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Im Dorischen Spiegel der Medusa Ein literarischer Roman von tiefgründiger Brillanz AUFMERKSAMKEIT Zwischen zwei Welten gefangen, zwischen zwei Identitäten zerrissen – und nirgendwo wirklich zu Hause. Was bleibt von uns, wenn wir die Masken abnehmen, die wir ein Leben lang getragen haben? Wer sind wir jenseits der Rollen, die andere für uns geschrieben haben? Tauchen Sie ein in die Gedankenwelt eines Mannes, der die schmerzhafte Einsicht gewinnt: Seine gesamte Existenz war ein kunstvolles Versteckspiel vor sich selbst. Im Dorischen Spiegel der Medusa folgt dem 56-jährigen Emre , der nach Jahrzehnten in die türkische Küstenstadt Antalya zurückkehrt – den Ort seiner Kindheit, den er einst verließ, wie er später auch seine eigene Familie verlassen würde. In neun kunstvoll verwobenen Kapiteln entfaltet sich die vielschichtige Geschichte eines Mannes, der zwischen Kulturen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Schuld und Vergebung navigiert: Kapitel I: Das Licht durch zerbrochene Fenster – Emres Ankunft in Antalya, wo er mit den ersten Schatten seiner Vergangenheit konfrontiert wird Kapitel II: Dorischer Morgen über den Ruinen – Eine Reise zu den antiken Stätten, wo die Vergänglichkeit menschlicher Existenz zum Spiegel seines eigenen Lebens wird Kapitel III: Die verlorene Stadt – Die schmerzhafte Begegnung mit seiner dominanten Mutter Sehriban, die alte Wunden aufreißt Kapitel IV: Der Titan im Kerker des Meeres – Eine philosophische Reise zu den Grenzen des Selbst Kapitel V: Der Blick der Medusa – Die Begegnung mit seinem entfremdeten Sohn Ali, der ihm einen Weg aus seiner lähmenden Selbstreflexion zeigt Kapitel VI: Der Abgrund ruft – Eine unerwartete Nacht in einer urzeitlichen Schlucht wird zur Katharsis Kapitel VII: Die Wiedergeburt im Morgenlicht – Die ersten Schritte zur Heilung und Selbstakzeptanz Kapitel VIII: Der geduldige Freund – Eine Meditation über die Vergänglichkeit und den Tod als letzte Gewissheit Kapitel IX: Die Masken der Brüder – Die entscheidende Konfrontation mit seinem Bruder Yilmaz, die Jahrzehnte der Rivalität und Entfremdung in Frage stellt In einer Sprache von hypnotischer Schönheit und philosophischer Tiefe entfaltet der Roman fundamentale Fragen menschlicher Existenz: Identität, Heimat, Entfremdung, Schuld und die Möglichkeit der Erlösung. VERLANGEN Lassen Sie sich einnehmen von einer Geschichte, die den Leser nicht nur unterhält, sondern tief berührt und transformiert
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Kapitel I - Das Licht durch zerbrochene Fenster
Der Oktoberregen prasselte gegen die Scheiben des kleinen Cafés in Antalya, als Emre seinen türkischen Kaffee in kleinen, bedächtigen Schlücken trank. Die Uhr über der Theke zeigte halb vier. In den hohen Fenstern spiegelten sich die gebräunten Gesichter der Gäste, verschwommen wie Geister zwischen den Welten. Draußen rauschten Autos durch das nasse Laub der Palmenallee, und in der Ferne, kaum hörbar, erklangen die ersten Takte von Bachs Dorisch BWV 538 aus der nahen byzantinischen Kirche, wo ein Organist für das abendliche Konzert probte.
Die Musik berührte etwas in Emre, eine Saite, die lange nicht angeschlagen worden war. Die tiefen, eindringlichen Töne hallten in seinem Inneren wider, als sprächen sie direkt zu der Leere, die er seit Jahren in sich trug. Eine Leere, die er mit Analysen zu füllen versuchte, mit endlosen Selbstgesprächen, mit Büchern über Psychologie und Philosophie – und doch blieb sie bestehen, unergründlich wie ein Brunnen ohne Boden.
Er war gestern Abend nach Antalya zurückgekehrt, getrieben von einem Impuls, den er sich selbst kaum erklären konnte. Vielleicht war es der Brief gewesen, der ihn in seiner schmucklosen Wohnung erreicht hatte – ein Brief von seinem Sohn Ali, der erste in Jahren. Vielleicht auch die Träume, die ihn in letzter Zeit heimsuchten: Träume von einer Jacke mit einer königlichen Krone, die er als Kind für die große Reise nach Deutschland bereitgelegt hatte, nur um am nächsten Morgen festzustellen, dass seine Eltern ohne ihn abgereist waren.
Emre schloss die Augen und ließ die Musik in sich einsinken. Jede Note schien einen Pfad zu einem vergangenen Schmerz zu öffnen, zu Momenten, in denen er sich selbst verloren oder verraten hatte. Und dann, wie ein entfernter Donner, der dunkle Grundton, der ihm seine größte Schuld ins Gedächtnis rief: Er hatte seine Kinder verlassen, wie seine Eltern ihn verlassen hatten. Die Geschichte wiederholte sich, ein grausames Echo durch die Generationen.
"Noch einen Kaffee?"
Die Stimme der Kellnerin riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte stumm, und als sie davonging, bemerkte er, wie sein Blick instinktiv ihren Bewegungen folgte – eine alte Gewohnheit, Menschen zu beobachten, anstatt mit ihnen zu sein. Seit seiner Kindheit hatte er die Welt durch eine unsichtbare Glasscheibe betrachtet, als Zuschauer, nie ganz teilnehmend. In der Schule, wo er als türkischer Junge, der aus Deutschland zurückkehrte, wieder ein Außenseiter geblieben war; im Arbeitsleben, wo er trotz seiner Fähigkeiten nie richtig Fuß gefasst hatte; und schließlich in seiner Ehe mit Kate, wo er physisch anwesend, aber emotional immer auf Distanz geblieben war.
Bis er dann ging. Bis er sie alle verließ für Ayse, die jüngere Frau, die ihm eine neue Art der Nähe versprach, eine Flucht aus der Erstarrung. Und selbst diese Flucht hatte ihn nur tiefer in die Muster geführt, die sein Leben beherrschten.
Der Kaffee kam, und mit ihm eine neue Welle des dorischen Klanges, der jetzt an Intensität gewann, als würde er seine wachsende Unruhe spiegeln. Er griff in seine Tasche und berührte den Brief, das Papier raschelnd unter seinen Fingern. Ali hatte ihn zu einem Treffen eingeladen, morgen, im Parkgarten am Meer. Nach all den Jahren. Nach der Funkstille, die auf seinen Verrat gefolgt war.
"Vater," stand dort, nicht mehr, nicht weniger. Ein Wort wie ein Urteil und wie eine Chance zugleich.
Die Tür des Cafés öffnete sich, und ein Windstoß wehte warme, salzige Luft und den Geruch von nassem Sand herein. Ein Mann trat ein, schüttelte seinen Regenschirm aus und blickte sich suchend um. Emre erkannte ihn sogleich und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog: Yilmaz, sein älterer Bruder, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Wie war das möglich? Hatte Ali ihn eingeladen? Oder war es Zufall – einer jener kosmischen Witze, die das Schicksal manchmal zu erzählen beliebte?
Yilmaz hatte sich kaum verändert: immer noch klein und stämmig, mit diesem selbstsicheren Auftreten, das Emre seit ihrer Kindheit sowohl bewundert als auch gefürchtet hatte. Sein Bruder hatte stets die Gabe besessen, Menschen für sich einzunehmen, sie zu manipulieren, ohne dass sie es bemerkten – eine Gabe, die er besonders virtuos bei ihrer Mutter eingesetzt hatte.
Bevor Emre reagieren konnte, hatte Yilmaz ihn bereits entdeckt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, nicht warm, sondern berechnend, wie das eines Schachspielers, der seinen Gegner in eine ungünstige Position manövriert hat.
"Bruderherz", sagte Yilmaz und setzte sich ungebeten an Emres Tisch. "Welch eine Überraschung. Oder sollte ich sagen: welch ein Zufall?"
"Yilmaz." Emre spürte, wie sich sein Körper versteifte, eine alte Reaktion auf die Nähe seines Bruders. "Was machst du hier? Du solltest im Hotel sein, bei Mutter."
Yilmaz winkte ab, als wäre die Frage belanglos. "Geschäfte, hier und dort. Du weißt, wie das ist. Obwohl..." Er ließ seinen Blick über Emres abgetragenen Mantel gleiten. "Vielleicht weißt du es nicht. Wie ich höre, läuft es nicht so gut für dich. Keine Arbeit, keine Wohnung..."
Es war typisch für Yilmaz, sofort die wunden Punkte zu finden und in sie hineinzustechen. Emre zwang sich, ruhig zu bleiben. "Ich komme zurecht."
"Natürlich tust du das." Yilmaz lächelte wieder, doch seine Augen blieben kalt. "Du kamst immer zurecht, nicht wahr? Der Intellektuelle, der Denker, der Mann der Vernunft. Nur schade, dass deine Vernunft dich nicht davon abgehalten hat, deine Familie zu verlassen. Wie waren ihre Namen noch gleich? Ah ja, Ali und Güven. Deine Söhne."
Die Worte trafen Emre wie ein Schlag in die Magengrube. Er hatte vergessen, wie geschickt sein Bruder darin war, Schuldgefühle zu wecken, die Vergangenheit als Waffe einzusetzen.
In diesem Moment schwoll die Musik aus der Kirche an, als hätte der Organist Emres inneren Aufruhr gespürt. Die tiefen, dunklen Töne des dorischen Modus schienen die Wände des Cafés erzittern zu lassen, und in Emres Kopf formten sich unbewusst die Worte einer alten Überzeugung: Yilmaz war schuld. Yilmaz, der schon immer die Gunst ihrer Mutter Sehriban genossen hatte, während Emre, der jüngere Sohn, stets um Anerkennung kämpfen musste. Yilmaz, der faul war und parasitär, der andere ausnutzte und dennoch belohnt wurde. Yilmaz, dessen Schatten Emres Leben verdunkelt hatte.
Doch da war auch eine andere Stimme, leiser, aber beharrlich: Du trägst die Verantwortung für deine eigenen Entscheidungen. Du hast deine Kinder verlassen, nicht Yilmaz.
"Was willst du, Yilmaz?" fragte Emre schließlich, die Hände um seine Kaffeetasse gekrampft, als könnte die Wärme des Getränks ihm Halt geben.
Yilmaz lehnte sich zurück, die Selbstsicherheit eines Mannes, der weiß, dass er die Oberhand hat. "Was ich will? Eine interessante Frage. Vielleicht will ich nur mit meinem kleinen Bruder sprechen, den ich so lange nicht gesehen habe. Oder vielleicht will ich wissen, warum du nach all den Jahren plötzlich wieder in Antalya bist. Könnte es etwas mit unserem Familienhotel zu tun haben? Mit dem Vermögen unserer Mutter, um das du dich nie gekümmert hast?"
Da war es also. Natürlich ging es um Geld, um Besitz. Es ging immer darum bei Yilmaz, und bei ihrer Mutter Sehriban, dieser kalten, berechnenden Frau, deren einziges Ziel es war, Reichtum anzuhäufen, nicht um ihn zu genießen, sondern um ihn als Waffe gegen andere zu benutzen, als Beweis ihrer Überlegenheit.
"Ich bin hier, weil mein Sohn mich sehen will", sagte Emre, überrascht von der plötzlichen Festigkeit in seiner Stimme. "Es hat nichts mit dem Hotel zu tun oder mit Mutters Geld."
Für einen Moment schien Yilmaz überrascht, vielleicht sogar beunruhigt. Dann kehrte das berechnende Lächeln zurück. "Ali? Interessant. Hat er dir erzählt, dass er jetzt für mich arbeitet? Für uns, im Hotel? Ein kluger Junge, der weiß, wo die Zukunft liegt. Nicht wie sein Vater, der immer nur an sich selbst denkt."
Die Nachricht traf Emre wie ein weiterer Schlag. Ali arbeitete für Yilmaz? Wie war das möglich? Der Brief hatte nichts davon erwähnt. "Du lügst", sagte er, obwohl er in seinem Inneren bereits zu zweifeln begann.
Yilmaz zuckte mit den Schultern. "Warum sollte ich? Frag ihn selbst, wenn du ihn triffst. Frag ihn, warum er nach Antalya gekommen ist, warum er für das Familienhotel arbeitet, das unser Vater aufgebaut hat und das Mutter all die Jahre geführt hat, während du... was hast du eigentlich all die Jahre getan, Emre?"
Es war eine Frage, die Emre sich selbst oft genug gestellt hatte. Was hatte er getan? Gearbeitet, ja, aber ohne je richtig anzukommen. Beziehungen begonnen und beendet. Sich in Bücher vertieft, in Theorien, in Analysen, die nie zu einem Schluss führten. Sich selbst beobachtet wie einen Fremden, immer auf der Suche nach einem Muster, einer Erklärung, einem Sinn – und dabei das Leben verpasst, das direkt vor ihm lag.
"Ich habe versucht zu verstehen", sagte er schließlich, mehr zu sich selbst als zu Yilmaz.
Sein Bruder lachte, ein hartes, kaltes Lachen. "Verstehen! Immer dieses Verstehen. Weißt du, was dein Problem ist, Emre? Du denkst zu viel und handelst zu wenig. Du hast immer nach Erklärungen gesucht, anstatt zu leben. Verstehen, analysieren, reflektieren – und was hat es dir gebracht? Eine leere Wohnung, keine Familie, keine Arbeit. Während ich..." Er breitete die Arme aus, als würde er die Welt umarmen. "Ich habe das Hotel unseres Vaters übernommen, ich kümmere mich um unsere Mutter, ich habe Beziehungen aufgebaut, Geschäfte gemacht. Ich lebe, Emre. Das ist der Unterschied zwischen uns."
Durch die Worte seines Bruders flackerten Erinnerungsbilder vor Emres innerem Auge: Yilmaz, der als Teenager Geld aus der Geldbörse ihrer Mutter stahl; Yilmaz, der seine erste Frau Hülya betrog; Yilmaz, der ihre Mutter manipulierte, um an ihr Vermögen zu kommen. War das Leben? Dieses rücksichtslose Nehmen, diese egoistische Bereicherung auf Kosten anderer?
Und doch... war Yilmaz in gewisser Weise freier als er selbst? Freier von den Zweifeln, den Schuldgefühlen, dem endlosen Kreislauf der Selbstanalyse, der Emre gefangen hielt?
Die Musik aus der Kirche hatte ihren Höhepunkt erreicht, die mächtigen Klänge im dorischen Modus schienen den ganzen Raum zu füllen, als würde Bach selbst Zeugnis ablegen von den ewigen Kämpfen der menschlichen Seele. Emre spürte, wie sein Herz im Rhythmus der Musik schlug, wie ein Teil in ihm aufwachte, der lange geschlafen hatte.
"Du hast Recht, Yilmaz", sagte er schließlich, überrascht von seiner eigenen Ruhe. "Ich habe viel Zeit damit verbracht, zu versuchen, die Dinge zu verstehen. Warum unsere Eltern mich in der Türkei zurückließen, während sie nach Deutschland gingen. Warum ich meine eigenen Kinder verlassen habe, obwohl ich weiß, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden. Warum unsere Mutter so ist, wie sie ist – kalt, berechnend, unfähig zu lieben, außer auf ihre verdrehte, kontrollierende Art. Und ja, vielleicht habe ich dabei vergessen zu leben."
Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war. "Aber weißt du, was der Unterschied zwischen uns wirklich ist, Yilmaz? Ich erkenne meine Fehler. Ich sehe, was ich getan habe, und ich versuche, es wiedergutzumachen. Du hingegen..." Er blickte seinem Bruder in die Augen, zum ersten Mal ohne die alte Furcht. "Du wiederholst die Muster unserer Mutter. Du manipulierst, du kontrollierst, du nutzt andere aus. Du bist ihr Spiegelbild, ihre Fortsetzung."
Yilmaz' Gesicht verfinsterte sich, die Maske der Überlegenheit für einen Moment verrutscht. "Du weißt nichts über mich oder Mutter", zischte er. "Du, der du uns verlassen hast, der du dich nie um sie gekümmert hast..."
"Ich weiß genug", unterbrach Emre ihn. "Ich weiß, dass du versucht hast, sie durch einen Notar als deinen Vormund einsetzen zu lassen, um an ihr Vermögen zu kommen. Ich weiß, dass du das Geld des Hotels für dich und deine Söhne abgezweigt hast. Und ich weiß auch", hier senkte er die Stimme, "dass unser Vater auf mysteriöse Weise starb, als nur du mit ihm im Hotel warst."
Es war ein Schuss ins Dunkle, basierend auf Gerüchten und Vermutungen, die Emre über die Jahre gehört hatte. Aber die Art, wie Yilmaz zusammenzuckte, die plötzliche Blässe in seinem Gesicht, erzählte ihre eigene Geschichte.
"Du solltest vorsichtig sein mit deinen Anschuldigungen", sagte Yilmaz, seine Stimme nun ebenfalls leise, aber mit einer unterschwelligen Bedrohung. "Sehr vorsichtig."
Emre spürte, wie eine seltsame Ruhe über ihn kam. Es war, als hätte die Konfrontation mit seinem Bruder etwas in ihm gelöst, einen Knoten, der jahrelang seinen Geist und sein Herz eingeschnürt hatte. "Ich bin hier, um meinen Sohn zu treffen", sagte er. "Um zu versuchen, wiedergutzumachen, was ich kann. Nicht um mit dir über Mutters Geld zu streiten oder über die Vergangenheit. Die kennen wir beide gut genug."
Yilmaz stand auf, seine Bewegungen kontrolliert, aber in seinen Augen war ein Feuer, das Emre nur zu gut kannte – das Feuer eines Mannes, der sich in die Enge getrieben fühlt und nach einem Ausweg sucht. "Du wirst dich von unserem Hotel fernhalten", sagte er. "Du wirst dich von Mutter fernhalten. Und von Ali. Er gehört jetzt zu uns, er hat seinen Platz gefunden. Er braucht dich nicht mehr, Emre. Niemand braucht dich mehr."
Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ das Café, die Tür knallte hinter ihm zu, als würde er einen Teil seines Lebens endgültig abschließen.
Emre blieb allein zurück, umgeben von den letzten Tönen des dorischen Klanges, die langsam verklangen, als hätte die Musik ihre Aufgabe erfüllt, die Seelen zu bewegen und die Wahrheiten ans Licht zu bringen, die im Dunkeln verborgen lagen.
Er griff erneut nach dem Brief in seiner Tasche, zog ihn heraus und entfaltete ihn. "Vater," las er wieder. "Ich bin in Antalya. Wenn du mich sehen willst, komm morgen um zwei Uhr in den Parkgarten am Meer. Allein. Ali."
Hatte Yilmaz recht? Arbeitete Ali wirklich für ihn und ihre Mutter im Hotel? War dies eine Falle, ein Versuch, ihn zu demütigen oder zu manipulieren?
Oder war es tatsächlich eine Chance auf Versöhnung, auf einen Neuanfang?
Emre wusste, dass er keine Wahl hatte. Er würde gehen, würde seinem Sohn gegenübertreten müssen, mit all seiner Schuld und seiner Sehnsucht. Er konnte nicht länger nur ein Beobachter seiner eigenen Geschichte sein. Es war Zeit zu handeln, Zeit, aus dem Kreislauf der Selbstanalyse auszubrechen und ins Leben zurückzukehren – wie auch immer dieses Leben aussehen mochte.
Draußen hatte der Regen nachgelassen, und ein fahles Sonnenlicht drang durch die Wolken, warf lange Schatten auf die nassen Straßen. Emre zahlte seinen Kaffee und trat hinaus in die warme, feuchte Luft. Der Meerwind strich durch sein ergrautes Haar, und zum ersten Mal seit langem spürte er nicht die gewohnte Leere in sich, sondern etwas anderes – etwas, das vielleicht Hoffnung war, oder zumindest der Beginn einer Reise, die ihn zu sich selbst zurückführen könnte.
Die Glocken der byzantinischen Kirche begannen zu läuten, ihr tiefer, voller Klang hallte über die Dächer der Altstadt. Emre schlug den Kragen seines Mantels hoch und machte sich auf den Weg zum Hotel, das er für die Nacht gebucht hatte – ein kleines, unscheinbares Zimmer, nicht weit vom Parkgarten am Meer entfernt, wo morgen sein Sohn auf ihn warten würde.
Morgen. Ein neuer Tag, eine neue Chance. Vielleicht auch ein neuer Schmerz. Aber was auch immer kommen mochte, Emre würde es nicht mehr nur analysieren, sondern erleben – mit allen Sinnen, mit offenem Herzen, bereit, die Konsequenzen seiner Handlungen zu tragen und die Scherben zusammenzufügen, die sein Leben geworden war.
Als er durch die engen Gassen der Altstadt ging, meinte er noch immer die dorischen Töne zu hören, wie ein fernes Echo, eine Erinnerung an etwas Tieferes, Wahreres – ein Versprechen, dass auch in der größten Dunkelheit Licht zu finden sei, wenn man nur den Mut hätte, es zu suchen.
Was ist wahrer, dachte Emre plötzlich: Das Leben, das man führt, oder das Leben, das man sich vorstellt? Die Handlungen, die man begeht, oder die Gedanken, die man hegt? Die Liebe, die man gibt, oder die Liebe, nach der man sich sehnt?
Vielleicht war es an der Zeit, diese Fragen nicht mehr nur zu stellen, sondern sie zu leben – in allen ihren Widersprüchen und Unvollkommenheiten, in all ihrem Schmerz und ihrer Schönheit.
Morgen würde er seinem Sohn gegenüberstehen, und was auch immer dann geschehen mochte, es würde ein Schritt sein – ein Schritt aus den Spiegelkabinetten der Seele, in denen er so lange umhergewandert war, hinaus ins offene Licht, wo das Leben in all seiner Unberechenbarkeit und Wahrhaftigkeit auf ihn wartete.
Kapitel II - Dorischer Morgen über den Ruinen
Emre erwachte, bevor die Sonne den Horizont berührte. Ein innerer Ruf, stärker als jede Gewohnheit, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen – jener seltsame Weckruf der Seele, den die alten Mystiker kannten, die Stunde, in der die Welt zwischen Nacht und Tag schwebt und die Gedanken klarer sind als zu jeder anderen Zeit.
Er lag einen Moment regungslos auf dem schmalen Hotelbett, lauschte dem fernen Rauschen des Meeres, das durch das angekippte Fenster drang, vermischt mit dem gelegentlichen Rufen einer frühen Möwe. Die Luft war schwer vom Duft des Salzwassers und der Zypressen, die den Hotelgarten säumten.
Mit bedächtigen Bewegungen, als führe er ein Ritual aus, dessen Schritte er lange nicht mehr vollzogen hatte, zog er sich an. Keine überflüssige Eile störte seine Handgriffe. Er wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser und betrachtete im Spiegel die Linien, die die Jahre in sein Gesicht gegraben hatten – Landkarten eines Lebens, das anders verlaufen war, als er es sich je vorgestellt hatte.
Wer bist du? fragte er sein Spiegelbild. Wer warst du, bevor die Welt dich formte?
Er verließ das Hotel leise, wie ein Schatten, der über die Schwelle gleitet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Straßen Antalyas lagen noch im Halbdunkel, nur vereinzelt erhellten Laternen den Weg zur Küste. Einige Fischer bereiteten ihre Boote vor, ihre Stimmen gedämpft in der Morgenstille, ihre Bewegungen so vertraut mit dem Rhythmus des Meeres, dass sie selbst Teil dieser ewigen Bewegung zu sein schienen.
Emre ging am Kai entlang, bis er eine kleine, abgelegene Stelle fand, einen natürlichen Felsvorsprung, der ins Meer ragte. Dort setzte er sich, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen, wie ein Kind, das sich vor der Kälte der Welt schützen will. Und dann wartete er.
Die ersten Strahlen der Sonne durchbrachen den Horizont wie goldene Speere, die die Dunkelheit durchbohrten. Das Meer verwandelte sich von tintenschwarz zu tiefdunkelblau, dann zu einem leuchtenden Türkis, als erwache es aus einem langen Schlaf. Emre beobachtete dieses Schauspiel mit einer Intensität, als sähe er es zum ersten Mal – oder zum letzten Mal.
In diesem Moment der Stille, während die Welt um ihn herum langsam zum Leben erwachte, spürte er etwas in sich aufsteigen, das er lange unterdrückt hatte: ein tiefes, unbenennbares Gefühl, irgendwo zwischen Trauer und Ehrfurcht angesiedelt. Es war, als würde die Schönheit des Sonnenaufgangs direkt zu einem verborgenen Teil seiner Seele sprechen, zu jenem Kind, das einst auf die Rückkehr seiner Eltern gewartet hatte, mit einer Jacke bereit für die große Reise.
"Was suchst du hier, Emre?" flüsterte er in den Wind. "Was erhoffst du dir von dieser Begegnung mit deinem Sohn?"
Die Antwort kam nicht in Worten, sondern in einem Bild: Er sah sich selbst als kleinen Jungen, wartend, hoffend, und gleichzeitig seinen eigenen Sohn Ali, der auf dieselbe Weise wartete. Die Parallele traf ihn mit einer solchen Wucht, dass er für einen Moment die Augen schließen musste.
Als er sie wieder öffnete, stand die Sonne bereits vollständig über dem Horizont, und mit ihr kam eine Entschlossenheit, die er lange nicht mehr gespürt hatte.