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Ein Dorf in idyllischer Umgebung, ein frisch renoviertes Häuschen, für die Schneiderin Tanja und ihren Mann Robert hat sich ein Traum erfüllt. Und doch stimmt hier etwas nicht.Was hat es mit dem Kalkofen tief im Wald auf sich, zu der eine Gruppe von Frauen viermal im Jahr pilgert? Als Robert unter einem düsteren Alptraum zu leiden beginnt und sich unerklärliche Krankheitssymptome einstellen, tut sich ein Abgrund nicht nur in der Beziehung auf. Er führt in die Vergangenheit, in eine Zeit, als in diesem Dorf elf Frauen verschwanden. In einem Tagebuch, das niemand lesen darf, steht es geschrieben . . .
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Daniela Gerlach
Im Dorf der Witwen
Ruhrkrimi-Verlag
Daniela Gerlach
Geboren 1962 in Dortmund. Nach ihrem Studium der deutschen Philologie arbeitete sie als Werbetexterin, freie Jour-nalistin und Ghostwriter. Nun pendelt sie zwischen dem Ruhrgebiet und ihrer spanischen Wahlheimat, wo sie einen kulturellen Salon betreibt.
Veröffentlichungen:
2013: Revierkönige (Roman) 2015: Was das Meer nicht will (Roman, Stories&Friends Verlag)
Die Rosa und Austernpilze in der Sammlung »Best of Wort-Café 2013-14«
Gemeinsame Projekte mit dem LiteraturRaumDortmundRuhr, u.a. Kettenroman „Die lynchen uns“, Glücksorte Dortmund (Droste Verlag), Die Zeche zahlen, All over Heimat (Stories&Friends), #DADADO
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr
Druck: BoD, Norderstedt
ISBN 978-3-947848-28-7
1. Auflage 2021
Lektorat: Dr. Daniela Richter-Wittenfeld
Coverbild: psfotodesign Petra Schramböhmer, München
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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https://www.ruhrkrimi.de
Inhaltsverzeichnis
Ein Brief (der nicht abgeschickt wurde)
Roberts Haus
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Der Bäcker
Türen
Die Frau gegenüber
Der Schrei
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Einweihung
Ein Zeitungsbericht
Tage vergehen
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Fgk
Ein Zeitungsbericht
Das Gewerbegebiet
Ein loses Blatt
Ein Brief
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Robert und Tanja im Wald
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Dr. Budin und die Frauen
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Dr. Budin und die Frauen
Ein Zeitungsbericht
Ein Zeitungsbericht
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Wanderung
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Robert sieht Tanja
Der letzte Februar
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Ratten
Das Verlassen eines Ortes
Die Elfte
Ein Brief (der nicht abgeschickt wurde)
Liebste Hanni!
Heute geht es mir etwas besser, ich bin sogar einmal aufgestanden und habe der Mutter beim Strümpfestopfen geholfen. Aber die Freude darüber ist getrübt. Alle reden nur noch über die »Bestie«. Die Bestie sei tot, stand in der Zeitung. Sie freuen sich, sagen, daß ein so abscheuliches Subjekt endlich seine gerechte Strafe erhalten habe. Aber ich kann mich nicht freuen. Ich habe kein gutes Gefühl. Etwas ist nicht richtig. Immerzu träume ich vom Kalkofen. Du weißt ja, was meine Träume bedeuten, Hanni, Du hast nie über meine Vorahnungen gelacht. Ich war schon lange nicht mehr dort, bestimmt über zwei Jahre ist es her, als ich mit den anderen beim Anbrennen dabei war. Wenn ich morgens aufwache, dann ist es, als könnte ich das Knistern des Brennholzes hören, als könnte ich den Rauch riechen und die Hitze spüren.
Die Stunden im Sitzen haben mich angestrengt, heute wird der Brief nicht länger.
Bis bald, so Gott will
Deine Margarete
Roberts Haus
Das Dorf B. liegt 130 Meter über dem Meeresspiegel und ist im Gegensatz zum nächsten größeren Ort Frohberg wenig bekannt. Seine Häuser schmiegen sich an einen Wald, der in nord-östlicher Richtung, hinter dem Fluss, in den Höhenhorster Forst übergeht, ein Naturschutzgebiet von 9.500 ha. Nachdem 1962 der Steinbruch bei B. stillgelegt wurde, konnten sich Flora und Fauna erholen. Die Kiefern und Eichen gesundeten, der Ahorn vermehrte sich, Ulmen und Buchen streckten sich in die Höhe, während sich zu ihren Füßen das Grün verdichtete, unter den Jungbäumen und Sträuchern zum Fluss hin wucherte der Bärlauch. Im Spätherbst begann der Schwarzspecht sein territoriales Trommeln, der Rotmilan zog seine Kreise über den Baumwipfeln, der Fuchs kam zurück, und in der Nacht riefen Käuze aus unsichtbaren Baumhöhlen. Nur der Rotwild- und Wildschwein-Bestand ging durch unkontrollierte Jagdtätigkeit und Wilderei weiter zurück.
In Richtung Höhenhorst liegt ein See, weniger das Ziel von Wochenendausflüglern, fehlen doch die typischen Ausflugslokale mit Biergärten und Caféterrassen. Nur wenige passionierte Wanderer oder Angler finden in diese einsame Gegend. Auf der anderen Seite des Dorfes liegen Äcker und Wiesen, durch die sich schmale, sich in der Weite verlierende Landwege schlängeln. Einige von ihnen wurden als Bauland ausgegeben, doch keine Kräne oder anderes Gerät zeugen von aktiver Bautätigkeit. In einer ausgeschachteten Grube hat sich Wasser gesammelt, wilde Vergissmeinnicht, Löwenzahn, Augentrost und Gräser überziehen die rot-braune Erde, eine neue Reihenhaussiedlung am Dorfrand steht leer. Kurz vor B., wo ein blasses Schild auf einen Supermarkt hinweist, geht es in westlicher Richtung nach Frohberg, nach rechts führt eine breitere Straße gerade durch den Ort und wieder aus ihm hinaus in das fünf Kilometer entfernte Lohe.
Bei Robert Brückners erstem Besuch zählt das Dorf weniger als 600 Einwohner, die in Einfamilienhäusern oder Mietshäusern mit vier, maximal sechs Parteien wohnen. Die Kirche des Hl. Moritz wurde acht Jahre zuvor endgültig geschlossen, als ein Teil des Dachgestühls einstürzte und den damaligen Pfarrer unter sich begrub. Der Glockenturm blieb intakt. Wenn jemand aus dem Dorf stirbt, läutet er, obwohl die Trauerfeiern in Lohe abgehalten und die Toten auf dem dortigen Friedhof begraben werden. Das Glockenläuten gehört zu den wenigen Geräuschen in diesem stillen Ort. Am Waldrand steht das alte Pfarrhaus.
»Aufs Land«, zwei Wörter, die Tanja und Robert Brückner über viele Ehejahre begleitet hatten, wie ein waberndes Gebilde, das zunehmend an Kraft gewann. Der darin lebende Wunsch hatte es zusehends eilig, Realität zu werden. Nicht ganz Land sollte es sein, also nicht mit schmutzigen Bauernhöfen und dem Geruch nach Mist in der Luft, eher eine unscheinbare Ortschaft mit gediegenen Häusern; eine Ruhe, die entspannte, aber nicht die Stille, die einem in gewissen Momenten zu viel werden konnte. Natürlich sollten die wichtigsten Versorgungsmöglichkeiten vorhanden sein, schließlich wurde man nicht jünger. Nachbarn, die freundlich grüßten, aber sonst ihrer Wege gingen, bloß keine Kirchgänger, die an die Tür kamen und um Spenden baten und einen schief ansahen, wenn man nicht spenden wollte. Ein Häuschen mit Charme sollte es sein, mit starken Grundmauern, das sie ganz nach ihrem Geschmack herrichten konnten, ein Nest für Tanja und Robert.
Aber so etwas war in keiner Immobilienanzeige, weder in den Zeitungen noch in den speziellen Internet-Portalen zu finden. Tanja versuchte sogar, dieses Projekt »Aufs Land« zu vergessen. Sie war es müde, sich auf etwas zu freuen, das es womöglich nicht gab. Und doch träumte sie, die an zwei Tagen in der Stoffabteilung eines Kaufhauses und an drei Tagen von zehn bis sechzehn Uhr neben der übergewichtigen Waltraut Mehse in der Änderungsschneiderei arbeitete, von ihrem eigenen Atelier. Während sie Säume umschlug, Bündchen einnähte, mit dem Dampfbügeleisen Stoffe glättete, malte sie es sich aus, dieses Zimmer, ein Zimmer für sich und ihre Ideen. Ein gemütlicher heller Ort, an dem sich alles geschmackvoll zusammenfügte, mit einer Umkleidekabine, die Platz für einen Spiegel und einen mit rotem Samt bezogenen Hocker bot, mit einer bequemen Sitzgruppe mitten im Raum für die Frauen, die plauschend und Kaffee trinkend auf ihre Kleider warteten. In diesem Schneideratelier, an ihrer Nähmaschine, die vor einem Fenster mit Aussicht aufs Grüne stand, nahm sie nicht nur Änderungen an der geschmacklosen Garderobe durchschnittlicher Menschen vor, sie entwarf auch neue Modelle für Frauen und Männer, ja, vielleicht ihre erste Kollektion. Das Neonlicht leuchtete hart und kalt auf ihre Wünsche, gelangte auch in die Winkel, die Hoffnung und Zuversicht wie etwas Kostbares bargen, und holte sie in das Hier und Jetzt ihres Angestelltendaseins zurück. Das Schnurren zweier Nähmaschinen wurde alle zehn Minuten von Lautsprecherdurchsagen unterbrochen, der Schweißgeruch von Waltraut vermischte sich mit dem Kaufhausgeruch, ein Geruch, der wie die Luft war, die man zu atmen gezwungen war und die Leben abtöten konnte.
Es durfte nicht sein, dass man wie in zwei Leben lebte, dachte sie und steckte Nadeln in einen gedeckten Wollstoff. Ein gefühltes und ein vorgestelltes, ein gelebtes und ein gewolltes. Sie lagen so im Widerspruch zueinander, waren gemeinsam so schwer zu tragen, das merkte sie nun mehr als früher. Das Alter, sagte sie nun öfter. Auf einmal war das gekommen, dass sie nicht mehr jung war. Tanja richtete sich auf und ließ ihre verspannten Schultern kreisen; sie trugen die Last dessen, was stets ein wenig zu viel, ein wenig zu schwer war. Ihr Körper setzte Signale, die kamen nun in immer kürzeren Intervallen, um sie daran zu erinnern, dass dies nicht der Platz war, an dem sie sein sollte. Und ihre Seele. Ihre Seele wollte hier raus, hinein in jenes helle Zimmer in ihrer Vorstellung, um sich auszudehnen, zu fliegen und zu singen. Irgendwann. Wann würde das sein? Das Leben war doch dazu da, um es sich schön zu machen. Es musste doch einmal kommen, dieses Schöne. Irgendwann. Immer wieder rückte es in die Ferne. Man musste sich beeilen.
Robert aber blieb zuversichtlich, auf eine ihr unbekannte Art vom Positiven überzeugt, wo er sonst der zurückhaltendere Teil ihrer Ehe war, wie sie fand. Er nannte das gerne Vernunft. Tanja wusste aber, dass hinter der Vernunft auch eine gewisse Entscheidungsträgheit stecken konnte. Und nun wiederholte er tagein tagaus, dass sie bald aufs Land zögen, seine Augen bekamen einen neuen Glanz, seine Bewegungen schienen schwungvoller, er wirkte verjüngt. Wieder und wieder studierte er die Immobilienanzeigen, ging die Spalten so oft durch, als wollte er sie auswendig lernen. »Manchmal übersieht man etwas«, sagte er. Sogar während der Arbeitszeit, wenn keiner der Vorgesetzten in der Nähe war, nutzte Robert jede Gelegenheit. Nur sein Kollege Henning war eingeweiht.
»Du bist ja richtig besessen«, sagte Henning eines Nachmittags, als auf Roberts Bildschirm wieder mal Fotos von Immobilien anstatt statischer Berechnungen zu sehen waren.
»Man muss dranbleiben«, murmelte Robert ohne seine Augen von den Fotos zu lösen.
»Auf dem Immobilienmarkt sieht es momentan nicht so gut aus, es gibt wenig Angebot, und die Banken sind nicht gerade großzügig mit den Krediten. Ich würde es mir an deiner Stelle überlegen, ob ich nicht lieber eine hübsche Mietwohnung am Stadtrand suche. Ist doch viel zu öde in so einem Dorf.«
»Bessere Luft, Wander- und Radwege, mehr Zusammenhalt in der Nachbarschaft, da nehme ich gerne ein bisschen Ödnis in Kauf. Heile Welt, Henning. Warum nicht?«
»Die schlechte Welt gibt es trotzdem, sie löst sich nicht auf, nur weil du aufs Land ziehst.«
»Nein, aber dort kann ich sie bestimmt besser ertragen.« Robert strahlte ihn an. Er sah aus, als hätte er gefunden, wonach er suchte. Auch wenn dieser Moment in der Zukunft lag.
Irgendwo existierte Roberts Haus.
Es war an einem Mittwoch im November. Hinter den Fenstern, an denen der Regen herunterlief, saß Robert seit acht Uhr in der Früh vor zwei Bildschirmen. Die Berechnungen waren kompliziert, es ging nur langsam voran, und mittlerweile war später Vormittag. Er spürte schon längst eine Leere im Kopf, ein flaues Gefühl im Magen, aber er musste fertig werden, die Pläne sollten heute noch raus. Früher hätte er es als sportliche Herausforderung genommen, heute begleitete ihn ein leiser Groll. Die Architekten mit ihren Ideen, die Statiker durften es ausbaden, öffentliche Gelder für unsinnige Projekte, gefälschte Gutachten. Was tat er hier, wo ethische Prinzipien einbetoniert wurden? Das Absurde besetzte die Logik wie die Hässlichkeit die Funktion.
Er sah die Annonce, als er sich um 11.30 Uhr in der Büroküche einen Kaffee holte. Die Zeitung, vielmehr ein Teil von ihr, lag auf dem Tisch, Kaffeeflecke und Krümel deuteten darauf hin, dass sie jemand als Unterlage für sein Frühstück benutzt hatte. Sein Blick fiel direkt auf die eine Anzeige.
Nettes Einfamilienhaus in ländl. Umgebung zu verk., 4 Zi, 160 qm Wfl., renovierungsbedürftig, Tel. …
Die Bundesstraße glänzte im herbstkalten Regen, führte Robert aus der Stadt hinaus in südliche Richtung, so weit, dass nur noch die Dunstglocke im Rückspiegel zu sehen war. Nach einer der letzten Abfahrten kam er auf eine Alleenstraße, die nach knapp drei Kilometern in einem Kreisverkehr endete. Von hier aus ging es weitere sechs Kilometer über eine kurvenreiche Landstraße bis auf die Höhe eines Gewerbegebiets. Das existierte wohl nur auf dem Hinweisschild, denn bis auf zwei grau gestrichene, fensterlose Hallen, die anonym in der Landschaft standen, war von Gewerbe nichts zu sehen. Robert bog rechts ab. Er war nur noch vier Kilometer von seinem Ziel entfernt.
Am Ortseingang stand ein aus groben Brettern gezimmertes Schild, auf dem in unbeholfen gemalten Lettern »Tannenbäume - Verkauf« zu lesen war. Darunter ein grüner Klecks, der wahrscheinlich einen Tannenbaum darstellen sollte. Robert schmunzelte, ließ das Fenster herunter und atmete tief die frische Luft ein. Nur eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, und man befand sich in einer völlig anderen Welt, idyllisch und grün. Auf einem von Platanen umgebenen Platz spielten ein paar Kinder in Gummistiefeln und dicken Anoraks, zwei Frauen standen unter ihren Regenschirmen und schwatzten. Er fand das Haus sofort, erkannte es, ohne den Straßennamen lesen zu müssen. Roberts Haus.
Bei ihrer ersten Besichtigung mochte Tanja es nicht. Als Robert in die schmale Straße einbog und gleich parkte, hoffte sie, dass es nicht dieses Haus wäre, wusste aber, es war dies und kein anderes. Sie war enttäuscht, obwohl sie nicht mal Zeit gehabt hatte, sich irgendetwas, vielleicht etwas Schöneres oder einfach etwas anderes, vorzustellen, als Robert sie mit dem Vorschlag überraschte, aufs Land zu fahren, sie gleichzeitig schon mit sich fortzog. »Komm, lass alles liegen, ich muss dir etwas zeigen«.
Sie stieg aus dem Auto und blickte wie gebannt auf eine hässliche Tür mit gelblichem Glaseinsatz. Links von ihr gab es nur ein kleines Fenster, der Münchner Rauputz in schmutzigem Weiß bröckelte an einigen Stellen, das schwarze Spitzdach wirkte überproportional und saß wie eine starre alte Perücke auf einer niedrigen Stirn. Ein verlassenes Gebäude, das sich mit seiner Einsamkeit abgefunden hatte und nichts mehr erwartete. Tanja sagte sich, dass sie ja nur zur Besichtigung hergekommen waren, es musste keine Entscheidung getroffen werden. Und doch schien bereits alles entschieden, ihr Einzug sicher zu sein, das Haus gehörte ihnen. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Warte erst mal ab«, sagte Robert mit einem hintergründigen Lächeln im Gesicht und holte einen Schlüssel aus der Jackentasche.
»Du hast einen Schlüssel?«
»Ja, der Makler sagte mir am Telefon, Familie Bauer hat einen, das sind die Nachbarn links neben uns. Und da ich heute wiederkommen wollte, meinten sie, ich könne ihn gleich behalten.«
Es roch nach ungelüfteten Räumen, nach Alt, nach fremden Sachen, die hier einmal ihren Platz gefunden hatten, benutzt und bewohnt worden waren, Ausdünstungen von Unbekannten, die das Haus in seine Mauern aufgenommen hatte, die für immer zu ihm gehörten. Sie standen in einem breiten Flur, der durch einen missglückten Bogen unterbrochen wurde, dahinter ging es weiter. Robert schob sie durch diese Öffnung in den Raum gegenüber.
»Fangen wir mal hier an. Voilà, die Küche!«
Als Tanja in den Schlauch blickte, der in einem blinden Fenster mündete, fragte sie sich, woher Roberts Begeisterung rührte. Es konnte nicht sein.
»Zu klein«, murmelte sie.
»Dafür ist das Wohnzimmer groß.«
»Wir wollten doch immer eine Wohnküche. Hast du das vergessen? Wie die alten Bauernküchen, mit einem großen Holztisch und einer Eckbank.«
»Dann wird es eben ein kleinerer Holztisch mit zwei Stühlen. Da unter dem Fenster ist doch der ideale Platz dafür. Frühstück mit Blick aufs Grüne.«
Er zog sie weiter, sie spürte die Kraft, die von seinem Arm ausging, den festen Griff seiner Hand, die die ihre nicht losließ.
Das neben der Küche liegende Wohnzimmer war wirklich geräumig und hell. Ein großes Fenster ging nach Westen, ein kleineres nach Süden. Es wirkte fast freundlich, allerdings versperrte auf der Westseite eine Hauswand die Sicht. Robert machte eine weit ausholende Geste.
»Schön, was? Und guck mal, auch hier Bäume. Bäume, Tanny, wolltest du doch immer. Man könnte hier …« Er beklopfte die Wand neben dem größeren Fenster, sah zur Decke, »hm, doch, da könnte man eine Tür einbauen, die nach draußen geht. Und wir machen uns eine kleine Terrasse.«
»Toll, mit Blick direkt auf die Hauswand der Nachbarn. Die Hecke von denen ist auch nicht gerade hoch, da sitzt du dann auf deiner Miniterrasse wie auf dem Präsentierteller.«
Sie wehrte sich gegen Roberts Begeisterung. Eine Beklommenheit drückte auf ihre Brust, die sie eigentlich spürte, seit sie das Haus betreten hatte. Als wäre sie mit ihnen eingetreten, um an der Führung teilzunehmen, und um zu bleiben. Tanja öffnete das Fenster und sah hinaus. Das Nachbarhaus stand viel zu nah. Ein Stück weiter links endete der Gang zwischen den beiden Häusern in einer Mauer, in deren unterer Hälfte einige Löcher klafften.
»Was ist denn da? Warum ist da zu?«
»Ich glaube, da sind die Mülltonnen«, sagte Robert, während er schrittweise den Raum ausmaß. Tanja schloss das Fenster.
»Es wäre viel schöner, wenn die Terrasse auf die andere Seite ginge, da wo die Bäume stehen, aber das sind ja nur ein paar Meter bis zum Zaun. Dahinter fängt schon dieser Dorfplatz an. Schade.«
»Das werden wir ja noch sehen.«
Robert verließ den Raum, verschwand.
»Komm!«, hörte sie ihn von irgendwoher rufen.
Zögernd trat Tanja in den Flur. Auf einmal war es so dunkel, dass sie kaum etwas sah. Sie tastete sich an den Wänden entlang und versuchte, der bekannten Stimme zu folgen.
»Komm!«
Ihre Augen nahmen die Umrisse eines Türrahmens wahr, ein diffuses Licht kam irgendwoher, dann sah sie seinen Kopf aus einem der Zimmer lugen. Das Heitere, immerzu Lachende wollte nicht aus seinem Gesicht weichen. Als wollte sie sich gegen Roberts Frohmut wappnen, trat sie ein.
»Bad und Schlafzimmer, nicht riesig, aber gemütlich. Nun zieh doch nicht so ein Gesicht, Tanja! Aus diesem Loch machen wir uns einen richtigen Badetempel. Okay, Duschtempel, für eine Badewanne reicht´s natürlich nicht. Du hast doch Phantasie, du musst das doch auch sehen.«
»Das Schlafzimmer geht zur Straße. Wollten wir auch nicht.«
»Erstens ist es nur die Seitenstraße, nicht die Hauptstraße. Zweitens: hörst du etwas? Hast du noch nicht gemerkt, wie ruhig es hier ist?«
Tanja sah sich um.
»Es hat ja gar keine Tür.«
»Doch, die hier, zum Bad.«
»Ach so, um ins Schlafzimmer zu kommen, muss man dann immer durchs Bad marschieren. Ach Robert! Das ist doch …«
»Ich finde das jetzt nicht so schlimm. Anstatt durch eine Tür, gehst du eben durch zwei, na und? Dafür hast du den Luxus, das Schlafzimmer gleich mit dem Bad verbunden zu haben. Eine andere Möglichkeit wäre, hier noch eine zweite Tür einzusetzen, vom Eingangsbereich aus.«
»Das ist die einzige Wand, wo unser Kleiderschrank hinpasst.«
»Wir werden uns schon dran gewöhnen.«
»Mir geht das alles zu schnell, Robert!«, sagte sie ärgerlich.
Er machte einen Schritt auf sie zu, berührte zärtlich ihr Haar, ihre Schultern, lächelte, als er sie an sich zog.
»Die Besichtigung ist noch nicht zu Ende.«
Im Versuch, etwas zu erwidern, gelangen ihr nur hilflose Gesten. Unter Roberts befremdlichem Verhalten duckten sich ihre gewohnte Zuversicht und ihre Bestimmtheit. Da war etwas, gegen das sie nicht ankam. Warum sah Robert nicht das, was sie auch sah? Wenn sie ganz ehrlich war, wenn auch nur still für sich, dann musste sie zugeben, dass das Haus sonst durchaus eine gute Aufteilung hatte. Es war geräumig, bei Weitem nicht so schlimm wie das Äußere vermuten ließ. Doch das reichte nicht, um einen so gewichtigen Schritt zu tun. Langsam ging sie durch das zukünftige Badezimmer in den Flur zurück, als ihr Blick auf eine in dunkelroter Farbe gestrichene Tür fiel, die sie vorher nicht bemerkt hatte.
»Ist da noch ein Zimmer?«
Ohne Roberts Antwort abzuwarten, öffnete sie. Ein durch zwei große Fenster erhellter, rechteckig geschnittener Raum. Auf der rechten Seite gab es eine Wandnische. Ein Fenster ging auf die Straße, durch das andere sah man, selbst durch die dicke Staubschicht hindurch, das Grün großer Bäume schimmern. Tanja wusste: Hier würde sie ihr Schneideratelier einrichten.
»Ich weiß nicht«, sagte sie dennoch zu Robert, der ihr jetzt das Zimmer daneben zeigte und ihr beschrieb, wo sein Computer und sein Bücherregal hinkämen. Sogar der schwarze Cuber-Designsessel, der immer sperrig hin und her geschoben worden war, würde hier endlich einen Platz finden. »Ich weiß nicht.«
Zwei Tage später, am Ende ihrer Mittagspause, ertappte Tanja sich, wie sie anstatt zu essen mit einem Buntstift einen Vorhang ausmalte. Auf einem Plan hatte sie beim Fenster, wo die Bäume standen, eine Nähmaschine und den großen Zuschneidetisch eingezeichnet.
Aufzeichnungen eines Unbekannten
Ihre Fingerchen tasteten über die Erde. Bucheckern knabbern. Wer lange im Wald bleibt, bekommt Hunger. Und bei Elisabeth zu Hause gibt es nicht viel zu essen. Lisa, kein braves Mädchen, macht ihren Eltern wenig Freude, ist nie da, wenn man sie ruft. Auch an diesem Tag nicht, lieber hier, ganz allein, ihre dünne Gestalt am Fuße der grauen Buche. Aber als sie aufstand, da sah man vorne zwei wohlgeformte Hügelchen, die sich deutlich unter der braunen Jacke abzeichneten. Sie war gewachsen, die Elisabeth, fast über Nacht zu einer jungen Frau geworden.
Aufgelöste, dunkelblonde Haarsträhnen flatterten im Wind oder verdeckten das Gesicht der Kindfrau, des Fraukindes, immer ein wenig schmutzig. Oft läßt sie alles stehen und liegen, rennt einfach davon, und niemand weiß, wo sie ist, keiner hat Zeit, sie zu suchen. Das Schimpfen abends hat noch nie etwas genützt, geschlagen wird sie nicht, die Lisa. Hannes, der Bäckerssohn, der sieht ihr verstohlen nach, er traut sich nicht, sie anzusprechen, hat wohl Angst vor dem frechen Lachen, den Spott in ihren Augen, der ihn zur Hoffnungslosigkeit verdammen könnte. An einem seiner freien Tage, da war er ihr einmal nachgegangen, hatte sie beobachtet, diskret, immer den Abstand wahrend. Da war´s dann ganz um ihn geschehen, fast jede freie Stunde verbrachte er in der Nähe ihres Hauses, schlich da herum mit schmachtendem Blick, seine kostbare Zeit verging im Warten, die Stunden, von der Hoffnung feingemahlen, zerstoben wie Mehl im Wind. Wenn Elisabeth sich aufmachte, um die Wälder zu durchstreifen, dann folgte er ihr ein Stück. Hinter ihr sein, ihren Bewegungen nachgehen und später in der Nacht davon träumen, das war schon eine Erfüllung. Ach, Unschuld, du kennst deine Wege nicht! Bestimmt hatte sie ihn schon bemerkt, die Listige, oder war sie doch so in Gedanken, daß sie die Blicke vom Hannes nicht auf ihrer zarten Oberfläche gespürt hätte? Das trockene Laub raschelte unter ihren leichten Schritten. Sie bog sich wie die Zweige, die ihr im Weg waren, pickte die Eckern auf wie ein Vögelchen, und da, ein Sonnenstreifen bei der Holzbank, da setzte sie sich hin und träumte mit geschlossenen Augen von einem besseren Leben. Es war ihr sechzehnter Geburtstag, niemand schien daran gedacht zu haben. Doch. Einen gab es.
Ein Geschenk, sieh mal, das wird Dir bestimmt gefallen. Gefällt es Dir? Dann komm, hol es Dir, es ist fast Dein, gleich Dein. Erst rannte sie hinter ihm her, lachend, es fangen wollend. Tiefer, tiefer, komm, Kind, noch eine Überraschung. Dann ging es nicht mehr weiter. Du lachtest noch, als in Deine grauen frechen Augen bereits der Schreck gefahren war, Du liefst und sprangst, als seist Du noch frei. Aber hier geht es nicht mehr weiter, hier endet alles. Du bist nun alt genug, um das zu wissen. Deinen vollen Mund küssen, Lisa, Rot wie Blut, dein Blut, Kind, Süßes in den Mund gestopft. Nun setz Dich hin und zapple nicht! Wie stark Du schon bist mit Deinen gerade mal sechzehn Lenzen. Ein solches Geschöpf, es machte keine Freude, es war kratzbürstig, ungezogen. Die schlanken weißen Beine unter dem Rock, wie sie traten, wie sie sich stemmten. Erst wird der Rock ins Feuer geworfen. Siehst Du, wie er brennt? Dann die Jacke, die Bluse, das Hemdchen. Siehst Du, wie es brennt? Und wie sie schrie und schrie und schrie aus ihren jungen starken Lungen. Erst, als er ihr mit dem schweren Stein den Schädel zertrümmerte, kam die Stille dahin zurück, wo sie hingehörte. Hier, an diesen Ort.
Der Bäcker
»Ja selbstverständlich haben wir einen Bäcker! Nur diese Straße runter, die erste rechts, dann sehen Sie schon die Bäckerei Herberger auf der linken Seite.«
Tanja fielen zuerst die runden, etwas abstehenden Ohren auf, die nicht recht zum Gesicht der Frau passen wollten, sie hatten fast etwas Tierisches an sich. Aber gesund sah sie aus, mit roten Wangen, Lachfalten um die hellgrauen Augen, die, je nach Lichteinfall, wie Bergkristalle schimmerten, und Tanja gleich für sie einnahmen. Ihr dunkles, mit silbrigen Fäden durchzogenes Haar wurde hinten durch eine große Klammer gehalten. Einige Strähnen hatten sich gelöst und machten was sie wollten, auf der Stirn der Frau prangte ein breiter Schmutzstreifen. Sie sah aus, als wäre ihr warm. Die erdverschmierten Hände, die eine Plastikschale hielten, in der irgendein grünes Kraut lag, ließen vermuten, dass sie trotz des ungewöhnlich drückenden Wetters heute im Garten gearbeitet hatte. Die Begegnung fand am Morgen nach der ersten Nacht in ihrem Haus statt.
Die Brückners hatten sie in einem unruhigen Schlaf verbracht, unter fremden Geräuschen und dem Geruch nach Farbe, den neuen Tag kaum erwarten könnend. Sie packten Kisten aus, säuberten Schränke und befüllten sie mit dem, was aus ihrer alten Wohnung, aus ihrem alten Leben kam, hier nun ganz anders, fast noch schüchtern wirkte, als trauten sich die Gegenstände nicht, den ihnen zugewiesenen Platz einzunehmen. Der erste Tee, den Robert und Tanja sich aufbrühten, schmeckte ihnen besonders gut, vielleicht lag es am Wasser, sagten sie. In der Küche funktionierten Wasserhahn und Abflüsse, der neue Herd und die Steckdosen, es war eine Freude. Auch das Badezimmer war eingeweiht worden. Unter der heißen Dusche, die genug Platz für zwei bot, erholten sich ihre schmerzenden Rücken, ihre beanspruchten Glieder.
Heute wollten sie auf Erkundungstour gehen, wie sie es nannten. Kaum waren sie aus der Tür getreten, kreuzte die Frau ihren Weg, um in das Haus nebenan zu gehen. Sie blieb stehen und sah zu ihnen rüber, dann legte sie den Kopf ein bisschen schief und lächelte. »Da sind ja die neuen Nachbarn.«
Robert ging gleich auf sie zu.
»Hallo! Wir haben uns ja schon kennengelernt, und das ist meine Frau Tanja. Tanja, unsere Nachbarin Frau Bauer.«
Ein freundliches Nicken und Grüßen allerseits, auf das ein neunachbarschaftliches Taxieren folgte, das ohne Weiteres wohlwollend ausfiel.
»Nennen Sie mich ruhig Marga. Die Hand kann ich Ihnen leider nicht geben«, sagte sie und hielt ihnen demonstrativ ihre schmutzige Rechte entgegen. Eine kräftige, breitfingrige Hand, die sicher nie mehr ganz sauber wurde, weil sie die meiste Zeit des Tages in der Erde wühlte. Die Schwärze unter den Fingernägeln stieß Tanja ab. Sie selber besaß stets sauber gefeilte, rosa schimmernde Nägel, ihre Hände waren schmal, zart, mit Fingern, die wie dafür gemacht zu sein schienen, Nadeln zu halten und über weiche Stoffe zu streichen. Es sei gut, dass hier endlich jemand eingezogen sei, sagte Marga Bauer. Ein Haus dürfe nicht so viele Jahre leer stehen, das wäre für die Nachbarschaft auch nicht schön, neben einer Ruine wohnen, das wolle keiner.
»Hier im Dorf bekommt man eigentlich alles, was man braucht«, fuhr sie fort, »da muss man nicht erst nach Frohberg fahren.«
Bei aller dörflichen Ruhe sei eine vernünftige Infrastruktur doch viel wert, meinte Robert, und auf seinem Gesicht lag die innere Befriedigung darüber, am richtigen Platz zu sein. Ein Platz, um zu leben. Er hatte ihn gesucht und hier gefunden. Auch im sanften Gesicht seiner Frau, in dem am Anfang oft etwas Zögerliches, Abwartendes gelegen hatte, als müsse sie jede ihrer Reaktionen, selbst die kleinsten Regungen, noch einmal überdenken, sah er endlich seine eigene Freude abgebildet.
»Ich dachte, Sie wären längst eingezogen«, meinte Frau Bauer, »und dann habe ich Ihr Auto gar nicht mehr gesehen.«
»Leider gab es Verzögerungen«, sagte Tanja.
»Aha. Ich dachte nur, weil der Möbelwagen ja da war.«
Robert winkte ab. »Ach, das ist etwas unglücklich gelaufen. Der Umzug war für den 5. März bestellt, aber im Schlafzimmer passte das neue Fenster nicht, und der Klempner hat uns auch im Stich gelassen. In Deutschland ist es schwierig geworden, gute Handwerker zu finden, und noch schwieriger, dass sie dann auch kommen.«
»Tja. Und wo haben Sie dann gewohnt?«
Die Frau wollte wohl alles wissen. Auch wenn Tanja sie auf Anhieb mochte, Neugierde störte sie.
»Bei meinen Eltern, es war ja nur für zwei Wochen«, schaltete sie sich ein und wandte sich an Robert.
»Wollen wir los?«
»Gibt´s hier zufällig einen Biomarkt?«, fragte er die Nachbarin, ohne sie zu beachten.
»Was? Einen Biomarkt?« Marga Bauer lachte schallend. »Nein, so etwas gibt es hier nicht. Hier gibt´s den SuperSinger. Da kriegen Sie Fleisch, Milch, Putzmittel, auch Obst und Gemüse. Über die Qualität kann ich allerdings nichts sagen, ich kaufe ja nie Gemüse, wir haben einen Garten.«
»Oh, Gemüse aus dem eigenen Garten, das ist natürlich etwas Feines«, rief Tanja begeistert. »So viel Grundstück haben wir nicht, um selbst etwas anzubauen. Schade.«
»Wir haben sowieso keine Ahnung davon«, lachte Robert.
Tanja wollte erwidern, dass man es ja lernen könne, ließ es dann aber, denn schließlich würden aus ihnen sowieso nie solche Gartenexperten werden wie die, zu denen Frau Bauer gehörte. Trotzdem, ein Blumenbeet vor ihrem Haus hätte sie gerne gehabt. Sie hatte ein Bild vor Augen, durch das häufige Abrufen mittlerweile sehr deutlich geworden: Rosa Klematis, die in ihr Fenster rankt, Sonnenblumen, die zwischen lila Hyazinthen aufragen und ihr mit den Köpfen zunicken, wenn sie von ihrer Arbeit aufsieht. Die Enttäuschung darüber, dass es ein Bild bleiben würde, war zu klein, um wirklich wichtig zu sein, setzte sich in ihrer Kleinheit aber fest und trug den Namen ihres Mannes Robert in sich.
Ulf Herberger bekam man selten zu Gesicht. Das lag zum einen an seinem nachtaktiven Beruf. Über das, was »zum anderen« gehörte, darüber kursierten verschiedene Meinungen und Gerüchte, obwohl niemand schlecht über ihn redete, schließlich war er der Bäcker des Dorfes. Es gab wenige Menschen, die Umgang mit ihm pflegten, sogar einige, die noch nie mit ihm gesprochen hatten. Alle aßen sein Brot und seine Brötchen, er selbst blieb unsichtbar, er war da und war irgendwie auch nicht da. Obwohl sein Körper nicht dazu angetan war, sich unsichtbar zu machen. Wenn jemand, aus welchem Grund auch immer, lange vor Sonnenaufgang durch die stillen Straßen streifte und zufällig an der Bäckerei vorbeikam, konnte er den Herberger durch ein kleines, offenes Fenster, aus dem leise Radiomusik tönte, bei der Arbeit sehen. Mehlbestäubt walzte er durch seine Backstube, die Ärmel seines immer grauen Hemdes bis über die Ellbogen hochgekrempelt, die Bäckerhose zum Platzen straff über das mächtige Hinterteil gezogen.
Er war Junggeselle und lebte zusammen mit seiner alten Mutter in der Wohnung über dem Laden. Vater Herberger, der die Bäckerei Anfang der Fünfzigerjahre eröffnet hatte, war schon zehn Jahre tot. Wenn die Mutter mal stirbt, dann wäre der Ulf ganz alleine, sagten sie, die Nachbarinnen, wenn sie so zusammenstanden und dabei gedanklich Straßenzüge durchliefen, in denen sich etwas ereignet hatte, oder Dinge aus der Luft aufschnappten, oder wenn eben ein Bewohner gerade an der Reihe war, Gesprächsthema zu sein. Statt seine spärliche Freizeit zu nutzen, um sich eine Frau zu suchen, verbrachte Ulf Herberger sie in Gesellschaft von Jagdfreunden. Sobald die Saison begann, oft auch außerhalb der Saison, streiften sie an jedem Wochenende zu viert durch die anliegenden Wälder auf der Suche nach Wildschweinen und Fasanen. Wenn sie keine fanden, schossen sie auf alles, was sich vor ihren Zielfernrohren bewegte: Eichhörnchen, Amseln und andere Vögel, Füchse, und einmal wäre fast ein Pilzsammler darunter gewesen, obwohl der sich auf einem Waldstück in Häusernähe befunden hatte, wo nicht geschossen werden durfte. Zu den Jägern gehörte Simon, der jüngere Bruder von Bauer Wendt, der durch den Verkauf einiger Äcker nicht reich, aber sorgloser geworden war. Für Simon war von dem Geld wohl auch etwas abgefallen. Er hatte versucht, in verschiedene Geschäfte einzusteigen, die sich als wenig oder gar nicht lukrativ erwiesen, den Rest hatte er – wenn die Gerüchte stimmten – beim Spiel verloren. Er wohnte nun bei Bruder und Schwägerin im Haus, wo er – wenn die Gerüchte stimmten – Schulden abarbeitete.
Am häufigsten sah man den Bäcker mit Manfred, der in einem verfallenen Haus am Dorfrand wohnte. Wäre er fülliger gewesen, man hätte ihn für Herbergers Schatten halten können. Fast täglich fand er sich in der Backstube ein oder hing vor dem kleinen Fenster herum. Wenn nicht dort, dann war er in der Garage zu finden, die der Bäckerfamilie gehörte, früher mal eine Art Hobby-Werkstatt, die sich im Laufe der Jahre in ein Depot für Gerümpel verwandelt hatte. Keiner wusste, was Manfred da stundenlang machte. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lief gern in Armeekleidung herum. Tarnhose und Soldatenhemd schienen seiner dürren Gestalt eine gewisse Festigkeit zu geben. Er bewegte sich durch die Straßen von B., als hätte er eine wichtige Mission zu erfüllen, wie in den Krieg ziehen zum Beispiel. Jahre zuvor war ihm die Frau davongelaufen. Man sagte es so: davongelaufen. Zumindest war sie irgendwann weg und tauchte nicht wieder auf. Aber wen wundert´s, meinten die Nachbarinnen. Der Vierte im Bunde war ein kahlköpfiger Mann, dessen Alter man schlecht schätzen konnte, überhaupt gab es wenig Informationen über ihn, auch seinen Namen hatte man nie gehört. Einige meinten, er sei ein ewiger Junggeselle aus Frohberg, andere wollten wissen, er wäre bei der Fremdenlegion gewesen und wohnte in einer Hütte weit hinter Frohberg, fast am See.
Das also war der Umgang von Ulf Herberger.
Dabei gab es eine Frau, die sich brennend für ihn interessierte: Uschi Polkwitz, die vor über fünf Jahren als Aushilfskraft zu ihm gekommen war, eine Frau in der fülligen Blüte ihres Lebens. In ihrem nicht hässlichen Gesicht war ein rotgeschminktes fleischiges Mündchen, das immer ein wenig feucht und klebrig aussah, ständig in Bewegung, weil Uschi an etwas lutschte oder kaute, ein Schleckermaul. Etwas Schöneres, als sich zwischen Kuchen, Baisers und Pralinen zu bewegen – selbst wenn es sich hier nur um eine mehr als bescheidene Variante echter Zuckerbäckerei handelte – konnte es für sie kaum geben. Außer, dass Ulf ihr ein wenig mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Drei Tage in der Woche arbeitete sie in der Bäckerei und hoffte darauf, endlich als ganze Kraft und mit richtigem Vertrag eingestellt zu werden, eine Hoffnung, die natürlich nur in Erfüllung ginge, wenn die unliebsame Kollegin kündigte, oder gekündigt wurde. Und das war praktisch unmöglich, solange Ulfs Mutter noch lebte, die ihre schützende Hand über Frau Künne hielt. Frau Künne gehörte zu dieser zähen, widerstandsfähigen Spezies, die wie das Unkraut nicht schön, aber immer da war. Sie war schon bei den alten Herbergers angestellt gewesen. Seit zweiunddreißig Jahren kam sie jeden Morgen mit dem ersten Bus aus Frohberg, und es sah so aus, als hätte sie das auch in den kommenden dreißig Jahren vor, es sei denn, sie bräche eines Tages zwischen Brotregal und Theke zusammen, um nie wieder aufzustehen. Auch das war unwahrscheinlich, wenn man die Volksweisheit »Unkraut vergeht nicht« wörtlich nahm. Um eine Veränderung herbeizuführen, müsste man schon intrigant ins Schicksal spielen. Seit einiger Zeit stellte Uschi Polkwitz Überlegungen an und spielte Möglichkeiten durch.
Zu Bäcker Herberger kamen sie alle. Ab sieben Uhr in der Früh ging die Türglocke, der Duft des warmen Brotes hüllte den neuesten Tratsch ein, Informationen und Spekulationen gingen weg wie warme Semmeln.
Als das Ehepaar Brückner zum ersten Mal die Bäckerei betrat, nahmen Tanjas weibliche Sensoren sofort den prüfenden Blick auf, der ihr über die Verkaufstheke hinweg zugeworfen wurde, und mit dem man sie ganz unverhohlen zu mustern begann. Zugleich fiel ihr das zu dick aufgetragene Make-up und die schwarz gefärbten, ein wenig altmodisch frisierten Haare auf. Der erwiderte Gruß fiel etwas undeutlich aus, weil er in einer kauenden Bewegung unterging.
»Wir wollten eigentlich ein Brot«, sagte Tanja, »aber ich sehe, Sie haben nicht mehr viel.«
»Um die Zeit nicht. Es ist Freitagnachmittag.« Uschis grüne Augen wanderten immer noch etwas ziellos über die beiden Unbekannten, bis ihr einfiel, dass es sich um das Ehepaar handeln musste, das in das alte Haus an der Hauptstraße gezogen war.
Tanja sah sich mit den Augen der Frau. Sie sah ihre Schlankheit, ihre langen Beine, die Kleidung, die ihren Körper modisch und lässig umspielte. Möglicherweise sah sie so aus, wie Uschi als junge Frau gern ausgesehen hätte, bis sie es irgendwann aufgegeben hatte und zu dem mehr als vollschlanken Erscheinungsbild geworden war, das sie heute präsentierte.
»Sie haben doch da noch ein halbes, was ist denn das?«, meinte Robert und zeigte auf ein Stück Brot, das einsam oben im Regal lag. »Das? Landbrot. Sonst habe ich nur noch Abgepacktes.«
»In Plastik? Ungern. Wir nehmen das halbe Landbrot«, sagte Tanja. »Sollen wir noch ein bisschen Kuchen mitnehmen, Robert?«
Bienenstich mit wenig Creme und einem Brocken trockenen Teigs darunter, etwas leicht verbrannter Blechkuchen, Plunder, Schweineohren. Der Kuchen sah wirklich nicht besonders gut aus, doch Tanja überkam auf einmal das Bedürfnis, ihn zu essen. »Geben Sie mir noch zwei Stücke von dem Bienenstich.« Sie beobachtete, wie die fleischigen, beringten Finger die Stücke auf eine Pappunterlage legten und Papier darumwickelten. Plötzlich kreuzten sich die Blicke der Frauen. Tanja lächelte. Die Frau verzog etwas den Mund, aber die Bereitschaft zur Freundlichkeit war durchaus zu erkennen. »Sind Sie die, die kürzlich hergezogen sind?«, fragte sie.
»Ja. Richtig eingezogen sind wir aber erst gestern. Ich bin Tanja Brückner, mein Mann Robert.«
»Uschi Polkwitz.« Sie schien zu zögern, kramte aber dann aus einer Schublade eine Visitenkarte und schob sie Tanja hin. »Wenn Sie mal ´was brauchen. Besorgungen, Auskünfte, Fahrdienste, wenden Sie sich ruhig an mich.«
»Oh, Dankeschön«, rief Tanja und betrachtete das einfach gestaltete, mit einem herkömmlichen Drucker ausgedruckte Kärtchen mit Uschis Adresse und Mobiltelefon-Nummer. »Und wenn Sie mal einen Rock geändert haben wollen, dann kommen Sie gerne zu mir.«
»Ach!« Uschi Polkwitz´ grün schimmernde, runde Augen wurden sehr groß. »Eine Änderungsschneiderei. Sind Sie etwa Türken?«
Robert lachte. »Nein, nein! Wir richten im Haus ein richtiges Modeatelier ein. Meine Frau ist Designerin, fast Haute Couture.«
»Ich ändere nicht nur, ich schneidere auch neue Kleider nach Maß«, beeilte sich Tanja zu sagen, um die Frau nicht mit diesen hochtrabenden Begriffen, die Robert gerne gebrauchte, abzuschrecken.
Uschi nickte langsam, sie schien nachzudenken. »Übrigens male ich auch. Das steht jetzt nicht auf der Visitenkarte, aber ich male auch Bilder für Dekoration und so«, sprach sie in die freundlichen Gesichter des Paares, und als nichts zurückkam: »Macht sechs fünfzig zusammen.«
Dingdong. Sechs Uhr abends. Der Klang durchlief das ganze Haus, klar, deutlich, Räume einnehmend. Robert und Tanja, die Köpfe über den Kisten mit Gläsern, die sie zwischen einem Wust aus Zeitungspapier zogen, sahen sich an. Wenn sie es doch noch einmal hören könnten, das erste Klingeln an ihrer Haustür, ihrer eigenen Haustür. Ein untersetzter grauhaariger Mann stand draußen, seine Augen wachsam und vergrößert hinter den lupenähnlichen Brillengläsern; inmitten seines rotbackigen, mit Bartstoppeln übersäten Gesichts prangte ein breites Grinsen, das einen fehlenden Zahn oben rechts sichtbar machte.
»Ja, guten Abend die Herrschaften, ich will nicht stören. Ich bin der Hans Bauer und soll ihnen etwas geben. Hier.« Er hielt ihnen eine Plastiktüte hin. »Schönen Gruß von meiner Frau. Ein paar Eier von unseren glücklichen Hühnern und Zwiebeln aus unserem Garten.«
»Oh!«, riefen Tanja und Robert wie aus einem Munde. Freudig überrascht und mit vielen Dankesworten nahmen sie die Nachbarsgabe entgegen, und Grüße an Marga. In der Küche breiteten sie den Inhalt auf der Arbeitsfläche aus. An den Eiern klebte Hühnerkot und den Zwiebeln sah man an, dass sie erst vor Kurzem aus der Erde gezogen worden waren. »Ist das nicht nett?«, meinte Tanja.
»Wie die Zwiebeln duften!«, schwärmte Robert. Ihr erstes richtiges Abendessen in ihrem neuen Heim bestand aus Rührei mit Zwiebeln zum Landbrot von Herberger.
Türen
Robert schlug die Augen auf und sah direkt auf die Tür. Er wunderte sich, dass sie nicht auf dem Boden lag. Geschlossene Tür. Kiefernholz. Die Maserung trat unter dem frischen Grünton deutlich hervor, oben rechts führten wellenförmige Linien in einen Knoten wie Flüsse und Flüsschen, die in einen See mündeten. Eben noch, er wusste es ganz genau, hatte die Tür auf dem Boden gelegen, als wäre sie einfach aus ihrer Verankerung gefallen, und ein dunkles Loch freigegeben, in das er voller Angst hineingeblickt hatte. Obwohl er jetzt erleichtert aufatmete, weil es sich nur um einen Traum handelte, war es doch mehr der Wunsch nach Erleichterung, ohne das beruhigende Gefühl, das dazugehört hätte. Die Angst blieb wie eine Erinnerung, die von nun an an ihm haftete. Er setzte sich im Bett auf, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Er stand auf. Er wollte gerne, dass die Erleichterung echt wäre, dass sie sich nun, Schritt für Schritt einstellte, ihn überzeugte, merkte aber, wie viel Überwindung es ihn kostete, auf die Tür, dessen Lindgrün doch nur freundlich ins Badezimmer führen sollte, zuzugehen. Er drückte die Klinke herunter. Er sah deutlich, wie in Nahaufnahme, wie seine Hand sich um den metallenen Griff legte. Dann stand er plötzlich im Dunkeln. Die Dunkelheit war vollständig, eine opake Masse, die ihn umschloss, gleichzeitig etwas, was es nicht geben, was nicht sein konnte. Seinem Gefühl nach befand er sich im Inneren von etwas, einem Ort, weder konkret noch fassbar. Ein Nicht-Ort. Nichts-Ort. Es war die Abwesenheit von allem, was er kannte und was zu seinem Leben gehörte. Hier war all das zusammengefasst, wovor er sich fürchtete.
Es war Roberts Traum und ein Traum im Traum. An einem Morgen Ende April, weniger als zwei Monate nach dem Einzug der Brückners in dieses Haus.
Tanja träumte, wie sie über eine Wiese ging. Von Weitem sah sie ein Haus und wusste: Das ist unser Haus. Sie pflückte ein paar Blumen für den Frühstückstisch, ging langsam zurück und fragte sich, ob das wirklich ihr Haus war. Es kam ihr bekannt und gleichzeitig auch verändert vor. Aber es war ihr Haus, denn Robert war ja darin. Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Jackentasche, doch als sie die Haustür aufschließen wollte, waren es nur wenige vertrocknete Blumen, die in ihrer Hand lagen. Sie hielt ihre Hand an das Schloss. Es war schwierig, mit den trockenen Stängeln, die einer nach dem anderen zerfielen und immer weniger wurden, die Tür zu öffnen. Plötzlich sprang das Schloss auf. Sie trat ein und erkannte alles wieder: den alten Küchenschrank von ihren Großeltern, Roberts Schreibtisch mit dem roten Ledersessel, ihre Sommerkleider, die an einer Stange hingen. Sie suchte Roberts Rücken am Schreibtisch, seine Silhouette, die sich vom hellen Hintergrund des Bildschirms abhob, oder seine blaue Regenjacke, ein bekanntes Bild. Warum antwortete er nicht? Er musste hier sein, sie wusste es, sie war ja nicht lange fort gewesen. Sie wusste auch, dass er sich nicht in diesem Haus befand, dass sie ihn hier nicht finden würde. Tanja begriff, dass sie allein war. Allein ist: ohne diesen Menschen. Allein ist: eine weite, andauernde Einsamkeit.
Traum haftete an ihnen wie die Reste einer Haut, die über Nacht gewachsen war und sich nur langsam, stückchenweise wieder ablöste. Tanja betrachtete Roberts Gesicht, während sie an einem größeren Haferbrotbrocken kaute. Er wirkte unausgeschlafen, bedrückt, seine Augen richteten sich nicht auf sie, sondern bewegten sich unstet, tasteten die Dinge auf dem Tisch ab, und auch etwas, das sie nicht sehen konnte. Sie selbst war nicht bei sich an diesem Morgen, ein Gefühl umfing sie, unangenehm wie ein kratziger Stoff. Es gelang ihr nicht, dieses Gefühl abzuschütteln. Normalerweise war das gemeinsame Frühstück von einem angenehmen Gesprächsfluss begleitet, bei dem sich ihre Augen zulächelten und jeder den anderen mit kleinen netten Gesten in den neuen Tag holte. Jetzt klaffte eine Lücke da, wo Tanja sonst von Schnitten und Stoffen, Kunden und dem Personal im Kaufhaus sprach, wo Robert seine Frau über den Stand der Bauprojekte informierte, sich über die Kollegen lustig machte, oder auch das politische Geschehen kommentierte, das er täglich nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen verfolgte. Jeder hatte das Seine, und irgendwo waren sie immer zusammengekommen. Nun, in all dem Schweigen, der dem Dampf aus den heißen Kaffeetassen gleich über ihnen hing, vermisste sie Roberts Sprachstrom, und der ihre schien ebenso versiegt. Etwas Fremdes saß mit ihnen am Tisch.
»Sind wir nachts andere Menschen, Robert?«
Robert hob überrascht den Kopf. »Ob wir uns in Monster verwandeln, oder was meinst du?«
»Nein! Aber wir landen da manchmal an komischen Orten, so ein Zwischending aus bekannt und unbekannt.«
Roberts Miene verriet nicht, ob er ihr mit Interesse folgte. Er sagte nichts.
»Ich meine«, fuhr sie fort, »das Bekannte verändert sich vor unseren Augen.«
»Und?«
»Vielleicht verändern wir uns dann auch.«
»Hm.«
»Ja. Und vielleicht nicht nur nachts im Traum, sondern wir nehmen die Veränderung sogar mit in unseren Tag, in die Realität …«
»Du bist ja heute richtig philosophisch.«
»Du nimmst mich nicht ernst.«
Er sah sie an, lächelte jetzt, weil ihr Gesichtsausdruck ihn amüsierte. »Ich nehme dich immer ernst. Aber schau, wir sind es doch selbst, es ist unser Gehirn, das diese Bilder aus unzähligen Eindrücken und dem Erlebten produziert. Also auch die Orte. Chemische Prozesse.«
»Und deshalb sollen sie ohne Bedeutung sein? Das glaube ich nicht.«
Robert nahm einen Schluck Kaffee und sie sah, wie er wieder traurig wurde.
»Hast du schlecht geschlafen?«
Er nickte, zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Nicht besonders gut.« Seufzend lehnte er sich zurück. »Was hast du vor? Willst du noch einkaufen?«
»Natürlich. Wieso fragst du? Heute ist Samstag, da gehen wir doch auf den Markt.«
Seit sie hier lebten, fuhren sie jeden Samstag mit dem Auto zum Frohberger Wochenmarkt. Begeistert schoben sie sich durch die dichte Melange aus Körpern, Stimmen und Gerüchen. Mittlerweile hatten sie darin eine Art logische Abfolge gefunden, der sie mehr oder weniger treu blieben. Zuerst kauften sie am Obst- und Gemüsestand ein, wo die taufrische regionale Ware geradezu paradiesisch anmutete, auch wenn die lautstarke Stimme des Kartoffelbauern einem auf die Nerven gehen konnte. Mehlig-kochende Bintje und die schöne Regina wurden in einer Endlosschleife angepriesen, und so manches Mal fühlte sich das Ehepaar, als würde es einer Gehirnwäsche unterzogen. Dann stellten sie sich in die Schlange vor dem Wagen mit Käse und Milchprodukten aus der Region und versuchten, es mit Humor zu nehmen, dass die »Käse-Marie vom See« sich viel Zeit für einen Schwatz mit den Kunden nahm. Manchmal ging Robert schon zum Stand der griechischen Familie, der ein würziges Kräuter- und Knoblauchgemisch aus zehn Metern Entfernung herüberschickte. Dort probierte er Oliven, von dieser und jener Creme, ein bisschen Fladenbrot, und kehrte mit vielen kleinen, prall gefüllten Tüten zu Tanja zurück, die meistens immer noch nicht an der Reihe war. Mit einem Strauß Schnittblumen wurde der Einkauf abgeschlossen. Schließlich betraten sie mit dem schwer gewordenen Korb und mehreren Stofftaschen das Café am Rande des Marktplatzes. Sie tranken Cappuccino mit aufgeschäumter Bio-Milch und wurden nicht müde, sich gegenseitig zu bestätigen, wie wunderbar das Einkaufen auf einem Dorfmarkt war; gar kein Vergleich zur Stadt, in der nur gehetzt und besorgt wurde, in der die Sinnlichkeit und Lebensfreude verloren gegangen waren. Zu Hause verteilten sie die mitgebrachten Sachen auf die dafür vorgesehenen Schalen, Hängekörbe, Dosen, im Kühlschrank und im Regal, immer noch das Neue und bestimmt auch Bessere empfindend, das mit einem neuen Wohnort einhergeht.
»Ach ja, stimmt. Heute ist Samstag«, sagte Robert langsam, als hätte er erst in seinen Erinnerungen nach diesem Tag suchen müssen. »Schon wieder eine Woche rum.«
Tanja schüttelte lächelnd den Kopf. »Was ist heute mit dir los? Sonst warst du immer froh, dich zwei Tage mal nicht von deinen Kollegen fertigmachen lassen zu müssen.«
»Ich lasse mich nicht fertigmachen!« Er sagte es schnell, wie einem Automatismus gehorchend, und fühlte sofort, wie die bekannte Mischung aus Ärger und Bedrücktheit in ihm hochstieg. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, und aus diesem freien, auch befreienden Tag, wurde ein anderer, der Tag, der schon heute auf den nächsten Wochenanfang wartete.
Die Woche war beleuchtet von Tageslichtlampen, die Worte wie mehr Effizienz und Einsparungen wie Mücken umkreisten und die Statiker und Konstrukteure ärgerten. Es hatte Einsparungen gegeben, fünf Entlassungen, doch es war nie die Rede davon, dass auch Robert entlassen werden sollte. Eigentlich war nichts, sagte er sich, nichts, worüber man sich hätte Sorgen machen müssen, es gab mehr als genug Arbeit, er konnte es herunterspielen, reduzieren auf das, was es sein sollte, möglicherweise war: etwas Unwichtiges.
Auf dem hellen Tischläufer, der Tanjas und Roberts Gedecke verband, hatte ein Klecks Johannisbeermarmelade vor einigen Tagen einen roten Fleck zurückgelassen, auch einen eingetrockneten Kaffeefleck gab es gleich neben seinem Teller. Eine kleine Störung auf der glattgebügelten Oberfläche, umso ärgerlicher, weil man immer wieder hinsehen musste. Tanja blieb beim unliebsamen Thema.
»Vor allem dieser Jeffrey. Ich finde ihn schrecklich. Als ich den letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier wieder gesehen habe, habe ich nur gedacht: armer Robert, der muss den jeden Tag ertragen. Ich meine, für sein Pferdegebiss kann er ja nichts. Aber du hättest damals nun mal Projektleiter bei dieser Hochhaussiedlung werden sollen, nicht er.«
Vor genau zwei Jahren waren der Amerikaner Jeffrey und Moritz aus Hamburg zum Team gestoßen. Die Veränderung im Ingenieur-Büro nahm der eine oder andere unter den 15 Angestellten vielleicht wahr, doch war sie nicht wirklich zu fassen, man konnte sie nicht erklären. Die beiden jungen Männer schafften es, sich mit beneidenswerter Leichtigkeit und wenig Aufwand beliebt und unentbehrlich zu machen. Moritz besaß dieses schmale, helle Jungengesicht, in das der Schöpfer eine sympathische Arglosigkeit eingemeißelt hatte, braune Augen und volles braunes Haar, ein ewiger Hübscher, dem man alles verzieh. Selbst Tanja hatte sich bei einem Empfang seinem Charme nicht entziehen können, aber darauf wollte er sie jetzt nicht ansprechen. Der blonde Jeffrey dagegen, mit seiner ständig sichtbaren, kräftigen weißen Zahnreihe im rotwangigen Gesicht, war von einer langweiligen sportlichen Ebenmäßigkeit. Es gab nichts auszusetzen an ihm, und gerade das störte Robert. Obwohl sie sich auf den ersten Blick äußerlich voneinander unterschieden, schienen die zwei wie aus einem Guss gemacht, eine Massenanfertigung des 21. Jahrhunderts. Robert nannte sie für sich John-undJohn. Er hatte es lachend Henning erzählt, doch wider Erwarten verteidigte der alte Freund die beiden, meinte, sie brächten frischen Wind in das betagte Büro. So wehte er nun durch die Räume und half bei den sogenannten Umstrukturierungen, wehte Altes und auch Bewährtes weg, ließ das Team, in dem jeder seinen Platz und seine Aufgaben gehabt hatte, im Durchzug sich ständig öffnender Türen sitzen. Alle schienen sich plötzlich JohnundJohn zum Vorbild nehmen zu wollen und hatten sich diese kalt blickende Sympathie und geschäftsmäßige Korrektheit zugelegt. Die freundliche Atmosphäre, in der saloppe Töne und Ironie die Arbeit erleichtert hatten, war wie eingefroren.
»Ist doch egal«, sagte Robert unwillig, stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
»Ist es nicht. Es war dir damals nicht egal, und es geht dir immer noch nach. Ich kenne dich. Er hat den Posten nur bekommen, weil er sich überall eingeschleimt hat. Von dem anderen, diesem Moritz, will ich gar nicht reden. Keiner von beiden ist ein so guter Statiker wie du, hast du selber mal gesagt.«
»Ach, Tanja, lass es! Warum fängst du jetzt davon an? Ich stand sowieso nicht hinter dieser Siedlung, das weißt du.«
»Ja, das weiß ich. Wie hinter so vielen anderen Projekten, hinter denen du nicht stehen kannst. Gut, dass du nicht gleich wieder alles hingeschmissen hast.«
»Du brauchst nicht immer wieder darauf anzuspielen. Ich bin ja froh, dass ich den Job noch habe. Andere Firmen nehmen für meine Arbeit längst Freie aus Polen oder Rumänien, die für weniger als die Hälfte arbeiten.«
»Wenn du deine Arbeit mal in Stundenlohn umrechnen würdest, wer weiß, was da rauskäme.«
Robert faltete eine der gebrauchten bunten Papierservietten zusammen, legte sie weg, nahm sie wieder und legte sie woanders hin; Gesten, die zu nichts führten. »Was soll das jetzt?«
»Ich wiederhole nur, was du selber mir mal vorgerechnet hast.«