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In New York State wird die Leiche einer vermissten Frau gefunden, die Spuren jahrelanger, brutaler Folter aufweist. Weil der Fall schon der vierte einer Entführungs- und Mordserie ist, zieht die örtliche FBI-Dienststelle die Profiler aus Quantico hinzu. Special Agent Libby Whitman und ihre Kollegen reisen nach New York, um ein Profil des sadistischen Frauenhassers zu erstellen. Sie entwickeln schnell den Verdacht, dass der Täter aktuell noch weitere Frauen in seiner Gewalt haben könnte.
Als in einer Stadt vor den Toren New Yorks die seit sechs Jahren vermisste Mary Jane Cox mit Spuren schwerster Misshandlungen und Folter auftaucht, ahnen die Profiler schnell, dass auch sie ein Opfer des gesuchten Täters ist. Libby versucht, das Vertrauen der schwer traumatisierten Mary Jane zu gewinnen, um mehr über den Täter und sein Versteck zu erfahren. Doch als Mary Jane sich Libby öffnet und von ihrem jahrelangen Martyrium erzählt, bemerkt Libby schnell die Ungereimtheiten in Mary Janes Geschichte ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Dania Dicken
Ihre Schreie sind Musik
Libby Whitman 5
Thriller
Man muss dem Objekt, das man begehrt, Schmerzen zufügen –
wenn es überlebt, ist das Vergnügen größer.
Donatien Alphonse François de Sade
Prolog
Die Lüftungsanlage rauschte ganz leise. Anfangs hatte sie es gar nicht gehört, aber mittlerweile erschien es ihr ohrenbetäubend laut. Ganz oft war dieses Rauschen alles, was man in diesem Keller hörte.
Oder war es eher ein Kerker?
Sie hatte die Beine angewinkelt und die Arme darum geschlungen. Zusammengekauert saß sie in der rechten hinteren Ecke ihrer Zelle auf der dünnen Isomatte und starrte auf den Lichtstreif am Boden unter ihrer Zellentür. Da waren bloß zwei kleine Lämpchen an dem Codeeingabefeld neben der Stahltür draußen, doch diese Lämpchen erhellten den ganzen Keller. Sie waren die einzige Lichtquelle.
Mit der Zeit hatte sie sich an die Abwesenheit von Licht gewöhnt. Sie hatte sich auch daran gewöhnt, dass sie nicht mehr wusste, was Wärme war.
Sollte das jetzt ihr Schicksal sein? Für immer?
Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch leben wollte. Das hier war ja kein Leben. Das war nichts weiter als Folter.
Genau das wollte er, dessen war sie sich bewusst. Das war alles, worum es ihm ging. Immer.
Sie spürte sich kaum noch. Bedingt durch die Dunkelheit fühlte sie sich fast schwerelos. Manchmal legte sie sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden und schloss die Augen, dann glaubte sie zu schweben. Sie dachte dann an ihren Freund und ihre Familie. Suchten sie überhaupt noch nach ihr? Würde sie sie je wiedersehen?
In den benachbarten Zellen war es ebenfalls still. Manchmal sprachen sie, doch nicht jetzt. Oft gab es auch gar nichts zu sagen. Worüber sollten sie sprechen? Über die letzte Folter? Über die nicht enden wollenden Schmerzen?
Sie konnte nicht fassen, dass er einfach damit durchkam. Schon so lange. Niemand war je gekommen, um ihn aufzuhalten. Um sie zu befreien und alldem ein Ende zu machen.
Sie begann leise zu summen. Manchmal machte es das besser. Erst, als Dawn in der Zelle nebenan einstimmte und zu singen begann, begriff sie erst, was sie da eigentlich summte. Es war Amazing Grace.
Nun sang sie auch. An den Text erinnerte sie sich noch, was geradezu an ein Wunder grenzte. Die Dunkelheit und Stille dieses Kellers lähmten alle Gedanken.
Die anderen stimmten allmählich mit ein, bis ihre Stimmen die Finsternis ausfüllten. Direkt fühlte sich alles wärmer an – tröstlich. Hoffnungsvoll.
Vielleicht würde man sie doch irgendwann finden und retten. Vielleicht kam sie hier doch raus, bevor er sie tötete.
Sie sangen zusammen und fühlten sich in diesem Moment verbunden. Sie waren nicht allein.
Sie sangen laut, doch nicht so laut, dass sie das Piepen der Sicherheitstür nicht gehört hätten. Schlagartig verstummte der Gesang und Adrenalin schoss ihr ins Blut. Ihr Puls schnellte in die Höhe und sie hielt die Luft an. Draußen flammte grelles Neonlicht auf.
Wohin ging er? Welche Zelle würde er öffnen?
Sie schloss die Augen und sandte ein Stoßgebet, dass es nicht ihre sein würde. Bitte nicht schon wieder. Das würde sie nicht ertragen. Unmöglich. Die blutigen Peitschenstriemen auf ihrem Rücken vom letzten Mal waren ja noch gar nicht verheilt. Weitere Folter ertrug sie nicht. Das konnte sie nicht.
Schlüssel klimperten. War da ein Schatten vor der Tür? Konnte sie ihn sehen?
Ja, da war ein Schatten. Sie wimmerte leise und betete, dass er vor der Nachbarzelle stand und nur einen Schatten bis zu ihrer warf. Bitte nicht … bitte, bitte nicht …
„Singt ruhig weiter“, sagte er. „Das würde mir gefallen.“
Sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Es war nicht ihre. Das war nebenan.
„Komm mit“, sagte er. Nebenan bewegte sich etwas, sie hörte Schritte.
Nicht sie. Es traf nicht sie.
„Setz dich“, sagte er etwas weiter entfernt. War das gut? War das nicht gut?
Sie hörte leises Schluchzen. Dann kam er zurück und öffnete noch eine Zelle.
Ihr wurde kalt. Er holte sie alle. Drei von ihnen würden Zuschauer sein und eine …
Nun betete sie, dass er als nächstes sie holte, denn er holte immer die Zuschauer zuerst. Zuletzt kam diejenige, die er foltern wollte.
Sie biss sich fast die Lippen blutig, während sie angespannt lauschte. Stimmen, leises Weinen. Schritte. Hatte sie da noch eine Tür gehört? Oder doch nicht?
Bitte nicht sie. Bitte.
Ihr Herz raste und sie hätte vor Panik fast geschrien. Die Schritte kamen wieder näher und ein Schatten erschien vor ihrer Tür. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, die Tür schwang auf und das kalte Neonlicht blendete sie. Schemenhaft hoben sich seine Umrisse dagegen ab. Sie hob schützend die Hände und hätte fast geschrien.
Sie rührte sich nicht. Bestimmt war sie nicht die letzte. Das durfte sie nicht sein. Nicht schon wieder.
„Steh auf“, herrschte er sie an. Sie reagierte sofort und tat es. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie ihm besser gehorchte.
Er ließ ihr keine Wahl. Ihr nicht und auch den anderen nicht.
Als sie stand, packte er sie am Arm und zog sie aus ihrer kleinen Zelle. Die anderen drei Zellen standen bereits offen und waren leer.
Sie begriff. Todesangst schnürte ihr die Kehle zu. Sie wimmerte und wollte sich losreißen, aber da krallte er sich nur noch fester in ihren Oberarm und zerrte sie in Richtung der Folterkammer.
„Wenn du dich wehrst, wird es nur schlimmer für dich“, sagte er. Schluchzend stolperte sie hinter ihm her und betete, dass es nicht so schlimm werden würde. Nicht so schmerzhaft. Nicht so endlos …
Dann hatte sie den anderen Raum erreicht.
Samstag, 20. März
„Ja, ich will.“ Während Julie das mit fester Stimme sagte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Kyle erwiderte ihr Lächeln und sie mussten sich vom Standesbeamten nicht erst zum nächsten Schritt auffordern lassen. Sie umarmten und küssten sich unter dem lauten Applaus der Anwesenden und als Julie Kyle wieder losließ, bemerkte Libby von der Seite die Freudentränen im Gesicht ihrer Freundin.
Sobald etwas Ruhe eingekehrt war, bat der Standesbeamte Julie und Kyle, die Urkunde zu unterzeichnen. Er gab die Erklärung ab, dass sie den Familiennamen Thornton führen würden, was Libby absolut großartig fand.
Tatsächlich war es Kyles Idee gewesen. Er hatte es Julie angeboten, noch bevor sie das Thema angesprochen hatte. Begründet hatte er es damit, dass sie für ihn ihre Heimat und ihr ganzes altes Leben aufgab, um bei ihm in den USA leben zu können, deshalb wollte er als Liebesbeweis ihren Nachnamen annehmen. Da hatte Julie tatsächlich nicht lang gezögert und das Angebot einfach angenommen. Kyle hatte Owen außerdem im Vertrauen verraten, dass er den Namen Thornton unheimlich klangvoll fand und ihn mit Stolz tragen würde.
Als Libby zu Julies Vater spähte, sah sie, dass er ebenfalls fast vor Stolz platzte. Er hatte es seinem Schwiegersohn hoch angerechnet, dass er Julie diesen Liebesbeweis erbracht hatte und er wirkte sehr glücklich damit, seine Tochter jetzt verheiratet zu sehen. Und das, obwohl es bedeutete, dass er sie in die weite Ferne verlor.
Gregory Thornton war deutlich ergraut, seit Libby ihn zuletzt vor einigen Jahren gesehen hatte. Er war auch gute zehn Jahre älter als Matt. Libby wusste, dass ihre Eltern im Vergleich wahnsinnig jung waren, was sie jedoch zu schätzen wusste. Tatsächlich kannte sie es kaum anders, denn ihre leibliche Mutter war bei ihrer Geburt erst siebzehn Jahre alt gewesen.
Es war nicht die erste Hochzeit, die Libby seit ihrer Flucht aus der FLDS vor über zehn Jahren miterlebte und trotzdem war es für sie immer wieder aufs Neue ein spezielles Erlebnis, zu sehen, wie so etwas in der normalen Welt ablief. In der FLDS hatte sie zu viele Mädchen gesehen, die in selbstgenähten weißen Kleidern mit Tiara im Haar von der Pferdekutsche in den Tempel geführt und dort nicht nur von ihrem neuen Mann, sondern auch von dessen erster Frau in die Familie aufgenommen wurden. Sie hatte oft beobachtet, wie die Erstfrau ihre Hand auf die ihres Mannes und seiner neuen Frau legte, um ihr Einverständnis zu signalisieren.
Aber sie hatte auch beobachtet, wie es danach weiterging. Wie aus einstmals lebensfrohen halbwüchsigen Mädchen ernste Frauen wurden, die in ihrem Leben gefangen waren. Die nichts kannten außer Heim, Schwangerschaften, Kindern, Küche und Vergewaltigung.
Ihr Blick wanderte zu Owen und sie griff nach seiner Hand. Er erwiderte ihren Händedruck und lächelte ihr zu. Sie bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, damit er nicht merkte, welche finsteren Gedanken ihr gerade durch den Kopf gegangen waren.
Er war nicht so. Er respektierte sie vollkommen und dafür liebte sie ihn über alles. Mit ihm führte sie eine gleichberechtigte Beziehung auf Augenhöhe und sie freute sich schon wahnsinnig auf ihre eigene Hochzeit im Sommer.
Nachdem die Zeremonie beendet war, machten sie Fotos mit der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Natürlich waren nicht nur Julies Eltern aus England gekommen, sondern auch Gregorys Bruder Jack mit seiner ganzen Familie. Libby hatte ihn in der Vergangenheit einmal kennengelernt und mochte ihn. Wenn sie sah, wie selbstverständlich er mit seinen Kindern umging, konnte sie sich kaum vorstellen, dass er in der Vergangenheit mal ein echter Schürzenjäger gewesen sein sollte. Aber das war lange her, seine Kinder waren schon erwachsen.
Aus Chicago war Kyles gesamte Verwandtschaft angereist, seine Eltern und Geschwister, seine rüstige Großmutter, Onkels und Tanten. Außerdem hatte Kyle einige FBI-Kollegen und einen alten Schulfreund eingeladen, während Julie sich Verstärkung von der Universität geholt hatte.
Nach dem Fototermin fuhren sie zum Restaurant im nördlich gelegenen Edgewater. Kyles und Julies Eltern hatten sich zusammengetan, um dem jungen Paar die Hochzeitsfeier in einem gehobenen Restaurant direkt am Hudson mit Blick auf Manhattan zu ermöglichen.
Julie strahlte an diesem Tag übers ganze Gesicht. Sie war eine wunderschöne Braut, sie trug ein schlichtes, aber äußerst elegantes weißes Kleid und hatte sich ihre dunkelbraunen Locken hübsch frisieren lassen. Libby gönnte ihr dieses Glück von Herzen und bezweifelte, dass sie auf ihrer eigenen Hochzeit so toll aussehen würde.
Im Restaurant hieß man sie mit einem Sektempfang willkommen, bevor Kuchen serviert wurde. Anschließend widmeten sie sich einigen Spielen und einer Bildershow, die Kyles Bruder vorbereitet hatte. Darin hatte er auch Fotos von Julie eingebaut, die sie als Kind und Jugendliche in England zeigten. Libby wurde fast ein wenig wehmütig, wenn sie sich vorstellte, was Julie alles zurückließ. Gefühlt lebte sie selbst näher an ihrer Familie, was kaum stimmte – aber immerhin befand sie sich noch im selben Land.
Julie und Kyle hatten beschlossen, lieber in einem etwas kleineren Kreis zu feiern, was Libby gut verstehen konnte. Die Einladungen zu ihrer eigenen Hochzeit waren bereits verschickt und sie und Owen hatten auch längst nicht jeden eingeladen. Es war immer eine Frage der Distanz und sie hatten lange mit sich gerungen, wo sie feiern wollten, doch dann hatten sie sich für Virginia entschieden. Leider war Kalifornien jetzt nicht mehr ihr Zuhause.
Die Zeit verging wie im Flug und kurz vor dem Abendessen vernahm Libby plötzlich Gregs Stimme, als er um Ruhe bat. Schließlich war es still und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Die Rede des Brautvaters. Er war sichtlich nervös und suchte für einen Moment nach Worten.
„Es ist schon über ein halbes Jahrhundert her, dass mein Vater beruflich in Deutschland unterwegs war. Dort hat er eine Frau kennengelernt, Anna Leitner. Die beiden haben sich ineinander verliebt und weil sie Englisch sprach, aber er kaum Deutsch, ist sie ihm nach England gefolgt und wenig später kam, was kommen musste – erst ich und dann mein Bruder Jack.“
Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite und fuhr fort. „Bis zu ihrem Tod hat meine Mutter ihr Leben aus Liebe in England verbracht. Ich selbst habe vor über zwanzig Jahren dort auch eine junge Frau kennengelernt, die ebenfalls aus Deutschland kam – meine Frau Andrea, die ebenfalls der Liebe wegen in England geblieben ist und mich dort geheiratet hat. Eigentlich war es unvermeidlich, dass nun meine eigene Tochter dem Ruf der Fremde folgt. Sie macht dabei keine halben Sachen und hat mehr als eine Zeitzone durchquert, um etwas für ihr berufliches Fortkommen zu tun – und natürlich hat sie einen Mann kennengelernt, der seine Heimat auch zu ihrer machen möchte.“
Er machte eine Pause und blickte zu Julie und Kyle. „Deshalb sind wir heute hier – wir feiern die Liebe, die Grenzen überschreitet und überall dort Bestand hat, wo man sich zu Hause fühlt. Ich muss zugeben, dass es verdammt hart für mich sein wird, nun mit der Endgültigkeit zu leben, dass meine Tochter ihren neuen Lebensmittelpunkt mehr als dreitausend Meilen entfernt von ihrer Heimat setzt. Glücklicherweise leben wir heute in Zeiten von Videoanrufen und nicht mehr in der Ära, in der Transatlantikgespräche ein halbes Vermögen gekostet haben. Außerdem ist New York nicht nur zur Weihnachtszeit eine Reise wert. Meine Tochter ist heute in die Fußstapfen ihrer Mutter und ihrer Großmutter getreten und ich bin sicher, dass sie die Herausforderungen genauso gut meistern wird.“
Obwohl er noch gar nicht fertig war, sprang Julie auf, lief das kurze Stück zu ihrem Vater und fiel ihm um den Hals.
„Ich heule gleich, Daddy, ihr werdet mir doch alle wahnsinnig fehlen!“, sagte sie unter Tränen. Gregory drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ich bin stolz auf dich“, sagte er. „Auf dich und auf die Entscheidung, die du getroffen hast. Du hast dir einen tollen Mann ausgesucht – einen, der jeden Tag etwas Gutes für sein Land tut. Ich habe keinen Zweifel daran, dass das für dich ebenso gilt. Es erfüllt mich mit großem Stolz, Kyle Thornton als neues Mitglied in unserer Familie begrüßen zu dürfen. Komm zu uns.“ Mit einem Lächeln gab Greg Kyle einen Wink, der unsicher aufstand und sich zu seiner Frau und seinem Schwiegervater gesellte.
„Versprecht mir bitte eins, ihr beiden: Seid immer glücklich. Tut das, wovon ihr überzeugt seid und achtet gut aufeinander. Genießt das Leben, feiert eure Liebe und wenn euch danach ist, setzt ihr bitte eine Handvoll wunderschöner Enkelkinder in die Welt. Ich freue mich auf alles, was da kommen wird.“
Er breitete einen Arm aus und drückte sowohl Julie als auch Kyle an sich. Die Gäste applaudierten, einige sogar im Stehen. Libby entging nicht, mit welchem Gesichtsausdruck Owen die Szene beobachtete. Es rührte ihn, aber gleichzeitig machte es ihn traurig. Er wünschte sich so etwas auch, doch das Verhältnis zu seiner Familie war leider ein anderes. Dabei war Libby sicher, dass Matt garantiert Ähnliches über ihn zu sagen hätte. In einigen Monaten würde sie es wissen.
Greg bekam viel Zuspruch für seine Rede, bevor das Essen serviert wurde. Sie schlemmten im Überfluss und Libby genoss es sehr, mit Blick auf die Skyline Manhattans dazusitzen und ihre beste Freundin zu feiern.
Nach dem Dessert wurde abgeräumt und schließlich legten Julie und Kyle gekonnt den Hochzeitstanz hin. Damit war die Tanzfläche eröffnet. Libby beobachtete das Treiben lieber vom Rand aus und huschte irgendwann zur Toilette. Auf dem Rückweg begegnete sie Andrea, die gerade auf die Außenterrasse wollte, um frische Luft zu schnappen.
„Was dagegen, wenn ich dich begleite?“, fragte Libby, während Andrea die Tür schon geöffnet hatte.
„Um Himmels Willen, nein. Ich würde mich freuen!“
Mit einem Lächeln folgte Libby Andrea nach draußen. Eine frische Brise wehte ihnen um die Nase, obwohl es ein für die Jahreszeit vergleichsweise milder Tag war.
„Eine tolle Rede hat Greg gehalten“, sagte Libby, während sie ans Geländer gelehnt dastand und auf Manhattan blickte.
„Ich fand sie auch schön. Aber es fällt ihm schwer. Schwerer, als man vermutlich herausgehört hat.“
„Das glaube ich. Es ist so schrecklich weit.“
„Du kennst das ja selbst.“
Libby nickte. „Meine Heimat ist nicht hier, aber ich bin so wahnsinnig gern bei der BAU.“
„Das glaube ich. Dorthin hätte ich auch immer gewollt, hätte es dafür eine realistische Chance gegeben. Julie bekommt diese Chance vielleicht jetzt. Sie wird mir auch unheimlich fehlen, gar keine Frage – sie ist mein einziges Kind und wenn sie hier mal Kinder bekommt, sehe ich die kaum aufwachsen. Das ist hart.“
Die Blicke der beiden trafen sich und Libby sagte: „Ich habe auch keine Ahnung, wie ich das mal machen soll.“
„Glaube ich dir. Ich habe deine Mutter immer bewundert, weil sie so schnell nach der Geburt deiner kleinen Schwester wieder eingestiegen ist. Ich glaube, da gehen die Uhren hier in den Staaten etwas anders, das habe ich damals für mich nicht gesehen – es aber auch nie bereut. Meine Tochter stand immer an erster Stelle und ich bin wahnsinnig stolz auf das, was aus ihr geworden ist.“
Libby lächelte. „Sie ist einfach toll.“
„Jetzt promoviert sie in den USA – wenn sie das durchzieht, hat sie einen höheren akademischen Grad als ich. Und wenn sie es zum FBI schafft, könntet ihr Kollegen sein.“
„Das wäre mein Traum“, gab Libby zu.
„Ja, dieser Job ist leichter, wenn man ihn mit Freunden macht. Das ging mir auch immer so. Zu Hause in Norwich gab es einen Polizisten, der mich unterstützt hat – fast so ein bisschen wie mit Owen und dir. Und dann gab es da meinen Mentor im Londoner Profiler-Team, der leider auch schon viel zu lang tot ist.“
„Starb er wegen des Jobs?“
Andrea nickte. „Er hat das ultimative Opfer gebracht. Dieser Job hat Schattenseiten, das weiß niemand so gut wie ich. Doch, deine Mum vielleicht. Ich würde mir so wünschen, dass das für meine Tochter und dich nicht gilt.“
„Hast du Angst um sie?“
„Nicht mehr als jede andere Mutter auch Angst um ihre Tochter haben würde. Das liegt gar nicht bloß an diesem Job.“
„Ich bin hier, ich habe ein Auge auf sie.“
„Danke, das weiß ich. In dir hat Julie die beste Freundin, die sie sich wünschen kann.“ Andrea lächelte und legte eine Hand auf Libbys Schulter.
„Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass sie die US-Staatsbürgerschaft erhält und zum FBI kommt“, sagte Libby.
„Das ist zumindest ihr Ziel. Sie ist glücklich an der Uni, aber das ist Theorie. Sie will in die Praxis, das wollte ich auch immer. Durch Kyle hat sie jetzt die realistische Chance, das dort zu tun, wo das Profiling geboren wurde. Da werden Greg und ich jetzt loslassen müssen. Wichtig ist, dass sie glücklich ist.“
„Ja, ich denke, das ist sie hier.“
„Das denke ich auch. Ich bin wirklich froh, dass Flüge hierher inzwischen bezahlbar sind.“
Libby lächelte. „Amerikanischer Alltag. Wenn man hier irgendwo hin will, sitzt man verdammt schnell im Flieger. Die Distanzen hier sind irre.“
Andrea nickte zustimmend. „Willst du denn hier bleiben?“
„Erst mal ja. Ich weiß, welches Glück ich habe, in der BAU sein zu dürfen. Gerade sind wir glücklich hier.“
„Ihr heiratet ja auch bald.“
„Ja, darauf freue ich mich wahnsinnig. Ich habe genau den Mann gefunden, der zu mir passt.“ Libby lächelte verträumt.
„Das ist so viel wert … mit Greg hatte ich seinerzeit öfter meine Differenzen wegen meines Jobs. Teilweise sehr ernsthaft. Aber ich spreche wahrscheinlich für deine Mutter und auch für dich, wenn ich sage, dass es wichtig ist, einen Partner zu haben, der hinter einem steht.“
„Ja … mein letzter Freund konnte das nicht. Er war schon überfordert, als ich zur Polizei gegangen bin.“
„Das ist hier in den Staaten auch sicher etwas anderes als drüben bei uns in England. Unsere Polizei ist standardmäßig nicht mal bewaffnet. Ich freue mich auf jeden Fall, dass meine Tochter eine so gute Freundin in dir gefunden hat. Sie hat hier drüben nicht bloß Kyle, sondern auch dich. Das ist ein gutes Gefühl.“
Libby lächelte gerührt. „Danke, dass du das sagst.“
„Das ist mein Ernst. Ich kenne dich schon so lange und habe erlebt, welchen Weg du gegangen bist. Ich bewundere deine Zielstrebigkeit. Damit kannst du es weit bringen.“
„Danke, Andrea.“
Wortlos umarmte Andrea Libby und kurz darauf gingen sie wieder hinein, weil ihnen zu kalt wurde. Als Libby sah, dass Owen bei Greg stand, grinste sie. Das Brautpaar war damit beschäftigt zu tanzen und als Owen zu ihr kam, fragte sie: „Ernste Männergespräche?“
„Nein, gar nicht. Er hat mich ein bisschen ausgefragt, wollte mehr über mich erfahren. Und bei euch?“
„Wir haben ein bisschen über die Zukunft gesprochen. Über den Job. Du weißt, Profiler unter sich …“
„Ich kann es mir denken. Ich mag Julies Eltern, auch wenn sie deinen nicht das Wasser reichen können.“
Libby lächelte geschmeichelt. „Jetzt schleimst du dich ein.“
„Das ist mein Ernst. Aber deine Eltern kenne ich auch besser.“
„Ich kenne Julies Eltern auch nicht so gut, wie ich gern würde. Vielleicht ändert sich das noch.“
„Feiner Zug auf jeden Fall von Kyle, dass er ihren Namen angenommen hat. Würdest du das für uns nicht auch wollen?“
Libby zuckte mit den Schultern. „Würde ich nie von dir verlangen. Wenn, dann entscheidest du das.“
„Na ja, mal sehen. Ich freue mich schon so auf unsere Hochzeit. Wenn die auch nur annähernd so schön wird wie diese hier, bin ich zufrieden.“ Da konnte Libby ihm nur zustimmen. Sie kannte seine Bedenken bezüglich seines Bruders, aber wie üblich war sie in dieser Hinsicht ziemlich unerschrocken. Sie maß der Hochzeit jedoch auch keine allzu große Bedeutung bei. Zwar freute sie sich darauf, aber sie liebte Owen schon jetzt mit jeder Haarspitze. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das je mehr werden würde.
Donnerstag, 15. April
Erleichtert verließ Libby die Interstate und fuhr nach Arlington hinein. Gleich war sie zu Hause. Sie hatte im Stau gestanden, weil aufgrund eines Unfalls zwei Fahrspuren auf dem Freeway gesperrt worden waren. Normalerweise hatte sie Glück, da sie antizyklisch unterwegs war, aber leider nicht an diesem Tag.
Keine drei Minuten später hatte sie vor dem Haus geparkt und betrat die Wohnung. Owen war schon dort, sie fand ihn im Arbeitszimmer am Laptop und schlang von hinten die Arme um ihn. Mit einem Lächeln schloss er die Augen und seufzte zufrieden. „Da bist du ja endlich.“
„Der Verkehr war die Hölle.“
„Wem sagst du das?“ Owen hatte meist nicht so viel Glück wie sie, er stand weitaus öfter im Stau, obwohl seine Fahrtstrecke erheblich kürzer war.
„Wie war dein Tag?“
„Ziemlich langweilig, und deiner?“
„Langweilig war er nicht, aber schön war es auch nicht. Ich habe mit Belinda und Jesse weiter an dem Profil des Serienvergewaltigers in Florida gearbeitet.“
„Oh“, machte Owen wissend und verzog das Gesicht. „Genau dein Ding, oder?“
„Ich hasse Vergewaltiger.“ Sogar wie die Pest. Den ganzen Tag lang war ihr durch den Kopf gegangen, wie gern sie diesen Täter kastriert hätte. Er war in Tampa, Florida aktiv und überfiel dort nachts alleinstehende Frauen in ihren Schlafzimmern. Er war stets maskiert und spritzte seinen Opfern Ketamin, um sie außer Gefecht zu setzen. Dann fesselte er sie und wartete in aller Seelenruhe, bis sie wieder halbwegs bei Sinnen waren, um sie zu vergewaltigen. Stundenlang. Seine DNA hatten sie und sie wussten, dass er ein Weißer war, aber das war dann auch schon alles. Er sprach nie und wenn er fertig war, ließ er die Frauen gefesselt und geknebelt zurück und verschwand durchs Fenster.
Libby hatte zwei Tage lang üble Gewaltgelüste verspürt, während sie Fotos und die Aussagen der Opfer studiert hatte. Sadistischer, perverser Mistkerl. Sie waren fast fertig mit ihrem Profil – dieser Täter war der typische Sexualsadist, er steigerte sich bereits und in Tampa hatte die Polizei Angst, dass er zum Mörder wurde. Deshalb hatten sie die BAU um ein Profil gebeten, um ihn nach Möglichkeit vorher zu schnappen.
Belinda kannte sich gut mit solchen Verbrechen aus und Nick wusste, dass er auch Libby bei solchen Delikten jederzeit um Rat fragen durfte. Bis jetzt wusste von den übrigen Kollegen immer noch keiner, dass Libby selbst mal vergewaltigt worden war, obwohl sie inzwischen den Verdacht hatte, dass sie es ahnten. Jesse hatte sie manchmal fragend angesehen, aber sie wollte sich nicht erklären. Ron Hawkins war für sie inzwischen nur noch eine düstere Erinnerung und sie war ja schließlich nicht Profilerin geworden, um jetzt mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Das tat Owen auch nicht, obwohl er natürlich immer achtsam damit umgegangen war.
„Ich habe Hunger. Heute Mittag war mir nicht so sehr nach Essen, mir ging immer durch den Kopf, wie der Typ seine Opfer gefoltert hat. Wie sieht’s bei dir aus?“, fragte Libby, als wäre es das Normalste der Welt und wunderte sich entsprechend, als Owen sie grinsend ansah.
„Interessant, welche Themen du so zusammen in einem Satz ansprechen kannst“, sagte er. „Ich hatte zwar heute Mittag was, aber ich könnte schon wieder was essen …“
Sie beschlossen, sich eine Riesenpizza zu teilen und Libby zog sich erst mal um, nachdem sie ihre Bestellung beim örtlichen Lieferdienst aufgegeben hatten. Bloß raus aus der Bluse und rein in den Sweatpullover. Inzwischen war es kühl und gerade war ihr nach Kuscheln auf dem Sofa zumute. Dort setzte sie sich mit Owen hin, bis das Essen kam und bat ihn, von seinem Tag zu erzählen, weil sie keine Lust hatte, über einen Vergewaltiger zu sprechen. Das war wirklich nicht gerade ihr Lieblingsthema.
Keine halbe Stunde später war die Pizza da und sie beschlossen, faul auf dem Sofa sitzen zu bleiben, wo Libby sich zufrieden an Owen gelehnt hatte. Zwar waren sie irgendwie gefangen in ihrem Alltagstrott, aber sie machte ihren Traumjob und Owen war auch glücklich. Vor allem waren sie zusammen glücklich und das zählte. Am Rand des Couchtischs lag ein Brautmodenkatalog, den Libby immer wieder unentschlossen durchblätterte. Sie wusste einfach nicht, ob sie wirklich in Weiß heiraten wollte. Owen wünschte es sich, aber irgendwas hielt sie zurück und sie hatte keine Ahnung, was es war.
Sie war fast fertig mit dem Essen, als das Telefon klingelte. Mit einem Blick stellte sie fest, dass es Julie war und lächelte. Owen nickte wissend und nahm noch einen Bissen.
„Hey, Jules“, begrüßte Libby ihre beste Freundin. Inzwischen hatte sie den Spitznamen übernommen, den Kyle seiner Frau gegeben hatte.
„Hey, Libby, wie geht es dir?“
„Ach, ganz gut. So gut, wie es einem geht, wenn man sich den ganzen Tag in einen Vergewaltiger reingedacht hat.“
„Also, das kann ich bestens verstehen. Ich stecke ja mitten in der Vorbereitung der Interviews für mein Forschungsprojekt … davor habe ich ganz schön Respekt, das muss ich sagen.“
„Kann ich mir vorstellen. Ich hoffe, die Polizei in Tampa kriegt dieses Dreckschwein bald, an dessen Profil wir heute gearbeitet haben. Dann kannst du den auch gleich interviewen.“
Julie lachte. „That’s the Spirit! Danke auf jeden Fall, dass du deine Beziehungen hast spielen lassen. Professor Davis war ganz schön beeindruckt, als ich ihr sagte, wen ich interviewen werde.“
Julie hatte Libby im letzten Jahr darum gebeten, ihr vielleicht ein paar Interviews mit verurteilten Sexualverbrechern im Gefängnis zu ermöglichen. Libby hatte die Bitte an Nick weitergeleitet, der ein paar Strippen gezogen und die nötigen Genehmigungen für Julie eingeholt hatte, die sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit vor allem mit der Frage nach der Prävention von Sexualverbrechen beschäftigte. In dieser Hinsicht waren Interviews mit entsprechenden Tätern von fundamentaler Bedeutung und sie hatte sich einige herausgesucht, die in New York, New Jersey und Pennsylvania einsaßen und mit denen sie sprechen wollte. Darunter waren Serienvergewaltiger wie der, hinter dem die BAU jetzt her war, aber auch Serienmörder.
Inzwischen war Julie klar, dass sie bei Sadisten kaum auf freiwillige Prävention setzen konnte. Sie wollte sich aber genauer mit den Anzeichen für drohende Verbrechen auseinandersetzen und ein neues Präventions- und Therapieprogramm ausarbeiten, das gefährdeten Tätern dabei helfen sollte, die Perspektive ihrer Opfer einzunehmen und sich bewusst zu machen, was sie mit ihren Taten anrichteten. Libby wusste nicht, ob so etwas wirklich Erfolg haben konnte, denn es gab diese Täter, die eine Gefahr für die Gesellschaft waren und nicht wieder auf freien Fuß gesetzt werden konnten. Julies Idee setzte allerdings etwas früher an: Sie verfolgte den Plan, solche schlimmen Verbrechen zu verhindern, bevor sie passierten. Dafür mussten aber Sozialarbeiter und Psychologen entsprechend geschult sein, um zu erkennen, ob ein Vergewaltiger vielleicht das Potenzial zum Serienmörder in sich trug.
„Wen wirst du denn so interviewen?“, fragte Libby.
„Den Allentown Ripper zum Beispiel … oder den Bridgeport Rapist. Ich überlege auch tatsächlich, ob ich dich nicht ganz offiziell befragen soll.“
„Mich?“
„Du kanntest den Son of the Nightstalker, und du kanntest ihn gut. Er hat dich zweimal gekidnappt. Du kannst mir ganz viel Input liefern, der bei der Entwicklung meines Präventionsprogramms helfen könnte, denn du kennst die Perspektive der Opferseite.“
Libby atmete tief durch. „Puh … ich hatte irgendwie befürchtet, dass du das mal sagst.“
„Du musst nicht.“
„Aber ich weiß, dass es dir helfen würde.“
„Ja, das muss ich zugeben.“ Julie lachte verlegen. „Überleg es dir in Ruhe. Es ist ja noch ganz viel Zeit.“
„Okay, mal sehen.“
„Eigentlich rufe ich gar nicht deshalb an, sondern wegen Kyle.“
„Was ist denn mit ihm?“
„Es geht um einen Fall der FBI-Dienststelle in New York. Ich gebe ihn dir mal, dann kann er es dir selbst erklären.“
„Okay“, sagte Libby überrascht.
„Hi“, vernahm sie Kyles Stimme. „Ich habe ein kleines Attentat auf dich vor.“
„Hab ich schon gehört. Erzähl mal.“
„Das ist überhaupt nicht mein Fall, aber ich habe mitbekommen, dass die Kollegen mit ihren Ermittlungen in einer Sackgasse stecken und die ganze Sache klang mir sehr nach einem Fall für dich und deine Kollegen.“
„Worum geht es denn?“
„Um eine Mordserie an Frauen, die sich nun schon seit gut zehn Jahren zieht.“
„Wow. Klingt nicht gut.“
„Nein … vielleicht kennt euer Team den Fall schon längst, das weiß ich nicht. Deshalb wollte ich dich fragen. Vor knapp zehn Jahren ist die erste Leiche aufgetaucht und vor zwei Wochen die inzwischen vierte. Die Kollegen sind sich sicher, dass die Fälle zusammenhängen, denn es sind immer dieselben Merkmale: Junge Frauen Anfang oder Mitte zwanzig verschwinden spurlos und dann tauchen nach drei oder fünf Jahren ihre Leichen auf – und die sind in keinem guten Zustand. Abgemagert und mit Narben übersät. Wer auch immer sie hat, foltert sie die ganze Zeit über. Die Toten hatten verheilte Knochenbrüche, zahllose Schnittwunden, Fesselmale … einer von ihnen hat er die Augen ausgestochen. Ich hab das alles heute Mittag in der Kantine erfahren und musste gleich an dein Team denken. Dieser brutale Bastard foltert sie jahrelang.“
„Missbraucht er sie auch?“
„Es konnte nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden, sagen wir so. Darum scheint es ihm aber nicht hauptsächlich zu gehen. Er scheint sie irgendwo unterirdisch festzuhalten, denn der Gerichtsmediziner hat entsprechende Mangelerscheinungen an den Leichen festgestellt. Ich weiß nicht, was diese kranke Sau mit den armen Frauen vorhat, aber die Kollegen haben inzwischen die Befürchtung, dass nicht eine die andere ablöst, sondern er sogar mehrere gleichzeitig in seiner Gewalt hat.“
Libby verzog das Gesicht. „Wie kommen sie darauf?“
„Weil die Opfer immer erst gefunden wurden, nachdem das nächste schon lange verschwunden war. Die zweite Frau wurde zum Beispiel zwei Jahre vor Auffinden der Leiche der ersten gekidnappt.“
„Dann verfolgt er irgendeinen Plan.“
„Mit absoluter Sicherheit. Die Kollegen gehen davon aus, dass er auch jetzt mindestens eine Frau in seiner Gewalt hat und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich die nächste holt. Er hat sich die dritte nur kurz nach Auftauchen der Leiche der ersten geholt.“
„Aber sie sind sicher, dass es derselbe Täter ist?“
„Ja … weil er ihnen eine Art Brandzeichen verpasst. Gerade so, als gehörten sie ihm.“
„Du liebe Güte.“ Libby war ehrlich entsetzt.
„Sag ich ja. Ich musste wirklich gleich an euch denken.“
„Und wissen deine Kollegen, dass du die BAU ins Boot holen willst?“
„Noch nicht. Ich habe ja eigentlich gar nichts mit dem Fall zu tun – die meisten Infos, die ich dir gerade gegeben habe, habe ich mir nach der Pause aus dem System gezogen. Ich dachte, ich frage dich erst mal, ob ihr von dem Fall wisst.“
„Auf Anhieb sagt es mir nichts. Ich müsste morgen mal im System nachsehen. Kannst du mir die Namen der Opfer sagen?“
„Ja, die habe ich mir aufgeschrieben. Das ist einmal Beverly Collins aus Kingston, sie ist vor dreizehn Jahren verschwunden und war damals 22. Ansonsten habe ich hier noch Louise Harper, Dawn Bryant und Victoria Lee.“
„In Ordnung, ich werde mal schauen, ob ich sie finde. Wird vermutlich funktionieren.“
„Beverly Collins wurde vor knapp zehn Jahren gefunden. Die Abstände werden immer größer, er wird also besser in dem, was er vorhat. Die Kollegen haben sich jedenfalls wahnsinnig darüber aufgeregt, dass sie bis heute nicht auch nur einen echten Verdächtigen haben.“
Libby hatte sich den Hörer unters Kinn geklemmt und bat Kyle, die Namen und Daten noch einmal zu wiederholen. Er gab ihr alles durch und sie schrieb aufmerksam mit.
„Ich frage morgen mal bei Alex und Nick, ob der Fall ihnen was sagt. Denkst du denn, die Kollegen sind aufgeschlossen für die Hilfe der Profiler?“, fragte sie.
„Ich denke, schon. Keine Ahnung, warum sie nicht längst gefragt haben, wenn dem tatsächlich so sein sollte. Aber vielleicht könnt ihr ja helfen.“
„Das wäre schön. Also, ich hake da mal nach und dann gebe ich dir Bescheid. Kannst du mir deine Büronummer geben?“
„Sicher.“ Kyle diktierte sie ihr und Libby versprach, sich zu melden. Anschließend gab er ihr noch einmal Julie, die ganz aufgeregt klang.
„Das wäre ja total irre, wenn das ein Fall für euch wäre, was? Ihr müsstet dann herkommen und …“
Libby lachte. „Das könnte dir so passen, was?“
„Ja, das könnte mir enorm gut passen, das weißt du. Unser Schlafsofa ist für dich reserviert.“
„Ich weiß. Danke. Ich spreche Nick morgen gleich mal auf den Fall an. Nicht unwahrscheinlich, dass er ihm was sagt.“
„Nick weiß doch sowieso alles. Macht es dir immer noch Spaß in seinem Team?“
„Du kannst ja Fragen stellen. Es ist ein harter Job, aber das, was du machst, ist ja auch nicht besser.“
Nun lachte Julie und stimmte Libby zu. Sie unterhielten sich sehr vertraut und Libby hörte deutlich, dass ihre Freundin ziemlich glücklich war. Das freute sie sehr, denn sie stellte es sich als einen enorm großen Schritt vor, für die Liebe in ein weit entferntes Land zu ziehen und ein vollkommen neues Leben zu beginnen. Ganz so schlimm war es bei ihr selbst dann doch nicht.
Als sie schließlich das Gespräch beendet hatte und zu Owen zurückkehrte, der auf dem Sofa mit seinem Handy herumspielte, blickte er auf und fragte: „Ging es schon wieder um die Arbeit?“
„Sozusagen, ja … Kyle ist da auf einen Fall aufmerksam geworden, nach dem ich Nick jetzt mal fragen muss. Klingt fast so, als könnten die Kollegen oben in New York Hilfe gebrauchen.“
„Wehe, du verlässt mich schon wieder“, scherzte Owen.
„Ich verlasse dich nie, Owen Young.“ Mit erwartungsvollem Gesicht stand sie vor ihm und nachdem er sein Handy weggelegt hatte, setzte sie sich ihm zugewandt auf seinen Schoß und legte die Arme um ihn. Wortlos küsste sie ihn und schloss die Augen. Sie mochte den Geruch seines Aftershaves. Als er seine Hände auf ihren Po legte, während er den Kuss erwiderte, lächelte Libby und spürte, wie das in ihr ein wohliges Kribbeln auslöste.
„Ich liebe dich“, sagte Owen und Libby sah ihn wieder an. „Ich bin so glücklich darüber, dass wir auch bald heiraten, weißt du das?“
„Natürlich weiß ich das. Ungefähr so glücklich wie ich, oder?“ Grinsend fuhr sie mit einer Hand unter sein T-Shirt und versank mit ihm in einem weiteren tiefen Kuss.
Freitag, 16. April
Der Duft von Kaffee lag in der Luft, als Libby das Büro der Behavioral Analysis Unit in der FBI Academy, Quantico betrat. Nun war sie schon seit fast einem Jahr hier und es fühlte sich so an, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Die Kollegen grüßten sie freundlich und sie setzte sich erst kurz an ihren Rechner, bevor sie sich wieder zu Belinda und Jesse gesellte, um mit ihnen das Profil des Vergewaltigers aus Tampa fertigzustellen. Sie wollten es unbedingt noch vor der Mittagspause beim Tampa Police Department haben und als sie zwei Stunden später fertig waren, stellten sie es Nick vor, der es sich gespannt anhörte und schließlich beifällig nickte.
„Klingt alles sehr plausibel. Ich werde Alex bitten, das Profil so nach Tampa weiterzuleiten. Das war gute Arbeit.“
„Danke“, sagte Belinda und während sie und Jesse schon aufstanden, um wieder zu ihren Arbeitsplätzen zurückzukehren, blieb Libby sitzen und blickte zu Nick. „Kann ich dich was fragen?“
„Immer doch. Worum geht es?“ Nachdem Belinda und Jesse das Büro verlassen hatten, setzte Nick seinen typischen interessierten Gesichtsausdruck auf.
„Ich habe gestern mit Julie telefoniert. Ihr Mann hat mich auf einen Fall aufmerksam gemacht, den die Kollegen in der New Yorker Dienststelle bearbeiten. Er fragte mich, ob wir in dem Fall mal ein Profil erstellt hätten, weil er das so passend für uns fand“, begann Libby. „Irgendjemand ermordet in New York State junge Frauen, nachdem er sie jahrelang gefangen gehalten und gefoltert hat – wahrscheinlich mehrere gleichzeitig.“
Nick machte ein unschlüssiges Gesicht. „Noch klingelt da nichts.“
„Einem Opfer hat er die Augen ausgestochen. Die Frauen sind alle Anfang oder Mitte zwanzig, er verpasst ihnen sein eigenes Brandzeichen und Sex scheint für ihn gar nicht so sehr im Vordergrund zu stehen.“
„Hast du einen Namen für mich?“
Libby holte ihren Zettel heraus. „Beverly Collins.“
„Beverly Collins … wann war das?“
„Ihre Leiche wurde 2011 gefunden.“
„Wie viele Opfer gab es insgesamt?“
„Bis jetzt vier. Die anderen hießen Louise Harper, Dawn Bryant und Victoria Lee.“
Nun zeichnete sich Erkenntnis auf Nicks Gesicht ab. „Ja, ich erinnere mich. Louise Harper war das mit den ausgestochenen Augen.“
Diese Aussage überraschte Libby. „Das weiß ich gar nicht.“
„Ich erinnere mich. Die Kollegen hatten uns damals um ein Profil gebeten.“
„Ach was.“
„Das müsste 2014 gewesen sein. Die Mordserie ist also weiter gegangen?“
Libby nickte. „Was hattet ihr denn damals angenommen?“
„Mal sehen … komm mit.“ Nick stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Libby nahm auf dem Stuhl davor Platz, bevor er seinen Bildschirm zu ihr drehte. Auf seinem Computer öffnete er einen Ordner mit Unterlagen aus 2014 und suchte ein bisschen, bis er ein Profil von Oktober 2014 fand, das sie für die Dienststelle in New York City angefertigt hatten. Als Opfer aufgeführt waren nur Beverly Collins und Louise Harper. Beverly war 2008 aus Kingston, New York verschwunden und Anfang 2011 tot aufgefunden worden. Mit dem Fund von Louise Harpers Leiche 2014 hatte die Polizei es dem FBI übergeben, denn Louise hatte man die Augen ausgestochen und nun war schon die zweite Frauenleiche aufgetaucht, die dasselbe Brandzeichen trug. Es war eine liegende Acht, das Zeichen für Unendlichkeit.
„Das ist ganz schön makaber“, fand Libby.
„Wir haben damals festgehalten, dass er definitiv ein Sadist ist, auch wenn wir keinerlei Hinweise darauf finden konnten, dass er die Opfer vergewaltigt hat. Wir haben ihn dem kompensatorischen Sadismus zugeordnet.“
„Also tritt für ihn die Folter seiner Opfer an die Stelle von Sex.“
Dormer nickte. „Ganz genau. Dass er sie foltert, ist für ihn wie Sex. Dafür braucht er keine Penetration. Die hat er sich auf andere Weise geholt, zum Beispiel mit den vielen kleinen Verletzungen durch Messer. Er hat Beverly damals fast drei Jahre gefangen gehalten, bevor er sie getötet hat, und Louise war schon ein Jahr nach Beverlys Entführung ebenfalls dort. Sie hat er wesentlich länger behalten und bei ihr waren die Verletzungen auch deutlich ausgeprägter.“
„Was habt ihr über ihn angenommen?“
Nick seufzte tief. „Wir hatten nicht viel, das weiß ich noch. Es war zwar ein solides Profil, aber uns fehlte einfach wahnsinnig viel. Wir haben die Standards angenommen: Ausgehend von der Tatsache, dass die Opfer Weiße waren, haben wir festgehalten, dass er auch ein Weißer ist, etwa 25 bis 30 Jahre alt. Wir hatten nichts zum Verschwinden der jungen Frauen, deshalb können wir über seine sozialen Fähigkeiten nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten war damals, dass er sie tatsächlich unbemerkt ins Auto gezerrt hat. Aber wer es schafft, gleich mehrere Frauen so lang irgendwo gefangen zu halten, ist intelligent und organisiert und er verfügt neben finanziellen auch über die nötigen räumlichen Möglichkeiten. Dass er vorbestraft ist, ist nicht allzu wahrscheinlich, denn er ist beherrscht genug, das alles jahrelang durchzuziehen. Allerdings ist er auch brutal und besessen von dem Wunsch, andere zu dominieren. Vermutlich lebt er deshalb nicht in einer Beziehung, weil er so bestimmend ist, dass sich dem niemand unterordnen will. Wir hatten vermutet, dass der ersten Entführung ein kürzlicher Bruch einer Beziehung vorangegangen ist, die er geführt haben könnte und an der ihm was gelegen hat. Wir haben die Taten als einen Ausdruck des Verlangens gesehen, sich jemanden zueigen zu machen und vollkommen zu unterwerfen und weil es ihm im wahren Leben nicht gelungen ist, sich so etwas aufzubauen, hat er begonnen, Frauen zu entführen. Er wird schon ein gewisser Sonderling sein, aber er hat sein Leben im Griff.“
„Offensichtlich. Er macht das jetzt seit dreizehn Jahren. Inzwischen gibt es vier Tote und es ist ja anzunehmen, dass er aktuell noch weitere Frauen in seiner Gewalt hat.“
„Vermutlich, ja … sag mir doch noch mal die Namen der anderen Opfer.“
In VICAP suchte Nick nach Dawn Bryant, die mit 23 verschwunden war – diesmal allerdings nicht in New York State, sondern in Connecticut. Sie war 2010 als vermisst gemeldet worden und ihre Leiche war 2017 wieder aufgetaucht. Victoria Lee aus Ellenville, New York, war mit 25 verschwunden. Das war 2013 gewesen und ihre Leiche war vor zwei Wochen gefunden worden.
Kyle hatte Recht gehabt. Die Abstände wurden wirklich immer größer. Der Täter war zufriedener mit sich und seiner Vorgehensweise.
„Wenn Victoria Lee das letzte gefundene Opfer ist … sie ist 2013 verschwunden. Das ist eine Ewigkeit her. Anfangs hat er sich die Opfer jährlich geholt, zwischen Dawn und Victoria lagen schon drei Jahre … aber jetzt ist es fast sieben Jahre her, dass er das letzte Opfer entführt hat?“ Nick schüttelte den Kopf. „Niemals. Wenn er auch nur den Abstand von drei Jahren beibehalten hat, befinden sich jetzt noch mindestens zwei Frauen in seiner Gewalt.“
Libby betrachtete ihren Zettel und die Daten darauf. Beverly hatte er drei Jahre gehabt, Louise schon fünf, Dawn sieben und Victoria acht. Zwischenzeitlich hatte er sogar drei Frauen zeitgleich bei sich gehabt – mindestens.
„Du hast Recht. Er ist noch dabei und allein deshalb bräuchte es dringend ein neues Profil“, sagte sie.
„Mehr als dringend, ja. Wir wissen jetzt mehr und können viele Annahmen korrigieren, aber vor allem ist es wichtig, die anderen Frauen zu finden. Ich denke, wir sollten die Kollegen in New York unbedingt unterstützen.“
„Die wissen noch gar nicht von ihrem Glück, dass Kyle mich auf den Fall angesprochen hat …“
„Okay, dann lass ihn mal die Lage peilen. Er soll den zuständigen Ermittlern ruhig sagen, dass er jemanden aus der BAU kennt und angesprochen hat und wir jetzt gern helfen würden.“
Libby nickte. „Ich rufe ihn sofort an.“
„In Ordnung. Ich muss selbst kurz telefonieren, aber gib mir bitte Bescheid, wenn du etwas weißt.“
Sie versprach es und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, wo sie gleich zum Hörer griff und Kyles Nummer wählte.
„Special Agent Thornton, FBI New York“, meldete er sich und brachte Libby damit zum Grinsen. FBI Special Agent Kyle Thornton. Das war großartig.
„Guten Tag, Special Agent Thornton, hier spricht Special Agent Libby Whitman aus Quantico“, sagte sie und musste sich ein Lachen verkneifen.
„Ich grüße Sie, Agent Whitman. Was kann ich für Sie tun?“, spielte er das Spiel kurz mit und lachte. „Hast du mit deinem Team gesprochen?“
„Ich komme gerade von SSA Dormer. Die BAU hat 2014 tatsächlich ein Profil in dem Fall erstellt, aber damals waren es erst zwei Opfer. Dormer war nicht ganz glücklich mit dem Profil, weil er meinte, dass es damals kaum Informationen gab. Als ich ihm vorhin von den zwei neuen Opfern erzählte, war er gleich sehr zuversichtlich, das Profil noch einmal neu erarbeiten zu können. Außerdem haben wir nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass der Täter noch mindestens zwei weitere Opfer aktuell in seiner Gewalt hat. Die leben noch.“
„Oh. Wow. So weit habe ich noch gar nicht gedacht – ich weiß nicht, ob die Kollegen sich das schon überlegt haben.“
„Geh mal zu ihnen und erzähl davon, dass du mit mir darüber gesprochen hast, weil du mich kennst. Wir möchten ihnen unsere Unterstützung anbieten.“
„Okay, bin so gut wie unterwegs. Ich melde mich gleich wieder bei dir.“
Libby war einverstanden und legte auf. Das war ja monströs. Vier Tote und zwei, vielleicht drei weitere entführte Frauen … so viele Opfer. Sie mussten etwas tun.
Während sie auf Kyles Rückruf wartete, konnte sie sich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Schließlich öffnete sie VICAP und rief die Fallakte von Louise Harper auf.
Man hatte die Leiche in einem einsamen Waldstück gefunden, da war sie bereits drei Tage tot gewesen. Sie war nackt und lag verrenkt im Unterholz. Am auffälligsten war die Tatsache, dass er ihr die Augen ausgestochen hatte. Unwillkürlich musste Libby an Marcus Greene denken, der auch die Augen seiner Opfer entfernt hatte.
Die Fotos waren ein Kabinett des Grauens. Ihre Handgelenke waren regelrecht vernarbt von Fesselmalen, ähnliches galt für ihre Fußgelenke. Als Libby die Aufnahmen weiter studierte, sah sie die unzähligen kleinen Schnittwunden auf Louises geschundenem Körper. Er hatte sie immer wieder geschnitten – nicht tief, nur um ihr weh zu tun. Um sie zu quälen. So, wie Sean Taylor es damals mit Sadie getan hatte.
Libby schluckte hart und überflog den Obduktionsbericht. Es war die Rede von Knochenbrüchen – von Frakturen der Unterschenkel und Rippen, außerdem schien er ihr die Finger gebrochen zu haben, denn die Gelenke waren teilweise versteift. Die Brüche waren schon seit längerem verheilt, doch man wusste, dass Louise sie vor ihrer Entführung nicht gehabt hatte.
Libby ahnte, warum er ihr die Brüche an den Beinen beigebracht hatte. Sie hatte nicht fliehen sollen.
Sie las von verschiedensten Verletzungen. Louise hatte Löcher in Ober- und Unterlippe, die bereits wieder verheilt waren und Narben an den Brüsten, die auf Schnitt- und Stichwunden hindeuteten. Eine ihrer Brustwarzen fehlte und das Narbenmuster verriet, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach abgebissen hatte. Für einen kurzen Moment hielt Libby die Luft an und sammelte sich, bevor sie weiterlas.
An den Innenseiten der Oberschenkel hatte sie zahlreiche Schnitte, ebenso an den Genitalien. Libby las an der Stelle nicht weiter und war heilfroh, als das Telefon klingelte und Kyle sie anrief. Ihr war heiß und ihr Herz raste.
„Ich habe mit den Kollegen gesprochen. Die hatten schon überlegt, die BAU ins Boot zu holen, ich habe also mit eurem Angebot offene Türen eingerannt“, sagte er ohne Umschweife.
„Ehrlich? Ist doch großartig! Ich werde es Nick gleich berichten.“
„Ja, mach das … er soll doch einfach mal SSA Alexander Reed anrufen und die Details mit ihm klären. Hast du was zu schreiben?“
Libby bejahte und notierte die Nummer von Agent Reed. „Ich gehe gleich zu Nick. Das wäre ja toll, wenn wir zu euch kämen, um euch bei den Ermittlungen zu unterstützen.“
„Ja, absolut. Julie würde sich irrsinnig freuen, wenn du bei uns übernachten würdest.“
„Na, aber sicher doch. Was denkst du, wie ich mich darüber freuen würde!“
„Sag Bescheid, wenn du Näheres weißt.“
Libby versprach es ihm und legte auf, bevor sie mit ihrem Zettel zu Nicks Büro ging. Er telefonierte noch, aber er winkte sie herein und beendete kurz darauf sein Gespräch.
„Und?“, fragte er mit vielsagendem Gesicht.
„Sie hatten schon darüber nachgedacht, uns zu kontaktieren. Wir sind ihnen herzlich willkommen. Kyle hat mir gerade die Nummer des zuständigen Ermittlers gegeben, damit du dich mit ihm kurzschließen kannst.“
„Hervorragend, das lief doch gut“, freute Nick sich. Libby reichte ihm den Zettel und er machte sich gleich wieder daran, zu telefonieren.
Jetzt ging es ihr besser.