nicht zu umgehen sind, Sandra.« »Das weiß ich ja. Aber ich kann Mutti doch keinen Vorwurf machen, dass diese Grippe gerade jetzt gekommen ist.« Es tat ihr selbst leid, denn sie hätte ihren Mann gern auf dieser Reise begleitet. So sehr sie die Kinder liebte, den nun siebenjährigen Manuel und die einjährigen Zwillinge Felix und Alexandra, freute sie sich doch, wenn sie ab und zu ein paar Tage mit ihrem Mann allein verbringen konnte. Ihm kam plötzlich eine Idee. »Könnte denn Sabine nicht mal einspringen?«, fragte er. »Ihr habt euch doch sehr angefreundet, und sie versteht sich mit den Kindern.« An Sabine von Jostin hatte Sandra in diesem Zusammenhang noch nicht gedacht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 140
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
»Ich kann nicht mit dir nach Paris fahren«, sagte Sandra Münster betrübt zu ihrem Mann. »Du musst es einsehen, Felix. Mutti ist so stark erkältet, dass sie sich nicht um die Kinder kümmern kann, und für Teta wird es einfach zu viel.«
Felix Münster grollte. An sich gab es keine Differenzen in seiner Ehe, und auch jetzt konnte man eigentlich nicht davon sprechen, aber er war nicht sehr erbaut von dieser Eröffnung.
»Mir ist es einfach zu dumm, auf diesem Empfang wieder ohne meine Frau zu erscheinen«, meinte er brummig. »Dauernd kann ich mich nicht drücken, und die Franzosen sind sowieso ein bisschen komisch. Ich habe ja immer gesagt, dass eine Kinderpflegerin ins Haus muss. Leider haben wir gesellschaftliche Verpflichtungen, die nicht zu umgehen sind, Sandra.«
»Das weiß ich ja. Aber ich kann Mutti doch keinen Vorwurf machen, dass diese Grippe gerade jetzt gekommen ist.«
Es tat ihr selbst leid, denn sie hätte ihren Mann gern auf dieser Reise begleitet.
So sehr sie die Kinder liebte, den nun siebenjährigen Manuel und die einjährigen Zwillinge Felix und Alexandra, freute sie sich doch, wenn sie ab und zu ein paar Tage mit ihrem Mann allein verbringen konnte.
Ihm kam plötzlich eine Idee. »Könnte denn Sabine nicht mal einspringen?«, fragte er. »Ihr habt euch doch sehr angefreundet, und sie versteht sich mit den Kindern.«
An Sabine von Jostin hatte Sandra in diesem Zusammenhang noch nicht gedacht.
Die beiden letzten Nachkommen der einstmals verfeindeten Geschlechter Jostin und Rieding hatten sich sehr angefreundet. Sabine von Jostin kam oft zu einem Tee- und Plauderstündchen, und es stimmte auch, was Felix Münster sagte. Sabine verstand es sehr gut, mit den Kindern umzugehen.
»Ja, Sabine soll kommen«, mischte sich jetzt Manuel ein, der unbemerkt eingetreten war. »Dann ist Papi nicht mehr böse, dass du nicht mit ihm fährst.«
»Papi ist nie böse«, verteidigte Sandra ihren Mann.
»Ein bisschen schon, wenn er allein fahren muss«, behauptete Manuel, der seinen Papi recht genau kannte. »Er will eben, dass jeder weiß, dass er eine schöne Frau hat.«
Dieses Kompliment rang Sandra ein Lächeln ab.
»Ich kann Sabine ja mal fragen«, erklärte sie. »Sie kommt heute Nachmittag ohnehin.«
Felix Münsters Gesicht hellte sich auf. »Sie wird bestimmt nicht nein sagen«, äußerte er zuversichtlich. »Solange drüben noch kein Betrieb ist, hat sie doch Zeit«, meinte auch Manuel.
Drüben – das war der Jostinsche Besitz, auf dem nun bald die Kinderklinik von Dr. Allard eröffnet werden sollte.
Der Plan war geboren worden, als bei einem Busunglück viele Schulkinder verletzt worden waren und Dr. Allards Haus schnell zu einem Notkrankenhaus umfunktioniert wurde.
»Für Sabine ist es auch eine Abwechslung«, erklärte Felix Münster. »Ich kann mir nicht denken, dass Dr. Allard sehr unterhaltend ist.«
»Das will ich dahingestellt sein lassen«, bemerkte Sandra mit einem versteckten Lächeln. »Aber augenblicklich hat er wohl genug um die Ohren. Ein bisschen fatal ist es mir schon, dass ich Sabine sozusagen die Pistole auf die Brust setze.«
»Es sind ja nur vier Tage. Ich werde heute jedenfalls früh genug kommen, um Sabine noch guten Tag zu sagen.«
»Und um sie mit deinem unwiderstehlichen Charme zu becircen«, meinte Sandra neckend.
»Na, das nun auch wieder nicht. Schließlich bin ich schon ein in Ehren ergrauter Familienvater.«
Sandra lachte hellauf und fuhr mit der Hand durch sein volles dunkles Haar, das nur an den Schläfen silbern schimmerte.
»Du willst doch nur das Gegenteil hören«, scherzte sie.
Er zog sie zärtlich in die Arme.
»Ich will vor allem, dass du mich begleitest, Liebling.«
Manuel hatte sich bereits taktvoll zurückgezogen. Er ging in die Küche, um Tetas Meinung zu erforschen.
»Wenn Sabine kommt, kann Mami doch mit Papi nach Paris fahren«, bemerkte er beiläufig.
Teta brummte etwas Unverständliches. Er sah sie skeptisch an.
»Bist du nicht einverstanden, Teta?«
»Es ist ziemlich viel Verantwortung«, sagte sie. »Die Kleinen stellen schon allerlei an.«
»Aber auf mich braucht keiner mehr aufzupassen. Ich kann ja auch oft zu den Auerbachs gehen, dann seid ihr mich los. Aber Papi schaut so grimmig drein, wenn Mami nicht mitfährt. Du magst Sabine doch auch.«
»Freilich mag ich sie. Mir soll es auch recht sein.«
Manuel trollte sich wieder und verkündete seinen Eltern, dass Teta nichts dagegen hätte, wenn Sabine käme. »Dann wäre ja alles in schönster Ordnung«, erklärte Felix Münster.
*
Dr. Nicolas Allard hob den Kopf, als Sabine von Jostin nach einem kurzen Anklopfen sein Arbeitszimmer betrat, das als Erstes in der Villa Magnolia renoviert worden war. Es herrschte noch ein erhebliches Durcheinander, aber das schien ihn nicht zu stören.
»Dass du bei dem Lärm arbeiten kannst, Nicolas«, wunderte sich Sabine, denn die Bohrmaschinen dröhnten und die Handwerker hämmerten.
»Man gewöhnt sich daran«, lächelte er. »Es geht ja bald vorüber, Sabine. Du willst wegfahren?«, fragte er dann.
»Nur zu Sandra. Brauchst du etwas? Ich könnte über Hohenborn fahren.«
»Ich hätte gern gewusst, ob man diesen schießwütigen Wilderer endlich erwischt hat«, sagte er unwillig. »Vorgestern hat er wieder herumgeballert. Es beunruhigt mich.«
Sie alle waren beunruhigt darüber. Es störte den himmlischen Frieden am Ufer des Sternsees. Aber trotz aller Bemühungen war es bisher nicht gelungen, diesen Schurken zu fassen.
»Er muss gefasst werden, bevor wir die Klinik eröffnen«, erklärte Nicolas Allard, »und wenn ich mich höchstpersönlich auf die Lauer lege.«
»Bitte nicht, Nicolas!«, rief Sabine erschrocken. »Er könnte auch auf dich schießen. Man weiß doch nicht, was er eigentlich beabsichtigt und wozu er fähig ist.«
Sosehr Sabine sich auch vorgenommen hatte, ihren Gefühlen für Nicolas noch keinen allzu großen Raum zu geben, jetzt konnte sie ihre Angst um ihn doch nicht verbergen. Ein weiches Lächeln huschte um seinen Mund.
»Es ist lieb von dir, wenn du mir ab und zu doch zeigst, dass ich dir etwas bedeute«, bemerkte er leise.
Er hatte seine Hand nach ihr ausgestreckt und zog sie an sich.
Nur ganz kurz schmiegte sie sich in seinen Arm, löste sich aber sofort wieder.
»Du weißt, was du mir bedeutest, Nicolas«, äußerte sie verhalten, »aber wir haben uns versprochen, dass wir erst an uns denken wollen, wenn Lisa geheilt ist.«
Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Er fragte sich, ob das nicht ein vergebliches Warten sein würde.
»Sie wird nächste Woche mit André zurückkommen«, sagte er gepresst. »Ich habe heute einen Brief von Dr. Valdere erhalten. Er kapituliert.«
Lisa, die Tochter des Verwalterehepaars Thewald – wie Sabine seit einiger Zeit wusste, allerdings nur die Pflegetochter – hatte durch einen Schock in frühester Kindheit die Sprache verloren. Aber es gab noch mehr Geheimnisse in Lisas Leben, von denen Sabine nichts wusste.
»Und du, Nicolas, kapitulierst du auch?«, fragte Sabine nach einem langen Schweigen.
»Nein, das will ich nicht.«
Sie warf ihm einen langen Blick zu. »Wie wird André mit dem Tod von Florence fertig?«, fragte sie nun.
»Er schreibt nichts darüber. Er hatte doch damit gerechnet.«
Und du, Nicolas, wie wirst du damit fertig, dachte Sabine. Wie groß war deine Liebe zu ihr wirklich?
Seit dem Tag, als Nicolas aus Frankreich zurückgekommen war und ihr gesagt hatte, dass Florence gestorben sei, hatten sie nicht mehr über die Frau gesprochen, die eine so bedeutungsvolle Rolle in seinem Leben gespielt hatte.
Florence war Dr. André Fernands Schwester gewesen, eine bildhübsche und sehr eigenwillige Frau, die um ihre unheilbare Krankheit gewusst und sich von aller Welt und auch den Menschen zurückgezogen hatte.
»Eines Tages werde ich über alles sprechen können«, hatte Nicolas zu Sabine gesagt. Wann würde dieser Tag kommen? Aber er hatte ihr auch gesagt, dass er sie brauche, und sie liebte ihn so sehr, dass sie sich in Geduld fassen musste.
»Ich muss jetzt fahren«, erklärte Sabine.
»Pass auf dich auf, und komm nicht zu spät zurück!«, ermahnte er sie, und sie musste doch ein wenig lächeln. Sie war doch kein Kind mehr, aber manchmal behandelte Nicolas sie so.
*
Manuel konnte seine Zunge kaum noch im Zaum halten, als Sabine kam.
Er war ihr schon zum Wagen entgegengelaufen, aber Sandra folgte ihm schnell.
»Wir wollen uns doch erst mal begrüßen«, dämpfte sie seine Begeisterung. »Überlass es bitte mir, mit Sabine zu sprechen, Manuel. Du wolltest doch zu Bambi gehen.«
»Ich möchte aber erst wissen, ob Sabine zu uns kommt«, erwiderte er. »Kommst du, Sabine?«
»Ich bin doch schon da«, bemerkte Sabine lachend.
»Ich meine doch, dass …«
»Dass du das besser mir überlassen sollst«, unterbrach Sandra ihn energisch. »Man kann nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.«
»Worum handelt es sich denn?«, fragte Sabine, nun doch ein wenig neugierig geworden.
»Nimm erst mal Platz«, bat Sandra. »Mir ist das alles ein bisschen fatal, und du kannst ruhig nein sagen, wenn es dir nicht passt.«
»Sag bitte ja, Sabine«, bettelte Manuel, »sonst wird Papi grantig! Er will doch nicht ohne Mami nach Paris fahren.«
Sandra stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
»Er kann einfach nicht ruhig sein. Also …«
»Du sollst mit Felix nach Paris fahren«, warf Sabine nun ein.
»Und Omi hat doch die Grippe, da kann sie nicht auf die Kleinen aufpassen«, meldete sich Manuel wieder zu Wort. »Und da hat Papi gesagt, dass du zu uns kommen könntest.«
»Ich wollte dich ganz bescheiden fragen, ob es möglich wäre«, brachte Sandra stockend über die Lippen. »Der Schlingel lässt mir ja keine Zeit, es dir erst diplomatisch beizubringen. Es würde sich um vier Tage handeln.«
»Bald?«, fragte Sabine, die an Andrés und Lisas Rückkehr dachte.
»Übermorgen.«
»Das geht freilich«, sagte Sabine. »Wenn du mir die Kinder anvertraust?«
»Sonst würde ich dich ja nicht bitten.«
»Das ist fein, Sabine!«, freute sich Manuel. »Nun gehe ich zu Bambi. Ich werde dich auch nicht ärgern.«
»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, meinte Sandra.
Manuel warf ihr einen schrägen Blick zu …
»Du kannst dich doch auf mich verlassen, Mami«, versicherte er eifrig.
»Macht es dir auch wirklich nichts aus?«, fragte Sandra, nachdem er verschwunden war. »Ich wollte ja nicht mitfahren.«
»Warum denn nicht? Es ist doch mal wieder was anderes, und dein Mann hat dich ohnehin viel zu selten für sich. Bei uns wird es schon noch eine gute Woche dauern, bis alles so weit in Ordnung ist.«
»Dann wollt ihr den Klinikbetrieb schon aufnehmen? So schnell?«
»Ganz gemächlich, denke ich. Die Kinder werden ja nicht gleich scharenweise krank werden. Und einen Namen müssen wir auch noch haben, der ein bisschen ins Ohr geht.«
Es beruhigte Sandra, dass Sabine so selbstverständlich immer ›wir‹ sagte. Sie sprach nicht viel über Nicolas Allard, aber Sandra spürte, dass zwischen den beiden viel festere Bande geknüpft waren, als anfangs vermutet wurde. Wenn Sandra sich von einem anderen Mann beeindrucken ließ, von ihrem eigenen abgesehen, musste er schon eine ungewöhnliche Persönlichkeit sein. Und das war Nicolas Allard.
»Einen Namen für die Klinik«, meinte sie gedankenvoll. »Wie wäre es denn mit Sternsee-Klinik? Das merkt sich jeder.«
»Ein guter Einfall«, sagte Sabine erfreut. »Ich werde gleich mit Nicolas darüber sprechen.«
Sie errötete tief, als Sandra sie forschend anblickte.
»Wir verstehen uns sehr gut«, erklärte sie rasch. »Es war sehr dumm von mir, dass ich zuerst Hassos Einflüsterungen Glauben schenken wollte. Ich verstehe es heute nicht mehr.«
»Hast du wieder mal von ihm gehört?«, fragte Sandra. Es war auch ihr unverständlich gewesen, dass ein Mädchen wie Sabine sich mit Hasso von Sillberg verlobt hatte. Glücklicherweise war sie noch früh genug dahintergekommen, wes Geistes Kind er war, und hatte die Verlobung gelöst.
»Gott sei Dank, nein«, erwiderte Sabine. »Hoffentlich begegnet er mir nie wieder. Ihr müsst eine schöne Meinung von mir gehabt haben.«
»Wir bilden uns erst eine, wenn wir den Menschen kennen. Es freut mich jedenfalls, dass du dich mit Dr. Allard verstehst.«
Sie kamen nun vom Hundertsten ins Tausendste. Sandra erkundigte sich nach den Naumann-Kindern, die von den Thewalds in Obhut genommen worden waren. Sie hatten ihren Vater bei dem Autobusunglück verloren und waren als Waisen zurückgeblieben.
»Sie fühlen sich wohl«, erzählte Sabine. »Frau Thewald sorgt auch rührend für sie. Schorsch hilft fleißig, Frieder erholt sich gut, und die kleine Marilli hat sich schon tüchtig bei den Thewalds eingeschmeichelt. Ich weiß nur nicht recht, was werden wird, wenn Lisa nun wieder zurückkommt.«
»Sobald schon?«, fragte Sandra bestürzt. »Hat dieser Arzt auch nichts ausrichten können?«
Sabine schüttelte den Kopf.
»Nicolas sagte mir vorhin, er hätte kapituliert. Aber jetzt etwas anderes. Was ist eigentlich mit dem Wilderer?«
»Bis jetzt wissen wir noch gar nichts«, erwiderte Sandra. »Ein richtiger Wilderer scheint es auch nicht zu sein. Die lassen ja das Wild, das sie schießen, nicht liegen, wie er es tut. Aber manchmal scheint er auch nur so herumzuknallen. Manchmal denke ich, dass es so ein Kerl ist, der dem Gruber-Bauern schaden will. Aber aus dem bekommt man ja nichts heraus. Ein seltsamer alter Mann, aber mit Bambi ist er rein närrisch. Jetzt will er auch nicht mehr, dass Jonny auf die Spur von dem Wilderer gehetzt wird, weil es Bambis Hund ist. Dieses Kind hat die seltene Gabe, das härteste Herz zu erweichen.«
»Vielleicht hat er gar kein hartes Herz«, sagte Sabine nachdenklich. »Vielleicht ist er nur einer jener einsamen Menschen, die verlernt haben, an die Liebe zu glauben.«
»Oder nie welche erfahren haben«, bemerkte Sandra. »Wie ich hörte, hatte er einmal eine Nichte, die er sehr gerngehabt haben soll. Sie verließ die Heimat und wurde eine berühmte Pianistin. Hier hat sie sich nie wieder blicken lassen, und deswegen soll er verbittert sein. Aber man kann auch nicht alles glauben, was erzählt wird. Jeder macht ein bisschen was dazu, und dann ist das schönste Märchen fertig. Aber wir wären alle froh, wenn dieser schießwütige Bursche endlich dingfest gemacht würde. So etwas passt gar nicht hierher. Um noch einmal auf Lisa zurückzukommen, was soll nun mit ihr werden? Ein so entzückendes Mädchen. Es ist wirklich ein Jammer.«
»Ja, es ist ein Jammer«, sagte Sabine leise.
*
Lisa Thewald – unter diesem Namen lebte sie nun bereits seit siebzehn Jahren – war wirklich ein entzückendes Mädchen. Man vergaß ihr Leiden, wenn sie so lächelte, wie jetzt, als sie sich von dem hochgewachsenen jungen Mann verabschiedete.
Sie befand sich seit drei Wochen in dem Sanatorium von Dr. Valdere in der Nähe von Cannes. Heute hatte Michael von Jostin, Sabines Bruder, sie besucht.
Er hatte Hemmungen gehabt, mit dem jungen Mädchen zu sprechen, das ihn zwar verstehen, aber selbst nichts erwidern konnte. Doch dann war es ihm plötzlich ganz leichtgefallen, weil Lisas Gesicht so unendlich viel auszudrücken vermochte und weil er schon bald die Worte von ihren Lippen lesen konnte. So schnell wie Michael war das noch niemandem gelungen. Dr. Fernand staunte.
Nicolas Allards Freund hatte sich lange mit Dr. Valdere über Lisa unterhalten. Er wusste, wie sehr das Schicksal des Mädchens Nicolas beschäftigte, und auch bei ihm, der ebenfalls Arzt war, erregte dieser Fall großes Interesse.
»Meiner Ansicht nach kann nur ein gewaltiger Schock helfen«, erklärte Dr. Valdere, ein alter, sehr erfahrener Arzt. »Ich möchte sogar sagen, dass ein Panikzustand herbeigeführt werden müsste, um diese Stimmbandlähmung zu heilen. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist«, räumte er ein. »Immerhin sind bereits siebzehn Jahre seit dem Unglück vergangen, und damals war sie ein kleines Kind. Aber ihre psychische Entwicklung ist völlig normal. Darüber gibt es keinen Zweifel. Ich habe sie allen möglichen Tests unterzogen. Sie ist in vielen Dingen ein Kind, aber ein ungewöhnlich intelligentes, aufgeschlossenes Kind von unglaublicher Wissbegierde. Vielleicht könnte ihr auch ein Liebeserlebnis helfen, eines, in dem ihr ihre Bestimmung als Frau offenbar würde. Dieser junge Mann scheint ihr sehr zu gefallen.«
»Michael von Jostin?«, fragte André atemlos. »Oh, ich fürchte … Nein, solche Gedanken sollten wir lieber nicht weiterspinnen.«
Ein seltsam wissendes Lächeln legte sich um Dr. Valderes schmalen Mund, und es war auch in seinen Augen.
»Ich meine eine seelische Erschütterung«, betonte er, »gleichgültig, ob sie sich positiv oder negativ auf Lisas Gemüt auswirken würde. Aber wenn mit unseren medizinischen Hilfsmitteln nichts mehr zu machen ist, kommt man wohl auf die ausgefallensten Ideen.«
Lisa, die von diesem Gespräch nichts wusste, lächelte zu Michael empor. Er war viel größer als sie. Sie reichte ihm nur knapp bis zur Schulter, und ihm erschien sie wie ein zerbrechliches Nippfigürchen.
»Ich habe es mir überlegt, Lisa«, sagte er. »Ich komme gleich nächste Woche mit euch und überrasche Sabine. Gefällt Ihnen das?«
Ihre Augen strahlten wie Sterne, und sie nickte eifrig. Ihm war plötzlich die Kehle ganz eng.
»Es muss schön sein am Sternsee, wenn Frühling ist, und nun ist bald Frühling.«
Wieder nickte sie. Dann bückte sie sich und umfasste behutsam eine Blume.
Er beugte sich etwas herab.
»Sie meinen, dass am Sternsee dann auch Blumen blühen?«
Ihre Lippen formten ein Ja, und ihr Mund war so süß und zärtlich, dass er den brennenden Wunsch verspürte, ihn zu küssen.