Im Auge des Leguans - Christian Wrobel - E-Book

Im Auge des Leguans E-Book

Christian Wrobel

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Beschreibung

Ein sonniger Julitag, ein abgelegener Waldweg zwischen Weiden und Amberg. Irina Itora joggt wie jeden Sonntag ihre Runde. Als sie über ein Seil stolpert und auf dem harten Boden aufschlägt, beginnt das Grauen: Ein maskierter Mann betäubt und verschleppt sie. In einem Terrarium eingesperrt, versucht sie, zu überleben. Bald bemerkt sie, dass sie nicht allein in dem Terrarium ist. Dunkle, roten Augen beobachten sie. Auch der Entführer besucht sie regelmäßig und hält einige grauenvolle Überraschungen für sie bereit.

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Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

PROLOG

06.06.2000

An einem sonnigen Nachmittag suchte der Junge im riesigen Garten seines Onkels Rainer nach verschiedenen Insekten. Es befanden sich bereits einige Grashüpfer, Marienkäfer und eine Raupe in seinem blauen Sandeimer, der ein gelbes Sieb als Deckel hatte. Seine Eltern saßen währenddessen ein gutes Stück entfernt bei seinem Onkel auf der Terrasse und tranken gemütlich Kaffee. Ein leichter Sommerwind zog durch die blühenden Sträucher und Sonnenblumen des Gartens, sodass man den schönen Frühlingstag förmlich riechen konnte.

Der Junge versuchte gerade, sich langsam einer blauen Libelle zu nähern, als plötzlich ein dunkler Schatten in seinem Augenwinkel an ihm vorbeihuschte, der sein Interesse weckte. Sofort drehte er seinen Kopf danach, doch er sah nur noch, wie das Tierchen in der einen Spalt geöffneten Garagentür verschwand. Als er kurz darüber nachdachte, kam er zu dem Entschluss, dass es sich um eine Maus oder ein anderes kleines Nagetier gehandelt haben muss.

Dem Jungen war sofort klar, dass dieses Tier sein Tagesfang werden sollte. Nur gab es da ein kleines Problem. Seine Eltern sowie sein Onkel Rainer hatten ihm strengstens verboten, das Haus sowie die Garage allein zu betreten, da sich dort viele gefährliche und exotische Tiere wie Schlangen oder Vogelspinnen in Terrarien befanden. Nicht umsonst wurde sein Onkel von seinen Eltern als „Reptilien-Rainer“ bezeichnet.

Der Junge warf einen kurzen Kontrollblick zur Terrasse. Niemand schien ihn gerade zu beobachten. Das Einzige, was er hörte, war die laute Stimme seines Onkels, welcher dabei mit seinen Armen gestikulierte und seine Eltern unterhielt. Der Junge wusste, dass dies seine Chance war. So schnell wie nur möglich schlich er mit leisen Schritten in Richtung Garagentür. Trotzdem kam es ihm so vor, als ob jeder Tritt ein lautes Geräusch auslöste und er jede Sekunde auffliegen würde. Vor ihm war nun die weiß gefärbte Hintertür der Garage, durch deren Spalt er sich hindurchzwängen könnte, ohne die Tür bewegen zu müssen. Vorsichtig schlüpfte er durch den Türspalt, ohne gesehen zu werden.

Der Junge holte noch einmal tief Luft und schlich nun in die heruntergekommene Garage. Sein Blick wanderte langsam durch den düsteren Raum. Dort parkte der alte hellblaue VW-Bus von Onkel Rainer. Einige verrostete Schraubenschlüssel lagen auf einem Werkzeugtisch sowie eingestaubte Autoreifen in der rechten Ecke. Außerdem bemerkte er einen unangenehmen Geruch von Benzin in der Luft.

Er hörte ein leises Geräusch, welches von dem kleinen Tier stammen konnte. Allerdings wusste er noch nicht, woher es kam. Langsam umrundete er das alte Fahrzeug und entdeckte auf der rechten Seite im Boden eine Art Klappholztür. Sie stand offen und führte nach unten. Von oben konnte er erkennen, dass dort eine Lampe brannte, die leicht flackerte. Es gab also einen Keller unter der Garage. Wieder ertönte das leise Geräusch aus der Tiefe.

Der Junge drehte sich noch einmal prüfend zur Tür, um sicherzugehen, dass niemand kam. Dann stellte er seinen rechten Fuß vorsichtig auf die erste Treppenstufe. Misstrauisch trat er auf die alte Treppe, die bei jeder Stufe ein leichtes Quietschen von sich gab. Mit jedem weiteren Schritt wuchs das mulmige Gefühl in seinem Bauch, und er überlegte, ob er einfach wieder umdrehen sollte. Doch in derselben Sekunde erblickte er vor sich ein riesiges Terrarium, welches mehr als doppelt so groß war wie er. In diesem Moment vergaß der Junge alles um sich herum und stieg wie hypnotisiert die restlichen Treppenstufen hinab.

Langsam näherte er sich dem Terrarium, bis er unmittelbar davorstand. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sich kein Lebewesen darin befand und es komplett leer stand. Für welches gigantische Tier war es wohl bestimmt, fragte sich der Junge. Er wollte gerade weiter darüber philosophieren, als ihn ein dumpfer Knall hinter seinem Rücken daran erinnerte, warum er eigentlich hier war. Reflexartig drehte er sich um und entdeckte ein Eichhörnchen, das hinter einem Brett hervorsprang und die Leiter wieder nach oben kletterte.

Nachdem er einen kurzen Schreckensschrei von sich gegeben hatte, lief er dem Tier hinterher, so schnell er konnte. Das Eichhörnchen flitzte durch die Tür und er sprintete hinaus. Der Junge konnte dem Eichhörnchen allerdings nur noch dabei zusehen, wie es durch einen Strauch in den nächsten Garten sprang.

Seine euphorische Stimmung wechselte innerhalb von wenigen Minuten in Jähzorn. Er wollte dieses Eichhörnchen unbedingt fangen und nicht den nächsten öden Grashüpfer, welcher ihm über den Weg lief. Die Chance dazu hätte er gehabt, wenn er die Garagentür beim Hineingehen einfach hinter sich geschlossen hätte. Jetzt war es zu spät.

Der Junge holte sich eine volle Gießkanne, die neben der grünen Wassertonne im Garten stand, und begann sodann seinen Eimer mit den gefangenen Insekten langsam mit Wasser zu füllen.

Nach kurzer Zeit trieben die leblosen Körper in seinem Eimer umher. Danach fühlte er sich wieder besser, und auch die Wut in ihm war auf einmal verflogen. Er betrachtete die toten Tiere und wusste, dass er sich beim nächsten Mal stärker unter Kontrolle haben musste.

Er hörte währenddessen, wie seine Mutter schrie.

»Hör auf, das Wasser zu verschütten!«

»Alles klar, Mama!«

Kapitel 1

06.07.2025

Er war komplett schwarz gekleidet. Hose, Schuhe und Hoodie – alles war schwarz. Seine Kapuze hatte er über den Kopf gezogen, obwohl sich eine dunkle Mütze darunter befand. Sein Gesicht war mit einer ovalen Maske verdeckt. Diese war orangefarben und hatte schwarze Querstriche, welche leicht nach oben gebogen waren. Seine dunklen Augen blitzten durch zwei kleine Löcher in der Maske hindurch. Er trug Lederhandschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. An der Unterseite seiner Schuhe klebten außerdem quadratische Holzplatten, damit auch keine Fußabdrücke von ihm gefunden werden konnten.

Mit dem Rücken lehnte er an einem alten Eichenbaum. Auf der gegenüberliegenden Seite des Baumes verlief ein schmaler Waldweg, der wegen seiner versteckten Lage anscheinend von nur wenigen Menschen genutzt wurde. Der Weg führte von ihm aus in hundert Meter südlicher Richtung zu einer Straße, die man überqueren musste, um noch weiter in das Waldstück zu gelangen. Allerdings machte der Weg vor der Straße noch eine steile Linkskurve, in der er das Mietauto versteckt hatte. Den Kofferraum des Wagens hatte er bereits lückenlos mit Plastikfolie ausgelegt.

In nördlicher Richtung des Weges befand sich etwa drei Kilometer entfernt ein kleiner Vorort der Stadt Weiden in der Oberpfalz.

Es war ein angenehmer, lauwarmer Sommertag, weshalb ihm seine Kleidung bereits jetzt zu schaffen machte. Eine Schweißperle lief ihm über die Narbe unter seinem rechten Auge. Sein Blick wanderte zum wiederholten Mal Richtung Norden, doch er konnte sie noch nicht entdecken. Sie joggte diese Strecke jeden Sonntag zur selben Zeit, das wusste er genau. Also würde sie auch heute auftauchen.

In seiner rechten Hand hielt er eine dünne Schnur. Er hatte sie an einem Baum auf der gegenüberliegenden Seite des Weges etwa vierzig Zentimeter über dem Waldboden befestigt. Unscheinbar lag sie auf dem Waldboden und war wegen ihrer Farbe kaum zu erkennen. In seiner linken Hand hielt er einen mit Chloroform getränkten Lappen. Er schloss noch einmal seine Augen und atmete die frische Waldluft ein. Es fühlte sich an, als ob die Kraft jedes einzelnen Jahresrings von der alten Eiche auf ihn überging.

Er dachte daran, was diese Frau seinem Ben alles angetan hatte. Sie hatte ihm alles genommen, was er liebte. Langsam baute sich der Hass in seinem Körper wieder auf und nahm ihm jeden Zweifel für sein Vorhaben. Entschlossen öffnete er seine Augen, sie waren noch starrer und dunkler als zuvor. Sein Blick ging nun wieder nach links. Endlich - nun konnte er die Umrisse der kleinen, zierlichen Person bereits erspähen. Ihre sportliche Figur. Auf ihren Backen konnte man ein paar kleine Sommersprossen sehen. Diese perfekte aufrechte Körperhaltung spiegelte ihre arrogante Art exakt wider, genau wie der überhebliche Unterton in ihrer Stimme. Sie war 165 cm klein. Ihr orange gefärbtes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Name war Irina.

Er visierte sie aus dem Augenwinkel an und beobachtete, wie sie Schritt für Schritt näherkam. Bei der großen Birke würde sie zum Sprint ansetzen, welcher ungefähr 75 Meter ging. Dies hatte er in den letzten Monaten genau lokalisiert und deshalb die Schnur exakt dazwischen ausgelegt. Nun war sie bei der Birke angekommen und blieb unerwartet stehen und dehnte sich. Damit hatte er nicht gerechnet.

Der Schweiß lief ihm nun mehr und mehr über sein Gesicht, da seine innerliche Anspannung unerträglich wurde. Etliche Male hatte er sie beobachtet und noch nie war sie an dieser Stelle stehen geblieben. Hatte sie ihn bemerkt? Unmöglich, dachte er sich. Irina drehte sich jetzt auch noch um 180 Grad, als ob sie zurücklaufen wollte. Panik machte sich plötzlich in ihm breit und sein Gehirn arbeitete auf Hochdruck an einer Lösung. Alles war für heute vorbereitet, so durfte es einfach nicht zu Ende gehen. Er fragte sich, ob er einfach hervorstürmen sollte, um das Überraschungsmoment auszunutzen, oder ob er dafür nicht doch viel zu langsam war. Bevor er seine Überlegungen fortsetzen konnte, drehte Irina sich wieder um und begann mit ihrem Sprint so, wie er es ursprünglich vorhergesagt hatte. In diesem Augenblick fielen ihm tausend Steine vom Herzen. Sofort ging er in die Hocke und wickelte die Schnur noch einmal fest um seine Hand. Die Aufregung spürte er in jeder Zelle seines Körpers, er durfte jetzt keinesfalls die Nerven verlieren. Irinas Schritte wurden für ihn von Sekunde zu Sekunde länger, aber er musste den richtigen Zeitpunkt abwarten, damit sein Vorhaben aufging. Sie war noch circa vier Schritte von seiner Falle entfernt. Konzentriert atmete er noch einmal kräftig ein und wieder aus, fokussierte jeden Schritt von Irina haargenau, bis er die Strippe in der perfekten Sekunde straffzog.

Irina stolperte im vollen Tempo darüber und schlug ungebremst mit ihrem Kopf auf den harten Waldboden auf. Irina, die noch nicht realisiert hatte, was gerade geschehen war und versuchte, sich unmittelbar nach dem Aufprall mit ihren Armen vom Boden nach oben wegzudrücken.

»Ah, Fuck!«, fluchte sie, während das Blut bereits von ihrer Stirn tropfte.

Er stand bereits hinter ihr und drückte ihr im nächsten Moment den Lappen ins Gesicht, sodass Irina sofort das Bewusstsein verlor. Die Schnur schnitt er danach wieder ab und fesselte damit ihre Hände und Beine. Als Nächstes wischte er ihr mit einem Taschentuch das Blut von ihrer Stirn. Danach trug er sie in Richtung Auto, was mit den präparierten Schuhen zur Spurenvermeidung allerdings alles andere als leicht für ihn war. Er überprüfte nochmals beide Richtungen, da ihm im Vorfeld bewusst war, dass dies die riskanteste Phase seines Vorhabens sein würde. Sollte ihn ein Fußgänger oder Jogger dabei bemerken, wie er eine gefesselte leblose Frau in sein Auto schleppte, würde ihn die Polizei vermutlich schneller suchen, als er einkalkuliert hatte. Doch das Glück schien an diesem Tag auf seiner Seite zu stehen, da weit und breit niemand zu sehen war.

Endlich beim Auto angekommen, legte er die Frau in den mit Folien ausgelegten Kofferraum des SUVs. Nirgends Spuren zu hinterlassen – das war die Basis für seine Mission.

Als er zur Fahrertür ging, machte sich so etwas wie Erleichterung bei ihm bemerkbar. Sein Plan, den er monatelang geschmiedet hatte, war tatsächlich aufgegangen. Langsam fing auch sein Puls an, sich wieder einzupendeln. Er setzte sich auf den Fahrersitz und sagte zu sich selbst: »Ich werde ihr alles heimzahlen, was sie dir angetan hat, mein Bruder.« Dann zog er die Maske von seinem verschwitzten Gesicht und warf sie in die Plastikbox im Fußraum des Beifahrersitzes, in dem sich bereits seine Mütze sowie seine Schuhe mit Holzplatten befanden, und verschloss diese. Danach holte er den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche, steckte ihn in das Zündschloss und drehte ihn herum. Die Zündung gab daraufhin nur ein immer schwächer werdendes, klackerndes Geräusch von sich, welches den Motor des Mietwagens aber nicht zum Laufen brachte. Sein Puls jagte wieder nach oben. Mit jedem weiteren erfolglosen Versuch, den Wagen zu starten, spürte er, wie die Panik in ihm zurückkehrte.

»Scheiße! So eine verdammte Scheiße!«, schrie er und schlug mit voller Wucht gegen das Armaturenbrett. Jedes noch so kleine Detail, was passieren könnte, hatte er im Vorfeld bedacht. Doch mit der Variante, dass der verdammte Mietwagen nicht anspringen könnte, hatte er nicht gerechnet. Verzweifelt legte er seinen Kopf auf das Lenkrad und schloss kurz die Augen, um eine Lösung zu finden. Der Motor wollte einfach nicht anspringen und in seinem Kofferraum lag eine gefesselte, mit Chloroform betäubte Frau.

Im nächsten Augenblick öffnete er seine Augen wieder und zog den Hebel links neben sich, damit die Motorhaube aufsprang. Erneut schlüpfte er in die Schuhe mit Holzplatten und ging selbstbewusst zur Vorderseite des Wagens, um einen Blick unter die Motorhaube zu werfen, was ihm nicht wirklich weiterhalf. Anschließend beugte er sich darüber, um etwas besser hineinsehen zu können, als plötzlich Hundebellen von der anderen Richtung ertönte. Sofort machte er ein paar Schritte um die Kurve, damit er erkennen konnte, woher es kam. Weit und breit konnte er keinen Menschen oder Hund erspähen, weshalb er davon ausging, dass es ein Hund war, der seinem Besitzer entlaufen war und nun durch den Wald streifte. Dies verbesserte seine Situation allerdings nicht sonderlich viel, denn der Besitzer würde bestimmt schon auf der Suche nach seinem Tier sein und früher oder später im Wald auftauchen.

Nach dem Kontrollblick eilte er wieder zum Auto zurück. Er klopfte ein paar Mal mit seiner Faust gegen sämtliche Teile des Motors und drückte jeden Schlauch, den er fand, noch einmal fest. Als er fertig war, schloss er die Haube wieder. Das Auto musste jetzt einfach anspringen. Alternativen fielen ihm keine ein. Er konnte ja schlecht den ADAC oder ein Taxi rufen und fragen, ob eine leblose Frau im Kofferraum extra kosten würde. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob es vielleicht besser wäre, Irina einfach auf dem Waldweg zurückzulassen. Ihre Geschichte würde ihr vermutlich sowieso niemand glauben.

Aber nein, das war nicht das, worauf er so lange hingearbeitet hatte. Diese Idee war sein Lebenswerk, es gab jetzt kein Zurück mehr. Ben hatte Vergeltung verdient. Für einen Bruchteil von Sekunden spürte er, wie die Kraft und Stärke von Ben in ihm weiterlebten. Entschlossen ging er wieder zur Fahrertür und setzte sich erneut in den Wagen. In seiner rechten Hand hielt er den Fahrzeugschlüssel unmittelbar vor sein Gesicht, legte seinen Kopf leicht in den Nacken und betete: »Bitte, Gott, hilf mir noch dieses eine Mal. Am Leben teilzunehmen, ist neu für mich, denn ich habe mich immer nur für Bens Leben geopfert. Bitte, hilf mir.« Daraufhin gab er dem Schlüssel einen sanften Kuss und steckte ihn erneut in das Schlüsselloch des Wagens. Seinen linken Ellenbogen hatte er an das Lenkrad gelehnt und seine linke Hand befand sich in seinen dichten, kurzen schwarzen Haaren mit ein paar grauen Strähnen. In seiner rechten Hand hingegen hielt er immer noch den Schlüssel und drehte diesen in derselben Sekunde nach rechts. Die Zündung fing wieder an zu klackern, allerdings heulte der Motor im nächsten Moment doch noch auf. Es war wie eine Erlösung für ihn, sodass der Druck der letzten Minuten von ihm abfiel. Die letzten Schweißperlen wischte er sich mit dem Ärmel seines Hoodies vom Gesicht. Langsam spürte er, wie nun wieder ausreichend Luft in seine Lungenflügel gelangte.

»Danke!«, schrie er euphorisch in Richtung Himmel, während er mit dem Wagen auf die Landstraße Richtung Weiden in der Oberpfalz abbog.

Kapitel 2

06.07.2025

Rudi Raschek war 42 Jahre alt, 1,85 m groß und hatte kurze graue Haare. Neben seiner klaren blauen Augenfarbe fiel einem sofort sein durchtrainierter Körper ins Auge, besonders seine starken Oberarme. Sein Gesicht war komplett rasiert, sodass man seine Wangenknochen gut erkennen konnte. Die Strenge in seinem Blick brachte ihm vom ersten Augenblick an Respekt bei den meisten Menschen ein. Rudi war jemand, der die moderne Technik, so gut es ging, mied und am liebsten anstatt seines Laptops einen Notizblock mit Bleistift benutzte. Als Morgenroutine machte er jeden Tag ein paar Liegestütze und Sit-ups. Trotz seiner sonst so starken Mentalität hatte er es immer noch nicht geschafft, komplett mit dem Rauchen aufzuhören, was ihn seit seiner Jugendzeit begleitete. Außerdem litt er häufig an Schlafstörungen, da ihm die Erlebnisse aus seiner Vergangenheit immer noch zu schaffen machten.

Er saß gerade in seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung vor einem seiner Bonsai-Bäume und schnitt die Triebspitzen mit einer speziellen Schere sorgfältig zu.

Rudis Lebensziel war es, der beste Kriminalermittler zu werden, den es jemals gegeben hatte. Dies tat er nicht wegen des Geldes oder Erfolgs wie die meisten seiner Kollegen. Er wollte die Welt ein wenig gerechter machen.

Bis zu diesem Moment war es ein ruhiger Sonntagvormittag gewesen, als überraschend sein Handy zu klingeln begann und der Name seines Ermittlungspartners Nico Nimada auf dem Display erschien.

Rudi war erst seit zwei Jahren Ermittler in der Stadt Weiden in der Oberpfalz. Vor dieser Zeit war er Leiter einer Spezialeinheit in München, die für schwere Verbrechen zuständig war. Seine Aufklärungsquote war eine der besten, die es in ganz Deutschland vermutlich jemals gegeben hatte. Das war auch der Grund, warum er wahrscheinlich überhaupt noch seinen Job als Ermittler hatte.

Rudi legte die Schere zur Seite. »Hast du dich verwählt? Es ist Sonntag.«

»Guten Morgen, Kollege. Nein, leider nicht. Wir haben einen neuen Fall.« Nico klang ungewohnt ernst, wie Rudi es bislang nicht erlebt hatte.

»Lass mich raten. Zwei Betrunkene haben sich im Park geprügelt oder es wurde mal wieder ein gefährlicher Dealer der Mafia mit 31 Gramm Marihuana im Park erwischt«, witzelte Rudi leicht genervt weiter.

»Fast, Rudi. Eine 27-jährige Frau namens Irina Itora wurde vermutlich beim Joggen durch ein abgelegenes Waldstück zwischen Weiden und Amberg entführt. Haben Sie jetzt mehr Interesse?«

Nico Nimada war erst 25 Jahre alt, nicht besonders groß und hatte eine schlanke Figur sowie kurze gestylte braune Haare. Ständig drehte er einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern hin und her, wenn sie im Büro saßen, oder spielte mit seinem silbernen Armband, wenn sie unterwegs waren. So etwas wie innere Ruhe gab es bei ihm nicht. Nervosität konnte man bei Nico daran erkennen, dass er beim Reden immer schneller wurde, bis man gar nichts mehr verstand. Rudi hatte längst erkannt, dass Nico ein sehr begabter junger Polizist war, weswegen er schon in diesem Alter bei der Kriminalpolizei gelandet war. Für Rudis Begriffe war Nico zwar noch etwas grün hinter den Ohren, aber dafür konnte er von ihm noch einiges lernen.

Rudis Stimme bekam einen leicht strengen Unterton, als er bei ihm nachfragen musste: »Na, dann erzähl mal, oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Und bitte etwas genauer, wenn es geht.«

»Heute gegen 09:40 Uhr hatte sich ein anonymer Anrufer bei der Zentrale gemeldet und völlig entgeistert berichtet, dass er eine Entführung von Frau Irina Itora in einem Waldstück beobachtet habe. Nachdem er den Tatort genau beschrieben hatte, ist sofort eine Streife dort hingefahren. Die Kollegen hatten einige Blutspuren am Boden entdeckt. Seinen Namen wollte der Anrufer aber nicht nennen, und als die Streife eintraf, war niemand mehr vor Ort gewesen. Auch der Ehemann von Irina Itora hatte auf Nachfrage mitgeteilt, dass Irina nicht von ihrer Laufrunde zurückgekehrt sei und dies sehr ungewöhnlich für sie wäre.«

Rudi begann zu realisieren, dass es sich zum ersten Mal, seit er hier war, um ein echtes Verbrechen handeln konnte. Schnell stellte er seinen Bonsai zur Seite, während er sich bei Nico weiter erkundigte: »Holst du mich ab oder schickst du mir den Standort des Tatorts auf mein Handy?«

»Ich bin in fünf Minuten bei dir. Also mach dich fertig, Rudi. Deine kleinen Unkrautpflanzen kannst du morgen auch noch weiter verwöhnen.«

»Beeil dich lieber, Kollege. Die wichtigsten Hinweise findet man meist direkt am Tatort, bevor eine Großversammlung stattfindet«, wandte Rudi ein, ohne auf Nicos Provokation einzugehen. Er holte seine Jacke von der Garderobe, in der sich seine Dienstwaffe und sein Ausweis befanden. Das Gefühl, wieder einen großen Fall vor sich zu haben, ließ ihn förmlich aufblühen. Eigentlich war er überzeugt gewesen, dass er hier in Weiden die letzten Wochen genauso wie in den Jahren zuvor in Ruhe arbeiten würde. Danach sollte seine Karriere wieder in München weitergehen, wo er sich auf eine Stelle beworben hatte.

Während Rudi seine Schuhe anzog und überlegte, weshalb die Frau entführt worden sein könnte, hörte er schon, wie Nico mit dem Wagen, in dem seine fürchterliche Musik lief, in die Hofeinfahrt bretterte.

Kapitel 3

06.07.2025

Völlig erschöpft und außer Atem kam er zurück. So schnell war er vermutlich seit Jahren nicht mehr gewesen. Auf dem Rückweg zu seinem Haus hatte er sich Hunderte Male umgedreht, um sicherzugehen, dass ihn niemand bemerkt hatte.

»Nein, es ist dir niemand gefolgt! Hör jetzt auf, dich ständig umzudrehen und dich komisch zu verhalten, Richard«, ermahnte er sich. Als er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, begab er sich sofort zum Küchenfenster und beobachtete die Straße. Angespannt starrte er zehn Minuten hinaus, um sich davon zu überzeugen, dass ihm niemand gefolgt war. Sein Herzschlag beruhigte sich nach und nach wieder, sodass er normal atmen konnte. Nun wanderte sein Blick zum ersten Mal wieder zu seinem kleinen Hund Leo. Der weiße Bichon Frisé bellte ihn seit fünf Minuten in Dauerschleife an. Allerdings war Richard so auf sich selbst konzentriert gewesen, dass er nichts mitbekommen hatte. Behutsam beugte er sich nun zu Leo und streichelte kurz über seinen Kopf. Im nächsten Moment merkte er erst, dass sein T-Shirt komplett durchgeschwitzt war und seine linke Hand immer noch leicht zitterte. Nun erhob er seinen 130 Kilogramm schweren Körper, was ihm nicht leichtfiel. Vor ihm befanden sich exakt 30 Treppenstufen, bis er zu seinem Kleiderschrank gelangte, um sich umziehen zu können. Schritt für Schritt quälte er sich wie jeden Tag nach oben. Nachdem er sich ein neues T-Shirt übergezogen hatte, marschierte er in seinen Lieblingsraum, welcher direkt seinem Schlafzimmer gegenüberlag. Früher war dieser Raum das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen, die vor fast 16 Jahren verstorben waren. Seitdem lebte er allein in dem großen Haus. Besuch bekam er auch keinen, da er sein ganzes Leben keine Freunde gehabt hatte. Seine Verwandten hatte er seit der Beerdigung seiner Eltern ebenfalls nicht mehr gesehen. Das lag wohl daran, dass sie Richard aufgrund seines ungepflegten Aussehens sowie seiner anhaltenden Arbeitslosigkeit für asozial hielten und nichts mit ihm zu tun haben wollten. Inzwischen war ihm dies allerdings egal. Er hatte Leo und lebte seit ein paar Jahren in diesem Zimmer, welches ihm jeden Tag mehr Freude bereitete als jeder Besuch seiner Verwandten. Als er heute den Raum betrat, fühlte es sich dagegen anders an. Ängstlich sah er zu ihr. Sie war genauso schön wie jeden Tag zuvor, aber irgendwie hatte er den Eindruck, als hätte er sie im Stich gelassen, obwohl er sie doch so sehr liebte wie kein anderer Mensch auf dieser Welt. Aber was hätte er auch tun sollen? Er war nun mal kein geborener Held, sondern eher das genaue Gegenteil davon. Ihre wunderschönen blaugrünen Augen sahen ihn von allen Seiten an, aber leider nicht voller Liebe wie in den Tagen zuvor, sondern eher enttäuscht. Richard merkte, wie die Tränen über seine Wangen flossen und der Schmerz in seinem Herzen immer größer wurde. Wann würde er sie wieder sehen können? Vielleicht war heute der letzte Tag, an dem er sie gesehen hatte, und er vermisste sie gerade schon. Richard wusste, dass er jetzt stark sein musste, um das Geschehene zu verarbeiten.

Kapitel 4

06.07.2025

Langsam öffnete Irina die Augen. Ihr Kopf dröhnte, als ob sie eine Woche lang getrunken hätte. Alles vor ihr war völlig verschwommen, sodass sie nur Umrisse erkennen konnte. Generell war es sehr dunkel in dem Raum. Sie lag auf dem Rücken und spürte unter sich weichen Sand an ihren Händen. Ihr schoss ein seltsamer, unangenehmer Geruch durch die Nase, welchen sie nicht zuordnen konnte. Vorsichtig setzte sie sich auf und spürte, wie jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Irina fragte sich, wo sie hier nur gelandet war. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie beim Joggen gestürzt war. Jemand hatte ihr etwas mit stechendem Geruch ins Gesicht gepresst, wodurch ihre Augen fürchterlich brannten und sie sofort das Bewusstsein verlor. Ihr Blick wurde langsam wieder schärfer. Ihr rechtes Knie war verbunden, und am Boden lag weißer Sand.