Im dunklen Zimmer - Isaac Rosa - E-Book

Im dunklen Zimmer E-Book

Isaac Rosa

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Beschreibung

Eine Gruppe von Freunden mietet gemeinsam ein Ladenlokal, das jeder für seine Zwecke nutzt: als Arbeitsplatz, als Übungsraum, Studierzimmer oder Werkstatt. Im Untergeschoss richten sie ein Zimmer ein, eine Art Gemeinschaftsraum, wo man sich trifft und zusammen feiert ... Als eines Abends der Strom ausfällt, kommen sich die Freunde in der anonymen Dunkelheit erstmals sexuell näher. Dies ist für alle eine so einschneidende Erfahrung, dass das dunkle Zimmer in der Folgezeit zur festen Anlaufstelle wird. Später gerät es wieder in Vergessenheit, die Freunde schließen ihr Studium ab, finden Arbeit, machen Karriere, einige heiraten, bekommen Kinder. Doch dann erfasst die Wirtschaftskrise das Land mit voller Wucht. Das dunkle Zimmer wird wieder zum Fixpunkt, diesmal als Zufluchtsort vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen und existenziellen Krisen. Durch den schmerzhaften Verlust alter Gewissheiten sind die Freunde gezwungen, sich selbst und ihre Rolle in der Gesellschaft infrage zu stellen. Das Ladenlokal wird nach und nach zum Treffpunkt politischer Aktivisten, darunter ein Hacker, der kompromittierende Videos von mächtigen Wirtschaftsführern sammelt ...

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Seitenzahl: 362

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Isaac Rosa

Im dunklen Zimmer

Roman

Aus dem Spanischen von Luis Ruby

Die vorliegende Übersetzung wurde unterstützt durch Acción Cultural Española, AC/E.

Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »La habitación oscura« bei Seix Barral, Barcelona.

© Isaac Rosa 2013

© Editorial Seix Barral 2013

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Dave Wall / Arcangel

Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München

Lektorat: Corinna Santa Cruz, Frankfurt/Main

eISBN 978-3-95438-155-5

Für Marta, für all das Licht.Und für Elena Ramírez, die lesend erleuchtet.

Inhalt

Eins

REC

Zwei

REC

Drei

REC

Vier

REC

Fünf

REC

Sechs

REC

Sieben

REC

Acht

Eins

Bleib nicht da stehen. Komm doch rein, wir sind alle schon da. Hinter dem Vorhang, die Tür: Sie ist offen, du brauchst nur dagegenzudrücken, während der schwere Stoff hinter dir sich schließt und das spärliche Licht auf dem Korridor zurückbleibt. Die Tür gibt mühelos nach, und als du ein paar Schritte nach vorne machst, spürst du, dass sich die Dunkelheit auf deinem Gesicht verfestigt hat, sie fühlt sich rau an, aber nein: Das ist die zweite Stoffbahn, die an einer Stange hängt, im Halbkreis, damit die Tür sich nicht verfängt. Wirkt übertrieben, zwei Vorhänge, aber nur so können wir sicherstellen, dass auch nicht ein Splitter Helligkeit hereinfällt, wenn jemand das dunkle Zimmer betritt oder verlässt. Der Vorhang besteht aus einer Stoffbahn, hör auf, nach einer Lücke zu tasten: Du kommst nur seitlich vorbei, wie beim Betreten eines Tempels. Drinnen angekommen, suchst du zur Orientierung die nächste Wand, legst die Hand auf die weiche Oberfläche. Von da an kannst du am Rand entlanggehen, ohne dich von der Wand zu lösen, oder einige Schritte zur Raummitte hin machen, mit vorgestreckten Händen. Du weißt, dass keine Gefahr besteht, gegen Möbel zu stoßen, die gesamte Einrichtung beschränkt sich auf drei Matratzen an der Rückwand und zwei Sofas an den Seiten. Dass du vorsorglich die Hände ausstreckst, hat mit den Leuten zu tun, die im dunklen Zimmer sind, du möchtest mit niemandem zusammenstoßen. Eingangs war uns nie klar, wie viele von uns schon drinnen sein mochten, ob da irgendjemand in einer Ecke saß oder ob man als Erster kam, aber heute sind wir alle da. Nur du hast noch gefehlt, und jetzt bist du angekommen. Such dir einen Platz, find ein Stück Wand, an dem noch niemand lehnt, ertaste die Körper auf deinem Weg, die am Boden sitzen wie eine Felsengruppe, dann berührst du noch einen Kopf und dann keinen mehr, lass dich dort fallen und schließ den Kreis. Sag nichts, stell keine Fragen, wir wissen, dass heute ein besonderer Tag ist, ein anderer als sonst, aber bisher hat keiner die Stille durchbrechen wollen, die seit dem ersten Tag untrennbar mit der Dunkelheit verbunden ist. Wir sind alle eingetreten, als wäre das ein ganz normaler Tag: jeder für sich, haben im Gang die Schuhe stehen lassen, beim Öffnen des Vorhangs kaum einen Lufthauch erzeugt, haben ins Leere geblinzelt und auf der Haut diese dichte Hitze gespürt, die uns schon immer elektrisiert hat. Einige von uns sind schon länger nicht mehr hier gewesen, und so hatten wir beim Ankommen diesen Anfängerreflex, uns in alle Richtungen umzusehen, nach dem winzigen Spalt Licht zu suchen, den die Pupillen brauchen, um die Welt zu rekonstruieren, dem Raum Grenzen zu geben, aber da ist nichts. Es herrscht keine absolute Dunkelheit, wir wissen, dass es so etwas nicht gibt, nur die Unfähigkeit des Auges, den winzigen Rest Licht zu sehen, der selbst in der tiefsten Grube noch vorhanden ist, ein Glanz, der unzerstörbar bleibt. Aber das hier kommt dem Absoluten am nächsten, nirgends haben wir eine solche Dunkelheit erfahren, trotz aller Versuche: zu Hause, wo man noch so sehr die Rollläden herunterlassen, die Vorhänge und Türen schließen kann, es dringt doch immer ein feiner Lichtstrahl herein, der die Pupillen erregt, und dann weiten sie sich und erkennen schließlich etwas, eine Form, einen Schatten, der dichter ist als die anderen. Hier nicht. Auch Stille existiert nicht absolut, das wissen wir, sosehr wir uns bemüht haben, das dunkle Zimmer schallsicher zu isolieren. Wenn du es dir schließlich auf dem Boden bequem gemacht hast und das Kleiderrascheln aufhört, das Knacken der Gelenke, mit dem du dein Kommen angekündigt hast, wird dir klar werden, warum wir heute auch nicht reden, warum wir trotz allem, was wir uns zu sagen haben, diese Stille vorziehen, die niemals umfassend ist: Selbst wenn wir allein hier waren und um uns herum kein Atem, auch kein Rascheln, kein Schnalzen mit der Zunge oder Einsinken der Matratze, brachte doch unser eigener Leib den Grund des Gehörs zum Schwingen: der Atem, der Pulsschlag, die Regungen der Eingeweide, das lebendige Summen des Organismus, das stärker wird, wenn das Ohr kein Außengeräusch findet, dem es sich anvertrauen kann, und dann wendet es sich suchend nach innen. Heute wollen wir diese Stille bis zur letzten Sekunde auskosten, denn wie du weißt, ist das hier ein Abschied: Die Sache geht zu Ende, mit dem dunklen Zimmer ist es vorbei, genieß also zum letzten Mal die Abwesenheit von Licht und Geräuschen, atme tief ein, bevor du diesen Geruch verlierst, den das Gedächtnis noch eine Zeit lang behalten wird, wenn wir gehen: ein Kleister aus vielen Gerüchen, die diese geschlossene Atmosphäre verdichten, die scharf würzige Luft, die dir in die Nase steigt, wenn du durch den zweiten Vorhang trittst, über Jahre angesammelt wie ein riesiger Ball aus alten Lumpen, wenn wir ihn auftrennen und die Bestandteile einzeln betrachten könnten, würden wir sie einen nach dem anderen wiedererkennen. Und nun atme tief ein, wir werden diese Luft nicht noch mal riechen, das ist das Ende. Heute klappt die Zeit sich ein, ein Blatt, das in der Mitte gefaltet wurde, damit Anfang und Schluss sich überlappen, damit dieser letzte Tag mit jenem ersten Abend zusammentrifft, an dem wir ebenfalls alle hier waren, so wie heute: im Kreis sitzend und schweigend, das dunkle Zimmer mit derselben Hingabe willkommen heißend, mit der wir es heute verabschieden. Gefaltete Zeit, oder besser: zirkuläre Zeit, als wären wir zurück auf Start gelandet, als hätte ein Wimpernschlag fünfzehn Jahre gedauert, und in Wirklichkeit hätten wir uns nie von hier wegbewegt. Die Erinnerung explodiert in der Mitte des Zimmers und durchzuckt uns wie ein elektrischer Schlag, der alle gleichzeitig trifft. Obwohl wir es nicht aussprechen, teilen wir das Gefühl, es sei erst wenige Sekunden her, dass wir das Licht zum ersten Mal ausgeschaltet haben, als hätten wir heute und nicht an jenem fernen Abend die alten Stühle und den von den Vormietern zurückgelassenen verstaubten Plunder auf den Korridor hinausgetragen, das Lüftungsfensterchen mit einem Brett abgedeckt, die Ritzen mit Isolierband überklebt, Löcher für die Vorhangstangen in die Wände gebohrt, den Spalt unter der Tür mit einer Profilleiste geschlossen, Nägel eingeschlagen, Bodendielen abgeschliffen, Schaumstoffpaneele an die Wände getackert und stückweise zugeschnitten, um noch die letzten Winkel abzudecken. Dann blieben wir vor den zwei großflächigen Spiegeln stehen, die sich über eine halbe Wand erstreckten, seit damals, als hier im Untergeschoss Tanzkurse für die Nachbarschaft abgehalten wurden: Wir diskutierten darüber, was wir damit machen sollten, ob abnehmen oder dalassen; es kam das abergläubische Argument, man solle sie ab- oder wenigstens verhängen, doch letztlich beschlossen wir, sie zu behalten, es hatte etwas Aufregendes, ein dunkles Zimmer zu betreten und uns darin verdoppelt zu wissen, obwohl wir über all die Jahre, falls nicht gerade eine Hand die kühle Oberfläche streifte, nie mehr daran denken sollten, dass da noch ein blinder Spiegel war, dass unsere Bewegungen einen schwarzen Widerhall hatten. Aber heute ja: Heute denken wir an den Spiegel, als wäre er nicht seit fünfzehn Jahren außer Betrieb, als hätten wir erst vor einer Sekunde aufgehört, ihn zu sehen, just bevor das Licht ausgeschaltet wurde, nachdem wir noch einmal die Krampen an den Wänden überprüft, das Klebeband über den Ritzen verstärkt, die Teppiche ausgerollt, die Sofas und Matratzen hereingetragen und eine Taschenlampe angeknipst hatten, die unsere Schatten auf den Wänden breiter werden ließ und uns erlaubte, die Neonröhre von der Decke zu montieren, um abschließend noch einmal alles durchzugehen. Wir strichen mit der Hand über die Böden und Dämmplatten, auf der Suche nach einer scharfen Kante, an der wir uns im Dunkeln aufschürfen könnten; wir spannten die Teppiche nach und nagelten sie auf den Dielen fest, um Faltenwurf zu vermeiden, diese mögliche Stolperfalle, schlossen dann, als endlich alles überprüft war, die Tür und zogen den Innenvorhang zu. Wir sahen einander an, über den Raum verteilt wie heute, vielleicht haben wir uns unwillkürlich auf dieselben Plätze gesetzt, die wir am Tag der Einweihung einnahmen, geblendet von der Taschenlampe, die einmal ringsum schwenkte und uns kenntlich machte, wie um einen nach dem anderen zu verabschieden. Vom Spiegel kam ein Funkeln zurück, sein letztes Wort. Und dann löschten wir das Licht, ein Licht, das seither nicht wieder eingeschaltet wurde, das wir heute jedoch erwarten, als könnte es uns jederzeit anstrahlen und den Kreis schließen, das Blatt falten, die Zeit einklappen, die Symmetrie vervollständigen, und dann würden wir wie in einem rückwärts bedienten Laufbildbetrachter aufstehen, den Vorhang und die Tür öffnen, die Leuchtröhre wieder an der Decke anbringen, die Teppiche von den Nägeln befreien, die Sofas und Matratzen nach draußen tragen, die Schaumstoffplatten von den Wänden reißen, das Klebeband von den Ritzen ziehen, das Lüftungsfenster freilegen, die Vorhangstange abmontieren, sämtliches Material entfernen, die alten Stühle und den verstaubten Plunder ins Zimmer zurückstellen, die es einst beherbergt hat, um schließlich in den Gang hinauszutreten und die Tür hinter uns zu schließen, die wir an jenem Tag geöffnet haben.

Aber da müsste man ein Stück weiter zurückblicken, noch weiter in der Zeit zurückgehen, da dürfen wir nicht beim Abend der Einweihung stehen bleiben, an dem wir die Fenster abgedichtet und die Wände gepolstert haben. Man müsste ein paar Wochen früher in die Vergangenheit einsteigen, beim ersten Dunkelzimmer, das in Wirklichkeit nicht dunkel war, nicht komplett; und es war auch kein abgetrennter Raum, noch nicht. Aber ohne jene erste Dunkelheit, wie zufällig und unerwartet sie auch kam, wären wir heute nicht hier, säßen nicht im Kreis, ohne uns zu sehen, obwohl wir einander erahnen, als hätten sich unsere Augen nach all den Jahren an die Dunkelheit gewöhnt. Das erste Mal: Wir hatten die Räume erst zwei Monate zuvor gemietet, und obwohl das Zimmer von Anfang an da gewesen war, die Treppe runter am Ende eines Korridors, hatten wir es nur am ersten Tag geöffnet, als der Eigentümer uns die Schlüssel überreichte und wir das Ladenlokal euphorisch in Besitz nahmen. Wir inspizierten es bis in den letzten Winkel, warfen auch einen Blick durch besagte Tür und beschlossen, den Keller als Abstellraum zu nutzen. Das erste Mal: Es war Samstag, und damals versäumte niemand unseren Termin. Den Rest der Woche kamen und gingen wir nach Bedarf, manchmal kreuzten sich unsere Wege, jeder nutzte das Lokal zu seinen Zwecken: als Büro, als Ort zum Lernen für diejenigen, die noch an der Universität waren oder sich auf ihre staatlichen Auswahlprüfungen vorbereiteten, als Hobbyraum, wenn ein Steckenpferd mehr Platz verlangte, als jemand in seiner Wohnung hatte oder noch in seinem Zimmer bei den Eltern, als ruhigen Ort, an dem man Klarinette üben konnte, ohne dass sich die Nachbarn beschwerten, in einigen Nächten auch als Liebesnest, als diskrete Kammer, in der ein nächtliches Date seinen Höhepunkt finden konnte, ein Zweck, für den wir auch Absprachen trafen. Aber samstags waren wir alle da, nutzten das Lokal wie früher das Wohnzimmer irgendeiner WG, die Kneipen oder die asphaltierten Alleen, am offenen Kofferraum des Autos. Das erste Mal: dadurch ermöglicht, dass wir damals andere waren, nicht diejenigen, die jetzt angespannt warten, wir hören fast schon das Herzklopfen der Anwesenden um uns herum. Wir waren andere, und deshalb konnte es dazu kommen: Wenn uns dasselbe zehn Jahre später passiert wäre, hätten wir nicht so reagiert, wir hätten über den Stromausfall gescherzt und im Dunkeln gelacht, aber ohne aufeinander zuzugehen, hätten den körperlichen Abstand gewahrt, den die Zeit immer größer werden lässt. Und wenn es fünfzehn Jahre später passiert wäre, den Menschen also, die wir heute sind, dann würden wir eilig zu Feuerzeugen und Handys greifen, um nicht im Dunkeln zu sitzen, und sofort bei den Stadtwerken anrufen, um uns zu beschweren. Aber damals nicht, damals waren wir andere. Wenn wir heute an jenes erste Mal zurückdenken, trügt uns die Erinnerung: Sie zeigt uns wie auf einem Foto, aber nicht als die, die wir waren, sondern als die, die wir heute sind. In der jugendlichen Kleidung von damals, das schon, verteilt über die Sofas im Erdgeschoss wie an jenem Tag, tatsächlich aber mit den Körpern von heute, mit diesen Gesichtern, in denen sich Schwere angehäuft hat, Müdigkeit und Abnutzung; die Erinnerung daran, wer wir gewesen sind, fällt uns schwer. Wir müssten ein weiteres Mal dafür sorgen, dass der Laufbildbetrachter sich rückwärts dreht, die Zeit zurückspulen, um das Verlorene wiederherzustellen und uns so zu sehen, wie wir waren. Versuch es, dreh kräftig an der Kurbel, dann wirst du schon sehen, wie sich das Leben umkehrt und wir im Rücklauf der Jahre alles abwerfen, woran wir heute zu tragen haben; wir sehen, wie die Haut sich strafft, ihre Flecken löscht und wieder an Glanz gewinnt, das erschlaffte Fleisch wird fester, die Augenringe werden absorbiert, die Wirbelsäule richtet sich auf, aus der Kanalisation kommen Tausende von Haaren, um sich wieder in die Kopfhaut einzufügen, der Zahn, den jemand verloren hat, kehrt an seinen Platz im Zahnfleisch zurück und verdrängt das Implantat, das sich für ihn ausgegeben hat; wir sehen Neuronen auferstehen, Zellen erwachen, um Muskeln, Knochen und Organe zu rekonstruieren; das Fett löst sich aus den Arterien, der Ruß aus den Lungen, er dringt durch die Nasenlöcher hinaus, zurück in die Schornsteine, Auspuffe und Kippen, die im Aschenbecher wachsen, bis sie wieder Zigaretten sind; literweise Tränen, verdampft oder in Taschentüchern und auf Ärmeln getrocknet, verflüssigen sich und steigen gegen den Strom die Wangen hinauf, bis sie in die Tränendrüsen zurücksickern können; wenn du schneller drehst, kannst du die Kinder schrumpfen lassen, bis sie erneut in der Gebärmutter liegen und sich zu einem Ei zusammenziehen, das sich wieder in den Eierstock einpflanzt, nicht ohne mehrere Tropfen Sperma ausgestoßen zu haben, das sich den zahllosen über Vaginen, Kondome und Toilettenpapier verteilten Samenzellen anschließt, um mit demselben Druck, mit dem sie eines Tages ejakuliert wurden, in die Ursprungsschwänze zurückzukehren; wenn wir alle zusammen die Kurbel beschleunigen, können wir dafür sorgen, dass sich das ganze Zimmer dreht und die Toten, die wir in diesen Jahren begraben haben, in diesem Wirbel ihre Organe unter der Erde neu zusammensetzen, aus ihren Särgen und Nischen steigen und sich den Staub abklopfen oder gar aus Ascheteilchen sich wieder erheben, die an einem Strand gegen den Wind ankämpfen, um ins Innere der Urne zurückzugelangen und von dort ins Krematorium, wo das Feuer sie wieder in Körper verwandeln wird, die beim Verlassen des Ofens ins Krankenhaus gebracht werden, wo sie in einem Bett die Augen aufschlagen, während die Tumore zurückgehen und die Zellen die Strahlenbehandlungen abweisen. Das Zimmer rotiert, der gesamte Planet verkehrt seine Bahn, damit wir die Unterschrift aus Arbeitsverträgen, Hypotheken und Stammbüchern tilgen, damit wir alles wieder einpacken und Umzüge ungeschehen machen, damit wir den Fabriken und der Erde alles zurückgeben können, was konsumiert wurde, und rücklings durch fremde Länder reisen, die wir dabei nicht kennenlernen, und Dutzende an Silvester verspeister Trauben ausspucken und tonnenweise Essen und Alkohol ausspeien und Medikamente und toxische Substanzen aus unseren Venen holen und Entscheidungen annullieren und Trennungen rückgängig machen, und nur so, indem wir diesen ganzen Weg rückwärts zurücklegen, wären wir in der Lage, noch einmal zu jenen zu werden, die eines Tages zum ersten Mal im Dunkeln saßen. Wir, die von damals.

Jetzt ist es so weit, schau her, unsere Reise in die Vergangenheit ist abgeschlossen. Da sind wir: beim ersten Mal. Alle sind hier, einschließlich derjenigen, die heute fehlen. Man kann unsere Unterhaltungen kaum verstehen, weil alle so laut reden und übertrieben lachen, die Musik ist voll aufgedreht. Wenn du auf die eine oder andere Uhr schaust, die unter einem Ärmel hervorlugt, stellst du fest, dass es schon spätabends war, wohl seit drei oder vier Stunden hatten wir getrunken und geraucht, du kannst das an dem dichten Grauschleier im Raum ablesen, den vollen Aschenbechern und leeren Flaschen, dem heiseren Lachen, den geröteten Augen oder den geweiteten Pupillen, die unserem Blick etwas Tierisches geben. Auf dem Sofa hinten im Eck, direkt an der Treppe und fast schon im Halbdunkel, sind zwei Pärchen auszumachen, die sich seit einer Weile von der Gruppe abgesondert haben und symmetrisch herumknutschen, an beiden Enden des Sofas. Wir können die vier nicht richtig erkennen, aber das macht nichts, sie könnten jeder von uns sein, die Paarkonstellationen wechselten damals rasch. Plötzlich, als hätten alle gleichzeitig gezwinkert, saßen wir im Dunkeln, und die Musik ging aus. Die Unsichtbarkeit war nicht umfassend, pass auf, das ist etwas ganz anderes als die Blindheit jetzt hier: Durch die Ritzen des Rollos drang ein wenig Helligkeit herein, nicht viel, aber genug, um unsere über den Raum verteilten Schemen ausmachen zu können, schwarze Silhouetten, die anfingen zu lachen und herumzuschreien, dann Pfiffe, jemand machte die Tür auf, wir traten auf die Straße hinaus und stellten fest, dass wir nicht die Einzigen waren, die keinen Strom hatten. So stehen wir also auf dem Gehsteig, taumelnd und bibbernd vor Kälte, und entdecken eine Nacht, wie es sie in der Stadt eigentlich nicht geben kann: die Laternen ohne Licht, die Gebäude, aus denen durch irgendein Fenster der Schein einer Taschenlampe oder eines Feuerzeugs dringt, sonst nichts, der nahe Park wie ein Horizont, mit einem Mal unermesslich, und oben das Überraschendste, auch wenn die meisten von uns zu betrunken sind, um es zu genießen: der Himmel, die Sterne so hell wie seit Jahrhunderten nicht mehr in der Stadt, ihr Glanz, der über Milliarden von Kilometern hergekommen ist und in dieser Nacht eine Anerkennung findet, die ihm durch Jahrzehnte elektrischer Beleuchtung versagt geblieben ist. Wir wussten nicht, ob der Stromausfall das Viertel oder die Stadt betraf, oder hatte der ganze Planet einen Blackout, wohin wir auch blickten, sahen wir kein Licht, bis auf die Scheinwerfer eines Autos, die uns einen Moment lang blendeten. Wir gingen wieder hinein, und als die Tür zufiel, verschwanden wir, durch die Fenster drang nur dieser winzige Schimmer von Mond und Sternen, gab der Straße noch eine Form. Da sind wir wieder, in trunkene Schatten verwandelt, die reihenweise zusammenstoßen. Jemand knipst ein Feuerzeug an, sein Gesicht erscheint über der Flamme wie das eines Monsters, bis ihm ein anderer das Feuerzeug aus der Hand wischt: Mach das Ding aus, lass uns lieber im Dunkeln bleiben. Von da an nehmen wir nur noch vage Verschiebungen von Formen wahr, hören das Klirren leerer Flaschen, über die jemand stolpert, das Lachen der anderen, unsere Erinnerung ist es, die jetzt ein falsches Licht ansteckt, um zu erleuchten, was jeder noch im Gedächtnis hat, als ob er es gesehen hätte, wo doch in Wirklichkeit alle nur schwankende Schatten waren. Jemand versuchte, sich aufs Sofa zu setzen, und plumpste auf jemanden, der schon dort saß, der purzelte von dem Stoß auf eine andere, die ihrerseits über ein Paar Beine fiel, auf das Sofa gegenüber. Keiner sagte ein Wort, wir lachten bloß oder redeten laut, und bald waren wir alle in ein Spiel aus Schubsern und Stürzen verwickelt, rappelten uns vom Boden auf, um erneut umzukippen, krabbelten ein Stück weit, streckten die Hand aus und ertasteten einen Kopf, einen Rücken, eine Brust, stießen und wurden gestoßen, fielen über andere, die schon gefallen waren, Klagelaute gingen im Gelächter unter, wenn jemand Zuflucht in einem Sessel suchte, war er schon besetzt, von einem, von mehreren, es war schwer abzuschätzen, wie viele in diesem Durcheinander von Armen, Beinen und Köpfen auf einem Haufen lagen, verstreut über den engen rechteckigen Raum, den die Sofas bezeichneten. Ein Gesicht fand sich an ein anderes Gesicht geschmiegt, zwischen den alkoholgeschwängerten Atemzügen der beiden entfaltete sich eine magnetische Anziehungskraft, die Zunge schob sich wild in den Mund, Zähne stießen zusammen, Hände hielten Köpfe fest, um sie nicht entkommen zu lassen, die Körper rollten durch die Gegend, eine Nase rammte sich in ein Ohr und prallte beim Umdrehen auf einen anderen heißen Mund, eine Hand schob sich unter ein T-Shirt, eine andere kämpfte mit Knöpfen, ohne zu wissen, was darunter zu finden war, ein Reißverschluss war zu hören, ein Fingernagel schrammte über eine Brustwarze, zehn Finger stritten sich um ein und denselben Verschluss. Uns fiel erst auf, dass wir die Augen geschlossen hatten, als das Aufflackern unsere Lider durchdrang, der Strom war wieder da.

Wie oft haben wir uns an jenes erste Mal erinnert, wie oft in all den Jahren. Wie viele von uns begegnen sich jetzt, da diese letzte Versammlung im Dunkeln zu einer Zeitreise wird, in einer einzigen Erinnerung, der Erinnerung an diesen Abend, der während der darauffolgenden Tage an Gewicht gewann, er brannte in der Kehle wie bei einem Kater, hatte aber auch die Lebhaftigkeit eines Wunsches, den niemand aussprach, während wir auf einen weiteren Stromausfall hofften, eine weitere Panne im Netz, die uns zu dem Augenblick zurückversetzte, in dem im Viertel, in der Stadt, auf dem Planeten die Versorgung hochgefahren worden war und die wiederbelebte Glühbirne uns in einem Tableau ineinander verschlungener Körper verewigt hatte, erstarrt in der letzten Geste, die wir für die anderen noch unsichtbar geglaubt hatten: die Zunge in einem fremden Mund, eine frei hängende Brust, eine Hose um die Knöchel, zwei Körper, die sich auf einem Sofa wälzten, eine dritte Hand, die sich klammheimlich dazwischengeschoben hatte. Wir brauchten ein paar Sekunden, um die Fassung wiederzugewinnen, stocksteif hielten wir den Atem an und ließen unsere Beute nicht los, bis wir uns irgendwann damit abfanden, dass das Licht zurückgekommen war, um zu bleiben, dass es sich nicht um ein einzelnes Aufflackern handelte und wir nicht weiter auf den Schutz der Dunkelheit zählen durften. Kaum hatte sich der Erste aufgerichtet, da löste sich der Knoten, und wir fuhren alle auseinander. Wir entwirrten uns, brachten unsere Kleidung in Ordnung und standen auf, atemlos und verwirrt, einige flohen nach draußen, unter dem Vorwand, überprüfen zu wollen, ob im ganzen Viertel wieder Strom da war, andere steckten sich Zigaretten an oder warfen Eiswürfel in ein Glas. Jemand legte Musik auf, es gab nichts zu sagen, wir waren verlegen, unfähig zu anderem als einem nervösen Lachen, wir versuchten, wieder ein Gespräch anzuknüpfen, aber die Sätze schleppten sich dahin, und wenn wir uns in die Augen sahen, lasen wir darin problemlos ein anderes Gespräch, das unterhalb der hörbaren Worte ablief, in Untertiteln. Nach und nach verließen wir das Lokal, das Treffen endete früher als üblich, und damit begann eine Zeit des Wartens, von der niemand wusste, wie lange sie dauern, ob sie nur eine Zwischenzeit sein würde oder ob keine Rückkehr mehr möglich wäre. Zwei Wochen lang hofften wir auf einen weiteren Stromausfall, niemand sprach es aus, aber wir warteten alle darauf. Wir redeten nicht von dem, was vorgefallen war, nicht einmal, wenn wir uns unter der Woche im Lokal begegneten. Auf uns lastete keine Scham, der Vorfall unterschied sich nicht sonderlich von anderen Promiskuitätsausbrüchen, bei denen wir an irgendeinem Abend die Partner getauscht hatten. Es war keine Scham, sondern die Befürchtung, das Ganze zu erwähnen könnte die Erfahrung kaputt machen, ihre Wiederholung verhindern. Tatsächlich haben wir nie über jenen ersten Tag geredet, der Pakt des Schweigens, den wir uns später für alles auferlegen sollten, was sich im Dunkelzimmer abspielte, wurde so formuliert, dass er das erste Mal mit einschloss, und sogar heute würde jemand, der es wagte, das Schweigen zu brechen und das Thema auf den Tisch zu bringen, alleine dastehen, das Echo seiner Stimme hören, aber keine Antwort. Wir redeten also nicht davon, als wir am folgenden Samstag wieder zusammenkamen, alle wieder im Lokal vereint, abends, mit eingeschaltetem Licht. Niemand blieb unserem Treffen fern, als hätte Abwesenheit eine Art Missbilligung ausgedrückt, einen Verzicht, aber es ließ auch keiner eine Erinnerung laut werden, je stiller sie ausfiel, umso drückender lag sie in der Luft, umso gehemmter verliefen die Gespräche und umso falscher klang das Lachen. Dabei hätte genügt, dass jemand aufstand, die Musik abschaltete und wie einer, der einen Trinkspruch ausbringt, sagte: Jetzt reicht’s aber, lassen wir den Quatsch, reden wir von dem einzigen Thema, über das wir reden können, dem, was uns seit einer Woche umtreibt, was uns schon beim bloßen Gedanken in einsame Erregung versetzt und dazu bringt, uns mit geschlossenen Augen selbst zu befriedigen. Aber niemand sagte dergleichen, wir bemühten uns um Unterhaltungen, die jedoch nicht ausreichten, um all das Schweigen zu überwinden, und so blickten wir auf den Grund unserer Gläser oder zur vom Rauch vergilbten Decke, und nicht einmal das Sofa in der Ecke bekam an diesem Abend Zulauf, als wollte sich niemand von der Gruppe lösen, in Erwartung einer zweiten Runde, die aber ausblieb, also noch eine Woche warten, wir verlängerten die Zwischenzeit um weitere sieben Tage, in denen wir einander aus dem Weg gingen, uns allenfalls beim Betreten oder Verlassen des Lokals begegneten, bis zu einem neuen Samstag: ein entscheidender Tag, weil er nahe genug an jenem anderen war, um die Spannung des Begehrens aufrechtzuerhalten, aber so weit weg, dass wir seine Auslöschung riskierten, wenn wir eine weitere Woche verstreichen ließen; die Sache konnte sich ebenso gut nicht wiederholen und für immer eine flüchtige Episode bleiben, eine Erinnerung wie aus einem Fotoalbum, von der wir nach einiger Zeit, wenn sie in den Hintergrund gerückt wäre, womöglich amüsiert erzählen könnten, wisst ihr noch, wie an diesem Abend damals das Licht ausging, was waren wir für Spinner, was waren wir jung. Und so fanden sich zwei Wochen nach dem Stromausfall ein weiteres Mal alle in dem Lokal ein. Die Erwartung war spürbar in der Ungeduld, mit der wir den Gesprächen folgten, in den langen Phasen des Schweigens, darin, dass die CD zu Ende ging und niemand aufstand, um sie zu wechseln, darin, dass wir an diesem Abend viel zu viel tranken und rauchten, und schließlich in dem blöden Lachen, in das wir alle einstimmten, als bei einem Blickwechsel ein riesiges Neonschild aufflammte, auf dem geschrieben stand, was wir zurückgehalten hatten. Wir lachten einige Sekunden lang mit einer gewissen Erleichterung darüber, alles aussprechen zu können, ohne auch nur ein Wort zu sagen, aber wir zogen das Lachen auch in die Länge, wie um herbeizurufen, was kommen sollte, denn nach diesem lachenden Eingeständnis konnten wir nicht zu der bisherigen Unterhaltung zurück, und deshalb war auch keiner überrascht, als jemand ohne Vorwarnung das Licht ausschaltete. Für ein paar Sekunden war es, als hätte er zusammen mit der Glühbirne uns alle vom Netz genommen; wir saßen da, reglos und stumm. Es war nicht wie beim letzten Mal, dazu konnten wir uns zu gut sehen: Der Rollladen war hochgezogen, und diesmal drang nicht Mond- und Sternenlicht herein, sondern der gelbe Schimmer einer Laterne. Wir sahen die Haut der anderen, wenn auch verschattet, konnten die leuchtenden Augen erkennen, die weißen Zähne mit ihrem eingefrorenen Lachen, bis eine andere Hand, wir wissen nicht, ob dieselbe wie beim Lichtschalter, den Rollladen nach unten rasseln ließ wie eine Guillotine, die der Zwischenzeit ein abruptes Ende bereitete. Durch die Ritzen drangen noch einige dünne Fäden Licht, genug, damit die Pupillen nach ein paar Sekunden den Raum rekonstruieren und wir einander darin wahrnehmen konnten, kaum mehr als scharf gezeichnete Silhouetten. Wir wissen nicht, wer angefangen hat, wir möchten glauben, dass es alle auf einmal waren, dass niemand gezögert oder gewartet hat: Wir standen auf und flossen in der Raummitte zusammen, dem Rechteck zwischen den Sofas, und dort berührten wir einander vorsichtig erst im Gesicht, dann am Hals und an den Schultern, als wären wir tatsächlich Unbekannte, in derselben Absicht, mit der wir uns einige Zeit später im Dunkelzimmer anfassen sollten, nicht, um Züge abzutasten, die eine Identifikation ermöglichten, sondern gewissermaßen um zu sagen: Hier bin ich, hier sind wir. Die anfängliche Zögerlichkeit wich der Raserei, auf ein Zeichen, das niemand gab, das wir aber alle hörten, stürzten wir uns mit einer Eile aufeinander, die wir aus dem anderen Mal gelernt hatten, das Licht konnte ja jederzeit wieder angehen. Wir zerrten uns auf den Boden, Knochen stießen gegeneinander, und wir verloren den Überblick, welcher Körper uns eigentlich am nächsten war, wir küssten und wurden geküsst, kratzten uns, als wir die Hände unter Kleidungsstücke schoben, boten Knöpfe und Reißverschlüsse dar, bissen in alles, was sich in Reichweite befand, steckten Finger, wohin es ging, griffen zu, drückten Beine auseinander oder drängten die Knie dazwischen, zogen uns rechtzeitig zurück und suchten andere Körper zum Umwerfen, wir taten uns weh, besudelten uns Hände und Bäuche, bis wir irgendwann genug hatten, uns aus dem Tumult entfernten, um uns still an ein Sofa oder eine Wand zu lehnen und die Atemzüge zu hören wie einen einzigen Atem, während wir uns die Kleidung zuknöpften und die Arme in die Ärmel zurücksteckten. Wir begriffen, dass es unmöglich war, das Licht anzuschalten, dass wir uns nicht so sehen wollten, wir waren nicht bereit, uns unseren Blicken zu stellen, die noch in Flammen standen, oder der Landschaft, die aus all dem entstanden war, wir wollten nicht wissen, wer an unserer Seite hockte, keine dieser Informationen sollte von Gewicht sein, wenn wir das Lokal verließen, das Geschehene sollte keine Folgen haben. So verharrten wir mehrere Minuten lang, die Münder trocken, die Muskeln erschlafft, bis jemand aufstand, wir erahnten beim Durchqueren des Zimmers sein Profil, hörten die Schritte, ein langsames Schlurfen, um auf niemanden zu treten, dann öffnete und schloss sich die Tür zur Straße, eilig, nur eine Sekunde Licht von draußen, nicht genug, um uns abzubilden. Nach diesem Ersten gingen auch wir anderen, in regelmäßigen Abständen, eine unabgesprochene Reihenfolge einhaltend, um uns draußen auf der Straße nicht zu begegnen.

Heute ist nicht Samstag, heute ist Donnerstag: Nur dieses kalendarische Detail hat nicht hingehauen, sonst wäre das letzte Treffen der perfekte Abschluss, die Spanne zwischen einem Samstag, an dem es losgeht, und einem, an dem es endet, von hier aus würde die Zeit sich lösen wie eine Leinwand, die beim Abnehmen vom Rahmen die Spannung verliert und sich einrollt, sodass die Bilder auf dem letzten Abschnitt, wo die Farbe noch frisch ist, mit denen des Anfangs überlappen, den schon trockenen, verwelkten. Heute ist Donnerstag, und wir haben uns seit etlichen Samstagen nicht mehr getroffen, damals aber war es ein fester Termin, zur Gewohnheit geworden in jener Anfangszeit des unvollkommenen Dunkels, als das Licht jeden Samstag früher ausgeschaltet wurde, aus Ungeduld und weil wir weniger trinken und rauchen mussten, die Ungehemmtheit war ein Geschenk des Dunkels. Unter der Woche benutzten wir das Lokal wie gehabt, gingen einander nicht weiter aus dem Weg, obwohl keinem eingefallen wäre, an einem Dienstag oder Mittwoch das Licht auszuschalten, während er den Erdgeschossraum mit anderen teilte, die dort arbeiteten oder lernten. Das blieb den Samstagabenden vorbehalten, an denen wir wie früher zusammenkamen und uns ein paar Stunden lang so verhielten wie immer, in die Sofas versanken oder auf dem Teppich saßen, wie üblich Musik, Rauch und Gelächter, bis dann, ohne dass etwas gesagt werden musste, kraft eines natürlichen Einverständnisses, das wir unseren glasigen Augen entnehmen konnten, der Unlust, das Gespräch auszudehnen, und dem leichteren Lachen, irgendjemand aufstand und den Schalter betätigte. Vielleicht lag es an den Pupillen, die immer besser darin wurden, das Halbdunkel zu ergründen, aber an jenen ersten Samstagen erkannten wir einander noch, da reichte das schattenhafte Profil, um zu erraten, um wen es sich handelte, und bei den Begegnungen gab es noch Vorlieben und Zurückweisungen, es bildeten sich Paare, die nicht immer für einen Tausch zu haben waren, einige taten sich qua Ausschlussverfahren zusammen, es kam zu der einen oder anderen Unstimmigkeit, manch einer beschloss, sich zurückzuziehen, bevor das Licht ausging, und einige blieben lieber in einer Ecke sitzen und lauschten dem Treiben der anderen. Diese minimale Sichtbarkeit, die Möglichkeit des Wiedererkennens, führte dazu, dass der Anfangselan sich im Laufe der Wochen abschwächte. Wir stürzten uns nicht mehr alle aufeinander, sobald Dunkelheit herrschte, und obwohl die Mehrheit suchte und gesucht wurde, bekam die Nähe der anderen etwas Unbehagliches, sobald nicht alle mitmachten: Schon ein klein wenig Schummerlicht genügte, um die Zuschauer zu erahnen, und wer auf dem Teppich oder auf einem der Sofas vögelte, fühlte sich beobachtet, als wäre er als Einziger im Dunkeln, und der Rest sähe ihm durch einen falschen Spiegel zu. Das Fehlen von Licht hörte auf, ein Schutz zu sein, und zeigte uns umso nackter, niemand wusste, ob nicht sein Gegenüber mit den geweiteten Pupillen die Bewegungen seiner Hände erkannte, die verzerrte Grimasse auf seinem Gesicht. Doch obwohl wir den Schwung verloren, suchten wir weiter das Dunkel und löschten das Licht jeden Samstag etwas früher, bis bei einem der Male der Schalter schon kurz nach der Ankunft betätigt wurde, und so verbrachten wir den ganzen Abend, tranken und rauchten, unterhielten uns halblaut oder blieben still sitzen und lauschten der Musik, die ohne Licht anders klang, manchmal saßen wir auch ohne Musik und schwiegen, ergründeten unsere schemenhaften Gestalten, die Umrisse ohne Gesicht, die Glut der Zigarette, an der gerade jemand zog. Wir lauschten dem Klimpern der Eiswürfel, dem Atem dessen, der uns am nächsten war, dem Rascheln eines Sesselbezugs, dem speicheligen Schnalzen zweier ineinanderfließender Schatten. So konnten wir drei, vier Stunden vergehen lassen, den Alkohol und das Haschisch auf andere Weise spüren, den geweiteten Raum, das Gebäude, das sich wiegte wie eine Kapsel, die im Meer versinkt, die Funken, die in der Luft eine langsame Spur zurückließen, den Straßenlärm, der durch die uns einhüllende Gelatine drang, die um mehrere Meter erhöhte Decke oder uns, die wir im Sofa versanken, im Boden, in der Erdkruste. Keiner bewegte sich, allenfalls, um das Glas an die Lippen zu führen oder den Joint zu nehmen, der herumgereicht wurde, und diejenigen, die weiterhin jede Minute Dunkelheit nutzten, um einander zu begegnen, achteten bei ihren Küssen und Liebkosungen darauf, den Moment nicht zu verfälschen, die Kontinuität nicht zu brechen, die uns wie eine Kette zusammenhielt, ein Energiestrom, der den Raum rotieren ließ und uns ins Zentrum zog, bis wir miteinander verschmolzen, und wenn die Nacht diese Temperatur erreichte, dann straffte sich endlich die Kette und zerrte uns von Neuem auf den Grund.

Von wem stammte der Vorschlag, ein Dunkelzimmer einzurichten? Was spielt das schon für eine Rolle, von jedem von uns, von allen. Sicher ist nur, dass wir es seit jenem Abend so genannt haben, an dem jemand die Frage stellte: Warum richten wir uns nicht ein Dunkelzimmer ein? Der Satz kam von einem der gesichtslosen Schemen, die an einem beliebigen Samstag ihre Runden auf dem Karussell drehten. Wenn wir heute nach dem Urheber fragten, würden bestimmt mehrere von uns diese zentrale Rolle beanspruchen, und nicht, um mit einer Vaterschaft zu prahlen, die das Dunkelzimmer nicht brauchte, sondern weil wir so viele Jahre später aufrichtig glauben, dass wir es waren, die an jenem Samstag geflüstert haben: Warum richten wir uns nicht ein Dunkelzimmer ein? Der Satz blieb im Halbdunkel hängen, als ob wir alle ihn in der Schwebe hielten, indem wir den Mund aufmachten und weitere Stimmen hinzufügten, die ihn nicht fallen ließen, ein Luftballon, der immer wieder angetippt wird, damit er nicht den Boden berührt. Wir redeten alle durcheinander, wiederholten den Vorschlag, fassten übereinstimmend das Zimmer im Kellergeschoss ins Auge, den Abstellraum, als idealen Ort; wir besprachen, welches Material gebraucht würde, unterstrichen die Notwendigkeit einer umfassenden Abdichtung gegen Lichteinfall, ergänzten sie um die Bedeutung von Stille, dachten uns die Lösung mit den zwei Vorhängen aus, schlugen unterschiedliche Gebrauchsmöglichkeiten vor, so viele Alternativen, die sich in einem Dunkelzimmer eröffneten: Wir sprachen von Entspannung, Abschottung, Konzentration, Einsamkeit, Experimentieren, Meditation, Ruhe, Verschwinden, Gemeinschaft, Wahrnehmung und hätten die Liste der Möglichkeiten noch erweitern können, ohne das zu nennen, was zugegebenermaßen der Mehrheit vorschwebte, die Hauptfunktion des Dunkelzimmers in seiner Anfangszeit, das, was hinter dessen Erfindung stand und allen späteren Entwicklungen, aber es war, als ob ein Rest von Scham uns daran hinderte, es auszusprechen. Eine sinnlose Scham, denn, mitgerissen von der Aufregung, die der Vorschlag und unser Einverständnis ausgelöst hatten, schlossen wir schon wenige Minuten später die Augen, um die Dunkelheit zu verstärken und das Gefühl zu bekommen, wir seien bereits in einem Zimmer, für das wir bald darauf die ersten Vorkehrungen trafen: eben jenes, von dem wir uns heute verabschieden und das von diesem ersten Abend an, als wir den Plunder entsorgten, die Paneele an die Wände nagelten, das Lüftungsfensterchen abdichteten, die Vorhänge aufhängten und die Teppiche ausrollten, zu einem wöchentlichen Treffpunkt wurde, dem Moment, auf den man schon tagelang wartete, bis der Samstag endlich da war und wir zusammenkamen, am Dunkelzimmer-Abend. Heute müssten wir bei der Erinnerung lachen, wenn jetzt jemand das Schweigen bräche, um zu sagen: Wisst ihr noch, als wir den Samstagabend so nannten, den Dunkelzimmer-Abend? Wir würden in das halb nostalgische, halb verschämte Lachen ausbrechen, das die Erinnerung an die Naivität jener Jahre in uns auslöst, als wären wir ein geheimer Klub gewesen, eine Bruderschaft mit Parole und Satzung, die Woche für Woche, am Dunkelzimmer-Abend, im Erdgeschoss zusammenkam und Zeit verstreichen ließ, nun ohne ungeduldig auf das Ausschalten des Lichts zu warten, das Zimmer war ja da, eine verborgene Präsenz am Ende des Samstags, man brauchte es nicht anzukündigen oder eine Uhrzeit festzulegen, der Abend brach von selbst herein, wir konnten darauf zugleiten. Einige gingen von sich aus hinein, genauso wie wir heute. Der eine verschwand aus der Gruppe, und keiner fragte nach ihm, eine andere setzte sich auf die erste Treppenstufe, und wenn wir uns nach ihr umdrehten, war sie schon nicht mehr da, manche standen einfach auf und gingen die Treppe hinunter, bis nur noch wenige von uns oben waren, und dann sahen wir uns an, leerten die Gläser, drückten die Zigaretten aus, standen auf und marschierten der Reihe nach treppab, als würde nach uns geklingelt, ließen dann im Halbdunkel des Korridors die Schuhe stehen und traten ein. Bei diesen ersten Malen lastete auf uns noch eine gewisse Unentschlossenheit, als hemmte uns der sichtbare Weg über die Treppe und den Korridor, im Unterschied zur Leichtigkeit des Lichtschalters, der ohne Vorwarnung gedrückt worden war, und an einigen Samstagen machte uns das unbeholfen, wenn der Augenblick näher rückte: Dann standen wir länger im Erdgeschoss herum, das Gespräch brach ab, während zugleich die CD auslief, und wir untersuchten einige Sekunden lang den Boden unserer Gläser, wechselten Blicke, ein nervöses Grinsen, bis endlich jemand aufstand, wie um zu sagen: Na, kommt schon, verschwenden wir doch keine Zeit. Da lachten wir alle, um diesen Anflug von Schüchternheit zu vertreiben, standen auf und gingen in wildem Durcheinander nach unten, steckten uns gegenseitig mit unserem Gelächter an, wenn wir mit den Schuhen kämpften und dabei das Gleichgewicht verloren, ließen einander mit höflichen Gesten den Vortritt, wenn der erste Vorhang aufgezogen wurde, und noch nachdem wir im Inneren verschwunden waren, blubberte ein Lachen, als haftete es an der Kleidung, und erschöpfte sich dann bald. Bei den ersten Treffen ging es heftig los: Ohne dass jemand ein Startsignal gegeben hätte, fielen wir übereinander her, nun vollends unsichtbar, legten die Reste vorsichtiger Zurückhaltung ab, die noch geblieben waren, als wir uns im Erdgeschoss aufhielten und einander im Halbdunkel ausmachen konnten. Hier waren wir niemand mehr, wir gingen in der Menge unter, und das machte uns wagemutig, sodass wir zusammenrumpelten und miteinander rangen, ohne recht zu wissen, worauf wir es anlegten, ob es darum ging, den anderen zu Fall zu bringen oder selbst auf den Beinen zu bleiben, wir griffen nach Körperteilen, um sie zu erkennen, packten den erstbesten Kopf, den wir finden konnten, und stießen die Zunge hinein, anhand der weichen oder rauen Haut um die Lippen ließ sich feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, und manchmal kam es vor, dass ein Mund erschrocken zurückzuckte, wenn dieser andere Mund, in den er gebissen hatte, nicht seinen Wünschen entsprach; wir massierten Brüste und drückten zu fest zu, schoben mit hastigen Bewegungen Hände unter Kleidungsstücke, als spornte die Dunkelheit selbst uns dazu an, als wäre die Schwärze nur geliehen, ein Provisorium wie jener erste Stromausfall oder wie die Gelegenheiten, bei denen wir den Lichtschalter betätigt und gefürchtet hatten, jemand würde sich einen Witz erlauben und mitten im Schlachtgetümmel das Licht wieder einschalten. Jetzt gab es kein mögliches Licht mehr, auch keine Glühbirne an der Decke, und doch beeilten wir uns, als wäre das alles ein flüchtiger Moment der Grenzüberschreitung und maximal auszunutzen, eine Gesetzeslücke, die sich jeden Augenblick schließen würde. Bei den ersten Treffen taten wir uns weh, wir kamen zu Fall und stießen denen, die bereits lagen, das Knie in die Rippen, wir traten aufeinander, rollten über den Boden, verkeilten uns, blähten den Tumult absichtlich auf, irgendwie schienen wir diese Grobheit zu brauchen, diese Energie, die sich im Lauf der Jahre erschöpfte und die unsere Erinnerung sicherlich hochspielt, aber so ist es uns geblieben: die Vermischung aller Körper zu einem einzigen ungeheuren Leib, der mit mehreren Armen masturbierte, sich selber leckte, ein einziger weitläufiger, tentakelhafter Körper, der all seine Arme und Beine verschob, wenn er sich wie ein riesiges Insekt bis ans hintere Ende des Zimmers schleppte und beim Erreichen der Wand davon abprallte, um sich dann bis zum anderen Ende zurückzuschleifen, in einem Rollen zusammengefügter Glieder. Die Erinnerung mag alles vergrößern, aber so ist es uns geblieben. Heute haben wir nicht mehr die Kraft, um uns in einen zügellosen, rasenden Einzelorganismus zu verwandeln, wie er sich damals in simultanen Zuckungen wand, um schließlich nach allen Seiten hin zu Knochen und Fleisch zu zerfallen, müden Kiefern, Fingern, die ihren Griff um Muskelstränge lockerten, die sich ihrerseits in der Dunkelheit entfernten wie von der Ebbe mitgezogen, und plötzlich weitete sich der Raum, wurde riesig, alle lagen über den Boden verstreut, am Morgen danach ist das Schlachtfeld von ausgerissenen Gliedern übersät, so auch wir im Dunkeln: in Bruchstücken, im Einklang atmend, während jeder Arm seinen Widerpart suchte, um den auseinandergenommenen Körper wieder zusammenzusetzen, die Köpfe umherrollten, bis sie einen passenden Rumpf fanden und sich ihm aufsetzten, und wir rekelten uns dazu gemächlich, warteten darauf, dass das Blut in seine Gefäße zurückströmen konnte, bis die Verwirrung, die stets der Erregung folgt, der Moment, in dem der eben noch vorhandene