Im Auge des Falken - J.L. Langley - E-Book

Im Auge des Falken E-Book

J.L. Langley

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Beschreibung

Für Ehre und Pflicht, bis Herz und Schwert bricht... Als Captain Nathaniel Hawkins seine Undercover-Mission auf dem Planeten Regelence antritt, ahnt er noch nicht, was ihn dort erwartet. Eigentlich sollte er nur die Verbindung des Königshauses zum Waffenschmuggel aufdecken, als er sich plötzlich einer vollkommenen Unbekannten gegenübersieht: der Liebe, die ihm in Form von Prinz Aiden in die Arme fällt... Buch 1 der "Regelence"-Serie

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Seitenzahl: 452

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Digitale Erstausgabe (ePub) Juni 2013

Digitale Neuauflage (ePub) Juli 2019

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by J.L. Langley

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»My Fair Captain«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Umschlagillustration: Marek Purzycki

Bildrechte Umschlagillustration: Sharifullin Rustam; Simon Bratt

vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: hanne's designküche

ISBN-13: 978-3-95823-590-8

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-side.de

Widmung

In Gedenken an Charlie Mitchell. Freund und Nachbar.

Wir werden ihn sehr vermissen.

Ein besonderer Dank geht an Dick D, meinen V.E.P.B. Du hast

mir wirklich geholfen, die ganze Geschichte klarer zu machen.

Ich hätte vermutlich angefangen, zum Stressabbau einige Figuren

umzubringen, wärst du nicht gewesen. Ich habe unsere Pla-

nungssitzungen enorm genossen.

Und für die Ladies von Jaw Breakers. Ich hätte mir ohne euch die

Haare ausgerauft. Diese Geschichte war der Auslöser für meine

gespaltene Persönlichkeit. Danke, dass ihr mit mir zusammen

gelitten habt.

Prolog

26. Januar 4811, Planet Englor, Moreal, eine Lichtung am Rand von Hawthorne Manor

Ein vertrocknetes Blatt wirbelte über die Spitze seines glänzenden schwarzen Stiefels, als er den rechten Fuß anhob. Nathaniel hätte einfach zu Hause bleiben sollen... scheiß auf die Ehre. Es war doch nur ein Missverständnis gewesen, ein Unfall. Und jetzt würde er einen hohen Preis dafür zahlen. Er würde sterben.

»Sechs.«

Nate schluckte hart und atmete tief durch, während er seinen sechsten Schritt machte. Die kühle Morgenbrise strich durch seine dunkelbraunen Haare und wehte ihm eine zu lange Strähne ins Gesicht. Er blinzelte und schüttelte den Kopf, damit sie wieder nach hinten rutschte, und wünschte im gleichen Moment, er hätte es nicht getan. Sein Kopf schmerzte immer noch von dem heftigen Saufgelage, dem er in der Nacht zuvor gefrönt hatte. Wenn er das hier durch irgendein Wunder überleben sollte, würde er nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren.

»Sieben.« Baron Whites Stimme tönte scharf über das Rascheln der Blätter und die Geräusche der Pferde. Vielleicht wirkte das aber auch nur durch die besonderen Umstände so. Oder vielleicht war es der Kontrast zu der friedlichen Lichtung.

Mit vernebeltem Hirn und einem Körper, der auf Autopilot lief, bewegte sich Nate weiter. Er blinzelte zum Horizont, der hinter den kahlen Bäumen zu erahnen war, wo die Sonne den Himmel langsam mit ihrer Morgenröte überzog. Wann war er das letzte Mal so früh auf gewesen, um einen Sonnenaufgang zu sehen? Er konnte sich nicht erinnern, aber das Wissen, dass dies vielleicht seine letzte Gelegenheit dazu war... Sein sorgenfreies Leben als Erbe des Duke of Hawthorne erschien ihm plötzlich verschwendet.

Vom Rand der Lichtung erklang ein Räuspern, als sich die Stimme des Barons erneut erhob.

»Acht.«

Nathaniel marschierte einen Schritt weiter. Wie hatte er nur glauben können, dass der Viscount auf die Stimme der Vernunft hören würde? Daniel Bradford, Viscount Hargrove und Erbe des Marquis of Oxley, war schon immer ein Hitzkopf gewesen.

Obwohl ihre Väter die engsten Freunde waren und Nate und Daniel sich praktisch von Geburt an kannten, hatten sie sich nie wirklich gemocht. Als Kinder waren sie Rivalen gewesen. Als Erwachsene ignorierten sie sich die meiste Zeit. Bis gestern Abend. Gestern Abend waren sie zu erbitterten Feinden geworden.

»Neun.«

Er schloss die Augen und setzte einen weiteren Fuß vor den anderen. Die antike, terrestrische Pistole wog schwer in seiner Hand. Er wollte das nicht. Die Anschuldigung, die ihn hierher gebracht hatte, war falsch, aber sein Alibi würde ihn nicht weniger belasten. Alles in ihm schrie danach, das Feld zu räumen und zu verschwinden. Er würde als Feigling dastehen, aber wenigstens würde er die nächsten zwanzig Jahre noch erleben. Und was noch wichtiger war: Er würde seinen Vater nicht enttäuschen.

»Zehn. Feuer!«

Nathaniel fuhr herum und wusste dabei genau, was er tun musste. Er konnte Hargrove nicht umbringen. Wenn Nate überlebte, würde sein Vater ihn mit Sicherheit enterben. Er mochte ein verschwenderischer Nichtsnutz sein, aber er verehrte seinen Vater und in dessen Augen zu versagen, war das Schlimmste, was Nate sich vorstellen konnte. Sogar schlimmer als der Tod. Er zielte schräg über Daniels Schulter.

Ein Schuss hallte über die Lichtung und plötzlich fuhr ein rasender Schmerz durch seine Seite. Er zuckte zurück und sein Finger krümmte sich reflexartig um den Abzug. Daniels blaue Augen weiteten sich, sein Kiefer klappte nach unten und er starrte auf seine Brust hinunter, wo sich ein roter Fleck auf seinem braunen Gehrock ausbreitete.

Er sah wieder zu Nathaniel auf und brach mit kalkweißem Gesicht zusammen wie eine Marionette, der jemand die Fäden durchgeschnitten hatte.

Der laute Schrei einer Frau durchbrach die Stille. Victoria, Hargroves Verlobte, stürzte auf die Lichtung und warf sich auf den Viscount.

Oh Himmel, was habe ich getan? Wie erstarrt stand Nate da und hielt nach einem Lebenszeichen seines Gegners Ausschau.

Jemand kam auf Nate zugerannt. »Oh Scheiße, Nate!« Jared.

Nur am Rande nahm Nathaniel den Tumult um sich herum wahr. Die Pistole entglitt seinen tauben Fingern. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie ins tote Gras. Er starrte auf Hargroves leblosen Körper, der zum Teil von Victorias blauem Reitkostüm verdeckt wurde, und versuchte, den Mann allein durch seine Willenskraft wiederauferstehen zu lassen. Aber er wusste, dass das nicht passieren würde.

Eine Gruppe Menschen umringte den Viscount und versperrte Nate endlich die Sicht, aber das Schluchzen und das Durcheinander fassungsloser Stimmen riss nicht ab. Finger bohrten sich in seine Seite und das dumpfe Pochen flammte erneut zu scharfem Schmerz auf. Er zischte leise und sah auf Jareds dunklen Haarschopf hinunter. Was machte sein jüngerer Bruder hier?

Jared sank auf die Knie und untersuchte Nates Seite. »Ist nur eine Fleischwunde.« Er erhob sich und trat vor Nate. »Wir müssen hier weg.« Sein Bruder packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Nate, hörst du mir zu?«

Nathaniel riss seinen Blick von den besorgt dreinschauenden, braunen Augen seines Bruders los und sah über dessen Schulter. Hargrove konnte nicht tot sein. Das durfte nicht sein. Nate hatte nicht die Absicht gehabt, den Viscount zu töten, er selbst hätte hier sterben sollen.

Der Arzt stand bei Daniel und schüttelte den Kopf. Victorias Schluchzer wurden lauter, sie strich mit der Hand durch Daniels blonde Haare und flehte ihn an, ihr zu antworten. Selbst Baron White hatte seine korpulente Gestalt zu dem Gefallenen gewalzt.

»Nate!« Jared schüttelte ihn stärker.

Nate tastete nach seiner Verletzung und keuchte schmerzerfüllt auf. Was sollte er jetzt tun? Seine Hand zuckte vor der klebrigen Feuchtigkeit zurück und er hob sie zwischen sein und Jareds Gesicht. Dunkles Rot benetzte seine Fingerspitzen und tropfte von seiner Hand.

»Verdammt, Nathaniel!« Jared verpasste ihm eine Ohrfeige, die Nate beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. »Reiß dich zusammen. Wir müssen weg.«

Das Stechen in seiner Wange riss Nate aus seiner Lethargie. Jared hatte recht. Duelle waren zwar nichts Ungewöhnliches, aber sie waren nichtsdestotrotz verboten. Niemand würde ein Wort darüber verlieren, bis die Obrigkeit sich einmischte, und in diesem Fall würden sie alle inhaftiert werden. Was er auch mit absoluter Gewissheit verdiente.

»Bist du auf Nabil hergekommen? Oder in einem der Gleiter?«, fragte Jared und zog ihn in Richtung der Pferde. Direkt hinter der ersten Baumreihe waren traditionelle Pferdekutschen und moderne, planetare Schwebegleiter am Wegrand abgestellt worden.

»Ich bin auf Nabil hergeritten.« Nate befreite sich aus Jareds Griff, als sie die Baumgrenze erreicht hatten, und suchte mit den Augen nach seinem schwarzen Hengst. »Was machst du hier, Jared?«

Nate wusste mit Sicherheit, dass sein Bruder nicht auf der Lichtung gewesen war, als das Duell begonnen hatte. Er selbst war mit Absicht alleine erschienen, hatte noch nicht einmal einen Sekundanten mitgebracht.

Nabil stand in einiger Entfernung von dem Gleiter, dessen Flanke ihr Familienwappen zierte. Als Nate und Jared näherkamen, tänzelte der Hengst in ihre Richtung, als könnte er ihre Nervosität und Eile spüren.

Jared stapfte auf den Gleiter zu, das jungenhafte Gesicht trotzig verzogen. »Tür öffnen. Stufen ausfahren.« Die Tür glitt zur Seite und Trittstufen klappten aus der Seite des Fahrzeugs aus. »Einer muss doch auf dich aufpassen, Brüderchen. Als ich aufgewacht bin, warst du weg. Du hättest mir sagen sollen, dass du vorhast, das durchzuziehen. Ich hab's gerade noch rechtzeitig hergeschafft.« Jared kletterte in den Gleiter. »Stufen einklappen.«

Die Einstiegshilfe verschwand in der dafür vorgesehenen, schwarzen Metallaussparung, während Jared sich mit den Händen am Türrahmen abstützte und seine Aufmerksamkeit wieder auf Nate richtete.

Erst jetzt fiel Nate das derangierte Äußere seines Bruders auf. Jareds zerknitterte, schwarze Kniebundhosen waren noch die gleichen wie am Abend zuvor. Er trug keinen Gehrock oder ein Krawattentuch und ein Ärmel seines blassblauen Hemds war bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Seine schulterlangen, dunkelbraunen Haare waren offen und sahen aus, als hätten sie schon länger keinen Kamm mehr gesehen.

Mit seinen attraktiven Zügen wirkte er wie eine jüngere Ausgabe von Nate, doch momentan bedeckte sie ein dichter Bartschatten. Jared sah aus, als wäre er geradewegs aus dem Bett gefallen, um Nate im Gleiter zu folgen, ohne auf die Hilfe seines Kammerdieners zu warten.

Nate fühlte sich wie betäubt, als er sich in den Sattel hievte. »Ich hatte nicht vor, das Duell durchzuziehen. Ich bin hergekommen, um es Daniel auszureden, aber er wollte einfach nicht hören.«

Er wendete Nabil in Richtung der Lichtung und versuchte, durch das trockene Buschwerk etwas zu erkennen. Sein Magen sackte ihm in die Kniekehlen, als ihm das ganze Ausmaß der Misere bewusst wurde – egal, wie unbeabsichtigt sie auch geschehen sein mochte. Er hatte einen Mann getötet.

»Es tut mir leid.« Jareds Stimme war so leise, dass Nate ihn kaum verstand.

»Ja, mir auch«, flüsterte er zurück. Erneut wendete er Nabil und schenkte seinem einzigen Bruder ein trauriges Lächeln. »Lass uns nach Hause gehen, kleiner Bruder.«

Jared nickte und zog sich in den Gleiter zurück, dessen Tür sich schloss. Das Fahrzeug hob vom Boden ab, gewann an Höhe und steuerte auf die Straße zu. Mit hoher Geschwindigkeit rauschte es nach Hawthorne Manor.

Nach einem letzten Blick auf die verborgene Lichtung schloss Nate die Augen. Sein Leben würde nie mehr so sein wie zuvor. Er trieb Nabil an und galoppierte in Richtung seines Zuhauses und damit dem Urteil seines Vaters entgegen.

Kapitel 1

5. November 4829, Planet Regelence, Regierungsland Pruluce,

Townsend Castle in Classige

Ein ohrenbetäubendes Kreischen hallte durch die Residenz, gefolgt vom Geräusch nackter Füße auf dem Marmorfußboden, das jedoch plötzlich gedämpfter klang. Aiden sah von seinem Zeichenpad auf.

Muffin, das Mündel seines ältesten Bruders, stürmte splitternackt und tropfnass durch die Tür des Salons. Die halblangen, roten Haarsträhnen klebten ihr im sommersprossigen Gesicht, an ihrem Hals und den Schultern. Sie rannte, so schnell ihre dünnen Beinchen sie trugen und hinterließ dabei feuchte Spuren auf dem blauen Teppich. Sie linste über die Schulter nach hinten. Ohne Aiden zu beachten, schlüpfte sie unter die Chaiselongue, auf der er es sich gemütlich gemacht hatte.

Er biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Es war offensichtlich Badezeit. Er speicherte sein neuestes Gemälde, steckte den Stift in die Halterung an der Seite des Pads und legte es beiseite. Er beugte sich über die Kante der Chaiselongue und hob den goldenen Damast-Volant an. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Augen und er strich sie beiseite, während er in zwei große, blaue Augen sah.

Muffin legte einen winzigen Finger an ihre Lippen. Noch immer rann Wasser über ihre rosigen Wangen.

»Pscht... nich' verrat'n Aid'n.«

Aiden ließ den Stoff los und richtete sich wieder auf, während er noch immer mit seiner Belustigung kämpfte. Die Vierjährige verstand noch nicht, dass Jeffers, der Zentralcomputer des Anwesens, alles wusste, was unter seinem Dach passierte. Zweifellos würde ihre Kinderfrau Christy als erstes Jeffers fragen, um das Kind zu finden.

Aiden entschied, dem kleinen Wassergeist zu helfen. Natürlich musste sie baden, aber ab und zu war es auch ganz gut, sich ein bisschen zu wehren. Damit es nicht langweilig wurde.

»Jeffers?«

»Ja, Lord Aiden?«, fragte der körperlose Bariton.

»Du hast Lady Muffin nicht gesehen.«

»Milord, Ihr wisst doch, dass es mir nicht erlaubt ist, die Schlosswachen und Aufsichtspersonen zu Euren Gunsten zu belügen. Dazu zählt auch Lady Muffins Kinderfrau.«

Aiden seufzte. Natürlich wusste er das. Der Bereich innerhalb der Residenz und auf den unmittelbar angrenzenden Parkanlagen war der einzige, auf dem der Aufenthalt ohne Anstandsbegleitung für ihn und seine Geschwister gestattet war. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie sich Tricks ausdenken mussten, um sich unbeobachtete Augenblicke zu verschaffen. Und apropos...

Er warf einen Blick auf die Uhr auf dem weißen, marmornen Kaminsims. 09:12 Uhr. Noch drei Minuten, bis Payton Jeffers abschaltete, sofern Payton es schaffte, Jeffers Sicherheitskameras, die menschliche Dienerschaft der Residenz und das Sicherheitssystem zu umgehen, um ins Kontrollzentrum im Keller zu gelangen. Nachdem Payton das letzte Mal bei Jeffers den Schalter umgelegt hatte, hatten ihre Eltern darauf reagiert, indem sie mehr Schutzmechanismen installiert hatten.

»Na schön, dann lass es mich so ausdrücken: Du siehst Lady Muffin ja nicht, sie versteckt sich irgendwo im Haus.«

»Das stimmt, Lord Aiden. Meine Kameras können sie unter der Chaiselongue nicht sehen, allerdings sagen mir die Wärmesensoren, dass sie sich dort befindet. Ich werde dies Miss Christy mitteilen.«

Aiden schnaubte. Jeffers würde seine Nachricht an Christy auch exakt so formulieren. Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Christy konnte ganz einfach den feuchten Spuren folgen, um ihren Schützling aufzuspüren. Aber es würde der kleinen Rabaukin einen Moment ohne Aufsicht verschaffen und ein kleines Chaos auslösen, in dem er selbst verschwinden konnte. Hauptsache, Christy war nicht hier, wenn Aiden sich davonmachte.

Vom Korridor her hörte man das laute Klappern von Absätzen. Aiden hielt den Atem an, bis sich die Schritte wieder vom Salon entfernten. Er sah noch einmal zur Uhr, dann wieder zur offenen Tür. 09:14 Uhr.

»Jeffers, schließ bitte die Tür des Salons. Ich wünsche etwas mehr Ruhe. Schalte außerdem alle Kameras, Wärmesensoren und Mikrofone in diesem Raum bis auf Weiteres ab.«

Die große Doppelflügeltür hinter den blauen, bodenlangen Vorhängen schloss sich mit einem leisen Klicken. »Ja, Milord.«

Aiden sprang auf und linste unter die Chaiselongue. Einen Moment lang haderte er mit sich, ob er der Kleinen von dem Vorhaben erzählen sollte, das seine Brüder und er geplant hatten. Er wollte nicht riskieren, dass der Zwerg nach draußen ging und sich am Ende verletzte, aber auch sie sollte die Gelegenheit haben, die unerwartete Freiheit zu genießen. Wie er sie kannte, würde sie die gestohlenen Minuten dazu nutzen, in die Küche zu schleichen und sich etwas Süßes zu besorgen.

»Muffin, Payton schaltet den Spion heute ab. Versprichst du mir, dass du nicht nach draußen gehen wirst?«

Sie nickte heftig und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr feuchtes Gesicht. »Ve'spochen.«

»Und du darfst es Rexley nicht erzählen.«

Wieder nickte sie. »Is' gut.«

»Hmpf.«

Muffin erzählte Rexley alles und was sein ältester Bruder wusste, wussten auch ihre Eltern. Rexley war der Thronfolger und vermutlich war im Lexikon unter dem Wort verantwortungsbewusst sein Konterfei abgebildet. Wenn er davon erfuhr, dass Tarren Payton zur Abschaltung von Jeffers angestiftet hatte, würde sich Rexley dazu verpflichtet sehen, sofort zu ihrem Vater und Sire zu gehen.

Aiden ließ den Volant sinken und klemmte sich sein Zeichenpad unter den Arm, das er extra für diesen Ausbruch-Vormittag mitgebracht hatte. Erst hatte er ein traditionelles Skizzenbuch und Kohlestifte mitnehmen wollen, aber mit dem Zeichenpad konnte er mehr anfangen.

Auch wenn er die altehrwürdigen Zeichenmethoden sehr schätzte, mit dem Zeichenpad konnte er auf größerer Fläche arbeiten, Farbe benutzen und das fertige Werk dann am Schluss ausdrucken. Er konnte seine Entwürfe in jede künstlerisch nur erdenkliche Form bringen und hatte praktisch unbegrenzte Speicherkapazität. Mit dem konventionellen Block oder Notizbuch würde ihm schlicht irgendwann das Papier ausgehen.

Er schaute zum Kamin. Die Uhr zeigte 09:15.

»Jeffers?«

Keine Antwort.

»Jeffers? Bist du da?«

Wieder keine Reaktion des Computers.

Ja! Payton hatte es geschafft. In seinen ganzen neunzehn Lebensjahren hatte Aiden es kein einziges Mal erlebt, dass Jeffers nicht auf die erste Aufforderung reagierte. Selbst nach dem Ruhe-Befehl würde das Aussprechen seines Namens den Computer in den Raum zurückholen.

Er hörte, wie sich die Flügeltür öffnete und wieder schloss.

Nein! Er war so nah dran!

Aiden fuhr herum, fest davon überzeugt, sich Christy gegenüberzusehen. Erleichtert atmete er auf, als er Colton erkannte, der von innen an der Tür lehnte. Sein Bruder hatte eine Hand auf seine muskulöse Brust gedrückt und fuhr sich mit der anderen durch die kurzen, schwarzen Haare.

Wie immer trug er seine hellbraunen Reithosen, ein weißes Rüschenhemd und seine braunen Lieblingsreitstiefel.

»Oh Mann, das war knapp. Muffin hat sich aus dem Staub gemacht und ihre Kinderfrau und Cony sind auf der Suche nach ihr.«

Muffins Kopf lugte unter dem goldenen Damast hervor. »Cony?«

Colton zuckte erschrocken zusammen und seine Mundwinkel bogen sich nach oben. »Jap, Cony ist früher als erwartet aus dem Meeting gekommen und Christy hat ihn auf dem Weg zu seinem Arbeitszimmer abgefangen.«

»Dreck.« Aidens Schultern sackten nach unten. Wenn ihr Sire da draußen im Korridor herumschnüffelte, würden sie nie im Leben an ihm vorbeikommen. Ihr zweiter Vater war ein äußerst aufmerksamer Mann. Er hatte vermutlich schon bemerkt, dass Jeffers außer Betrieb war. Was bedeutete...

»Wir müssen uns beeilen, Colton!«

Colton nickte. »Meine Rede.« Er drehte sich zur Tür um und hob eine Ecke des Vorhangs an, um vorsichtig hinauszuspähen.

Aiden trat hinter ihn und versuchte, an der hochgewachsenen Gestalt seines Bruders vorbei, etwas zu erkennen. Keine Chance. Colton war der größte seiner Brüder und er hatte die muskulöse Statur ihres Vaters geerbt. Aiden war zwar ein paar Monate älter als Colton, aber er war der kleinste der Geschwister. Wenigstens hatte auch er Vaters breite Schultern abbekommen.

»Und? Ist Cony da dr–«

»Weg hier. Jetzt ist auch noch Vater da. Wir müssen durchs Fenster abhauen.« Er scheuchte Aiden zur anderen Seite des Zimmers.

»Vater?«, fragte Muffin.

Colton eilte zum Fenster, riss die schweren Samtvorhänge beiseite und verhedderte sich prompt in den hauchdünnen, goldenen Borten.

»Ja, Muffin. Vater ist gerade auf dem Weg ins Frühstückszimmer.«

Wundervoll. Das Frühstückszimmer befand sich genau gegenüber. Aiden legte sein Zeichenpad kurz weg, um die Vorhänge aus dem Weg zu halten, bevor Colton sie noch komplett herunterriss und sie auch dafür noch Ärger bekamen.

»Wo willst du hin?«

Colton entriegelte den Holzrahmen des Fensters und ließ die beiden Flügel aufschwingen. »Reiten. Was sonst?« Colton war ein absoluter Pferdenarr. Wäre es ihm erlaubt gewesen, hätte er wohl sein komplettes Leben auf einem Pferderücken verbracht.

»Ich meinte, wohin du reitest.«

»Ich werde –«

Die Tür öffnete sich.

Aiden ließ die Vorhänge los und warf sich auf den Boden, in der Hoffnung, dass das Sofa vor dem Fenster ihn verdeckte. Keine Sekunde später landete Colton neben ihm. Die Tür schloss sich wieder und man hörte ein Keuchen.

Dreck. So nah dran und doch so fern. Jetzt würden sie mit Sicherheit erwischt werden. Die Mahagoni-Beine des Sofas mit ihren zu Adlerklauen geformten Füßen waren hoch und zwischen dem beigefarbenen Stoff und dem Fußboden befand sich eine Lücke von gut 25 Zentimetern. Jeder, der nach etwas suchte, würde sie sehen. Wenn es sich um Cony und Vater handelte, waren Colton und er so gut wie tot.

Aiden versuchte, etwas unter dem Sofa hindurch zu erkennen, aber die Chaiselongue blockierte seine Sicht zur Tür. Er fing Coltons Blick auf und nickte in die entsprechende Richtung. Sein Bruder sollte es riskieren und nachschauen, wer mit ihnen im Raum war. Colton war auf der anderen Seite des Sofas und konnte um die Ecke linsen.

Colton schüttelte jedoch den Kopf und formte lautlos mit den Lippen: »Du.«

So ein Feigling. Wenn man wollte, dass etwas gemacht wurde... Aiden rutschte auf dem Bauch zu seiner Ecke des Sofas, aber noch bevor er einen Blick daran vorbei werfen konnte, quietschte Muffin: »Payton!«, und krabbelte unter der Chaiselongue hervor.

Payton? Aiden lugte um die Seite des Sofas. Sein zweitältester Bruder eilte hastig weiter ins Zimmer und fing Muffin auf, die auf ihn zustürzte.

Paytons Blick landete auf dem offenen Fenster und seine Brauen zogen sich zusammen. Er sah nach unten und entdeckte Aiden. »Wa–«

Colton erhob sich. »Payton, was machst du denn hier?«

Payton verdrehte die Augen und starrte Colton wütend an. »Ich renne um mein Leben. Was macht ihr hier? Ich habe mich geopfert, damit ihr hier rauskommt, und ihr seid immer noch da?« Er schnitt eine Grimasse, sortierte Muffin auf seinem Arm und rannte zum Fenster. »Muffin, du bist nackt.«

Sie kicherte und nickte.

»Und du bist nass.« Payton wischte sich eine Hand an der Hose ab und schob den Vorhang beiseite. »Warum ist sie nass?«

»Badezeit«, antworteten Aiden, Muffin und Colton wie aus einem Mund. Nur klang es bei Muffin eher nach: »Badeßeid.«

Payton stöhnte und warf einen Blick aus dem Fenster. »Das hab ich vergessen. Schlechte Planung auf der ganzen Linie. Ich bring Tarren um.«

Er setzte Muffin ab und sah sich draußen noch einmal versichernd um, bevor er aus dem Fenster kletterte. Dann beugte er sich von außen wieder rein und griff nach Muffin. Nachdem das kleine Mädchen wieder auf seiner Hüfte saß, bedeutete er Aiden und Colton, ihm zu folgen.

»Kommt schon. Ihr habt nur noch ein paar Sekunden, bis unser Vater und Sire hier sind. Sie arbeiten sich Raum für Raum vor.«

Aiden schnappte sich sein Zeichenpad, während Colton durch den sich bauschenden goldenen und dunkelblauen Brokatstoff verschwand. Sein Bruder besaß immerhin die Höflichkeit, sein Pad für ihn zu halten, während er selbst nach draußen kletterte.

Nachdem er das Gerät von Colton wieder entgegengenommen hatte, machten die drei sich samt Muffin auf den Weg zur Grundstücksgrenze der Residenz. Colton übernahm die Führung und Payton und Muffin bildeten den Schluss. Wenn sie es auf die Rückseite des Anwesens schafften, würden die Hecken und Rosenbüsche der Parkanlage sie verbergen und sie könnten ungesehen die Stallungen erreichen.

»Hey.« Payton tippte Aiden auf die Schulter. »Gib mir dein Krawattentuch.«

»Wie bitte?« Aiden sah über die Schulter zu seinem Bruder. Payton trug einen blassblauen Gehrock über einem schneeweißen Hemd und einer Halsbinde. »Warum?«

Payton verdrehte die Augen und blies sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn, als wäre die Antwort völlig offensichtlich.

»Damit ich was habe, um Muffin zu bedecken. Ich kann ja schlecht mit ihr herumlaufen, wenn sie nackt ist.«

Aiden sah keinen Grund warum nicht, sie war ja noch ein Kleinkind. Es war vielleicht nicht akzeptabel, sie unbekleidet herumlaufen zu lassen, aber es wäre schlimmer, wenn jemand Aiden so schlampig sah. Nicht, dass es ihn selbst störte, aber Vater würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, wenn er einen Skandal verursachte.

Bei dem Gedanken verschluckte sich Aiden beinahe. Wie oft hatte er schon Standpauken über die Regeln angemessenen Verhaltens gehört und sie missachtet? Allein ohne Anstandsbegleitung auszugehen, war skandalös genug, wenn man ihn denn erwischte.

»Na schön, Colton, halt mal.« Aiden reichte sein Zeichenpad an seinen Bruder weiter und löste seine Halsbinde, um Payton den Stoff zuzuwerfen.

»Danke. Nimm sie mal eben, damit ich meins ausziehen kann.« Payton übergab ihm das nackte Kind und entledigte sich seiner eigenen Halsbinde.

Muffin grapschte mit ihren kleinen, pummeligen Händchen nach Aidens Wangen und drückte ihm einen feuchten Kuss mitten auf den Mund. »Iß liep' Abe'teuer.«

»Könntet ihr euch mal beeilen?«, zischte Colton nach hinten. Er war bereits ein ganz schönes Stück vorausgeeilt.

Sie rannten ihm hinterher, Muffin klammerte sich an Aidens Hals fest und Payton war noch immer mit seinem Halstuch beschäftigt. Als sie schließlich die Seite des Parks erreichten, die direkt gegenüber der Stallungen lag, hielten sie kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen.

Aiden stellte Muffin wieder auf ihre eigenen Beine und Payton wickelte die Halstücher um sie wie eine Art Bikini-Toga. Es war eine interessant aussehende Kombination, aber Muffin schien das nicht zu stören.

Sie warf sich in Pose. »Hübs'?«

Aiden lachte leise. »Ja, Muffin, du bist hübsch.«

Grollend reichte Colton Aiden sein Zeichenpad. »Rexley bringt uns um, wenn er sie so sieht.«

Payton nahm Muffin wieder auf den Arm und schnaubte. »Na ja, immer noch besser, als sie nackt rumlaufen zu lassen.«

Colton zuckte die Schultern. »Auch wieder wahr.« Er sah zur Residenz zurück und legte den Kopf schief. »Jetzt müssen wir uns nur noch in die Ställe schleichen. Ich muss Apollo holen, wenn ich zum Fluss reiten will.«

»Warum verschwendest du deine freie Zeit mit einem Ritt zum Fluss? Das kannst du auch in Begleitung machen.«

Grinsend hob Colton eine Augenbraue. »Ja, aber wenn ich dort heute ohne Anstandsbegleitung auf Lord Wentworth treffe, kann ich –«

Payton schüttelte bereits den Kopf, bevor Colton seinen Satz beenden konnte. »Nein. Du gehst allein nicht mal in die Nähe von Viscount Wentworth. Sebastian Hastings ist vielleicht der Befehlshaber der königlichen Garde, aber er ist auch Witwer, alleinstehend und nicht zu vergessen, ein Lebemann der schlimmsten Sorte. Du wirst kompromittiert! Und was dann? Vater und Cony werden mich dafür verantwortlich machen, weil ich den Spion abgeschaltet habe.«

Aiden nickte zustimmend. Payton würde genauso viel Ärger bekommen wie Colton. Aber Colton wäre gezwungen, Lord Wentworth zu heiraten. Und wie er Colton kannte, war auch genau das sein Ziel. Anders als Aiden und Payton genoss Colton die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und die Suche nach einem Ehemann.

Aiden zuckte die Schultern und stupste Colton in die Seite. »Komm. Ich will einen der Gleiter nehmen und zu den Docks fliegen, bevor uns jemand erwischt. Ich will schon so lange die Weltall-Frachter und Wasserschiffe zeichnen.«

***

Bei den Docks ging es hektisch und laut zu, hier pulsierte das Leben, wie Aiden es noch nie zuvor erlebt hatte. Er war schon früher mit seinem Sire und seinem Vater in den Regelence Space Docks gewesen. Er hatte sogar schon die Besucherrampen des Space Docks gesehen, aber das war gar nichts gegen das hier.

Von den Besucherrampen aus sah man selten, wie Fracht von einem Schiff verladen wurde. Normalerweise ging ein Beamter an Bord, inspizierte die Waren und verließ das Schiff wieder. Er erteilte die Freigabe zur Reise im Regelence-Sonnensystem.

Hier, in den Docks der Bay of Pruluce, waren die Besatzungsmitglieder verschiedenster Schiffe damit beschäftigt, Waren auf die Frachter zu verteilen. Große Raumschiffe aus glänzendem Metall schwebten über den hölzernen Docks, wo ihre Ladung gelöscht wurde.

Sobald sich diese auf dem Boden befand, wurden die Güter abtransportiert, manche in Schwebe-Transportern und ihren Anhängern für den Landweg, andere auf Wasserschiffen zum Transfer in andere Länder auf Regelence.

Manche der Schiffe konnten sowohl für den Wasserweg als auch für Allflüge genutzt werden. Sie hatten ein offenes Oberdeck zum Segeln und eine massive, verschließbare Hülle für die Reise durchs Weltall. Aber gleich welches Schiff, es war unendlich faszinierend, die wuselnden Menschen um sie herum zu beobachten.

Pruluce war ein Land der Gegensätze, eine Mischung aus alt und neu. Der Hafen, die Menschen und Gebäude sahen denen auf der Erde im 19. Jahrhundert verblüffend ähnlich, aber die meisten Fahrzeuge entsprachen der neuesten Technologie. Für einen Künstler waren die unterschiedlichsten Materialien, Oberflächenstrukturen, Farben und Formen ein wahr gewordener Traum.

So fesselnd der Hafen auch sein mochte, der Gestank nach Fisch und faulendem Holz ließ Aiden dankbar dafür sein, sich einen Aussichtspunkt gesucht zu haben, von dem aus er die Docks überblicken konnte. Wenn der Geruch schon hier in zehn Metern Entfernung so stark war, war er am Wasser wohl unerträglich.

Hier auf dem Hügel lag er auf dem Bauch im weichen Gras – seine bevorzugte Arbeitshaltung – und konnte die Erfahrung trotzdem in vollen Zügen genießen. Ein junger Lord bekam nur selten die Gelegenheit, das Herz von Regelence' interplanetarem Handel zu studieren. Bis Aiden fünfundzwanzig Jahre alt war, würde es vermutlich auch das einzige Mal bleiben.

Auch aus diesem Grund war er wild entschlossen, alles einzufangen. Je mehr Motive ein Künstler porträtierte, desto besser, und er war seiner Kunst mit Leib und Seele verfallen.

Er lenkte seine Aufmerksamkeit von der Szenerie vor ihm wieder auf seine Zeichnung und runzelte die Stirn. Er hatte bereits die Hälfte seines Speicherplatzes verbraucht, indem er einige der großen Raumfrachter skizziert hatte, und gerade versuchte er, das Antriebssystem der Wasserschiffe zu perfektionieren.

Diese Technik machte die Schiffe deutlich schneller und effizienter als die herkömmlichen Boote, die nur zum Spaß benutzt wurden, war aber nicht einfach darzustellen. Zeichne, was du siehst, Aiden, nicht was du zu sehen glaubst.

Das Problem lag darin, dass er nicht sicher war, was er da sah, weil sich das Wasser permanent in Bewegung befand, an den schwebenden Maschinen hochschwappte und dann wieder in den Ozean zurückfloss.

Er hatte keinerlei Schwierigkeiten mit Porträts, Landschaften, Stillleben und sogar Architektur, aber die Darstellungen mechanischer Details wollten einfach nicht so wie er. Er schloss die Augen, versuchte, sich das Bild im Kopf vorzustellen. Er konnte es praktisch vor sich sehen. Nun musste er es nur noch aufs Pad bringen.

»Hey, du da. Was machst'n hier, Kleiner?«

Erschrocken öffnete Aiden die Augen. Drei Männer kraxelten die kleine Anhöhe zu ihm hinauf. Sie sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus. Einer war groß, mit kurzen, blonden Haaren und breiten Schultern, der zweite klein und dick und der dritte irgendwas dazwischen. Ihre lockeren Uniformröcke und eng sitzenden Hosen wiesen sie als Besatzungsmitglieder eines Raumschiffes aus.

Aidens Magen sackte in seine Kniekehlen. Er konnte sich nicht vorstellen, was die Männer von ihm wollten. Vielleicht war es seine hyperaktive Künstler-Fantasie, aber das Wort Pirat setzte sich in seinem Kopf fest und wollte nicht mehr verschwinden. Natürlich war das absolut lächerlich, Piraten würden sich nicht in einem Hafen unter gewöhnliche Raumfahrer mischen. Oder?

Aiden ließ seinen Stift fallen und stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Die Männer blieben stehen und starrten auf ihn hinunter. Den großen hätte man fast als attraktiv bezeichnen können, wäre da nicht sein griesgrämiger Gesichtsausdruck gewesen. Der mittlere wirkte geradezu furchteinflößend mit seinem kahlen, knubbeligen Schädel, den kleinen Schweinsäuglein und seiner Hakennase.

Der kleinste – mit fettigen, braunen Haaren und einem zotteligen Bart – starrte Aiden unverwandt an. »Ich hab gefragt, was du hier wills', Junge!«

»Ich...« Aiden erhob sich hastig. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass diese Männer etwas im Schilde führten. Der finstere Ausdruck auf ihren Gesichtern verhieß nichts Gutes. Er mochte nicht viel für die Regeln der feinen Gesellschaft übrighaben, aber Aiden wollte ganz sicher auch nicht ermordet oder entführt werden, weil er sie missachtet hatte.

Er würde diese Kerle nicht wissen lassen, dass er alleine war. Wenn sie dachten, dass er eine Begleitung hatte... Er räusperte sich und deutete mit dem Kopf in Richtung des Gleiters, der ihn hergebracht hatte.

»Meine Anstandsbegleitung hat mich hergebracht, damit ich die Raumschiffe zeichnen kann. Nicht, dass es Sie etwas anginge...«

Die Augenbrauen des Blonden zogen sich zusammen, als er das Zeichenpad entdeckte. Er beugte sich hinunter, hob das Gerät vom Boden auf und klickte sich mit den Tasten durch die Seiten.

»He, geben Sie das wieder her!« Aiden griff nach seinem Pad, aber der Mistkerl hielt es außerhalb seiner Reichweite.

»Schaut im Gleiter nach. Ich wett', der feine, kleine Lord hier is' mutterseelenallein.« Der Blonde musterte Aiden und ein gemeines Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Sieh ma' einer an, bist ja echt ein Hübscher. Ich denk, wir nehm' dich ma' mit.«

Aidens Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: bleiben und kämpfen oder versuchen, an den Kerlen vorbeizukommen und wegzulaufen.

Er war nie wirklich schlecht in Selbstverteidigung und Waffentraining gewesen, aber es waren auch definitiv nicht seine Stärken. Er war eher der Stratege, jemand, der lieber seinen Verstand als die Fäuste benutzte.

Der entscheidende Faktor in diesem Fall war jedoch das Gewicht. Die drei Männer waren um einiges größer als er selbst. Was hoffentlich auch bedeutete, dass er schneller war als sie. Aiden war kein Dummkopf, er wusste, dass sie klar im Vorteil waren.

Er sprintete nach vorne und wich damit dem Dicken aus. Wenn er vor ihnen den Gleiter erreichte, konnte er es schaffen. Er würde die Zeichnungen verlieren, für die er einen Skandal riskiert hatte, aber immerhin würde er mit heiler Haut davonkommen.

Seine Augen waren auf die offene Tür des schwarzen Metallgefährts geheftet und er schien sich wie durch einen Tunnel darauf zuzubewegen. Alles, was zählte, war, dort hineinzugelangen. Der Gleiter war auf die Stimmen seiner Familie und der Dienerschaft programmiert – niemand sonst konnte ihn benutzen. Es war ein sicherer Hafen.

Er sprang hinein, ohne die Trittstufen zu benutzen. Doch bevor er seine Füße nachziehen und den Befehl zur Schließung der Tür geben konnte, packte jemand seine Knöchel. Ein irres Lachen hallte im Inneren des Gleiters wider und Aiden wurde grob zurück ins Freie gezerrt.

Er trat nach seinem Angreifer, während er fieberhaft versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Als er nichts erreichte, grub er seine Fingernägel in das polierte Holz des Fußbodens und strampelte heftiger.

Ein Grunzen war die einzige Reaktion, als sein Fuß sein Ziel fand. Dann schlang sich plötzlich ein Arm um seine Waden und hielt seine Beine so fest, dass er nicht länger um sich treten konnte. Verdammte Scheiße!

»Komm schon, Süßer, willst nich' mit uns spiel'n? Bist doch eh nich' wie die and'ren feinen Pinkel, sonst wärste nich' allein hergekomm'. Hat dir wohl nieman' gesagt, dass das hier nix für kleine Jungs is'?«

Der große, blonde Kerl hatte ihn gepackt. Aiden erkannte seine Stimme. Ganz toll. Die anderen Rohlinge waren zwar schwergewichtiger, aber dieser hier sah deutlich stärker aus und hatte vermutlich auch mehr Ausdauer.

Eine Hand begrapschte seinen Hintern, was Aiden erstarren ließ. Himmel, niemand hatte sich je solche Freiheiten bei ihm erlaubt. Aiden wehrte sich heftiger, ohne Erfolg. Seine Finger glitten quietschend über den Boden, als er in Richtung der Türöffnung gezerrt wurde.

Flink breitete er die Arme aus, um sich im Türrahmen festzuklemmen. Der Druck auf seine Unterarme war unerträglich, aber er hielt es so lange aus, wie er konnte. Als seine Arme schließlich nachgaben, klammerte er sich mit den Händen am Türrahmen fest.

»Hab dich, wehren nützt nix. Komm schön da raus un' mach keine Fax'n, sonst tust dir noch was«, knurrte der große Mann.

Bildete er sich das ein oder klang der Kerl erschöpfter als zuvor? Schweiß rann Aiden in die Augen und über seine Lippen kamen wenig vornehme Laute. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer schmerzte, aber er würde sich sicher nicht kampflos ergeben.

»Henri, Russell, helft ma'«, brüllte Aidens Angreifer.

Ein zweites Paar Arme legte sich um seinen Bauch und Aiden wurde unsanft aus dem Gleiter gezerrt.

»Arghh!« Seine Finger brannten wie Feuer. Aiden schüttelte die Hände im Versuch, den Schmerz zu lindern. Tat das weh! Glücklicherweise waren wenigstens seine Fingernägel noch dran. Wütend starrte er seinen glatzköpfigen Häscher über die Schulter hinweg an.

»Lass mich los!« Er ballte die Hand zur Faust und ließ sie nach hinten schnellen, wo er den Mann zielsicher am Ohr traf.

Dieser brüllte schmerzerfüllt auf, fasste sich an die Seite seines Kopfes und entließ Aiden dabei aus seinem Griff. Aiden drehte sich blitzschnell und schaffte es, sich mit den Händen abzufangen, woraufhin eine neuerliche Schmerzwelle durch seine Handgelenke schoss.

Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Sobald er festen Halt auf dem Gras gefunden hatte, zog er seine Knie ruckartig an und nutzte damit das Überraschungsmoment für sich. Der Mann ließ ihn zwar nicht los, aber er geriet aus dem Gleichgewicht und fiel neben Aiden ins Gras.

Aiden rollte sich auf den Rücken und stemmte sich in eine sitzende Position hoch. Mit den Händen schlug er seinem Angreifer so hart er konnte auf die Ohren. Doch immer noch lockerte sich dessen Griff nicht.

»Henri!«, bellte er.

Aiden drehte und wand sich wie ein Besessener und warf sich herum. Er musste sich befreien... jetzt!

Plötzlich verschwanden die Hände des Mannes und Aiden robbte außer Reichweite. Sein Herz klopfte wie verrückt und seine Lungen schrien nach Luft, aber er gönnte sich keine Ruhepause. Die lockende Sicherheit des Gleiters war in greifbarer Nähe.

»Wären die Herren so freundlich, mir zu erklären, was Sie mit meinem Sohn vorhatten, oder soll ich raten?«, fragte eine tiefe, ruhige Stimme.

Cony? Aiden erstarrte und drehte sich um. Sein Sire war hier? Er strich sich die schwarzen Haarsträhnen aus den Augen und sah zu seinem Retter auf.

Da stand sein Sire, die Spitze seines Schwertes unter dem Kinn des bärtigen Mannes, die langen Beine kampfbereit in den Boden gestemmt. Cony musterte Aiden und ein Ausdruck der Erleichterung huschte über sein Gesicht, bevor sein finsterer Blick sich wieder auf die drei Männer richtete.

»Aiden, hol deine Sachen.« Cony nickte in Richtung des Zeichenpads.

Aiden rannte an den Männern vorbei, die wie Krebse zur Seite robbten, um sich aus Conys Angriffslinie zu bringen. Er schnappte sich sein Pad und eilte zurück zu seinem Sire.

Cony versetzte dem Blonden mit der flachen Seite seines Schwerts einen Schlag gegen die Schläfe und richtete die Spitze dann auf die beiden anderen. Er stampfte mit dem Fuß auf und brüllte: »Ab!«

Hastig gehorchten die Männer und machten, dass sie den Hügel hinunter zurück zu den Docks kamen. Kopfschüttelnd überwachte Cony ihren Abgang.

»Wenn eine Verhaftung und Verurteilung deinem Ruf nicht so sehr schaden würde, hätte ich sie unter Arrest stellen lassen.« Er senkte die Schwertklinge und wandte sich Aiden zu. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«

»Ich –«

»In den Gleiter, Aiden.« Cony packte Aiden im Nacken und schob ihn unsanft in Richtung des Fahrzeugs. Da stand tatsächlich ein zweiter Gleiter neben dem, den Aiden genommen hatte. Was wohl auch der Grund war, warum Aiden Raleighs Ankunft nicht bemerkt hatte, da die Gleiter unglaublich leise waren.

Nachdem er einen nach Hause geschickt hatte, bedeutete Cony Aiden, in den zweiten Gleiter zu steigen. Aiden kletterte ins Innere und erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was da eben passiert war. Er wäre wirklich in Schwierigkeiten gewesen, wenn Cony nicht gekommen wäre.

Cony stieg in den Gleiter und gab den Befehl zur Rückkehr in die Residenz, bevor er sein Schwert wieder in die Scheide steckte. Dann ließ er es auf die Bank ihnen gegenüber fallen, setzte sich neben Aiden und streckte die Beine aus. Ein paar Minuten saß er bewegungslos da.

Aiden biss sich auf die Unterlippe und beobachtete seinen Sire. Die vertraute Umgebung des Gleiters wirkte äußerst beruhigend auf ihn. Wenn er jetzt nur noch das flattrige Gefühl in seinem Magen stoppen könnte...

Conys Kiefermuskeln spannten sich an und er schloss die Augen. Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen. Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab. Dann drehte er den Kopf und sah Aiden direkt an. Er holte tief Luft und ließ den Atem dann langsam entweichen.

»Du hättest entführt, vergewaltigt oder gar ermordet werden können, Aiden.« Cony starrte ihn einen Moment lang an, fuhr ihm dann durch die Haare und zog ihn in eine feste Umarmung. »Was soll ich nur mit dir machen? Mit euch allen... du und deine Brüder werden mich ganz sicher eines Tages noch ins Grab bringen.«

Aiden lehnte sich in die Wärme seines Sires und schickte ein stilles Dankgebet in Richtung der Sterne, dass er noch am Leben war. Sein Puls beruhigte sich langsam wieder und das zittrige Gefühl ließ nach. Er hatte die Konsequenzen nicht bedacht. Er hatte einfach nur rausgewollt. Niemand hatte ihn mit zu den Docks genommen, also war er eben alleine gegangen.

Er löste sich aus den Armen seines Sires und zuckte die Schultern im Versuch, möglichst normal zu wirken und Cony nicht wissen zu lassen, wie nah ihm der Zwischenfall tatsächlich ging.

»Du solltest Colton und Tarren vielleicht einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Rexley ist zu verantwortungsbewusst, um ein Problem zu sein, und Payton braucht nur eine Herausforderung. Er ist schlauer, als gut für ihn ist. Und ich? Schick mich auf eine Kunstschule? Lass mich bei einem Meister in die Lehre gehen?«

Cony starrte ihn an und blinzelte zweimal, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Stöhnend massierte er sich die Nasenwurzel und ließ sich mit geschlossenen Augen gegen die burgunderroten Lederpolster zurücksacken.

Aiden versuchte, sich keine Gedanken um die plötzliche Stille zu machen. Entweder würde Cony ihn bestrafen oder nicht. Das Wichtigste war, dass er immer noch da war, um bestraft zu werden.

Den Rest des Heimwegs verbrachten sie schweigend. Aiden klickte sich durch die schönen Skizzen, die er geschaffen hatte, und Raleigh starrte aus dem Fenster. Schließlich hielt der Gleiter vor der großen Eingangstür der Residenz.

Das Zeichenpad fest unter einen Arm geklemmt, erhob sich Aiden. Cony hielt ihn jedoch am Arm fest, bevor er das Fahrzeug verlassen konnte.

»Ich verstehe dich ja, Aiden. Wirklich. Ich war auch mal jung.«

In Ermangelung einer passenderen Reaktion nickte Aiden nur. Er bezweifelte nicht, dass sein Sire seine Worte ehrlich meinte. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Aiden fest entschlossen war, Künstler zu werden, und er einfach mehr verschiedene Motive brauchte, um sein Ziel zu erreichen.

Raleigh lachte leise und knuffte ihn gegen die Schulter.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Junge. Ich werde dich schon nicht übers Knie legen. Aber du kannst dir sicher sein, dass wir diesen Zwischenfall mit deinem Vater erörtern werden.«

Eine Standpauke. Aiden stöhnte, schaffte es aber immerhin, nicht die Augen zu verdrehen. Er war so froh, überlebt zu haben, dass er sich beinahe auf die Predigt freute.

»Er wartet in seinem Arbeitszimmer.« Cony schob sich an ihm vorbei und verließ den Gleiter.

Ganz toll. Aiden stieg aus dem Fahrzeug und folgte seinem Sire. Noch bevor er die Tür erreichte, schwang sie bereits auf. An sich war das nichts Ungewöhnliches, Jeffers war inzwischen vermutlich wieder online. Allerdings war es nicht Jeffers, der sie in Empfang nahm, sondern Thomas, ihr menschlicher Butler.

Sein Gesicht war gerötet und sein ergrautes Haar zerzaust. Seine burgunderfarbene Uniform wirkte unordentlich und das war mehr als ungewöhnlich. Normalerweise war Thomas genauso steif wie Jeffers. Offensichtlich hatte es ihn aus der Fassung gebracht, dass Jeffers abgeschaltet gewesen war.

Der Mann atmete tief durch und machte ihnen dann Platz. »Jeffers startet soeben neu. Ich wurde beauftragt, Euch mitzuteilen, dass seine Majestät Euch beide in seinem Arbeitszimmer erwartet.« Thomas streckte eine Hand aus. »Darf ich Euer Zeichenpad in Verwahrung nehmen, Milord? Ihr werdet es in Euren Räumen wiederfinden.«

Aiden nickte und reichte das Gerät an Thomas weiter. »Danke, Thomas.«

Der Mann verbeugte sich.

Ein flaues Gefühl machte sich in Aidens Magen breit, als er seinem Sire den Korridor entlang folgte. Sein Vater erwartete sie hinter seinem Schreibtisch sitzend. Er hatte die Hände auf der riesigen, hölzernen Tischplatte gefaltet und sah ihnen mit zusammengezogenen Brauen entgegen. Sein Blick suchte zuerst Cony, dann Aiden. Die Anspannung wich sichtlich aus seinen Schultern.

»Setz dich, Aiden.« Er wandte sich wieder Cony zu. »Nun?«

Aiden nahm auf dem kleinen Sofa Platz, das im rechten Winkel zu dem riesigen Schreibtisch stand.

»Er war am Hafen, wie Muffin gesagt hat.« Cony setzte sich so auf eine Ecke des Tisches, dass er sowohl seinen Ehemann als auch seinen Sohn ansehen konnte.

Aidens Vater gab ein unwilliges Geräusch von sich und vergrub das Gesicht in den Händen. »Aiden!«

Cony runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das war nicht das Schlimmste, Steven.« Er sah Aiden an. »Erzähl ihm, was passiert ist.«

Der Kopf seines Vaters schoss hoch und er sah mit aufgerissenen Augen erst Cony, dann Aiden an. Aiden wappnete sich innerlich für das Unausweichliche, als er seinem Vater von den drei Männern erzählte. Nachdem er geendet hatte, ließ er sich ins Sofa zurücksinken und wartete auf den Ausbruch. Der kam jedoch nicht.

Sein Vater lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Lange Minuten saß er schweigend da. Seine Brust hob und senkte sich unter seinen tiefen Atemzügen und er rieb sich mit den Handballen über die Augen.

»Du hättest getötet werden können. Was, wenn dein Sire nicht rechtzeitig gekommen wäre?« Steven beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab. »Aiden, das muss aufhören.«

Zeit für seine Strafe. »Ja, Sir. Wir hätten Jeffers nicht wieder abschalten dürfen.«

Sein Vater seufzte schwer und tauschte einen Blick mit Cony, bevor er sich wieder Aiden zuwandte.

»Ich rede nicht davon, dass ihr euch davongeschlichen und an Jeffers rumgespielt habt. Das ist noch mal eine ganz andere Sache. Und du kannst dir sicher sein, dass das für euch alle Konsequenzen haben wird. Ich spreche von der Tatsache, dass du alles um dich herum vergisst, wenn es ums Malen geht. Du hast diese Männer nicht mal bemerkt, bis es schon zu spät war, nicht wahr?«

»Nein, Sir.« Aiden schüttelte den Kopf.

»Aiden, du musst aufwachen. Hast du dir in dieser Saison wenigstens einmal die möglichen Heiratskandidaten angeschaut? Erst heute habe ich wieder Ersuchen um deine Hand erhalten.«

Aidens Magen machte einen Purzelbaum. Sie hatten das Thema schon früher angesprochen und seine Eltern hatten versprochen, ihm keinen Ehemann ohne Aidens Zustimmung zuzuführen, aber trotzdem warf ihn die Nachricht eines Antrags jedes Mal ein wenig aus der Bahn.

»Von wem dieses Mal?«

»Wessen«, korrigierte ihn Cony.

»Wessen Antrag dieses Mal?«, berichtigte Aiden seinen Fehler ganz automatisch.

Sein Vater zuckte nicht einmal mit der Wimper, er war schon Zeuge unzähliger Grammatiklektionen geworden. »Lord Braxton.«

Aiden gab ein unwilliges Geräusch von sich. Braxton würde von ihm erwarten, dass er ein gesellschaftliches und politisches Vorzeigeobjekt wurde. Und Aiden stand auf Braxtons persönlicher, politischer Agenda ganz oben – zumindest hatte er es vor nicht allzu langer Zeit so ausgedrückt. Aiden hatte versucht, Lord Braxton höflich begreiflich zu machen, dass er nicht interessiert war, indem er ganz klar betont hatte, wie wichtig ihm seine künstlerische Laufbahn war. Allerdings hatte der Mann den Hinweis offensichtlich nicht verstanden.

»Du hast hoffentlich abgelehnt.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nachdenken werde, wenn ich mit dir gesprochen habe.«

»Ich will keinen Ehemann.«

»Warum denn nicht, um Himmels willen?«, fragte Cony. »Braxton ist ein guter Fang. Er ist reich, hat gute Verbindungen, ist willensstark...«

»Und gut aussehend«, warf Aidens Vater ein.

Cony runzelte die Stirn und beugte sich über den Tisch, um seinem Mann gegen das Ohr zu schnipsen.

»Autsch.« Steven schlug nach Conys Hand. »Was denn? Stimmt doch.«

»Er ist sehr einflussreich im Parlament und entstammt einer Linie sowohl von Offizieren der Regelence-Marine als auch von IN-Offizieren«, fuhr Cony ungerührt fort.

Aiden unterdrückte den Impuls, eine Grimasse zu schneiden. Wenn er jemanden fand, mit dem er die Art von Beziehung führen konnte, die seine Eltern hatten, würde er darüber nachdenken. Aber Braxton war nicht der richtige Mann dafür, auch wenn er wirklich attraktiv war mit seiner hochgewachsenen, schlanken Statur und seinem frühzeitig ergrauten Haar.

»Ich will mich meiner Kunst widmen. Und Braxton ist so...« Aiden machte eine ausladende Geste. »… überheblich.«

Cony nickte zustimmend. »Ja, der Mann wirkt in der Tat ein wenig herrisch.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Steven. »Das kann sehr lästig sein.«

Steven schnaubte. »Ich bin nicht herrisch, Raleigh.« Er sah wieder zu Aiden. »Irgendwann musst du heiraten.«

»Warum? Ich will zeichnen und malen. Ich will mir einen Namen mit Kunst schaffen und nicht irgendeinen Lord bei der Verwaltung seines Grundbesitzes unterstützen, überlegen, in was ich Geld investiere, und seine politische Karriere voranbringen.« Aiden sah auf seine im Schoß gefalteten Hände hinunter und kam nicht umhin, sich unverstanden zu fühlen. Wie konnte er ihnen das nur begreiflich machen?

Cony erhob sich vom Schreibtisch, ging vor Aiden in die Knie und nahm dessen Hände in seine.

»Willst du keine eigene Familie?«

Aiden zuckte die Schultern. Er hatte eine Familie, eine, die er sehr liebte. Meistens hatte er sie sogar gerne um sich. Warum glaubte also jeder, dass man einen Ehemann und Kinder brauchte, um sein Leben zu vervollständigen? Wen kümmerte es schon, wessen Familie nun wie mit wem verbandelt war? Er wollte nicht irgendjemandes Trophäe sein, nur weil er aus einer einflussreichen Familie stammte.

Sein Vater erhob sich, umrundete seinen Schreibtisch und lehnte sich vor Aiden dagegen. »Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist, Junge. Und wir wollen sichergehen, dass du wohlbehalten bleibst. Im Laufe des letzten Jahres haben wir mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass du in Schwierigkeiten gerätst, sobald du zeichnest. Allein in den letzten beiden Wochen wärst du beinahe von einer Klippe gefallen, von Bienen gestochen und von einer Viehherde zertrampelt worden.«

Es war nur eine kleine Gruppe Kühe gewesen und sie waren nicht mal wirklich in seine Nähe gekommen – außer der, die ihm auf den Fuß getreten war – und wie hätte er denn voraussehen sollen, dass Tarrens Hundemeute eine Katze über die Weide hinter ihm jagen würde?

Und er war auch nicht beinahe von dieser Klippe gefallen – auch wenn er auf der Jagd nach seinem abhanden gekommenen Stift tatsächlich ein Stückchen abgerutscht war –, er hatte nur eine Weile auf einem Vorsprung festgesessen, bis Jeffers jemanden benachrichtigt hatte. Aus dieser Perspektive hatte er ein paar wirklich schöne Bilder vom Fluss anfertigen können.

Und die Bienen... na ja, in Zukunft würde er eben vorsichtiger sein und sichergehen, dass sich kein Nest in dem Baum befand, auf den er klettern wollte. Es war allerdings diese kleine Unannehmlichkeit mehr als wert gewesen, er hatte ein paar tolle Skizzen für seine Mappe machen können.

»Du musst heiraten. Das ist nun mal der Lauf der Dinge. Du wirst eine eigene Familie brauchen. Irgendwann werden deine Brüder alle ihre eigene haben und dein Sire und ich werden nicht ewig hier sein«, erinnerte ihn sein Vater.

Aiden verdrehte die Augen. Seine Eltern waren noch weit von ihrem Weg ins Grab entfernt, sie waren gerade einmal Anfang vierzig. Und bis seine Brüder Ehemänner und Kinder hatten, würde Aiden bereits auf dem besten Weg sein, ein Meister seiner Kunst zu werden.

»Warum kann ich nicht einfach hierbleiben, bis ich auf eigenen Beinen stehe?«

Steven massierte sich die Nasenwurzel und schloss die Augen. »Du bist der Sohn eines Königs, kein einfacher Mann. Wir finden passende Gefährten, wir gründen Familien, wir regieren das Land, wir gehen nicht irgendwelchen gewöhnlichen Arbeiten nach.«

»Aber genau darum geht es doch, Vater. Ich bin der Sohn eines Königs. Es sollte mir erlaubt sein, zu tun, was ich will. Ich habe kein Interesse an einer politischen oder militärischen Karriere in irgendeiner Form.«

Eine lange Stille breitete sich im Raum aus, während Aiden seine Eltern flehend ansah. Schließlich erhob sich Cony. Er nickte, als wäre er zu einer Entscheidung gekommen, und drehte sich dann zu Steven um.

»Es ist nicht jedem gegeben, Ehemann und Vater zu werden, Steven.«

»Raleigh, willst du, dass er alleine alt wird?« Steven machte einen Schritt nach vorne und strich Aiden mit einer Hand durchs Haar, während er die andere nach Conys ausstreckte. »Ich will doch nur, dass er glücklich wird. Du wolltest mich auch nicht heiraten, aber würdest du es jetzt ändern?«

Cony umfasste Stevens Hand und schüttelte den Kopf. »Du kennst meine Antwort, aber du hast mir auch erlaubt, mein Leben zu leben und zu arbeiten. Es ging nie darum, dass du nur eine Verbindung mit meiner Familie eingehen oder deinen politischen Einfluss vermehren wolltest. Das trifft sicher nicht auf andere Lords zu.«

Arbeit? Cony arbeitete nicht. Wobei, nein, so war das nicht richtig, natürlich arbeitete er. Cony half Steven in allen Bereichen der nationalen und planetaren Regierung und Diplomatie.

Steven nickte. »Du hast recht. Ihr beide habt recht.« Er hob Aidens Kinn an und sah ihm direkt in die Augen. »Ich biete dir einen Handel an, Aiden.«

»Einen Handel, Vater?« Aidens Blick huschte zu Cony.

Dieser zuckte die Schultern, lächelte aber. Er ließ Stevens Hand los und setzte sich neben Aiden aufs Sofa.

Steven sah Cony an. Seine Lippen zuckten ein wenig, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck hart und er beugte sich vor, um Aiden zu fixieren.

»Du bringst dich nicht mehr in Schwierigkeiten – und damit meine ich keinerlei Zwischenfälle mehr! – und ich stelle einen Lehrer für dich ein.« Er schüttelte den Kopf, als Aiden zum Sprechen ansetzte. »An der Grundproblematik – deiner Sicherheit – hat sich nichts geändert. Ich liebe dich, Aiden, und ich will nicht, dass dir irgendetwas passiert. Wenn du es schaffst, die nächsten drei Monate allem fernzubleiben, was dir schaden könnte, engagiere ich einen Lehrer, der dich unterrichtet. Und an deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag überschreibe ich dir einen kleinen Grundbesitz und eine jährliche Apanage. Aber ich möchte, dass du dich dem Gedanken an eine Heirat nicht völlig verschließt. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass du jemanden findest, der sehr gut zu dir passt. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es nicht das Beste für dich wäre.«

Cony tätschelte sein Bein. »Dein Vater hat recht, du solltest es im Hinterkopf behalten.« Er sah seinen Ehemann an. »Du weißt, dass du einen Meister engagieren musst? Der Junge ist gut. Sehr gut sogar. Ich bezweifle ernsthaft, dass ein normaler Kunstlehrer ihm noch etwas beibringen kann.«

Steven schnaubte. »Das ist mir klar. Ich hatte vor, Contenetti einzustellen. Ich glaube nicht, dass es viel Überredung kosten wird, ihn davon zu überzeugen, den östlichen Turm als Atelier zu benutzen und einen Lehrling unter seine Fittiche zu nehmen.«

Aidens Grinsen wurde so breit, dass es beinahe wehtat. Contenetti war der berühmteste Künstler in Regelence, vielleicht sogar im ganzen Regelence-System!

»Gilt die Abmachung?«

Aiden nickte. »Ja!«

Sein Vater verengte die Augen zu Schlitzen in dem Versuch, streng auszusehen, aber er hatte nur mäßigen Erfolg.

»Wenn du dich noch einmal selbst in Gefahr bringst, wirst du noch nicht einmal mehr dein Zimmer ohne Begleitung verlassen. Und außerdem werde ich dir persönlich einen geeigneten Ehemann suchen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Sir.«

Die Deckenlichter flackerten und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das passierte nie, ohne dass Jeffers beteiligt war.

Seine Eltern lächelten sich an, doch dann runzelte Cony die Stirn. »Was Jeffers betrifft –«

Wie aufs Stichwort meldete sich Jeffers in diesem Moment zu Wort. »Eure Majestät? Eure Hoheit?«

»Willkommen zurück, Jeffers«, antwortete Steven.

»Danke sehr, Sir, aber ich komme mit schlechten Neuigkeiten. Es gab einen Diebstahl.«

Kapitel 2

Lady Anna, intergalaktische Marine-Fregatte unter dem Kommando von Captain Nathaniel Leland Hawkins

Nate stoppte vor seiner Kabine, stützte die Hände links und rechts neben der Tür ab und lehnte die Stirn gegen den glatten Stahl der Luke. Manchmal war es zum Kotzen, wenn man die Verantwortung trug. Und heute war definitiv manchmal.

»Captain, Lieutenant Kindros wurde von dem Gefangenen als Geisel genommen. Der Gefangene hat bereits auf zwei Sicherheitsleute geschossen.«

Fuck.

Keine zwei Sekunden nachdem die klare, feminine Stimme verstummt war, rannte jemand keuchend um die Ecke. »Captain, der Gefangene hat einen Fragger erbeutet und Lieutenant Kindros als Geisel genommen.«

Die Luke öffnete sich und fuhr quietschend über Nates Stirn, bevor er einen Schritt zurückmachen konnte.

»Kommst du rein?« Sein Sohn Trouble stand mit einem breiten Grinsen auf den Lippen im Türrahmen, bevor er den Ausdruck auf Nates Gesicht sah. Troubles aquamarinfarbene Augen weiteten sich und er sah über Nates Schulter in Richtung des Besatzungsmitglieds.