Im dunkelsten Wien / Im unterirdischen Wien - Max Winter - E-Book

Im dunkelsten Wien / Im unterirdischen Wien E-Book

Max Winter

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Beschreibung

Beklemmend, aufrüttelnd und schonungslos führt der Journalist und spätere Vizebürgermeister von Wien, Max Winter, in die Hinterhöfe und Stätten des sozialen Elends. Er zeigt jene Missstände auf, von denen andere nichts wissen wollen: Kinderarbeit, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit. Seine Reportagen, gesammelt in den Bänden "Im dunkelsten Wien" (1904) und "Im unterirdischen Wien" (1905), sind mit dieser Ausgabe wieder zugänglich. Ergänzt wird dieser Band durch eine bislang unveröffentlichte autobiographische Skizze "Von 1870 bis 1890. Mein Lebenslauf" aus dem Nachlass von Max Winter.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Table of Contents

Titel

Impressum

IM UNTERIRDISCHEN WIEN

Zur Einführung

Bei den Bewohnern des Wienflusstunnels

Schläfer in den Auen

Hotel Ringofen

Die öffentlichen Gewalten und die Obdachlosigkeit

IM DUNKELSTEN WIEN

Kanalstrotter

Streifzüge durch die Brigittenau

Erdberg

Max Winter: Von 1870 bis 1890. Mein Lebenslauf

Nachwort

Max Winter

Im unterirdischen Wien / Im dunkelsten Wien

Reportagen

Mit einer autobiographischen Skizze aus dem Nachlass

Herausgegeben von Ernst Grabovszki und Julia Pacal

City Lights, Band 2

danzig & unfried

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

(c) danzig & unfried, Wien, 2021

www.danzigunfried.com

Infos über Neuerscheinungen: news.danzigunfried.com/booknews

ISBN 978-3-902752-32-1

IM UNTERIRDISCHEN WIEN

Zur Einführung

Wien hat einige tausend Obdachlose, die Nacht um Nacht in den unglaublichsten Schlupfwinkeln unterkriechen, um vor den Unbilden des Wetters doch einigen Schutz zu finden. Sie sind die Überzähligen, die weder im Asyl für Obdachlose noch in dem Städtischen Asyl und Werkhaus aufgenommen werden. Für diese Parias ist nirgends Platz. Auch sie sind Menschen und lange nicht die schlechtesten, wie ich es auf meinen Entdeckungsreisen in das unterirdische Wien vielfach zu beobachten Gelegenheit hatte.

In Wirklichkeit und bildlich ist es das unterirdische Wien, in das ich den Leser mit diesem Buche einführen will: Nach dem Orte und nach der sozialen Schichtung dieser Ausgestoßenen. Sie kriechen nicht nur unter das Straßenpflaster der lichtumfluteten Residenz, sie leben auch tief unter dem sozialen Niveau derer, die hierzulande und sonstwo die schwerste Last zu tragen haben, der Lohnarbeiter. So schlimm das Los dieser ist – die von allen Gemiedenen, von niemandem Gestützten und Bemitleideten, von den öffentlichen Gewalten Verstoßenen und Verfolgten, sie sind noch viel schlimmer daran. Diese Menschen in ihren Schlupfwinkeln und Höhlen, in den Kloaken und Misthaufen, in den Ziegelöfen und auf freiem Felde zur Winterszeit aufzuspüren und die Unkultur aufzuzeigen, die neben glänzenden Palästen solches Elend duldet, machte ich mir zur Aufgabe, das öffentliche Gewissen der Millionenstadt dadurch aufzurütteln, setzte ich mir zum Ziel.

Möge diese Veröffentlichung dazu beitragen, daß diese schlimmsten Großstadt-Dokumente aus dem von Glanz und Elend gefügten Mosaik des Großstadtbildes verschwinden.

Wien, im Anfang 1905.

Max Winter.

Bei den Bewohnern des Wienflußtunnels

In den Novembertagen des Jahres 1902 wurde die Wiener Öffentlichkeit, soweit sie sich für das Schicksal der Obdachlosen interessiert, durch die Nachricht überrascht, daß die Polizei in dem durch die Einwölbung des Wienflußbettes entstandenen Tunnel förmliche Menschenjagden veranstalte. Es hieß da, daß die Polizei nächtlicherweile eingedrungen sei und eine Verbrecherhöhle entdeckt habe. Auch die dort in den »Kammern« hausenden Menschen habe sie von weitem gesehen, aber sie seien entwischt, ohne daß sie die behördlichen Organe einholen konnten. Über das Wie schwieg der Chronist. Dem Wissenden hatten die Zeitungen, die diese Meldung aus dem unterirdischen Wien verzeichneten, damit im Wesen nichts Neues gesagt. Es war allen Eingeweihten und auch der Polizei bekannt, daß die Obdachlosen der Großstadt längst schon den Wienflußtunnel durchforscht und die den Zugangsschächten angegliederten »Kammern« sowie die Kanäle, die den Tunnel mit den beiderseitigen Hauptsammelkanälen verbinden, ihren Zwecken nutzbar gemacht haben. Schon im vorhergegangenen Winter hatte die Polizei da unten Streifungen veranstaltet, die dank der Sorglosigkeit der Obdachlosen, die sich hier wenigstens sicher glaubten, nicht immer resultatlos verliefen. Seither sind die Obdachlosen vorsichtiger geworden und sie haben ihre Quartiere tiefer in den weitläufigen unterirdischen Bau verlegt, so, daß auch ein förmlicher Kriegsplan der Polizei keine Aussicht auf »Erfolg« hätte, der hier darin bestünde, daß die Polizei einige Leute zum Amte stellen würde, denen sie als zuständigen Wienern in der Regel nichts anhaben, denen sie aber auch nichts Besseres bieten könnte. Dennoch fühlt sich die Polizei, seit sie einmal Kenntnis von dem Obdachlosenheim unter dem Wienboulevard hat, von Zeit zu Zeit verpflichtet, die Parias, die da unten schmählich hausen, aufzuschrecken, sie zu beunruhigen, um in ihnen nicht das Gefühl der Sicherheit aufkommen zu lassen. Das mögen auch die Gründe gewesen sein, die die letzten Streifungen veranlaßten. Für mich war die Kunde von diesen Streifungen die Mahnung, den längst schon gefaßten Plan, in diese Geheimnisse einzudringen, nun endlich auszuführen.

So schritt ich denn an einem der letzten Novembertage ans Werk. Vor allem galt es, den Schauplatz zu erforschen. Dann erst wollte ich mir die Menschen suchen, die hier ihre Quartiere haben. Beides ist mir gelungen. Ich war zweimal im Tunnel und abseits in den Röhrengängen und Kammern, einmal bei Tag – auch bei Tag ist es da unten grabesfinster – und einmal zur Nachtzeit, begleitet von einer auf den Zehenspitzen dahinschleichenden Obdachlosenkolonie, die mich alle ihre Geheimnisse und alle ihre Zukunftspläne wissen ließ. Wir krochen durch Röhren und Kanäle in drangvoller Enge, schwitzend und pustend, und wateten durch das Wienbett, wir stolperten über Stiegen und kletterten über die Steigsprossen der Kanalschächte, immer behutsam und doch flink, immer fluchtbereit, wenn »sie« doch kommen sollten. Wir blieben ungestört, und nach Stunden ermüdender Schließerei konnte ich mich im Stadtpark von meinen Freunden trennen. Alle hatten mir bis dahin das Geleite gegeben.

***

Am Nachmittag desselben Tages, der die Meldung gebracht hatte, machte ich mich auf, um das Terrain zu studieren. Etwa eine Stunde lang umkreiste ich den Ausgang der Einwölbung im Stadtpark, stapfte im Schnee auf dem rechtsseitigen Wandelgang der Wienterrasse und spähte über die Steinbrüstung ob der stadtseitigen, abgesperrten Terrasse nach dem Gewölbe und seinen Zugängen, den Stiegenschächten. Der auf dem Landstraßer Ufer gelegene Wandelgang ist nicht bis zur Einwölbung freigegeben. Ein grüner Holzzaun sperrt ihn etwa 60 Schritte vor dem Tunnel ab. In dem abgesperrten Baum mündet ein Schacht aus, und an die hier sichtbare Stadtbahnmauer sind einige Holzhütten angebaut. Alles scheint wie verlassen. Reinigungszwecken dienende Gerätschaften stehen und liegen auf dem freien Platz vor den Hütten. Eben suche ich mir vom Stadtufer im Geiste einen Weg zum Landstraßer Schacht, als ein Mann aus einer der Hütten tritt. Ein Aufseher oder Vorarbeiter, denke ich mir. Daß er mich scharf ins Auge faßt, ist mir nicht ganz angenehm. Eine Viertelstunde später wird mir dieser Zufall von Nutzen. Ich stehe wieder auf dem Terrain der Tegetthoffbrücke, mit der die Einwölbung abschließt, als der Aufseher die zur Brücke führende breite Freitreppe heraufkommt und den niederen Drahtzaun übersteigt, der die Freitreppe vorläufig noch von der öffentlichen Benützung abschließt. Rasch entschlossen, gehe ich grüßend auf ihn zu.

»Ich bitte Sie, ist das richtig, was heute in den Zeitungen steht, daß da unten Obdachlose hausen?«

»Noch viel mehr. Grad hab’ ich’s g’lesen. Das is net alles. Da könnt’ m’r ganze Roman schreiben.«

»Können es die Menschen da unten aushalten?«

»Was denn? Is ja warm da unt’. Gar oft sehn wir’s ’neingehn.«

»Wo schlafen denn da die Leute?«

»Schlupfwinkeln gibt’s g’nug. I war ja beim ganzen Bau dabei. Da gibt’s Kammern und Gäng und Röhren, und da liegen s’ halt drinn. Schön eing’richt’ hab’n sie’s aa no. Strohdacken und Kotzen ... na die Wach’ hat ja alls g’funden, wia’s drinn war.«

»Ich begreife nur nicht, wie trotzdem die Leute da unten leben können. Sie müssen ja z’grund gehn. Schadet das den Leuten nicht?«

»Da gibt’s an’, dö scho übers Jahr daher schlafen gehen.«

»Es ist unglaublich, daß die Leute unter solchen Umständen leben können. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

»Sie können sich’s ja anschau’n. I muß eh no amal durchgehn, weil m’r grad Hochwassermesser aufstellen; wann S’ mich begleiten wollen, können S’ mitkommen.«

»Gleich jetzt?«

»Ja, i muß nur an Arbeiter mit an Licht holen. Warten S’ da.«

***

Der freundliche Kommunalbedienstete steigt die Stufen zu den Hütten hinab und kommt bald darauf zurück. In wenigen Minuten kommt auch ein Arbeiter mit einer Gasolinlampe und wir können die Wanderung antreten. Vorsichtig gehen wir über die von Glatteis überzogene Treppe zur Stadtseite hinunter. Vom Wandelgang zweigt links eine Schachtstiege ab, die uns zur betonierten Sohle des Wienflusses führt.

Quellenklar fließt in der Mitte etwa drei Meter breit das Gerinne der »stinkenden Wien«, wie das Flüßchen vor wenigen Jahren noch im Volksmunde hieß. Freilich war sie damals auch noch ein offener Unratskanal, der durch acht Bezirke der Stadt floß und dem nicht nur zahlreiche Kanäle, sondern auch die Bewohner der an das Flußbett angebauten Hinterhäuser Unrat zutrugen und der außerdem als Schneeablagerungsplatz für die ganze Stadt galt. Kam dann das Frühjahr mit seinen lauen Minden, dann gab es schlimme Tage für die Geruchsnerven. Heute ist das anders. Der Flußlauf hat über die Wiener Grenzen hinaus ein steinernes Gerinne bekommen. Kais schließen ihn ab, rechts und links laufen parallel mit ihm gemauerte Sammelkanäle, die alle Zuflüsse aufnehmen und in der Strecke, in der er die Innere Stadt berührt, ist er außerdem noch überwölbt. Nur für Hochwasser oder plötzlich eintretende heftige Regengüsse sind zur Entlastung der Sammelkanäle höher liegende Verbindungskanäle vorgesehen, durch die dann das Wasser in das genügend breite und hohe Wienbett abströmen kann. Diese in normalen Zeiten trockenen Verbindungskanäle und die ihnen angegliederten Kammern sind es, in denen die Bewohner des unterirdischen Wien ihre Quartiere aufschlagen. Auch die Zugangsschächte mit ihren Nischen und Plateaus und endlich einige Kammern, die um den Knotenpunkt des linksseitigen Sammelkanals am »Naschmarkt« angeordnet sind, dienen den Obdachlosen zum Quartier.

Das alles sollte ich nun schrittweise erfahren. Schon auf dem ersten Absatz der Wendeltreppe, auf der wir hinabsteigen, beleuchtet der vorausgehende Arbeiter ein Lager von Laub-streu, das sich ein fleißiger Obdachloser hier zusammengetragen hat, um nicht auf dem harten Stein liegen zu müssen. Es ist 4 Uhr nachmittags. Der »Bettgeher« ist noch nicht daheim.

Zehn Stufen noch, und wir stehen auf der Sohle. In der nächsten Minute schon hat uns das mächtige Gewölbe aufgenommen. Grell erleuchtet diese ewige Nacht die Gasfackel, die der Arbeiter voranträgt. Unsere Schritte geben dumpfen Widerhall. In der Ferne höre ich das Scheren der rechenartigen Schaufeln, mit denen Arbeiter das Gerinne reinigen, und dazu das Hämmern der Monteure, die eben die automatischen Hochwassermesser aufstellen. Auch ein schwaches Lichtfünkchen leuchtet aus der Nacht vor uns.

Wir kommen zu den Arbeitern. Der Aufseher gibt ihnen einige Aufträge. Dann schreiten wir weiter.

»Sehn S’, das ist das anzige, was m’r gegen die Leut’ hat. Sie tan überall hinmach’n und der urndtliche Arbeiter kann’s ihnen dann nachputzen. Wann s’ wenigstens zum Wasser gangeten, daß s’ glei wegg’schwabt wurd’. Das ist ka G’hörtsi’.«

Ich stimme ihm bei.

»Sehn S’, Herr, das is Undank«, fährt er fort. »Wir könnten denen do’ sehr unangenehm werd’n, und sie handeln so an uns ...«

Gleich darauf macht er Halt. Wir haben eben die Schwarzenbergbrücke hinter uns, das heißt den den Wienern weniger bekannten Unterbau der früheren Brücke, die mit der Einwölbung verschwunden ist.

»Da wär’ glei a Schluf!«

Wir stehen vor einer etwa meterhohen Röhre, die gegen die innere Stadt zu führt.

»Woll’n Sie sich’s anschau’n?«

»Ich bin schon dabei.«

»Also kommen S’.«

Der Arbeiter mit der Lampe schlieft voraus, dann komme ich, zum Schluß der Aufseher. Auf allen vieren klettere ich durch die sanft ansteigende Röhre. Sie mündet in eine Vorkammer, auf deren Boden eine Lache steht. An diese Kammer schließt sich eine zweite, etwa zwei Quadratmeter groß im Rechteck. Sie mündet in einen Stollen aus, der die Verbindung mit dem Sammelkanal herstellt. Der Stollen beginnt in Meterhöhe.

»Hab’n sie’s da net warm zum Schlafen?«

»Also da schlafen sie?«

»Jetzt wohl net, i siech kane ›Betten‹, aber g’schlafen hab’n s’ da aa schon ... vurig’s Jahr.«

Wir klettern wieder zurück und schreiten durch den Tunnel weiter bis unter die Elisabethbrücke und darüber hinaus zum Naschmarktschacht. Im letzten Stück öffnet sich schon der Blick auf den Anfang der Einwölbung bei der Leopoldsbrücke. Es ist ein ganz eigenartiges Bild. Der perspektivisch verjüngte Bogen sieht kleiner und niedriger aus, und dahinter wallen die Nebel des winterlichen Frühabends. Ein einziges schwaches Licht tanzt in dem Nebelmeer, das einem vorüberziehenden Strom gleicht. Im ersten Moment werde ich an dem Bilde ganz irre. Erst nach einigem Betrachten finde ich mich zurecht.

Der zweite Abstecher, den wir machen, gilt den um den Knotenpunkt des linksseitigen Sammelkanals angeordneten Kammern. Da und dort leuchtet der Arbeiter mit seiner Gasfackel hinein, nirgends andere Spuren von Menschen, als vertrocknete Exkremente, über eine Treppe steigen wir in eine Halle, in der es gar mächtig braust und sprudelt.

»Hier sind wir am Sammelkanal. Der Arm führt zum Deutschen Volkstheater und der nach Sechshaus. Kommt da wirklich die Polizei herein und stöbert sie die Leute auf – wer könnte ihnen da nachgehen? Die sind unten sicherer, wie unsereiner oben.«

»Ist das Wasser tief?«

»Nein, so bis zu die Knie wird’s gehn, wie’s heut is. Da am Rand können S’ ganz trocken gehn. Da gibt’s kein Erwischen. Da müßt’ die Polizei einen ganzen Kriegsplan entwerfen, und wir alle müßten mitgehn. Es müßten alle Ausgänge besetzt sein, und dann wär’s erst noch fraglich. Durch die Kanäle können sie bis nach Ottakring oder Erdberg gehn. Da müßt’ bei jedem Kanalloch ein Wachmann stehn ... Durch’n Sammelkanal san s’ ja aa das letztemal apascht1. Wie die Polizei oben war, san sie dann unten bei aner Röhrn außa und im Stadtpark verschwunden. Bis s’ der Inspektor bemerkt hat und ihnen Wachleut nachg’schickt hat, war’n s’ scho’, waß Gott wo.«

Wir gehen wieder über einige Treppen zurück und steigen durch den Naschmarktschacht zur Oberwelt. Ich habe genug gesehen, um nun an den schwierigeren zweiten Teil meiner »Forschungsreise« im unterirdischen Wien gehen zu können.

Ich sage dem freundlichen Aufseher herzlichen Dank, den er mit einem lokalpatriotischen Lob für das großartige Werk quittiert. »Das is gern g’schehn, Herr! Die Wiener wissen ja gar net, was in ihrer Stadt alls zu sehen gibt. Wanns wo anders so was baut hätt’n, wär’n alle Zeitungen voll davon g’wesen, und nur bei uns wird so was net estimiert. Wann S’ a paar Freunde hab’n, die das auch sehn möchten, so kommen S’ nur mit ihnen. So a Werk soll m’r kennen.«

»Nochmals besten Dank. Adieu!«

Wir schütteln uns die Hände ...

Die »Bettgeher«

Nun galt es, den zweiten Teil der Aufgabe zu lösen. Die der Polizei entwischten Gäste dieses unterirdischen Obdachlosenasyls auszuforschen, um unter ihrer Führung in die weiteren Geheimnisse einzudringen. Aus dem Gespräch mit dem Aufseher hatte ich mir die Orte gemerkt, an denen sie einsteigen, und auch das Wann. Vom Heumarkt aus durch Kanäle, von beiden Wandelgängen des Stadtparkes durch die Schächte und auch direkt über die Freitreppe bei der Tegetthoffbrücke steigen welche hinunter, andere an anderen Punkten. Zeit: 8 Uhr abends. Ich war schon vor 7 Uhr zur Stelle, um alle Zugänge besichtigen zu können und einen passenden Beobachtungspunkt zu finden. Auf gut Glück faßte ich endlich auf der Tegetthoffbrücke Posto.

Hunderte von Menschen eilen an mir vorüber. Von der Arbeit nach Hause die einen, vom Hause zum Vergnügen die anderen. Ladenschluß ist eben und zugleich Abendkorso auf dem kleinen Platz des Eislaufvereines. Jeder Stadtbahnzug bringt eine neue Welle sportlustiger Dämchen und Herren, und jeder Zug entführt einige Dutzend arbeitsmüder Fräulein und junger Kaufleute nach ihren entfernten Wohnorten. Der Stadtbahnportier kann dem Schwall nicht standhalten, und er unterläßt in dieser Stunde sein freundliches »Gute Nacht«, das er sonst für jeden hat. Equipagen und Fiaker bringen auch Gäste zum Eislaufverein. Fast wären unter einen dieser Wagen einige Jungen gekommen, die auf der Fahrbahn der Brücke mit einer Eisscholle – Fußball spielen. Drüben aber auf dem taghell beleuchteten Platze ziehen die Läufer Kreise und Bogen und tanzen und springen zu ihrer und der anderen Lust. Die Künstler wohl auch, um Bewunderung zu erregen. Und im Stadtpark raunt und flüstert es wie in lauen Frühlingsnächten, und behördlich nicht legitimierte Weiber erwerben in steter Gefahr die Mittel zu ihrem traurigen Dasein. Paar um Paar erscheint lustwandelnd auf dem rechtsseitigen Wandelgang des Stadtparkes. Der Schnee reflektiert das grünliche Licht. Nur eine Ecke ist dunkel ... die an dem grünen Gitter vor den Wächterhütten. Diese Ecke wird von allen gesucht: von den Liebespärchen und den anderen Paaren, deren weiblichen Teilen die »Liebe« ein Geschäft ist, ein ekelhaftes und schlecht gehendes zugleich. Schon gar zu lange hält sie ein Paar besetzt. Ein Mann in Uniform steht auf der Stiege, die zur Terrasse führt, und beugt sich spähend vor, unverwandt nach den beiden Ahnungslosen blickend. Die anderen Paare kommen der Ecke immer bis auf fünf Schritte nahe. Dann machen sie wieder kehrt. Noch immer nicht frei, die einzige dunkle Ecke ... Jetzt hüllt eine Rauchwolke alles in undurchdringliches Grau. Eine Stadtbahnlokomotive mit dem Rauchverzehrapparat hat sich des ewig gestörten Pärchens in der Ecke erbarmt. Wohl zwei Minuten lang bleibt alles in der Wolke begraben: die Terrasse und die Menschen. Langsam heben sich die Schwaden. Jetzt geht das Pärchen. Im Gehen schließt der hitzige Mann seinen Überrock. Rechts über die Treppe gehen sie in den Kinderpark, der von einzelnen Spaziergängern durchschritten wird.

Über einen der ausgeschaufelten Wege streicht langsam eine Vierzigjährige. So viel Lenze mag sie wohl zählen trotz ihrem koketten Lächeln, das jetzt geschäftsmäßig über ihre Wangen gleitet.

»Wohin?« So spricht sie mich an.

»Spazieren. Und Sie?«

»A bisserl umadum ...«

»Kalt ist’s, nicht wahr?«

»O na, heut net ... gestern hat mi g’frurn ... aber heut is’s ja warm.« Dabei zieht sie den schwarzen Mantel, der ihre Figur einhüllt, fester zusammen. »Begleit’n S’ mich.«

»Wohin?«

»Da nunter zur Wean.«

»Da geht’s ja net. Hast du keine Wohnung?«

»Durthin kann i net ‘führen’. Kummens Herr Doktor – sie werden’s net bereuen. Da stört uns niemand. Hätt’ i so viel Guld’n, als dort ...«

Immer zudringlicher preist sie die Ware und Gelegenheit.

»Wir werden uns gut amüsieren, Schwarzer.«

Sie versucht, schalkhaft zu lächeln – aber längst ist die Grazie beim Teufel.

Ich lasse die Enttäuschte stehen und gehe wieder auf meinen Beobachtungsposten auf der Brücke. Bald darauf haben sich der Mann in Uniform, ein Musikfeldwebel und die einsame Wandlerin gefunden. Jetzt gehört die Ecke ihnen ...

Auf der Brücke dort oben hat aber der Zug der Geschäftsfräulein und der männlichen Kaufmannssklaven noch immer kein Ende und auch noch zum Eislaufverein kommt Zuzug; wenige ältere Damen und Herren, die ihre Kinder abholen, vermummte Dienstmädchen, die die »höhere Tochter« erwarten müssen. Nach 8 Uhr hat das Eisvergnügen sein Ende. Wagen um Wagen rollt von dannen. Mit hochgeröteten Wangen kommen die Töchter und jungen Herren auf die Straße und hüllen sich fester in ihre Mäntel, Pelze und Schals. Rasch macht das lebhafte Bild dem ruhigeren der Nachtstunden Platz. Unten auf dem Wandelgang aber flüstert und raunt es wie vordem. Die Geheimnisse des Stadtparkes werden nicht in die Welt geschrien.

***

So sind etwa anderthalb Stunden vergangen. Es ist halb 9 Uhr geworden und noch immer keine Spur von den Obdachlosen. Mich friert schon erbärmlich. Seit einer halben Stunde tanze ich auf einer quadratmetergroßen Fläche umher, um mich warm zu erhalten. Schon beginnt mich meine Geduld zu verlassen, da übersteigt plötzlich unbeholfen und schwerfällig ein Mann den niederen Drahtzaun. In wenigen raschen Schritten bin ich zur Stelle. Der andere ist schon auf der Freitreppe. Ich rufe ihn zurück.

»Gehn S’, kommen S’ a bißl her. Ich muß Sie was fragen.«

Torkelnd wankt der Mann auf mich zu. »Was woll’n S’ denn?«

»Gehst pfeif’n?« raune ich ihm vertraulich zu.

An einem Pflock gewinnt er einigen Halt.

»Warum?«

»Mich interessiert’s. Pfeifst du in der Wean?«

»Ja.« Dann sieht er mich prüfend an ... »San Sö der Herr Max Winter?«

»Ja, der bin ich, und jetzt kumm mit mir. I brauch a Platt’n2. I möcht mit euch in der Wean übernachten ...«

Täppisch wie ein Bär macht der Trunkene Versuche, den Zaun zu übersteigen. Ich helfe ihm und ziehe ihn gegen den Stadtpark zu. An der Auffahrtsrampe des Kursalons vorbei nehmen wir unseren Weg zur Ringstraße. Eben ist der erste Abend eines Nikolofestes zugunsten der mißhandelten Kinder vorüber. Ein Wagenschlag fällt zu. Die Pferde ziehen an und steigen vorsichtig in verhaltenem Schritt über die steile Rampe herab. Der Fiaker steht auf dem Bock. Erst da der Wagen auf ebenem Boden ist, setzt er sich. Mit dem eigentümlichen Schnalzer der Zunge ermuntert er die Pferde zum Trab. Ich suche den Betrunkenen aus dem vollen Licht zu bringen, denn wir sind doch ein gar zu ungleiches Paar. Ich will ungestört bleiben. Der aber bleibt gerade hier stehen.

»Bist du aber aa wirklich der Herr Max Winter?«

»Aber ja, wann i scho sag’. Vor mir brauchst kane Federn3 z’ haben.«

»Du, dös sag’ i dir aber, wannst leicht a Kiewerer4 bist, dann verputz die’ liaba.«

Nochmals und nochmals versichere ich dem Wann, daß er von mir nichts zu fürchten habe. Er bleibt aber standhaft – im Mißtrauen.

»Es sag’n an unter uns, daß d’ a Zünder5 bist. Wann dös wahr is, dann wirst kalt g’macht6, obs d’ drunt bist oder heraust.«

»Oeha, Schackerl! Nur net so gach. Wer dös von mir sagt, daß i wamsen geh’, den zagst m’r. Mit dem werd’ i reden. Und jetzt mach kane G’schichten, wo is die Platt’n?«

»San Sö’s wirklich?«

»Jetzt wird’s scho fad, dö Fragerei. I kann wegen dir net aus meiner Haut fahren.«

So oft er mich fragte, war er stehen geblieben und hatte mich dabei fest angesehen.

»Alser, wannst es bist – werd’n schon entschuldigen, wann i du sag’ ...«

»Nur zu!«

»Wannst es bist, dann kumm. I scheiß mi eh net um d’ Polizei, und an Weaner können s’ ja nix anhab’n. ’n Hausverbot in der Hütten’7 hab i aa. Was können s’ denn mir tuan? Traurig is ‘s nur, daß mir Weaner so beinand san ... Aber tuan können s’ uns nix. I war drei Jahr mit an falschen Scherm8 in der Hütten, und sie hab’n ’s net amal gneißt. Aber du bist a fescher Kerl, du hast no a Herz für an’ Pülcher ... Wannst es wirkli bist, dann habe die Ehre. All’s zag’n m’r dir. Sag, i hab’s g’sagt, all’s, und du bist aa ka Wamser net. Du warst ja scho in der Hütt’n draußt?«

»Aber natürli! Und wo anders aa scho ... im Simmeringer Ring, in der Teppichklopfern ...«

»Waß eh all’s. Du bist ’s scho.«

Damit haben wir glücklich die Ringstraße übersetzt. An einer Ecke bleibt er bei der Laterne stehen und gräbt seine braunen Hände suchend in die abgrundtiefen Taschen seines Winterrockes. In der inneren Brusttasche findet er endlich, was er gesucht hat: seine Werkhauslegitimation, sein Heimatsdokument.

»Da hast mein’ Scherm.«

Ich sehe nur das Geburtsjahr. 1858. Also schon ein Vierziger. »Bist scho lang bei dem G’schäft?«

»D’rlebt hat a jed’s von uns was ... Stein ... Garsten ...«9

»Wann bist denn das letztemal los’gangen?«

»Im 98er Jahr.«

»Da hast di eh scho lang net d’rwischen lass’n.«

Er lacht. »Wann aner amal die Hex10 g’habt hat, wird ’r vorsichtig.«

Dann gehen wir schweigend nebeneinander durch ein Kreuz und Quer von Gassen.

***

Vor einem Restaurant machen wir Halt. Einige leere Bierfässer sind auf dem Trottoir aufgestapelt. Hier war für heute abend das Stelldichein der siebenköpfigen Platte, zu der mein betrunkener Führer zählte.

»Da bring’ i euch wem?«

»Kennt ihr mich einer?« Damit trete ich unter die Schar. Alle sehen mich an. Einige sagen nein. Die anderen schweigen.

»Dös ist der Herr Max Winter«, so stellt mich der Kleine vor und wischt sich dabei mit dem Ärmel den Schnurrbart ab.

Ich gehe geradenwegs aufs Ziel los und mache der Runde den Vorschlag, mich in ihre Quartiere mitzunehmen. Ein Blondbärtiger mit gutmütigem Gesichtsausdruck nimmt das Wort:

»Da draus wird nix!« sagt er bestimmt. »Mir hab’n so ka Ruah von der He11 ... Kennst du den Herrn, Gelber?« So wendet er sich an den Kleinen, der mich gebracht hat. Der erzählt nun, wie wir uns soeben kennen gelernt haben, und daß er mir glaube.

Der Blonde bezweifelt meine Identität. Eine an mich gerichtete Postkarte legitimiert mich. Aber die Bedenken, daß ich ein Zuträger der Polizei sei, bleiben. Der Blonde äußert es ganz bestimmt. »G’nutzt hab’n S’ uns no nix, ehender g’schad’t.«

»Ja, das is wahr«, gebe ich zu. »Aber wer euch nutzen will, muß euch doch zuerst kennen und muß wissen, wie es euch geht, damit er weiß, wo der Hebel anzusetzen ist. Daß ihr darum nicht die schlechtesten Menschen seid, weil ihr so herabgekommen seid, dieser Glaube muß zerstört werden. Dann erst kann euch vielleicht geholfen werden. Heute noch nicht und morgen noch nicht. Höchstens daß ich euch a paar Schuh zusammenfecht’ oder a paar Kreuzer, daß ich euch momentan hilf – aber auf die Dauer euch zu helfen, bin ich allein zu schwach. Ich weiß, ihr werdet wieder verfolgt werden, wenn ich bei euch war. Aber das ist euch ja nichts Neues. Ihr müßt auf der Hut sein, daß es euch nicht so geht wie im vorigen Jahre den Obdachlosen in der Brigittenau12, aber geschehen kann euch ja nichts.«

So suche ich ihre Bedenken zu zerstreuen und gewinne nach und nach ihr Vertrauen, wenn auch das Mißtrauen immer noch aufzuckt.

Erst mit einem Detail scheine ich sie ganz zu gewinnen. Wir sprechen über die Schlupfwinkel im Wientunnel, ich erzähle ihnen meine Erfahrungen, und dabei mache ich ihnen die Vorwürfe der Arbeiter:

»Kaner möcht’ euch was in’n Weg leg’n, wanns ihr ihnen net all’s vollmach’n täts. Gehts do zum Wasser, damit s’ euch nix nachz’putz’n hab’n.«

»Sech’ts ös, i hab’s immer g’sagt. Dös hab’n m’r jetzt davon. Aber wann i no amal an’ d’rwisch, so an Hund! I schmeiß eahm glei’ alser ganzer ins Wasser!« So der Blonde. Und zu mir sagt er verteidigend: »Wir gehn ja so allerweil zum Wasser. Das san die andern ...«

»Sind jetzt viele unten?«

»No, a vierz’g, fufz’g werd’ns scho sein.”

***

Darüber debattieren sie eine Weile. Dann wendet sich ein junger, hübscher Bursche, dem eine hochgeschlossene grüne Plüschweste und lange Locken das malerische Aussehen eines Savoyardenknaben geben, an mich: »Aber, Herr Winter, an’ Liter Bier zahl’n S’ uns!«

»Net an Tropfen. Ihr tuts so gnua Hansel spritzen.13 A Nachtmahl weg’n meiner könnts haben. Wieviel seids denn?«

»Siebene.«

»Also hol’ für jeden zwa ›Safaladi‹ und an Zwanzgerlab. Is ’s euch so recht?«

»Aber ja. I hab’ eh heut’ no nix gess’n.« Damit ergreift ein Dicker mit blondem Schnurrbart das Wort. Müller rufen sie ihn.

Der Savoyard springt schon fort.

»Aber net päuli gehn!«14 ruft ihm noch der Dicke nach. Seine langen, hellen Strähnen tanzen ihm am Nacken. In wenigen Minuten ist er bepackt zurück. Alle beginnen sofort einzuhauen. Der Blonde schneidet das Brot auf, der Dicke teilt ehrlich die Zervelatwürste, und ein dritter schleppt ein eben leer gewordenes Faß aus dem Restaurant.

»A Lack15 is aa auf der Welt!«

Er langt in die innere Rocktasche nach seinem »Taxl«16, stellt ihn auf das Pflaster und gießt den Rest in die blau emaillierte, schmierige Rein, die nun von Mund zu Munde geht. Der Blondbärtige trinkt und reicht dann mir den »Taxl«.

Einen Augenblick zögere ich, dann lange ich zu. »Euch zulieb. Sonst trinke ich fast nie.«

Mit diesem Ehrentrunk der Hanselspritzer habe ich mir ihr Vertrauen vollends erobert, und ich kann beruhigter den Ereignissen des folgenden Abends entgegensehen. Zu einem nächtlichen Besuch war ich heute nicht ausgerüstet und so mußte ich den dritten Teil meines Programms, die Besichtigung der Wohnstätten zur Nachtzeit, für die nächste Nacht aufschieben.

Nachdem wir das Stelldichein vereinbart haben, wende ich mich zum Gehen, erfüllt von den reichen Eindrücken des Tages und nicht ohne Bangen der kommenden Nacht entgegensehend.

Im Tunnel

Als ich am folgenden Abend zur Stelle kam, erwarteten mich meine Freunde schon. Nicht alle, aber fünf von gestern. Der Blondbärtige fehlte. Es war ihm zu kalt geworden und er war ein wenig fortgegangen. Die anderen erwarteten jeden Augenblick seine Rückkehr. Nach einer Viertelstunde etwa mußten wir uns entschließen, einen Posten zurückzulassen. Wir anderen brachen in zwei Partien auf. Unsere Gesellschaft war mittlerweile wieder um drei Köpfe stärker geworden. Drei junge Leute haben sich zu uns gefunden. Einer erkannte mich sofort – es war ein Elendsbürger aus dem Ziegelofen. Obwalteten noch Bedenken wegen meiner Person, jetzt waren sie endgültig zerstreut. »Na also, siehst, der kennt mich«, wendete ich mich an den dicken Müller, der mir gestern abends nicht besonders freundlich begegnet war. Der Neuankömmling bekräftigte sofort nochmals, daß er mich kenne. Gleichmütig nahm es Müller auf, aber später zeigte er sich als hilfsbereiter Führer. Nach dem Nachtmahl, das wieder der Savoyarde besorgen mußte, brachen wir auf. Kurz vorher war ein Wachmann ganz knapp an unserer Gruppe vorübergekommen. Meine Gefährten grüßten ihn. Ich mit. Er besah sich die Gesellschaft und ging weiter.

»Dös is a rarer Mann! Von den hab’n m’r nix z’ fürcht’n. Wenn alle so wär’n wia der, dann wär’s für uns guat. Gar oft hat uns der scho’ a Techserl g’schenkt. I glaub’, der ziaget sein’ Rock aus und decket uns damit zua, wann ‘r an von uns frieret finden möcht’!«

So übertreibt die Dankbarkeit dieser ewig Verfolgten, wenn ein behördliches Organ einmal aus der Art schlägt und nicht gerade gegen die Wehrlosesten machtvoll auftritt, sondern die Energie bei dringenden Anlassen ausgibt.

»Warum soll’s denn nicht auch unter der Wach’ denkende und fühlende Menschen geben? Das ist ja nicht verboten.«

Meine Gefährten lachen.

»Is eh der anzige!« sagt der dicke Müller.

Ich mahne nun ernstlich zum Aufbruch. Der Müller, der Savoyard und ich bilden die erste Gruppe, die anderen folgen. Einer bleibt zurück, um die Fehlenden, den Blonden und den Gelben, zu erwarten. Im Stadtpark wenden wir uns der Karolinenbrücke zu und gelangen nach dem Übersteigen eines Holzzauns auf die abgesperrte linksseitige Wandelpromenade. Knapp an der steinernen Wand, in deren Nischen große himmelblaue Vasen stehen, schleichen wir dahin bis zum »Tegetthoffturm«, wie die Obdachlosen diesen Schacht heißen, und durch diesen auf die Sohle des Wienflusses. Das Laubstreubett im Turm ist auch jetzt unbenützt.

***

Wenige Schritte, und wir sind im Tunnel. Wir gehen denselben Weg, den ich gestern gegangen – aber nicht mehr wie gestern. Auf leisen Sohlen schleichen wir dahin. Wortlos und ohne Licht. Die Laternen draußen senden zwar matten Schein hierher, etwa hundert Schritt weit in den Tunnel, aber dahinter ist es grabesfinster. Nur noch in der lautlos dahinfließenden Wien brechen sich die letzten Strahlen. Die einst so Verachtete glänzt silbern durch die Nacht als freundlicher Wegbegleiter. Zum »Genießen« der Stimmung fehlt mir freilich die Zeit. Meine Führer eilen zu rasch weiter. Dazu kommt, daß meine Röhrenstiefel auf den Zehengang nicht eingerichtet sind. Die zwei vor mir huschen wesenlos rasch dahin. Kaum sehe ich sie mehr im Dunkel. Ich trete voll auf. Mit dem einen Fuß nur – aber schon hat den Müller das schwache Geräusch gestört: