Im Augenblick der Rache - Lisa Gibbs - E-Book

Im Augenblick der Rache E-Book

Lisa Gibbs

3,0

Beschreibung

Was wäre, wenn du der Schlüssel zur langersehnten Freiheit wärst? Würdest du die Liebe deines Lebens opfern, um die Menschheit zu retten? Im Alter von vier Jahren ist Rose Carter erblindet, trotzdem erkennt sie die Welt auf ihre Weise. Gemeinsam mit der SGU, der Special Gifted Unit, begibt sie sich auf die Jagd nach Mey White, der letzten unbekannten Versuchsperson aus Dr. Lester Greys menschenverachtenden Experimenten. Zu keinem Zeitpunkt war die Chance Grey zu vernichten höher, denn er ist geschwächt. Aber zwischen Gut und Böse steht ein Verräter ohne Moral oder Ehre, von dem sich Rose magisch angezogen fühlt. Sean Bellier, der Puppenspieler, war einer von Greys erbarmungslosen Kämpfern. Gefangen in den unerbittlichen Ketten der Vergangenheit entfacht zwischen den beiden eine alles verzehrende Begierde. Ein erbitterter Kampf um Überleben und Liebe, in dem Sean von Grey in die tiefste Kluft der Hölle gerissen wird. Wird es Rose gelingen, Seans Seele aus den Fängen des Teufels zu reißen? Oder verliert sie die entscheidende Schlacht Im Augenblick der Rache?

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Im Augenblick der Rache

SGU 6

Lisa Gibbs

Im Augenblick der RacheLisa Gibbs

Copyright © 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-UmstadtUmschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864437311ISBN eBook-mobi: 9783864437328ISBN eBook-epub: 9783864437335

www.sieben-verlag.de

Inhalt

26. Juni 1991

1. 13. Januar 2011

2. 12. August 2014

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Emmet

Zoe

6. Mey

Joseph

7. Emmet

Sean

Rose

Emmet

Zoe

8. Sean

Rose

Sean

Zoe

Emmet

Rose

Sean

Epilog: Rose

Emmet

Über den Autor

26. Juni 1991

„Sie glauben, es gibt dich gar nicht“, flüsterte Rose gerade so laut, dass sie es hören konnte.

Eigentlich war ihr egal, was die anderen über sie sagten, aber sie hatte sogar Emmet das leichte Grinsen angemerkt, als sie ihm ihr Geheimnis von ihrem besten Freund John anvertraut hatte. Und die Reaktion ihres großen Bruders hatte sie doch getroffen. Dass ihre Eltern nur das sahen, was sie sehen wollten, wusste sie. Aber Emmet?

Mach dir nichts draus, die Erwachsenen wissen doch sowieso alles besser.

Johns Stimme schlich sich wie ein fremder Gedanke in ihren Kopf. Trotzdem fühlte es sich vertraut an. Wie etwas, vor dem sie sich niemals fürchten müsste. Als wären seine Gedanken ein Teil von ihr.

Mit nackten Füßen lief sie über den Rasen hinter dem Haus. Sie hatte ihren Zeichenblock und ein paar Stifte in einer Mappe dabei.

„Du hast recht. Wo warst du die letzten Tage?“, fragte sie, während sie den Wechsel zwischen Gras und frischer Erde unter ihren Fußsohlen spürte. Die feuchte Erde drückte sich durch die Rillen zwischen ihren Zehen. Sie ging zwei Schritte zurück und setzte sich auf den Rasen vor das Blumenbeet.

Ich musste auf meine kleine Schwester aufpassen, antwortete er. Was machst du?, fragte er gleich hinterher.

„Ich male“, sagte sie. Hoffend, dass er ihre Lieblingsbeschäftigung nicht blöd fand.

Und was malst du?

„Blumen, die Sonne, Bienen, oft den Himmel. So was halt“, sagte sie, während sie die Kerben auf dem Stiel des Stiftes mit den Fingernägeln abtastete.

Als sie aus der Küche gegangen war, hatte sie noch gehört, dass ihre Eltern vermuteten, dass John ihr imaginärer Freund sei. Und ob sie sich nun Sorgen machen müssten.

So ein Quatsch. Rose schüttelte den Kopf, sodass sich ihr Haarband löste. John war vielleicht nur für sie hörbar, aber er war ihr weitaus vertrauter als die Kinder in der Nachbar schaft. Die hatten eher Angst vor Emmet und ihr, weil sie Privatunterricht bekamen und Emmet in regelmäßigen Abständen zum Training abgeholt wurde.

Wie machst du das?, fragte John nach.

Das war eine Sache, die sie ab der ersten Sekunde an ihm gemocht hatte. Sicher hatte sie sich erschrocken, als die fremden Eindrücke aus ihren nächtlichen Träumen plötzlich eine Stimme bekommen hatten. Aber sie hatte gespürt, dass es ihm ebenso ergangen war. Und dann hatten sie sich vorsichtig immer besser kennengelernt. Genauso gut hätte sie ein einzelnes Walkie-Talkie finden und darüber einen Freund kennenlernen können, dachte sie oft.

Seit ein paar Wochen schon tauschte sie sich regelmäßig mit ihm aus. Es machte Spaß, außer dass er den Kontakt irgendwie genauer steuern konnte als sie. Manchmal schottete er sich einfach ab und sie wartete vergebens auf ein Zeichen von ihm. Vielleicht hatte er auch mehr Kontrolle über die Verbindung, weil er ein paar Jahre älter war. Es machte sie mächtig stolz, dass ein Elfjähriger seine Zeit damit verbrachte, sich mit ihr zu unterhalten. Schließlich war sie erst sechs Jahre alt.

„Wie meinst du das?“

Na, woher weißt du, was du malst?

Seltsamerweise nahm sie ihm die Nachfragen nicht übel. Sie hatte ihm schon bei ihrem ersten Gespräch erzählt, dass sie nicht so sehen konnte, wie die meisten Menschen. Es hatte sie keinerlei Überwindung gekostet, das zu sagen. Vielleicht deshalb, weil er sie auch nicht sehen konnte, schoss ihr durch den Kopf.

Sie lächelte. Vor zwei Jahren fingen ihre Augen an immer schlechter zu werden. Das Bild war mehr und mehr in Schwarz versunken, dafür hatten sich ihre anderen Sinne verschärft.

„Hier scheint die Sonne, es ist warm“, erklärte sie, während sie drei Kerben in ihrem Holzmalstift zählte. Drei bedeutete Gelb. Das System hatte sich Emmet für sie überlegt und es funktionierte super. „Ich höre Bienen summen, das Gras ist leicht feucht. Ich weiß also, wie es aussieht. Nur beim Himmel bin ich mir oft unsicher, deshalb male ich ihn einfach immer ganz bunt an. Ich glaube, so sieht es schön aus.“ Sie legte ihre Handfläche auf den Zeichenblock und begann mit den Fingern die Abstände zu messen, wie es ihrer Meinung nach passen musste. Für die Biene eine kleine Fingerkuppe und die Blume daneben war noch einen Finger breit von ihr entfernt.

Ist dir das wichtig? Dass es später so normal wie möglich aussieht?

Sie mochte nicht nur die Fragen, die er stellte. Sie mochte besonders den Klang seiner Stimme. Er hörte sich angenehm ruhig an und ein leicht exotischer Unterton schwang mit. Als würden ihm manchmal nicht die richtigen Wörter einfallen.

Kurz dachte sie nach. Dann nahm sie ihre Hand von dem Papier und zeichnete frei drauflos.

„Nein, ist es nicht“, sagte sie mit einer Prise frisch gewecktem Selbstbewusstsein. „Was machst du?“

Für ein paar Sekunden war nichts von ihm hörbar. Sie dachte sogar, dass er den Kontakt abgebrochen hatte, ohne sich zu verabschieden.

Ich werfe Steine ins Wasser. So, dass sie springen.

„Bist du an einem See?“

Nein, am Meer.

„Oh.“ Rose suchte in ihrer Erinnerung nach Bildern vom Meer, aber es gab kaum welche. Sie glaubte, sich an eine Reise zu erinnern. An das Bild, wie Emmet mit seiner blauen Badehose gegen eine riesengroße Welle gesprungen war. „Wie sieht es da aus?“ Sie lehnte sich zurück und spürte die Wärme der Sonne in ihrem Gesicht, während sie entfernt die Stimme von Esther, ihrer Mutter, hörte. Wahrscheinlich suchte sie nach ihr.

Die Sonne geht unter, sie spiegelt sich am Horizont. Sie sieht rot aus, orange. Irgendwie ist der Himmel wirklich bunt. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. Die Wellen sind schwach, deshalb springen die flachen Steine auch so gut. Trotzdem rauscht es, die Kiesel klackern, wenn die Wellen zurückgehen.

Vor Roses geistigem Auge erschloss sich nach und nach ein Bild aus seiner Beschreibung. Es war wie eine Reise an einen fremden Ort. Emmet las ihr manchmal aus Moby Dick vor. Sie klaute ein paar Szenen daraus und packte all ihre Fantasie in ihr inneres Bild. „Wie riecht es?“

Salzig, ein bisschen nach Fisch, würde ich sagen.

Es hörte sich wunderbar an. Und es passte überhaupt nicht zu den anderen Eindrücken, die sie manchmal im Schlaf hatte. In letzter Zeit wachte sie immer öfter auf, weil sie Albträume hatte. Sie träumte davon, eingesperrt zu sein. Sie hatte schreckliche Angst, weil es sich unglaublich real anfühlte. Wenn ihre Eltern mitbekamen, dass sie schlecht geträumt hatte, schoben sie es meist auf ihre Blindheit. Oft hatten sie versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Sie mochte die Gespräche nicht, weil sich Benjamin, ihr Vater, dann immer anhörte, als wäre sie unheilbar krank. Deshalb erzählte sie nicht mehr, wenn sie Albträume heimsuchten.

Derjenige, der immer mitbekam, wenn sie wieder aus dem Schlaf schreckte, war Emmet. Aber er legte sich dann zu ihr und streichelte über ihren Kopf. Ihr Bruder war schon in Ordnung.

Sie hatte John nichts davon erzählt, weil sie befürchtete, dass sich vielleicht noch eine andere Person mit ihr in Verbindung setzen wollte. Und sie wollte weder das noch John das Gefühl geben, dass sie ihre Freundschaft nicht ernst nahm. Sie nahm sie nämlich sehr ernst, schließlich war er ihr erster richtiger Freund.

Und nach diesen Bäumen … Er suchte nach dem Namen.

„Rose!“ Plötzlich stand ihre Mutter neben ihr. „Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du dich versteckst“, schimpfte sie vorwurfsvoll.

Ihre Mutter hatte meistens einen ängstlichen Ton in der Stimme. Das fiel Rose immer öfter auf, vor allem seit sie mit John sprach und ihn nur anhand seiner Stimme einzuschätzen lernte.

„Ich habe mich gar nicht versteckt“, sagte sie zu ihrer Mutter.

Dann konzentrierte sie sich auf ihre innere Stimme und gab John Bescheid: Ich muss los, bis bald.

Gerne wäre sie noch länger mit ihm verbunden geblieben, aber ihre Mutter drängte sie, reinzugehen. Und sich gleichzeitig mit ihr und John zu unterhalten, war einfach nicht möglich.

Ihre Mutter ging vor, während sie sich noch einen Moment Zeit ließ, um ihre Zeichensachen zusammenzupacken.

Mach’sgut, Rose.

„Schläfst du?“, flüsterte Sue durch die Ritze im Holzfußboden.

„Nein“, antwortete er, während er die Verbindung zu Rose losließ und weiter von dem Loch, durch das Sue mit ihm sprach, wegkroch. Seinen Rücken durchfuhr ein stechender Schmerz, als er sich an die Holzplanken des Unterbaus lehnte.

„Wie geht es dir?“, fragte sie weiter.

Sie hatte Angst, das hörte er. Er presste die Lippen aufeinander und leckte das Blut ab, als die Wunde auf seiner Unterlippe wieder aufplatzte.

„Sean?“

„Alles in Ordnung.“ Das linke Auge war zugeschwollen, aber mit dem rechten konnte er durch die Ritze sehen. Der Parkplatz neben dem Haus war leer. „Wo ist er?“

„Ich weiß es nicht, aber er hat Mutter mitgenommen“, flüsterte sie hastig, bevor sie unterbrach. „Ich meine Clara.“

Sean schluckte schwer. Lange war Arthur nie weg. Und wenn er dann zurückkam und das Auto parkte, konnte Sean das nur durch die dünnen Schlitze unter der Veranda erkennen. Dann stieg Arthur aus und ging mit seinen Lederschuhen die Treppe nach oben.

„Ich bekomme den Riegel nicht auf“, sagte Sue verzweifelt.

„Ist nicht schlimm.“ Er versuchte, die wenigen Lichtstrahlen so auf seinen Oberkörper zu bündeln, dass er seine Rippen sehen konnte, wenn er sein verdrecktes Shirt anhob. Es tat immer noch bei jedem Atemzug weh. Die blauen Flecken von Arthurs Fingerknöcheln waren mittlerweile lila. Am Rand gelb. „Wie geht’s ihr?“, fragte er.

Mit seiner Mutter hatte er seit Wochen nicht mehr gesprochen. Nicht, weil er sie nicht liebte, sondern genau deshalb. Das war auch der Grund, warum er Sue darum gebeten hatte, ihre gemeinsame Mutter bei ihrem Namen Clara zu nennen. Es gab ihm etwas Abstand. Arthur, sein Stiefvater, nahm jeden kleinen Grund zum Anlass, ihr wehzutun.

Sean versuchte, so viel wie möglich von seinem Zorn abzubekommen, damit Clara keine Schläge bekam. Gleichzeitig wünschte er sich manchmal in stillen Momenten, dass sie endlich etwas gegen Arthur unternahm. Seine größte Angst war, dass Arthur sich irgendwann an Sue vergreifen würde. Aber dann Gnade ihm der Teufel.

„Hey Sue“, sagte er. „Wie heißen nochmal die Bäume? Die bei den lila Feldern stehen?“ Er hatte vergessen, was Clara ihnen erklärt hatte.

„Sie sagte, das sind Pinien“, antwortete Sue traurig.

Wahrscheinlich erinnerte sie sich an den Ausflug, den sie gemeinsam gemacht hatten, bevor Clara Arthur kennengelernt hatte. Das war auch ein Augenblick, von dem er Rose erzählen konnte, dachte er. Alles, was er ihr erzählte, kam ihm unglaublich weit weg vor. Als wäre er damals ein anderer Junge gewesen. Mit einer richtigen Familie. Deshalb hatte er Rose auch nicht seinen echten Namen genannt, als sie ihn gefragt hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, als würde er sie dadurch mit in diesen Horror ziehen. Also hatte er spontan geantwortet, sein Name sei John. Wegen John Doe.

Davon hatte er einmal gelesen, dass man Unbekannte in Amerika so nannte. Und er wusste selbst nicht mehr, wer er eigentlich war. Er wusste nur, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er anders war.

Manchmal fand er das gut, wenn er zum Beispiel mit Rose sprechen konnte. Oder wenn er merkte, dass er mehr Kraft hatte, als Arthur ihm zugetraut hatte. Aber die meiste Zeit sah er sogar im Gesicht seiner Mutter, dass er ihr Angst machte. An seinen leiblichen Vater konnte er sich kaum erinnern, aber er wusste, dass er amerikanischer Soldat gewesen war. Er hatte Clara bei einem Einsatz in Frankreich kennengelernt, kurze Zeit später hatten sie geheiratet. Bei einem Kampfeinsatz, kurz nach Sues Geburt, war sein Vater getötet worden.

„Was sollen wir jetzt machen?“ Sues Stimme wurde leiser.

Motorengeräusche kamen näher. Als Sean wieder zum Parkplatz linste, hielt Arthurs Mercedes auf dem Schotter an.

„Verschwinde“, flüsterte Sean.

Er hörte, dass Sue aufsprang und ins Schlafzimmer lief. Dort versteckte sie sich in dem großen Kleiderschrank. Das hatte er ihr eingebläut, damit sie nicht in die Schusslinie geriet.

Clara ging neben Arthur die Treppen nach oben. Obwohl er nur die Füße der beiden erkennen konnte, wusste er, dass Arthur seine linke Hand auf Claras Nacken gelegt hatte. Das machte er immer. Anfangs hatte Sean gedacht, dass ihn sein seltsames Gefühl trog. Dass er sich irrte und es eine liebevolle Geste war. Tausend Schläge und Schreie später sah er sein intuitives Misstrauen bestätigt. Arthur führte Clara, als wäre sie sein Hund.

Sean folgte den Schritten. So leise wie möglich kroch er unter ihnen nach, bis sie in der Küche ankamen. Der Unterbau des Hauses war an der höchsten Stelle nicht mehr als einen halben Meter hoch, die Erde unter ihm war modrig und von Rattengängen zersiebt. Als es das erste Mal polterte, schlug Claras Körper knapp drei Meter rechts von ihm auf. Sein Zorn flammte auf, wie ein Funken, der einen unaufhaltsamen Flächenbrand nach sich zog. Hastig schob er seinen Körper unter die Stelle, an der er seine Mutter vermutete. Sie lag neben dem Küchentisch. Wenn er sich anstrengte, konnte er ihren Kopf durch einen etwas breiteren Schlitz der Bodendielen erkennen. Nur einen knappen Meter neben ihr war das Schloss zur Luke, unter der er sich befand.

„Mach auf“, flüsterte er flehend.

Aber er wartete vergebens. Sie rappelte sich wieder auf, nur um kurze Zeit später wieder niedergeschlagen zu werden.

Wie ein angekettetes wildes Tier kratzte Sean unter den Dielen, auf der Suche nach einem Schlupfloch. Diesmal lag sie so, dass er ihre Augen erkennen konnte. Er spürte dieses überwältigende Gefühl, wie es aufstieg und alles in ihm einnahm. Als würde eine fremde Macht von ihm Besitz ergreifen. Instinktiv suchte er ihren Blickkontakt, auch wenn er sie nur durch eine Ritze sehen konnte. Den Unterschied in ihren Augen merkte er sofort. Bislang hatte er es nur ein Mal bei Sue versucht und bei ein paar Menschen, die er kaum kannte. Immer hatte er zumindest für einen kurzen Augenblick geschafft, die Kontrolle zu übernehmen.

Clara war schwach, vielleicht erreichte er sie deshalb auf einer unbewussten Ebene. Eine Sekunde später hatte er die Kontrolle über ihren Körper.

Er spürte die starken Schmerzen, die Arthur ihr bisher zugefügt hatte. Aber im Gegensatz zu Clara hatte Sean massive Wut in sich. Er zwang ihren Körper auf die Beine und ging mit ihren schmalen, geballten Fäusten auf Arthur los. In Arthurs Augen loderte erst Überraschung, dann Zorn auf. Doch als er sich gefangen hatte und Claras Schläge wie Mückenstiche abwischte, ging er auf sie los.

Sean hatte unterschätzt, wie unterlegen Claras Körper war. Er spürte nur noch Schläge und Tritte auf sich einprasseln. Dann wurde er aus ihrem Körper katapultiert.

Sein Geist tauchte wieder in seinem eigenen Körper auf. Er krümmte sich und schnappte nach Luft. Ein gewaltiger Aufprall war über ihm zu hören. Alles verschwamm vor seinen Augen, aber er nahm die schreckliche Stille über ihm trotzdem wahr.

Einen Tag später starb Clara im Krankenhaus.

Arthur erzählte jedem, dass es Einbrecher gewesen seien. Er bekam sogar Geld von der Versicherung. Sue und Sean brandmarkte er als traumatisierte Kinder. Er suchte nach einem Heim für sie, um sie loszuwerden.

Ab diesem Ereignis wurde Sean zu John Doe. Zu einem unbekannten Jungen, der das Böse anerkannte, als einen Teil von sich selbst. Er schmeckte nie wieder das Salz auf den Lippen, wenn er an das Meer dachte. Und der Himmel wirkte nie mehr bunt. Er nahm nie wieder bewusst Kontakt zu Rose auf.

1.

13. Januar 2011

Das Böse hatte viele Gesichter.

Sean Bellier, der Puppenspieler, trug so viele Masken, dass Rose nicht wusste, ob er wirklich so niederträchtig war, wie sein Ruf. Mal erlebte sie ihn gegenüber anderen charmant, mit einem Wesen, das sofort jede Aufmerksamkeit magnetisch ansog. Dann schwelte wieder eine gefährliche Düsternis um ihn, die ihr eine eiskalte Gänsehaut über die Haut jagte.

Sie nippte an ihrer Tasse Kaffee und versuchte diese intensive Faszination zu verdrängen oder zumindest auszublenden. Gestern waren ihr Bruder Emmet, Elias, Lou, Jules und Lukas zu ihrem Haus nach Garrison gekommen.

Mit dem Puppenspieler.

Ihre Tür stand ihnen allen offen, trotzdem forschte sie in ihrem Inneren nach, warum die Anwesenheit des Puppenspielers so viel ihrer Aufmerksamkeit schluckte. Misstraute sie ihm? Weil er nicht wie die anderen ein lang vertrauter Freund von Emmet und ihr war? Weil es in ihrer Vergangenheit so viel Verrat und Lügen gegeben hatte?

Nein, daran lag es nicht. Sie waren von Lester Grey belogen und verraten worden, nicht von Sean Bellier. Grey hatte vermeintlich wissenschaftliche Testreihen an ihnen durchgeführt, als sie noch unmündige Kinder gewesen waren. Er hatte ihnen Peilsender implantiert, sie gechipt wie Vieh, das er orten konnte.

Alle waren in ihrem Wohnzimmer versammelt. Bislang hatte sie bei allen fünf Mitgliedern die implantierten, reiskorngroßen Chips erspürt. Nur bei Sean und sich selbst hatte sie es noch nicht kontrolliert. Ihre Finger begannen zu zittern, wenn sie daran dachte, dass sie Sean berühren sollte. Es war wie verhext, als hätte sie ihre Sinne in seiner Gegenwart nicht unter Kontrolle.

„Warum zur Hölle sollten sie mir so ein Ding einsetzen? Ich habe doch nicht einmal für die gearbeitet“, sagte Sean forsch.

Seine Stimme klang auf seltsame Weise vertraut. Ein tiefes, melodisches Timbre, das sich wie ein intensiver Abdruck in einen geheimnisumwobenen Teil ihrer Seele prägte. Wenn sie in seine Richtung sah, erahnte sie die Struktur seines Körpers in der Dunkelheit, als würde sie ihn trotz ihrer Blindheit anders wahrnehmen, ihn beinahe erkennen können. Konturen seines Körpers, Teile seiner Statur malten sich auf ihr inneres Auge. Als würden feine Partikel an ihm abperlen und ihr so ein energetisches Bild von ihm zeichnen. Wie Sandkörner, die an feuchten Stellen eines unsichtbaren Körpers kleben blieben und ihm so eine Form gaben. Trotzdem blieb es ein unfassbarer Eindruck, der sich wie Michelangelos Non-finito in ihr manifestierte. Eine wohlgeformte Plastik aus Energiefeldern, die ihr ein besonderes Gefühl für seinen breiten Schultergürtel, seine Muskeln und seiner Größe gaben. Trotzdem blieb sie mit diesen spannenden Impressionen zurück, ohne einen Eindruck vom großen Ganzen zu bekommen. Es waren nur leuchtende, kleine Teaser, die sie neugierig machten. Sie nahm an, dass er grüne Augen hatte. Es war wie verhext. Allein, dass sie über so etwas nachdachte, brachte ihm diesen mystischen, geheimnisumwitterten Status ein. Es mussten seine Augen sein, die sich manchmal als strahlend grüne Lichtpunkte vor ihrem inneren Auge abzeichneten. Auf etwas lauernd, abwartend oder herausfordernd.

Es war lächerlich, doch sie nahm es persönlich, dass er sich gegen eine Berührung von ihr sträubte. Obwohl ihr der Gedanke, ihn anzufassen, selbst Angst einjagte.

Aber hier ging es nicht um Befindlichkeiten, es ging darum herauszufinden, ob sie Peilsender unter der Haut trugen. Denn dann wären sie in akuter Gefahr. Gezielt ging sie in seine Richtung, fasste an seine Schultern und fuhr mit den Handflächen nach unten, bis sie seine rechte Hand in ihren Händen hielt.

Auf einmal stockte ihr der Atem. Es fühlte sich an, als wäre sie in einer Glocke unter Wasser gezogen worden und alles spielte sich nur noch in dieser intimen Sphäre ab. Seine Haut war weich und warm, genau wie die der anderen, aber seine Nähe setzte ihr auf außergewöhnliche Weise zu. Sein Geruch, die Ausstrahlung seines Körpers, die Spannung in seinen Fingern, alles war intensiv für sie spürbar.

Sie hoffte, dass er das Zittern ihrer Hände nicht bemerkte. Schnell begann sie zu summen, um durch das leichte Echo, das aus seinem Körper hallte, den Fremdkörper ausfindig zu machen. Sofort wob sich ein Netz vor ihrem inneren Auge, indem sie Venen, Organe und Blut strömen und pulsieren sah. Die Formen zeichneten sich klar ab, während ihr Ton in einer speziellen Frequenz daran gespiegelt wurde. Sein Herz schlug sehr schnell. Diesen gesteigerten Pulsschlag hatten alle unfreiwilligen Probanden von Greys Experimenten. Es war ein ganz anderes Geräusch als der normale menschliche Herzschlag. Mittlerweile hatte sich dieser spezielle Puls wie ein Rhythmus in ihr manifestiert, wie der Takt einer Melodie, die ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Sobald sie in die Nähe eines Begabten kam, spürte sie dessen veränderten Herzschlag. Es war wie ein siebter Sinn, der ihr half, die Umgebung zu erahnen.

Bei Sean war es beinahe übermächtig stark. In seinem Fall hämmerte seine Herzfrequenz manchmal sogar im exakt selben Takt wie ihr Puls. Das brachte sie durcheinander. In manchen Augenblicken hätte sie schwören können, dass er in ihrer Nähe war, aber sie hörte kein Geräusch, kein Wort, keinen Atemzug. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre er ganz nah.

So war es, seit sie sich vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet waren. Er sprach kaum ein Wort mit ihr, während er vor anderen oft eine große Klappe hatte. Die Wärme seiner Haut übertrug sich auf ihre. Sie wandte ihren Blick nach unten, um das intensiv leuchtende Grün besser ausblenden zu können.

„Du hast einen“, sagte sie, bevor sie ihn so schnell wie möglich losließ, um etwas körperlichen Abstand herzustellen. Auch bei ihm steckte ein Sender zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Trotz der heftigen Ablenkung war das deutlich spürbar gewesen. Obwohl der Kontakt zwischen ihnen nicht länger als ein paar Sekunden gedauert hatte, wich auch er ruckartig vor ihr zurück und stieß eine Reihe Schimpfwörter auf Französisch aus.

„Wir können nicht wissen, ob du auch einen trägst. Sollen wir nachsehen?“, fragte Emmet.

„Ja, bitte sieh nach“, antwortete Rose. In ihren eigenen Körper konnte sie nicht auf diese Weise hineinspüren. Es war eine Fähigkeit, die nur nach außen funktionierte. Also ging sie ins Badezimmer und legte ihre Hand in das warme Wasser, das Emmet ins Waschbecken eingelassen hatte.

„Ich habe absolut keine Ahnung, aus was für einem Material diese beschissenen Sender sind“, sagte Emmet wütend.

Sie wusste, dass sein Zorn nicht dieser Tatsache zugrunde lag. Sie war seine kleine Schwester. Er hatte immer auf sie aufzupassen versucht. Ihr jetzt mit einem Skalpell in die Hand zu schneiden, passte ihm überhaupt nicht.

„Bereit?“, fragte er.

Sie nickte. Zuerst war es nur ein kurzer, stechender Schmerz, dann zog es in ihrem Fleisch. „Bei uns allen saß das verdammte Teil an der gleichen Stelle in der rechten Hand. Aber da ist nichts“, sagte Emmet. „Das bedeutet, sie wissen nichts von deinen Fähigkeiten.“

„Oder sie halten mich für beschädigte Ware.“ Rose lächelte. Für sie fühlte es sich nicht so an, als hätte sie besondere Fähigkeiten. Sie hatte nur gelernt, die ihr gebliebenen Sinne besser einzusetzen. Der menschliche Organismus war für sie wie ein bewegtes Bild, das sie klar erkennen konnte. Alles war im Fluss, permanent damit beschäftigt, sich neu zu finden oder zu regenerieren.

Rose spürte, dass Sean sie beobachtete. Es war wie ein Instinkt, der sie vor einer unmittelbaren Gefahr warnte. Als würde sie aus einem undurchdringlichen Dickicht heraus von einem Raubtier taxiert werden. Seit sie ihn berührt hatte, hatte sie sogar verstärkt diesen Eindruck. Da waren nicht mehr nur diese grünen, leuchtenden Augen, da war mehr. Wie ein intensiver Sog, der ihre Sinne auf ihn fokussierte.

Nur am Rande nahm sie wahr, welchen Plan Emmet geschmiedet hatte. Er hatte alle entfernten Sender in eine Thermosflasche mit körperwarm temperiertem Wasser gefüllt. So konnten sie die Ortung gegen ihre Feinde nutzen. Sie würden Zeit gewinnen, indem sie eine falsche Fährte legten.

„Ich kann für Ablenkung sorgen“, sagte sie entschlossen. Jedes Mitglied der SGU hatte eine Kampfausbildung. Sie nicht. Außerdem hatte sie keinen Sender getragen, was bedeutete, dass sie kein interessantes Ziel für ihren Feind darstellte. Sie war perfekt geeignet für dieses Manöver.

„Ich begleite dich.“ Seans Stimme ließ sie erschauern.

Warum schloss er sich ihr an? Er war der Letzte, mit dem sie gerechnet hätte. In ihr wirbelte Unruhe und Aufregung durcheinander. Er sprach kaum mit ihr, ihre Nähe schien ihm unangenehm. Warum meldete er sich freiwillig für ein Ablenkungsmanöver, bei dem er mit ihr allein sein würde?

Kurze Zeit später saßen sie in einem Transporter. Mit Emmet war abgesprochen, dass sie zuerst eine lange Strecke Richtung Norden fuhren und die Flasche dann irgendwo loswurden. Für den Rückweg hatte er ein paar Unterkünfte optioniert, weil sie nicht zu Roses Haus zurückkehren konnten und noch nicht feststand, wo die SGU zu diesem Zeitpunkt sein würde.

Roses Herz pumpte. Selbst ihr Atem kam ihr unfassbar laut vor. „Du magst es nicht, wenn ich in deiner Nähe bin.“ Rose flüsterte, aber bei der Stille, die seit den letzten viereinhalb Stunden Autofahrt zwischen Sean und ihr herrschte, reichte diese Lautstärke aus, um sich bemerkbar zu machen. Sogar während der beiden kurzen Pausen hatten sie nicht mehr als das Nötigste miteinander gesprochen.

Nach weiteren zermürbenden Sekunden ohne Reaktion auf ihre Vermutung hakte sie nach. „Warum?“ Ihr war diese Stille ebenso verhasst, wie diejenige zu sein, die diese Tatsache aussprach. Ihre Fingernägel gruben sich in die Gummidichtung des Fensters. Sie spielte mit dem leisen Takt, wenn das Gummi auf die Scheibe klackte. Es war ein wenig Ablenkung von seinem ruhigen Atem und den anderen intensiven Eindrücken, die sie an ihm wahrnahm.

Seit sie sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, kämpfte sie gegen unterschiedliche Gefühle an. Einerseits war da eine nervenzehrende Spannung in ihr, weil sie noch nie so lange mit dem Puppenspieler allein gewesen war. Ihn umgab diese mystische Aura, er schien unnahbar und brandgefährlich. Nicht wegen seines kämpferischen Geschicks, sondern weil er seine Intelligenz und sein Talent perfide zu seinem Vorteil nutzte. Ein Begabter, der Menschen manipulieren und steuern konnte wie Marionetten. Jemand, der sich der SGU – der Special Gifted Unit und ihrem Kampf nur zeitweise angeschlossen hatte. Weil er keine Regeln oder ehrenwerte Grundsätze kannte.

Trotzdem war er eine ernstzunehmende Bereicherung für die Einheit im Kampf gegen den übermächtigen Feind Grey.

Andererseits spürte sie Trotz. Weil Sean mit ihr offensichtlich ganz anders umging als mit den anderen Mitgliedern der Einheit. Vielleicht, weil er sie als potenzielle Gefahrenquelle sah, weil sie keine Kämpferin war. Oder weil sie blind war. Sie hatte keine Ahnung.

Aber sie hatte ihn nicht gebeten mitzukommen, er hatte sich freiwillig gemeldet. Zur Not hätte sie sich ein Taxi genommen oder sich schlicht in einen Zug gesetzt. Irgendwie wäre sie schon durchgekommen. Dann hätte er mit Emmet und der SGU gehen können.

Wenn sie ihn mit anderen erlebte, seine Stimme hörte, war da immer dieser sarkastische Unterton hörbar. Als würde er sich damit abschotten und unnahbar machen. Sie hatte erlebt, wie er in die Mündung einer Waffe gesehen hatte, dabei hatte sie weder eine Unregelmäßigkeit in seiner Atmung, noch eine Vibration in seiner Stimme bemerkt. Es war nicht so, als hätte er keine Angst vor dem Tod, es war, als grinste er ihn an.

Aber jetzt blieb er wieder stumm wie ein Fisch. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn einschätzen sollte. Seine Fähigkeit machte ihr Angst, weil so eine Form der Manipulation auch an ihm nicht spurlos vorübergehen konnte. Seine Art mit Menschen umzugehen, sie zu benutzen, schreckte sie ab. Aber da war auch etwas in ihr, das etwas anderes in ihm zu spüren glaubte.

„So ist es nicht“, sagte er mit gesenkter Stimme.

Rose erschrak sich beinahe zu Tode, als sein tiefes, durchdringendes Timbre durch ihren Körper floss und sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten. Sie hörte in seiner Stimme, dass er dieses Zugeständnis nur ungern machte. Aber war es das überhaupt?

„Ich vertraue mir nicht, wenn du in meiner Nähe bist.“

„Was soll das heißen?“, fragte sie heiser. Kaum zu glauben, dass ihr Mund so trocken war. Wieder herrschte einen Moment Stille. Das war kaum auszuhalten. „Wir werden niemals Freunde, oder?“, fragte sie weiter. Ein lächerlicher Versuch, etwas gegen die aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen zu tun.

Verächtlich stieß er den Atem zwischen den Zähnen hervor. „Nein, sicher nicht.“

Ihr wäre danach gewesen, abgeklärt zu lächeln oder etwas anderes zu tun, damit er merkte, dass ihr seine Antwort nichts ausmachte. Stattdessen wurde sie von einem einnehmenden Sog innerlich fortgerissen, der all ihre Aufmerksamkeit wie eine mächtige Flutwelle verschlang. Es fühlte sich an, als wäre sie in ihren Gedanken nicht allein. Es war ein warmes, aber vor allem intimes Gefühl. Als wäre jemand in ihre Seele eingedrungen. Ihr Atem stockte in ihrer Kehle, als müsste sie jedes Geräusch auslöschen, um diesem Gefühl genau nachzuspüren. Sie kannte diese Empfindung. Sie hatte es schon einmal erlebt. Und sie hatte niemals mehr damit gerechnet, es noch einmal zu spüren. Seidenweich umwob sie eine innere Ruhe. Gleichzeitig prickelte Aufregung in ihr.

Leise hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken. Er flüsterte: Wir waren schon immer mehr.

„Woher kannst du das?“ Roses Stimme klang schrill in ihren Ohren, weil sich der Schrecken wie ein Mantel über ihr Gemüt gelegt hatte. Eine so starke innere Brücke hatte sie nur ein Mal erlebt. Das war schon so lange her. Und sie hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass es nur Einbildung gewesen war.

Scharf fuhr er rechts ran. Er parkte den Transporter und zog die Handbremse an, bevor er den Motor ausstellte. Sie konnte ihn immer noch intensiv in sich spüren. Es war intim und überforderte sie maßlos, weil sie sich nicht rechtzeitig hatte wappnen können.

Ich spüre nur das, was du zulässt, Rose.

Um Himmels willen, woher kam diese durchdringende Wärme in seiner Stimme? Diese Situation hätte ihr das Gefühl geben müssen, verrückt zu werden. Sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf. Aber stattdessen hatte sie das Bedürfnis, sich in seinem Timbre zu verlieren.

„Das ist vollkommen unmöglich“, sagte sie, während sie sich mit beiden Händen die Haare nach hinten strich, als könnte sie so die Kontrolle über ihr Bewusstsein wiedererlangen. „Ich habe das schon mal erlebt, aber es ist Jahrzehnte her.“

Sie erinnerte sich an John. Ein Freund, den nur sie wahrgenommen hatte. Als er verschwunden war, hatte sie angefangen zu glauben, was alle sagten. Er war nur ein imaginärer Freund gewesen. Eine Projektion, ausgelöst durch das Trauma, das ihr Erblinden mit sich gebracht hatte. „Ist das ein Trick?“ Er war der Puppenspieler, er konnte Menschen manipulieren. „Hypnose?“ Zwanghaft versuchte sie, die Faszination für dieses angenehme Empfinden in ihrem Inneren zu vertreiben. Was hatte er vor? Worum ging es hier? Wo war die Flasche mit den Sendern? Ruckartig öffnete sie die Tür und fiel beinahe aus dem Transporter, weil sie die Stufe falsch eingeschätzt hatte.

„Warte“, rief er. „Verdammt.“

Sie rappelte sich auf, warf die Tür hinter sich zu und tastete sich zu der Hintertür vor. Ihre Instinkte waren komplett durcheinander. Ihr räumliches Gefühl ein einziges Chaos. Sie fühlte sich wahrhaftig blind. Ein erstickter Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als er ihren Arm packte und sie zu sich riss. Einen Wimpernschlag später hörte sie ein schrilles Hupen. Ein Windsog riss an ihrer Jacke. Sie musste auf die Straße gekommen sein.

„Verdammte Scheiße, Rose!“, stieß Sean zwischen den Zähnen hervor, gefolgt von weiteren Flüchen auf Französisch, bevor er seine Lippen an ihre Stirn presste.

Er stand vor ihr und schirmte sie mit seinem Körper ab. Bei jedem Atemzug stieß ihr Brustkorb an seinen. Unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles war von ihm eingehüllt.

„Lass uns die Sender losschicken, dann reden wir.“

Es klang mehr nach einer Ansage, als nach einem Vorschlag. Rose nickte mechanisch, sie erkannte sich kaum wieder. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich.

Er holte die Flasche aus dem Transporter und sagte: „Komm.“

Sie kam sich vor, als würde sie einem Hörspiel folgen, in dem sie überhaupt keine Rolle spielte. Er hatte sich aus ihren Gedanken zurückgezogen. Das intime Gefühl war verschwunden. Am meisten verstörte sie, wie es in ihr nachhallte. Als würde ihr Unterbewusstsein seinem Wesen nachtrauern. Es war wie eine unbekümmerte Vertrautheit gewesen, als hätte er in ihre Seele geblickt. Aber sie hatte keinen Zugang zu ihm bekommen. Hatte er das gespürt? Oder war es für ihn nur eine besondere Form der Kommunikation, die er bei seinen Marionetten ebenso führte?

„Was hältst du von Kanada, Westküste, Richtung Alaska?“, fragte er sachlich.

„Was?“

Er war stehengeblieben. Sie hörte das Rattern von Rädern auf Schienen. Das war ein Bahnhof. Jetzt, als hätte sie die ganze Zeit auf dem Schlauch gestanden, verstand sie seine Frage. Er wollte die Thermosflasche mit den Chips in einem Zug mitschicken.

„Warte hier“, flüsterte er, während er ihre Hand zögerlich losließ.

Eine Sekunde spürte sie, dass er vor ihr stehengeblieben war und sie ansah. Als rechnete er damit, dass sie jeden Moment lossprintete. Kurz loderte ein grüner Schein vor ihrem inneren Auge auf. Dort, wo sie seine Augen vermutete. Das war gut. Es bedeutete, dass sie langsam wieder zu sich kam. Wie angewurzelt blieb sie stehen.

Dann ging er weiter. Sie rieb ihre Handflächen an ihren Armen, weil sie seine Hand noch in ihrer fühlte. Was war das hier?

Sie musste dringend versuchen, Emmet zu erreichen. Diesen unbeobachteten Augenblick nutzen und sich in Sicherheit bringen. Aber wovor eigentlich?

„Vancouver“, flüsterte er, während er wie selbstverständlich wieder ihre Hand nahm und mit ihr kehrtmachte.

Fieberhaft versuchte sie sich zu konzentrieren, einen Plan zu schmieden, wie sie es schaffen konnte, Sean davon zu überzeugen, dass sie Emmet anrufen musste. Aber sobald ihre Hand in seiner lag, stob ein reizvolles Flirren in ihrem Bauch auf, das ihren Atem stocken ließ. Ihre Haut prickelte verlockend und seine Körperwärme hüllte sie ein, genau wie sein Geruch. Würzig wie Rosmarin, erdig wie Harz eines Nadelbaumes, grob wie Leder. Herb, leidenschaftlich und sinnlich zugleich. Wie pures Adrenalin.

Um Himmels willen, worüber sinnierte sie hier eigentlich?

Er führte sie nicht zum Auto zurück, sondern ging mit ihr in den Bahnhof. Die Geräuschkulisse nahm zu. Er öffnete eine Tür.

„Hier.“

Er drückte ihr ein Smartphone in die Hand. Sie musste in einer alten Telefonzelle oder einer anderen Kabine stehen. Die Wände waren nah, kurz fühlte es sich zu eng an.

„Es wählt Emmets Nummer. Ich lass dich allein.“

Sie hörte, wie eine Tür schloss. Perplex blieb sie stehen, bis sie Emmets Stimme aus dem Telefon in ihrer Hand hörte.

„Hallo?“, fragte er alarmiert.

Aus den Gedanken gerissen hob sie das Smartphone an ihr Ohr. „Ich bin’s“, antwortete sie. Mit den Fingerkuppen fuhr sie zögerlich über ihre Lippen. Es war erschreckend, dass ihre Stimme so zerbrechlich klang.

„Alles in Ordnung?“

Natürlich spürte er, dass sie durch den Wind war. Rose riss sich zusammen. „Sie sind unterwegs, auf dem Weg nach Kanada.“

Er murmelte ein zustimmendes Geräusch. Eine seltsame Pause entstand. Für ein paar Sekunden spielte sie mit unterschiedlichen Gedanken. Wie konnte sie erklären, was hier passierte? Emmet war ihr Bruder, er würde ihr glauben, da war sie sicher. „Es ist …“

Nervös wartete Sean am Eingang des Bahnhofs. Er starrte die alte Telefonnische an, als erwartete er das Jüngste Gericht. Die Scheiße war, genauso fühlte es sich an.

Was hatte er erwartet? Dass er den Kontakt wieder aufnahm und sie ihn dankend annehmen würde? Er war ein verfluchter Idiot.

Als sie Kinder gewesen waren, war diese innere Brücke einfach plötzlich da gewesen. Wie die Fähigkeit. Zuerst hatte er keinen Einfluss darauf gehabt und es einfach nur genossen, sich mit Rose auszutauschen. Dann hatte er die starke telepathische Verbindung steuern gelernt. Bis er jeden Kontakt abgebrochen hatte.

Gemeinsam mit Sue hatte er versucht, die Wut zu bekämpfen und so gut es ging zu überleben. Bei der Fremdenlegion gelang einem so etwas gut, wenn man bedingungslos in jeden Einsatz ging. Aus dieser Zeit kannte er auch Emmet Carter. Bei einem Anschlag auf ein Rebellencamp in Somalia waren französische und amerikanische Truppen aufeinandergetroffen.

Als er Rose dann Jahre später wirklich begegnet war, hatte er sofort begriffen, wer sie war. Niemals im Leben hatte ihn etwas so sehr getroffen, wie die Erkenntnis, dass er Rose leibhaftig gegenüberstand. Als er in ihre glasklaren, blauen Augen gesehen hatte, schienen Raum und Zeit aus seinem Universum herauskatapultiert worden zu sein. Sie hatte einfach vor ihm gestanden, mit einem leichten Lächeln. Unnahbar und wunderschön. Er hatte es nicht darauf angelegt, ihr zu begegnen, es war einfach passiert. Als hätte es das verdammte Schicksal auf sie beide abgesehen gehabt.

Nach der Nummer gerade war es ihr gutes Recht, ihn an Emmet zu verraten. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte ihr etwas vorenthalten, sie nicht wissen lassen, wer er in Wirklichkeit war. Sie legte das als verräterisches Zeugnis aus und das brachte in der Summe Misstrauen. Schließlich war die Situation für die SGU mit Grey gefährlich genug. Das wusste er besser als jeder andere.

Die SGU hatte keine blasse Chance gegen Grey. Sean wusste, wozu der Wissenschaftler in der Lage war. Aber all das kam ihm momentan unwichtig vor. Gerade erwartete er nur den einen Augenblick. Den, in dem Rose aus dieser Tür kommen würde.

Warum hatte er überhaupt etwas gesagt? Er hätte seinen verfluchten Mund halten sollen. Aber er hatte unterschätzt, wie es sich anfühlen würde, mit ihr allein zu sein. Widerstand war unmöglich gewesen. Rose war nie allein. Und das lag nicht daran, dass die SGU sie schützte. Es lag daran, dass Roses Nähe etwas Besonderes war und die anderen sie suchten. Sie strahlte etwas aus, das einem das Gefühl gab, auf eine intime, stark empathische Weise gesehen zu werden. Manchmal kam sie ihm vor, als wäre sie nicht von dieser Welt. Als wäre sie ein sphärisches märchenhaftes Wesen, viel zu weich für die Realität.

Er hatte sich dabei erwischt, dass er in unbeobachteten und seltenen Augenblicken jede ihrer Bewegungen aufgesogen hatte. Es war unmöglich gewesen, die Chance, eine Zeit mit ihr allein zu sein, nicht zu ergreifen. Auch wenn es verdammt dämlich gewesen war, sich für dieses Ablenkungsmanöver freiwillig zu melden.

Ruckartig nahm er die verschränkten Arme runter, als sich die Tür öffnete und Rose herauskam. Der Atem stockte ihm in der Kehle, als sie ihre blonden Strähnen aus dem Gesicht streifte. Ihre Lippen lagen schmal aufeinander, sie wirkte mitgenommen.

„Und? Was wird die SGU tun?“, fragte er schroff, als sie nähergekommen war.

„Nichts“, antwortete sie verhalten.

Da war eine Bitterkeit in ihrer Stimme, die sein Herz schwermachte. „Ich habe nichts gesagt.“

Sie schüttelte den Kopf, als wäre ihr diese Tatsache ebenso rätselhaft wie ihm. Diesmal schien ihr Blick gedankenverloren hinter ihm in der Ferne zu versinken. Sie ging weiter.

Er folgte ihr, ohne ihre Hand zu nehmen. Er merkte, dass sie ihre Schritte zählte, was seltsam war, denn normalerweise funktionierte ihr inneres Auge einwandfrei. Er hatte sie aus ihrem seelischen Gleichgewicht gebracht. Trotzdem fand sie schnurstracks zum Wagen zurück. Er öffnete die Beifahrertür, was ihm lächerlich vorkam. Scheiße, hier den Gentleman zu geben, brachte gar nichts.

„Warum?“

Er wagte kaum auf eine für ihn positive Antwort zu hoffen. Sie hatte Emmet nichts gesagt, das glaubte er ihr und damit hätte er sich zufriedengeben müssen.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie, während sie ihn ansah.

Ihre glasklaren, blauen Augen sahen ohne Umwege in seine Seele. Er hatte Mist gebaut. Er hätte Rose niemals einweihen dürfen, damit gefährdete er alles. Er spürte förmlich, wie alles in ihm ins Schwanken geriet und er nur noch verblendet und hormongesteuert in ihre Augen sah. Verdammt nochmal, was hatte er sich dabei gedacht? Er war außerstande, den Blickkontakt abzubrechen, dafür war die Verbindung viel zu intensiv.

Rose etwas vorzumachen kam ihm unmöglich vor. Ein Pokerface brachte genauso wenig, wie der Versuch, sie anzulügen. Aber all das kam ihm momentan nicht mal in den Sinn. Vor ihm saß das makelloseste, wunderbarste Mädchen, das ihm je begegnet war. Ihre blonden Haare umrahmten ihr schmales Gesicht. Ihre vollen Lippen glänzten rosarot, etwas dunkler als ihre Wangen, im Kontrast zu ihrer hellen Haut. Und diese blauen Augen zogen ihm den letzten Funken Menschenverstand aus dem Hirn.

Wie in einen Bann gezogen führte er seine Hand an ihre Wange. Die Wunde auf seinem Handrücken wirkte wie eine deplatzierte Requisite auf ihrer weichen Haut. Er kam sich viel zu grobschlächtig in ihrer Nähe vor. Vorsichtig ließ er seine Daumenkuppe über ihre Wange gleiten.

Eine unschuldige Geste, mehr nicht. Aber in ihm tobte ein Tornado aus Empfindungen. Lust flammte auf. Der Gedanke, seine Lippen auf ihre zu pressen, kam in seine Sinne geschossen, wie ein brandgefährlicher Pfeil. Er spürte, wie unbändige Hitze in seine Lenden stieg. Als er feine, blaugrüne Lichtfragmente über seine rechte Hand huschen sah, fuhr er mit der linken Hand über sein Gesicht. Aber er konnte diesen Eindruck nicht verjagen. Die Reflexionen blieben auch, wenn er die Augen schloss, bis sie schließlich verblassten.

Als er wieder zu ihr sah, brach sie den Blickkontakt ab. Ihre Wimpern bildeten einen perfekten Halbkreis, wie zwei unergründliche Halbmonde. Sie hatte keine Ahnung, wie sexy sie war.

Ehe er sich versah, hob er ihr Kinn an und küsste sie. In dem Moment geriet die Welt aus den Fugen. Ihre weichen Lippen passten sich perfekt an seine. Sanft und einladend. Sie roch unglaublich gut. Und für eine Sekunde öffneten sich ihre Lippen, sodass er mit seiner Zunge die feuchte Wärme ihres Mundes spürte. Der Teil in ihm, der sie mehr wollte als alles andere, stahl sich mit seiner Zunge einen leidenschaftlichen Atemhauch von ihren Lippen. Die heftige Sehnsucht wurde nicht weniger, sie wurde mehr.

Aber dann spürte er, wie sie ihre Arme verkrampfte. Auf einmal kippte die Situation und er kam sich vor wie ein Dieb, der sich etwas genommen hatte, das ihm nicht zustand. Seine Zähne glitten über ihre sanften Lippen, während er die Augen schloss und sich von ihr entfernte. Den animalischen Trieb zu beherrschen und das Pochen in seinen Lenden zu ignorieren fiel ihm weniger schwer, als das Herzklopfen auszuhalten, das mit jedem Zentimeter Entfernung zu ihrem Körper schneller wurde.

Er entschuldigte sich nicht, dafür war es zu gut gewesen. Aber er suchte Abstand, schloss die Tür und ging zur Fahrerseite.

Fuck.

Er manövrierte sich immer mehr in Schwierigkeiten. Wortlos stieg er ein und fuhr los.

Die nächste Stunde schwiegen sie beide beharrlich. Scheiße, normalerweise fand er Ruhe in stillen Momenten, aber in ihrer Nähe war ihm Schweigen verhasst. Während er fuhr, versuchte er, sich auf das zu konzentrieren, was zählte. Er war kein Mitglied der SGU, er hatte keine höheren Werte, für die er kämpfte. Das Einzige, was wichtig war, war seine Schwester Sue.

„Wir können nicht zurück“, sagte sie zögerlich, ihr Gesicht von ihm abgewandt.

Als hätten ihre weichen Lippen einen unverkennbaren Code auf seinen hinterlassen, stahl sich das Gefühl des Kusses dorthin zurück. Es fiel ihr nicht leicht, diese Tatsache auszusprechen. Warum sie das sagte, war ihm ein Rätsel. Klar, es war von Vornherein so abgemacht gewesen, dass sie in Etappen fahren würden. Aber er hatte gedacht, dass dieser Punkt jetzt hinfällig war, schließlich schien sie jede Sekunde in seiner Nähe zu verachten.

„Emmet sprach von einer Unterkunft in einem Ort namens Olcott“, erwähnte sie leise, als haderte sie mit sich.

Sean gab den Namen in das Navi des Smartphones ein, das Emmet ihm gegeben hatte. Sofort poppte ein rot gekennzeichnetes Ziel auf der Navigationskarte auf. Emmet hatte die Karte also schon programmiert.

Natürlich hätte er sagen können, dass er Emmet anrufen und dann durchfahren würde. Aber das hätte bei der SGU Fragen aufgeworfen. Außerdem bedeutete ein Stopp, dass sie vielleicht noch miteinander sprechen konnten.

Verdammt.

Er wusste, dass jede weitere Sekunde mit ihr allein ein Fehler war, aber er konnte nicht anders. Er kam sich vor wie ein Süchtiger, der auf der Suche nach dem nächsten atemberaubenden Rausch über glühende Kohlen ging.

Schweigend fuhr er die letzten vierzig Kilometer zu einer Bungalowvermietung in Olcott am Lake Ontario. Als sie dort ankamen, übergab ihnen eine Angestellte zwei Schlüssel, für zwei separate Bungalows. Emmet hatte sich darum gekümmert, dass seine Schwester vor ihm geschützt war. Aber dafür hatte er schon selbst gesorgt. Die Mitarbeiterin führte sie zu den Bungalows. Sie lagen am Ufer des Sees vor einem langen Steg zu einem Bootshaus.

„Ich hole unsere Sachen“, sagte er.

Dann ließ er Rose bei ihrer Unterkunft zurück. Es war warm, die Luft feucht, erste Regentropfen und ein starker Wind kündigten ein Gewitter an. Die Schwüle war drückend. Am liebsten hätte er sich mit jemandem geprügelt, einfach, um Dampf abzulassen und den Kopf frei zu bekommen.

Er schnappte sich Roses und seine Tasche aus dem Transporter und lief zum Ufer zurück. Die umliegenden Gebäude verlor er nicht aus den Augen. Es schien kaum etwas los zu sein, keine weiteren Gäste waren zu sehen. Die leichte Anhöhe westlich des Parkplatzes bot kein Potenzial für einen Hinterhalt oder Angriff. Auf dem Parkplatz parkten nur drei Autos. Er hatte gelernt, sich von nichts und niemandem überraschen zu lassen. Der einzige Augenblick, in dem er die Kontrolle aufgeben musste, war, wenn er seine Fähigkeit, andere Körper zu übernehmen, anwandte. Dann war sein eigener Körper angreifbar und sein Geist schutzlos dem ausgeliefert, was dem fremden Menschen geschah.

Kurz blieb er stehen und wandte sein Gesicht zum Himmel. Er schloss die Augen und spürte, wie die immer größer werdenden Tropfen auf seine Haut fielen und zerplatzten. Vielleicht war es richtig, dass Rose schon jetzt anfing, ihn zu verabscheuen. In naher Zukunft würde sie es sowieso tun.

Er packte die beiden Griffe der Taschen fester und ging weiter. Schon von Weitem erkannte er, dass die Schlüssel von Roses Bungalow von außen in der Tür steckten. Er ging dort hin, stellte beide Taschen ab und ging zum Ufer. Der Regen malte Kreise in die Wasseroberfläche des Sees. Der Wind wurde stärker. Das Licht war seltsam warm. Am Ende des Stegs, hinter dem Bootshaus, konnte er eine kleine Silhouette ausmachen.

Rose.

Er ging los, ohne überhaupt den Ansatz einer Ahnung zu haben, was er ihr sagen sollte. Er hatte nur den Impuls, sie aus dem Regen zu holen. Sie saß am Ende des Stegs. Durchnässt, die Knie an den Körper gezogen, ihr Kinn darauf abgelegt.

„Hast du von Anfang an gewusst, dass ich das Mädchen gewesen bin, mit dem du damals gesprochen hast?“, fragte sie, ohne sich ihm zuzuwenden.

Er war wie gefesselt von diesem Tropfen, der auf der kleinen Kerbe ihrer Oberlippe glänzte.

Ja.

Seit Emmet ihm seine Schwester vorgestellt hatte, war ihm klar gewesen, wer sie war. Weil ihre Begegnung ihn in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Die mentale Anziehungskraft war sofort wieder da gewesen, wie damals, als er ein kleiner Junge war. Mit jedem einzelnen verdammten Sinn hatte er gespürt, dass sie das Mädchen war, wegen dem er die schlimmsten Stunden seiner Kindheit überlebt hatte. Weil ein Gedanke an sie ausgereicht hatte, um seinen Überlebenswillen zu stärken.

Ja, er hatte sofort gewusst, wer sie war. Aber er hatte seine Barrieren über Jahre trainiert und den telepathischen Kontakt unterbunden, bevor er sich wieder entwickeln konnte.

Er blieb ihr die Antwort schuldig, tief in seinem Hirn wusste er auch, dass jedes weitere Wort ein Fehler war.

„Wir waren Kinder“, polterte aus seinem Mund.

„Glaubst du, das weiß ich nicht?“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Glaubst du nicht, dass ich mich für verrückt erklärt habe, jeden Tag an dich gedacht zu haben? Ich weiß nicht, was damals mit dir geschehen ist, aber ich habe dich nie vergessen.“

„Das habe ich auch nicht, nicht ein einziges Wort“, entgegnete er schroff.

Für einen Moment hörte man nur die Regentropfen auf dem Steg.

„Erst habe ich an meinem Verstand gezweifelt. Gedacht, dass alle recht hatten und es dich nie gegeben hat. Dann dachte ich, dass du vielleicht gestorben bist. Aber am wenigsten hätte ich damit gerechnet, dass du dich meinem Bruder anschließt und mir vorenthältst, wer du bist.“

Sie stieß Luft durch die Lippen, als wäre vollkommen egal, was er sagen würde, weil sowieso alles Lüge war. Er beobachtete, wie sie sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht wischte, als könnte sie dadurch die Enttäuschung abstreifen.

Seltsamerweise erschütterte es ihn, dass sie ihn für eine Art Verräter hielt. Schließlich hatte sie recht und er hatte die ganze Zeit über gewusst, was er tat. Vielleicht hatte er nur nicht damit gerechnet, dass er so unfassbar bescheuert war, ihr die Wahrheit zu sagen. Trotzdem stand er jetzt hier vor ihr und bereute keine Sekunde, die er in ihrer Nähe war.

„Ich verstehe das alles nicht. Vor allem verstehe ich dich nicht. Erst warst du ein Freund, jemand, dem ich mich anvertraut habe. Dann bist du ein Fremder, der mich wie Luft behandelt.“

Sie brach ab und biss auf ihre Unterlippe, als würde sie sich jede weitere Ausführung lieber schenken wollen. Er konnte verstehen, dass sie enttäuscht und wütend war, aber er war nicht bereit, jetzt Erklärungen zu liefern. Weder für die Vergangenheit, noch für die Gegenwart. Genauso wenig konnte er ihr einen Ausblick auf die Zukunft geben, von der er weit mehr wusste, als die SGU.

Abrupt drehte sie sich zu ihm um, stand auf und blieb direkt vor ihm stehen. „Du hast recht, wir werden keine Freunde mehr“, flüsterte sie hastig.

Kleine Tropfen spritzten von ihren nassen Lippen auf sein Gesicht. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen voller Kampfgeist.

„Nein“, flüsterte er.

Für eine Sekunde wog er ab. Zorn, Enttäuschung, aber auch unglaublich viel Stärke war in ihrer sinnlichen Miene abzulesen. Ihr Brustkorb pumpte unter tiefen Atemzügen. Sie zitterte. Mit heißem Atem legte er seine Lippen auf ihre. Kurz huschte ein Beben über ihren Mund. Ein leises Aufblitzen von Protest. Er presste ihren Körper an sich und nahm ihren Mund in Besitz, bis er spürte, dass der Widerstand in ihrem Körper schmolz und sie weich in seinen Armen lag.

In diesem Augenblick war er der Verräter, der Lügner, alles, was sie wollte. Er war der Egoist, der sich nahm, was ihm nicht zustand, weil er den Funken suchte, der ihn überleben ließ. Sie kam ihm vor wie ein rettender Lichtstrahl in einer Welt aus Schatten, in der er niemandem traute, am wenigsten sich selbst. Ein Mal wollte er, und wenn es nur für Sekunden war, einen Hauch Perfektion spüren. Überwältigt von den Eindrücken ihres Körpers an seinem und ihrer Nähe, küsste er sie ausgiebig. Er erkundete ihren Mund, spielte mit ihrer Zunge und ließ sie atemlos zurück, bevor er sie auf die Arme hob und unter das Dach des Bootshauses trug.

Er hätte sagen müssen, dass er sie unglücklich machen würde. Dass er es nicht wert war. Aber er konnte nicht aufhören sie zu küssen. In seinem Leben hatte er viele Frauen geküsst, mit ihnen Sex gehabt, doch keine hatte er wirklich begehrt. Was hier und jetzt mit ihm passierte, ging weit über Begehren oder Leidenschaft hinaus. Es kam ihm richtig vor. Als gehörten sie zueinander.

Er spürte, wie seine Lenden spannten und seine Erektion an seiner Hose rieb. Als ihre Finger an seiner Hose nestelten, nahm er Abstand, um in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie das wirklich wollte. Ein schwerer Fehler, denn ihr Anblick jagte blindes Verlangen durch seinen Körper. Ihre Augen waren schwer und gläsern, von Lust gezeichnet. Ihre Lippen rot und angeschwollen von seinen Küssen. Und die kleine Kuhle auf ihrem Brustbein bebte unter dem Kragen ihrer Jacke. Feucht vom Regen und von der Hitze, die ihr Körper abstrahlte. Wie ein Ertrinkender rettete er sich in den nächsten atemlosen, jeden Sinn verschärfenden Kuss. Er hatte noch niemals etwas so sehr gewollt, dass es beinahe schmerzte. Seine Finger brannten, als er versuchte die Hände zu Fäusten zu ballen, um nicht an dem Reißverschluss ihrer Jacke zu reißen und sich alles von ihr sofort zu nehmen.