Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen - Ava Farmehri - E-Book

Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen E-Book

Ava Farmehri

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Beschreibung

Sheyda Porroyas Tage sind gezählt. Sie sitzt im Todestrakt eines iranischen Gefängnisses – es ist das Jahr 1999, sie ist zwanzig Jahre jung. Ihre Erzählung, die zwischen Rückblicken auf ihre Kindheit und Jugend und dem barbarischen Alltag im Gefängnis hin- und herwechselt, ist nicht ganz zuverlässig: Ist sie wahnsinnig? Wachsen ihr wirklich Engelsflügel aus den Schulterblättern? Und hat sie wirklich ihre Mutter getötet? Schon als Kind flüchtet sich Sheyda in eine Traum- und Wahnwelt und gewinnt in der repressiven Umgebung, in der sie aufwächst, immerhin eine Art Narrenfreiheit. Ungeliebte Tochter unglücklicher Eltern, Sonderling ohne Freunde und einzig zur grenzenlosen Liebe begabt, schafft sie sich ein Alter Ego ausgerechnet in Gestalt von Dantes Beatrice – folgerichtig ist auch der Romantitel aus Dantes "Inferno" entliehen. In berückend schöner, kraftvoller Sprache entfaltet Ava Farmehri eine Geschichte von politischem Aufruhr, von Realitätsflucht, Unterdrückung und Isolation – makaber und magisch zugleich.

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AVA FARMEHRI

IM DÜSTERNWALD WERDENUNSRE LEIBERHÄNGEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHENVON SONJA FINCK

Die Originalausgabe des vorliegenden

Buches erschien unter dem Titel

Through The Sad Wood Our Corpses Will Hang

bei Guernica Editions, Toronto

© 2017 Guernica Editions Inc.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts und der Ontario Book Publishers Organization für ihre Unterstützung.

Verlag und Übersetzerin bedanken sich bei Jutta Himmelreich für die Durchsicht der persischen Transkriptionen.

Die Zitate von Dante Alighieri folgen der Ausgabe

Die Göttliche Komödie, aus dem Italienischen von Ida und Walther von Wartburg, Manesse Verlag, Zürich 1963.

Alle anderen Zitate wurden von Sonja Finck übersetzt.

Edition Nautilus GmbH · Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg · www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH

Deutsche Erstausgabe September 2020

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

ePub ISBN 978-3-96054-235-3

Meinen Eltern.Und diesem legendären Ort: Zuhause.

In dem Wald, dem düstern, werden unsre Leiber hängen,jeder am Dorngestrüpp des eignen Schattens.Dante Alighieri, Inferno

Freiheit von Angst istdie Freiheit, die ich für mein Mutterland fordere!Freiheit von der Last der Jahrhunderte, die dich niederdrücken,dir das Rückgrat brechen, dich blind machen für dieVerheißungen der Zukunft;Freiheit von den Fesseln des Schlafs, mit denen du dichin der Stille der Nacht festkettest,erfüllt vom Misstrauen gegen den Stern, der von denabenteuerlichen Wegen der Wahrheit erzählt;Freiheit von der Anarchie des Schicksals.Volle Segel werden blinden, ungewissen Winden überlassenund das Ruder einer Hand, die so starr und kalt ist wie der Tod.Freiheit von den Zumutungen einer Marionettenweltin der alle Bewegungen durch hirnlose Fäden ausgelöst werden,wiederholt aufgrund gedankenloser Gewohnheiten,einer Welt, in der Figuren geduldig und gehorsamauf den Puppenspieler warten,auf dass er sie zu einer Illusion von Leben erwecke.Rabindranath Tagore

Die einzige sichere Freiheit liegt im Weggang.Robert Frost

Inhalt

ERSTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

ZWEITES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

DRITTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

VIERTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

FÜNFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

SECHSTES KAPITEL

Kapitel 1

SIEBTES KAPITEL

Kapitel 1

Schwarzes Schaf

ACHTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

NEUNTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

ZEHNTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

ELFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

ZWÖLFTES KAPITEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DREIZEHNTES KAPITEL

DANKSAGUNG

DANKSAGUNG DER ÜBERSETZERIN

ERSTES KAPITEL

1

Sie werden mich töten.

Mein Prozess hat drei Wochen gedauert. Und ich habe noch Glück, manch unglückliche Seele wartet jahrelang, nur um am Ende dieselbe Nachricht zu erhalten. Ich habe allerdings auch schon von schnelleren Urteilen gehört und gelesen, und so kam die zügige Entscheidung nicht überraschend. Jedenfalls nicht für mich. Schließlich ist das hier Iran.

Während der Urteilsverkündung stand ich in Handschellen in einem Saal voller düster dreinblickender Polizisten, zwei Psychiatern, einem Richter und einem Pflichtverteidiger, der sich große Mühe gab, ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Er war ein guter Schauspieler, wenn man bedenkt, wie absehbar das Urteil war. Mein umfassendes Geständnis und meine Weigerung, mich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, wie es mir mitleidige Verwandte und barmherzige Nachbarn nahegelegt hatten, lassen ja auch keinen großen Interpretationsspielraum. Zumal es eine Augenzeugin gibt.

Ich erwarte nichts im Gegenzug für mein Geständnis; ich will keinen Deal machen, damit das Gericht mein Leben verschont; ich habe auch nicht versucht, den Prozess durch irgendwelche Anträge in die Länge zu ziehen. Man hat mir eine Frage gestellt und ich habe sie wahrheitsgemäß beantwortet. Ich dachte: Sheyda, warum muss im Leben immer alles an Bedingungen geknüpft sein? Warum gibt es überall diese Mentalität des Feilschens, selbst wenn es um hehre Ideale geht? Warum wird die Wahrheit ständig durch Duckmäuserei und Anspruchsdenken ausgehöhlt? Mein Leben lang hielt man mich für eine Lügnerin, dabei wollte ich im Prinzip immer nur eins: mich reinwaschen. Die Wahrheit befreit dich, heißt es, aber glaubt mir, rein gar nichts befreit dich.

Bis vor kurzem dachte ich, der Tod würde diesbezüglich ganz gute Dienste leisten, aber während ich in meiner Zelle hockte und zusah, wie die anderen Frauen zu ihrer Urteilsvollstreckung gebracht wurden, hatte ich genug Zeit, über diese Frage nachzudenken. Die Frauen würden glücklicher aussehen, dachte ich, wenn sie tatsächlich drauf und dran wären, sich frei wie ein Vogel in die Lüfte zu schwingen und die bleierne Schwere des Körpers hinter sich zu lassen. Ich fragte mich, warum keine dieser Frauen lächelte. Warum manche beteten, bevor man ihnen Handschellen anlegte und sie aus der Zelle führte. Worum kann eine Mörderin Gott schon bitten? Um Vergebung? Um Vergebung kann man nur das Mordopfer bitten, und da es nicht mehr unter den Lebenden weilt, wäre das unlogisch und sinnlos.

Mein Anwalt konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Meinen hochgeschätzten Psychiater Dr. Fereydun wiederum verrieten seine weichen Knie. Er musste sich setzen und stand erst wieder auf, als ich aus dem Gerichtssaal gebracht wurde. Ich drehte mich noch einmal zu ihm um, grinste zufrieden und winkte.

Das Gute an einem Todesurteil ist, dass es die Dinge relativiert. In dieser Hinsicht ist es einer Nahtoderfahrung nicht unähnlich, auch wenn ich eine solche noch nie am eigenen Leib erfahren habe. Aber ich kenne alle möglichen Klischees von einem Licht und einem Tunnel und wie man in Gottes Hauptquartier entschwebt und von oben auf den eigenen leblosen Körper hinabblickt. Als ich im Gericht auf mich selbst hinabblickte, sah ich Tränen in meinen Augen und meine wie zum Gebet gefalteten Hände in Handschellen. Ich sah Tränen, die von den Zeitungen und von den Zuschauern vermutlich entweder als Krokodilstränen oder als Zeichen aufrichtiger Reue gedeutet wurden, und eine Handhaltung, die man als flehend oder fatalistisch hätte interpretieren können.

Eins möchte ich klarstellen: Meine Tränen waren Freudentränen. Meine Handhaltung war allerdings tatsächlich fatalistisch. Ich barg mein ganzes Leben, die zwanzig Jahre, die ich als Sünderin in Gefangenschaft auf dieser Welt verbracht hatte, in der hohlen Hand. Ich blickte hinab auf meine Stirn, die weiß schimmerte, obwohl ich seit Tagen nicht geduscht hatte, und eins kann ich euch sagen: Meine Stirn war makellos wie eine blütenweiße Weste. Meinen blonden Pony hatte ich extra kurzgeschnitten, um meine Ehrlichkeit zu betonen. Alle sollten sehen können, wie aufrichtig ich war.

Mein fahles Gesicht unter dem schwarzen Kopftuch sah fast aus wie das einer Heiligen. Ich hatte meinen Lebtag nicht so friedlich gewirkt, mit einem solch grotesken Ausdruck der Entzückung, ähnlich wie meine Mutter bei ihrem Tod. Mein Blick wanderte zu meinem Rücken, und tatsächlich, rechts und links der Wirbelsäule sprossen Flügel. Kräftige weiße Federn bohrten sich zaghaft durch die Haut. Ich schwebte in dem kalten Gerichtssaal und sah nichts als fremde Gesichter. Niemand kannte mich. Ich war ein Engel, ein missverstandener Engel. Das bin ich immer noch.

Wird man mich nach islamischem Brauch neben meinen Eltern begraben? Wird mich irgendwer auf dem Friedhof besuchen und Rosenwasser auf meinen Grabstein sprenkeln? Wird irgendwer das Unkraut oder die Blumen auf dem grünen Grasteppich begießen, unter dem ich schlafe? Wird irgendwer ein Gebet für meine verlorene Seele sprechen? Wird irgendwer Tränen vergießen ob der vielen Ungerechtigkeiten, die mir von allen Blicken verborgen widerfahren sind?

Wer bin ich? Nur ein weiteres Gesicht. Irgendein Name. Ein gebrochenes Genick von vielen. Die Menschen werden mich schnell vergessen, so wie sie alle vergessen, einschließlich ihrer toten Verwandten. Meine Gefängnisakte wird im Archiv verstauben; ich werde nichts als eine flüchtige Schlagzeile in der Zeitung sein, ein Gesicht, das man wiedererkennt und auf das man spuckt: »Das ist doch das Monster, das seine Mutter umgebracht hat.«

Wer wird zu meiner Beerdigung kommen? Menschen, die erleichtert sind, dass ich tot bin? Nein. Zu meiner Beerdigung sollen nur Vögel kommen. Mein seelenloser Körper soll in einem Turm des Schweigens aufgebahrt werden, damit die Geier sich über ihn hermachen können. Legt meinen Leichnam oben auf einen kahlen Berg und lasst die Natur von meinen Zehen und Ohren zehren, bis nichts mehr von mir übrig ist. Ich will neben blutigen, zerfetzten, verwesenden Leichen ruhen. Die kahlköpfigen, hässlichen Vögel sollen mich in die Lüfte heben und mich dann wieder fallen lassen. Während meines Sturzes wird mein Kopf am gebrochenen Genick hin- und herpendeln, und meine Augen werden zum Himmel stieren. Ich will zerschmettert werden. Ich will, dass die Vögel mein Knochenmark aussaugen.

Ich will, dass Geier mit mir in die Freiheit fliegen, dass sie mich in ihren geblähten Bäuchen zum Himmel tragen, dass sie meine Träume bitter auf ihren sehnigen Zungen schmecken, dass ihnen mein Haar aus dem Schnabel hängt. Ich will, dass mein Gesicht in ihren wütenden schwarzen Augen brennt und meine versklavten braunen Augen ihnen als Erinnerung ins Gesicht geschrieben stehen. Und wenn sie krächzen, werden sie klagend meinen Namen krächzen.

2

Ich kam in Gefangenschaft zur Welt.

Ich wurde am 1. April 1979 in Teheran geboren, am selben Tag wie die Islamische Republik.

Monate vor meiner Geburt wurde ein Schah von seinem Volk verraten und auf den Mattscheiben weltweit als Verräter dargestellt. Zusammen mit seiner Kaiserin wurde er ins Exil und dann in einen Tod geschickt, der seinen größten Schmerz und seine schlimmsten Albträume übertraf. Monate vor meiner Geburt wurde die Geschichte eines Landes seziert, man kaute darauf herum wie auf dem fleischigen Teil eines Hühnerhalses, und das Gerippe seiner Zukunft wurde bärtigen Hunden und Krähen vorgeworfen, die krächzend ihr heiliges Buch zitierten, nur um dasselbe Buch dann wegzuwerfen und sich hinter hohen Säulen zu verbergen. Ein Hubschrauber hob ab, und Iran stand unter Belagerung.

Monate vor meiner Geburt beerdigten alte Frauen verkohlte Leichen, von denen sie annahmen, dass es ihre Kinder waren, und fragten Gott: Warum? Warum? Junge Männer und Frauen, die dem Gebrüll der Demonstrationen hatten entfliehen wollen, saßen im Cinema Rex und sahen sich Gavaznha an. Sie lachten über die Ironie im Film, ohne zu wissen, dass sie die Ironie des Schicksals im nächsten Moment am eigenen Leib erfahren würden. Männer und Frauen, die nicht lange genug lebten, um zu erfahren, dass der Film seinen Titel Gavaznha, »Reh«, erst in letzter Minute bekommen hatte, genauso wie sie selbst sich in letzter Minute auf der grausamen Liste des Todes wiederfanden, quasi Gottes letzter Gedanke vor dem Einschlafen. Männer und Frauen, gejagt und getötet, die Gesichter von Naivität entstellt.

Monate vor meiner Geburt erschien der Tod auf den Straßen Irans. Im Narrenkostüm eines Rattenfängers rief er die Kinder bei ihrem Namen, spielte auf seiner magischen Flöte und lockte sie in den Fluss, wo sie ertranken. Bildhübsche Mädchen räumten ihre Miniröcke in den Schrank und bügelten einen Tschador, der schwarz war wie ihre Tränen. Flochten ihr langes Haar zu Altfrauenzöpfen. Es war die Zeit der Cordhosen, Pluderhosen, Schlaghosen, der Armreifen und Jumpsuits, der Stirnbänder und Makramé-Gürtel, der Römersandalen und Batik-T-Shirts, die Zeit, in der langhaarige Europäer beiderlei Geschlechts Friedensplakate in die Höhe reckten und in grünen Ford Cortinas oder himmelblauen Rovers nach Katmandu fuhren. Es war die Zeit von »Kung Fu Fighting« und »Greased Lightning«, von Abba und den Bee Gees. Es war die Zeit von amerikanischen Nachbarn, mit denen wir alles teilten, Freundschaft und Essen, Leben und Geschichten, die Zeit, bevor wir unsere Schwerter zogen und sie als Geiseln nahmen, bevor sie uns Terroristen nannten und drohten, bei uns für Ordnung zu sorgen. Es war die Zeit, in der Frauen nicht fürs Verliebtsein gesteinigt wurden, Männer nicht für ihre Meinung gehängt wurden, Schultern nicht ausgepeitscht wurden, weil sie nackt waren, Haar nicht dafür bestraft wurde, weil es schön war, Träume nicht erstickt wurden, weil sie Träume waren, und Flügel nicht gestutzt wurden, weil sie fliegen wollten. Aber ich war damals noch nicht da, um all das zu sehen. Ich bin zu spät geboren. Als ich die Augen in dieser finsteren Welt aufschlug, war eine Dynastie zerschlagen worden. Eine Weste war dreckiggewaschen und ein Land saubergeraubt worden.

Ich kam unfrei zur Welt. Ich hörte die nostalgischen Geschichten von den Lippen der Menschen um mich herum und hielt sie für erfunden. Abends zappelte ich in meinem Bett herum und drückte meinen Teddy an mich, der genauso begierig wie ich darauf war, Scheherazades zeitgenössische politisch-religiöse Nacherzählung einer Vergangenheit zu hören, die anders als die Gegenwart nicht nur aus Schwarz, Weiß und Grau bestand, einer Vergangenheit aus eleganten Kleidern und seltsamen Frisuren. Eine Nacht von vielen in diesem Land aus Tausendundeiner. In der neuen Version der Geschichte war die Tochter des Wesirs fromm und sittsam gekleidet, und sie sprach mit gedämpfter Stimme, weil die Stimme einer Frau nun einmal etwas ist, wofür sie sich schämen muss. In dieser Version war es Scheherazade egal, ob sie lebte oder starb.

»Unser Land ist ein Land der Geschichten und ein Land der Gegensätze. Und keine Geschichte ist zu alt, als dass man sie nicht immer wieder erzählen könnte«, raunte mir meine Mutter zu. Dann zog sie Kleidungsstücke aus dem Schrank und führte sie mir vor: Vaters Polyesterhemd und ein schulterfreies goldenes Paillettenoberteil aus einer Zeit, als sie noch in Discos ging. In Discos! Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie meine heiligengleiche Mutter in einem knappen rosafarbenen Cocktailkleid mit Faltenrock und Plateauschuhen an einer Olive aus ihrem Martini knabberte, während sie dem Mann schöne Augen machte, der an jenem Abend ihre Lippen küssen und Monate später mein Vater werden würde. Meine Mutter, die ihr Leben lang alles mit der Zurückhaltung einer Mona Lisa angesehen und angelächelt hatte: Bin ich glücklich oder traurig? Ist das wirklich ein Lächeln? Ich bin ein Irgendwas, ein namenloses Dazwischen. Immer, wenn ich die Augen öffnete und meinen Teddy ansah, lächelte auch er mit schockgeweiteten Augen sein aufgenähtes Mona-Lisa-Lächeln. Meine Mutter war ein Teddybär.

»Es gibt Fotos!« Als Beweis hielten mir meine Mutter und meine Tante Bahar Fotoalben vor die Nase und wiesen auf ihre glattrasierten nackten Beine, die bodenlangen Festkleider, die unverschleierten Hochsteckfrisuren und die lackierten Zehennägel, die aus Sandalen hervorschauten. Aber ihre Erzählungen und das, was ich um mich herum sah, passten nicht zusammen. Ich nahm die Fotos in die Hand, sah nachdenklich aus dem Fenster und dachte: »Wie sind wir von dem da zu dem hier gekommen?«

Meine Mutter sagte oft: »Das alles gab es wirklich. Wir hatten ein Leben in asadi, in Freiheit.«

Asadi. Asadi. Von dem Wort bekam ich Albträume. Es bedeutete alles und nichts. Es war ein unerreichbares Ideal, wie »Perfektion« und »Gott« und »wahre Liebe« und »Zuhause«. Es ist ein Ideal, das man sehen, berühren, schmecken und am eigenen Leib erfahren muss. Man muss die Freiheit erlebt haben, um an ihre Existenz zu glauben. Man muss sie geliebt haben, um an ihre Wahrheit zu glauben.

»Und wie hat sich das angefühlt?«, fragte ich die beiden oft.

»Also … äh …«, stammelten sie. Sie wussten nicht, was sie antworten sollten, die Sprache hatte sie verlassen. Aber ihre Augen drückten aus, was ihre Zungen nicht sagen konnten.

Ich wurde in Gefangenschaft geboren. Und mittlerweile weiß ich gar nicht mehr, ob überhaupt irgendjemand frei geboren wird.

3

Yeki bud, yeki nabud,

gheir az choda, hietsch-kas nabud.

Mit diesem unlogischen Satz begann meine Mutter jeden Abend ihre Gutenachtgeschichte, und trotz seiner Unlogik war er melodiös genug, um mich in eine Nacht süßer Träume und endloser Grübeleien zu entlassen. Rechts und links von meiner Wirbelsäule begann es zu jucken, und wenn die Geschichte zu Ende ging, waren mir Flügel gewachsen, die mich aus den Trümmern der Realität in einen Himmel der Ideen hoben. Meine Mutter, deren Gesicht im Schein der Nachttischlampe orange leuchtete, sagte immer: »Du brauchst keine Flügel, um zu fliegen, du brauchst nur deine Phantasie. Du brauchst nur ein liebendes Herz.« Ich starrte hingerissen auf ihre ovalen Nasenlöcher und die stecknadelköpfigen schwarzen Haare an ihrem Kinn, die ich manchmal mit der Pinzette entfernen durfte, und wartete, dass sie die Tür zu meinem Käfig aufschloss und mich freiließ: ihre liebeskranke Nachtigall.

Träume kosten nichts, und niemand konnte mir meine Träume nehmen. Während der acht Jahre eines Kriegs, der zu beiden Seiten einer heimtückischen Grenze Kinder zu Waisen machte, Frauen zu Witwen, dunkelhäutige Väter zu Beinamputierten und Brüder zu kopflosen Leichen, wagte ich mich erst im Schutz der Finsternis, wenn der Rest der Welt schlief und das Böse ruhte, aus meinem enger werdenden Käfig und flog zum Mond. Nur in seinem Licht fühlte ich mich geborgen, nur in seinem Licht konnte ich schlafen.

Meine Mutter hatte Englisch studiert und beabsichtigte, Lehrerin zu werden. Sie hatte die Sprache an der Universität gelernt und sie in Gesprächen mit einer amerikanischen Familie, die vor der Revolution drei Straßen von unserem Haus entfernt wohnte, geübt. Unsere amerikanischen Nachbarn kehrten lange vor dem Sturz des Schahs in ihr fernes, lautes Land zurück, wo sie Rasen mähten und den Gartenzaun strichen. Meine Mutter schwärmte heimlich für ihren Lehrer (der Apfel fällt nicht weit vom Stamm), einen gewissen Mr Carl, der meinem Vater zufolge CIA-Agent war. Während der Revolution, als die Religionspolizei Wohnungen durchsuchte und alles beschlagnahmte, was in ihren Augen gegen die guten Sitten verstieß (Kartenspiele, Alkohol und sämtliche Fotos kopftuchloser Frauen), vergruben meine Eltern Bücher, Zeitschriften und alle unislamischen Fotos von sich selbst im Garten. Auf diese Weise ging man bei uns mit der Vergangenheit um. Man begrub sie, um sie zu bewahren.

Als meine Mutter ungeplant schwanger wurde und ihr Studium abbrechen musste, gab es nur noch eine Möglichkeit, ihren Traum vom Unterrichten zu verwirklichen: Ich wurde ihre Schülerin, ihre einzige Schülerin. Zwar lernte ich schnell Englisch, aber manche Wörter konnte ich erst Jahre später richtig aussprechen. Lange klang »Hawaii« wie »Havaii«, »waitress« wie »vaitress« und »knife« peinlicherweise wie »kneif«.

4

In meiner Kindheit war meine zweitliebste Geschichte die meiner Geburt. Auf Platz eins stand die Geschichte meiner Zeugung, aber die erzählte mir meine Mutter nie. Dafür kam sie mir auf anderem Weg zu Ohren. Bei uns währt kein Geheimnis lang, jedenfalls kein solches. Beide Geschichten waren etwas ganz Besonderes, weil sie von einer Zeit handelten, in der ich noch hätte gerettet werden können; von einer Zeit, in der noch nicht feststand, welche Richtung mein Leben nehmen würde. Meine Mutter hätte abtreiben können. Sie hätte uns alle beide töten können. Sie hätte das Land verlassen können, wie so viele andere es getan hatten und immer noch taten. Das Leben ist ein russisches Roulette, und aus einem seltsamen Grund zeigte die Mündung der Pistole immer auf meine Schläfe. Und jedes Mal, wenn ich Bekanntschaft mit einer Kugel machte, fiel mir auf, dass nicht ich den Abzug betätigt hatte. Immer gab es jemanden in meinem Leben, der das für mich übernahm.

Als die Wehen einsetzten, hielt meine Mutter sie für ganz normale Bauchschmerzen, und obwohl ihre Krankenhaustasche seit Wochen gepackt war, rief sie meinen Vater erst an, als die Fruchtblase geplatzt war. »Sei stark, ich liebe dich«, rief er, bevor er auflegte und panisch irgendwelche Nummern wählte und jede weibliche Person, die ans Telefon ging, anflehte, doch bitte seiner Frau zu helfen. Während meine Mutter neun Monate Schwangerschaft hinter sich ließ, spielte unser Schwarzweißfernseher, eine bizarre kopflose Kreatur auf Holzbeinen, stumm die Nachrichten, die damals alle Iraner verfolgten, und sah zu, wie meine Mutter mich in die Welt hinauspresste.

Es wehte ein neuer Wind. Hinfort mit allem Neuen, her mit dem Alten!

Meine Mutter lag auf einer Matratze, die sie hinterher wegen der großen Blutflecke wegwarf. Meine Großmutter mütterlicherseits, Nana Farangis, saß hinter ihr, drückte den Kopf meiner Mutter an ihren mächtigen Busen und wischte ihr mit einer braunen Hand übers Gesicht, während Schweißtropfen auf ihren Bauch tropften. Nach fünf Stunden Gebrüll und Gebettel, nach fünf Stunden, in denen meine Mutter abwechselnd zu Gott gebetet und ihn dafür verflucht hatte, dass er sie als Frau erschaffen hatte, nach fünf Stunden, in denen sie ins Kopfkissen gebissen, meiner Oma fast den Arm ausgerissen und die Hebamme so rachsüchtig in die Brüste getreten hatte, dass meine Tante Bahar, die jüngere Schwester meiner Mutter, in die Küche laufen und der armen Frau ein Glas Wasser holen musste, war der Kampf vorbei und ich gab mich geschlagen.

Ich kam zur Welt, in einem gemeinschaftlichen Kraftakt meiner Großmutter und einer derb fluchenden Hebamme aus der Nachbarschaft, saftig und glitschig wie eine empfindliche, überreife Frucht. Ich wurde aus dem Schoß der Zeit geboren, aus einer ewigen Dunkelheit hinein in eine Wirklichkeit aus Licht, Sonnenschein und Bomben, aus Nachtigallen, die frei über den Himmel flogen, blind für alle Grenzen, während mein Volk in Gefangenschaft verreckte. Ich schlug die Augen in einer Welt auf, in der rote Mohnblumen sehnsüchtig inmitten grüner Felder leuchteten. Zuerst kam mein Kopf, ein zerknautschtes Gesicht mit wütend zusammengekniffenen Augen und verzerrtem Mund, dann folgten ein langer Hals und ein Rumpf mit dürren Armen und Beinen, die eine beachtliche Körpergröße und eine flachbrüstige Jugend verhießen. Als Letztes kam der volle, runde Po, der Körperteil, den die wenigen Männer, mit denen ich geschlafen habe, neben meinen Lippen am meisten geliebt haben.

Das Erste, was ich sah, als ich kopfüber zur Welt kam, war das verschwommene Fernsehbild. Ich schrie nicht, und ich atmete nicht. Am liebsten wäre ich gleich wieder zurück in den Schoß meiner Mutter gekrochen und dort für immer geblieben. Ich wollte weiter in der sicheren Dunkelheit vor mich hindämmern, weit weg von dieser unbarmherzig grellen Welt. Doch die Hebamme schlug mir dreimal hart auf den Rücken, und mir blieb nichts anderes übrig als zu schreien. Der körperliche Schmerz war realer als die Ungewissheit meiner Zukunft. Als mein Vater schließlich von der Arbeit kam und mich in eine Decke gewickelt im Arm hielt, weinte er, und dieselben Glücks- und Sorgentränen, die ihm damals übers Gesicht liefen, liefen auch meiner Mutter jedes Mal übers Gesicht, wenn sie mir die Geschichte meiner Geburt erzählte. Und immer endete sie mit folgenden Worten: »Meine liebeskranke Nachtigall, der Tag, an dem du auf die Welt kamst, war der schönste und schmerzhafteste Tag meines Lebens.«

Mütter und Väter sind pathologische Sünder. Sie verdammen unzählige Seelen zu einem Leben im Exil, zu gescheiterten Träumen und Ehen, zu selbstmörderischen Geliebten, zu Tod und Gefängnis, und das alles nur aus Liebe und hoffnungsloser Zuversicht, aus einem egoistischen Bedürfnis, als wüssten sie es nicht besser, als hätte das Leben sie nicht eines anderen belehrt. Eltern sind wirklich und wahrhaftig die schlimmsten Verbrecher.

5

Bekommen Mörder eigentlich einen Nachruf?

Und wie würde meiner wohl lauten?

Frau Sheyda Porroya aus Teheran, Iran, starb am 11. März 1999 an einem gebrochenen Genick, nachdem sie zum Tode durch den Strang verurteilt worden war.

Sheyda Porroya wurde am 1. April 1979 geboren, als einzige Tochter von Rustam (†) und Aresu (†) Porroya, die beide unter verschiedenen, aber ähnlich tragischen Umständen ums Leben gekommen sind. Nach ihrem Abschluss am Fatima-Zahra-Gymnasium bestand sie den Konkour mit Bestnoten und wurde zum

Studium zugelassen. Während ihres ersten und einzigen Jahrs an der Universität war sie eine fleißige Studentin, die Seminare in Persischer Geschichte und Mythologie, Englisch und Lyrik belegte und bei allen Kommilitonen und Dozenten, die das Glück hatten, diese unkonventionelle und leidenschaftliche junge Frau kennenzulernen, einen tiefen Eindruck hinterließ.

Sheyda war als unverbesserliche Träumerin bekannt. Sheyda, die ein äußerst freundliches Naturell besaß, war ein lebensfrohes, abenteuerlustiges Ding und erzählte furchtbar gern Geschichten. Sie glaubte unbeirrbar an die Liebe, an den Triumph der Liebe, an ewiges Glück und an rührselige Happy Ends. Und obwohl ihr frühzeitiger Tod, der durch das gerechte Urteil des Erhängens erfolgt ist, bedeutet, dass Sheyda ihren Traum, die ganze Welt zu lieben und sie auf ihre eigene fehlgeleitete Art zu retten, nicht verwirklichen konnte, war sie der festen Überzeugung, dass jeder Einzelne von uns irgendwann seine Sternstunde erlebt, und dass der Tod ihre Sternstunde sein würde.

In ihrer Freizeit widmete sich Sheyda mit bemerkenswertem Eifer ihren beiden Hobbys, dem Sammeln von Engelsfiguren und dem von Büchern, vor allem solchen, die von dem ebenso geheimnisvollen wie brillanten Mustafa Jafari übersetzt worden sind. Sie hatte eine große Begabung fürs Schreiben, auch wenn keiner ihrer Texte jemals veröffentlicht worden ist, aus politischer Korrektheit und wegen kultureller und religiöser Sensibilitäten. Einigen ihrer Texte wurde vorgeworfen, Hass und Feindseligkeit gegen das islamische Regime zu schüren, weshalb sie nach ihrem Tod verbrannt worden sind. Sheyda war eine leidenschaftliche Beobachterin sowohl von Vögeln als auch von Menschen, wobei ihr bewusst war, dass Vögel, was die Freiheit angeht, immer die Oberhand haben werden, oder in diesem Fall, wenn man so will, den Oberflügel.

Sheyda Porroya hinterlässt einen Teddybär, der auch ihr Zellengenosse war, eine treue Stoffpuppe namens Laleh, ein Universum, das für niemanden auch nur einen Moment innehält, und viele wunderschöne unsterbliche Träume.

ZWEITES KAPITEL

1

»Dann ist sie eben etwas seltsam. Jedes Kind ist anders!«, sagte meine Kinderärztin. Sie gab mir einen Lutscher, und ich wickelte ihn aus und schob ihn mir in den Mund. Das orange Papier warf ich auf den Boden. Mein Vater beugte sich vor, hob es auf und bedachte mich mit einem missbilligenden Blick, den ich ignorierte. Stattdessen sah ich aus dem Fenster. Draußen stand ein Apfelbaum, der aussah wie gekreuzigt. Oder wie der Buchstabe T. Seine Äste bogen sich unter der Last reifer Früchte, der Rasen war mit verfaulten Äpfeln übersät. Ich saß zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf einer hellbraunen Ledercouch, die nach Kleinkindkotze stank. Meine Eltern blickten sich an und wussten nicht, was sie sagen sollten. Schließlich fragte Dr. Vafa, wohl aus professionellem Pflichtgefühl oder aus dem Bedürfnis, ihre Patienten zu beruhigen: »Worum geht es denn? Imaginäre Freunde? Angst im Dunkeln?«

Ich schenkte Dr. Vafa ein Lächeln und ersetzte ihren Anblick dann wieder durch das T, das seine blutigen Arme beschwörend gen Himmel reckte. Ich stand auf und wollte gehen, aber mein Vater zog mich zurück auf die Couch. »Setz dich.«

Ich gehorchte.

Mein Vater räusperte sich. »Nein, es geht um etwas Ernsteres.« Er warf meiner Mutter einen Seitenblick zu, aber sie saß nur zurückgelehnt auf der Couch und starrte ausdruckslos auf das Gemälde an der Wand gegenüber. Das Bild in dem kostbaren geschnitzten Holzrahmen zeigte eine Gruppe schmaläugiger Jäger mit Turbanen, die eine Löwin mit Speeren durchbohrten. Vielleicht hatte meine Mutter Mitleid mit dem verwundeten Tier und wünschte, sie könnte sich zwischen die blutrünstigen Jäger und die Löwin werfen und den Männern, indem sie die Speere in ihr eigenes Fleisch eindringen ließe, zeigen, dass sie die wahren Tiere waren. Ich weiß es nicht, aber meine Mutter stierte auf das Gemälde, als wollte sie seine ganze Grausamkeit in sich aufnehmen. Als wäre das Gemälde der einzige Grund, warum wir in diesem kühlen Zimmer saßen. Ihr Haar, das sie sich zu Hause oft um den Finger wickelte, ihr Haar, auf dessen Spitzen sie gern herumkaute, war von einem schwarzen, lose gebundenen Kopftuch verhüllt.

Da meine Mutter weiter beharrlich schwieg, blieb meinem Vater nichts übrig, als verschämt zu murmeln: »Unsere Tochter ist sieben Jahre alt und macht immer noch ins Bett, und sie –« Er starrte beschämt zu Boden und warf meiner Mutter wieder einen Blick zu: »Aresu, vielleicht solltest du es ihr erklären. Sag doch auch mal was.« Meine Mutter erwachte aus ihrer Trance und drehte sich halb zu meinem Vater um, der sich müde die Augen rieb. An seinem Mittelfinger prangte der schwere Silberring mit dem gelben Edelstein.

Dr. Vafa klappte den Mund auf, aber bevor sie etwas sagen konnte, ergriff meine Mutter das Wort: »Sheyda dschan«, sagte sie und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, »warum gehst du nicht nach draußen und spielst ein bisschen, bis Papa und ich hier fertig sind?«

Ich sprang auf und wollte zur Tür laufen, aber sie packte mich am Ellbogen, griff nach meinem Kinn und zog mein Gesicht dicht an ihres heran. Der Lutscher, den ich immer noch im Mund hatte, schlug klackernd gegen meine Zähne. »Bleib von der Straße weg und sprich nicht mit Fremden.« Dann küsste sie mich auf die Wange und wischte die braune Lippenstiftspur mit dem Daumen ab.

Ich nickte und rannte nach draußen.

Dort stand ich unter dem Baum, berührte sein Rückgrat und blickte hoch zu einem knallroten Apfel, der weit oben an einem Ast hing. Mit in den Nacken gelegtem Kopf überlegte ich, wie ich am besten an dem Stamm hochkäme, wo ich die Füße hinsetzen und an welchen Ästen ich mich festhalten musste. Nach drei gescheiterten Versuchen ließ ich mich ins Gras fallen, das vom Dauerregen am Vormittag noch feucht war, und lehnte meinen Rücken an den Stamm. Ich atmete angriffslustig, wickelte mir Grashalme um den Finger und kaute auf dem Rest meines Lutschers herum, der zerbröselte und nach Pappe zu schmecken begann. Der widerlich süße Geruch verfaulter Äpfel vernebelte mir den Kopf, und ich musste mich aus diesem Dämmerzustand befreien, bevor er mich ganz und gar überwältigte. Ich reckte den Hals und beschwor den Apfel, versuchte, ihn zum Herunterfallen zu überreden, sang ihm die Lieder vor, mit denen meine Mutter mich abends in den Schlaf wiegte, versprach, ihn niemals zu essen, und beteuerte gleich darauf, ich würde ihn mit der allergrößten Zärtlichkeit verspeisen.

Geduldig wartete ich auf ein Wunder, so geduldig, wie ich es den Rest meines Lebens tun würde. Ich wartete darauf, dass mich jemand rettete und mir die Lösung auf dem Silbertablett servierte. Irgendwann fand ich, dass es Zeit für einen Kompromiss war. Ich stand auf und suchte das Schlachtfeld nach einer Apfelleiche ab, die einigermaßen intakt aussah, so als würde sie höchstens leichten Durchfall verursachen. Als ich meine Beute aufhob, spürte ich, dass die verborgene Seite matschig war. Meine Finger glitten über die klebrige braune Haut und drangen tief in die überreife Feuchte ein. Ich schloss die Augen und biss sehnsüchtig in den Apfel. Süßer Saft rann mir über die Zunge, und ich sog ihn mit lautem Schlürfen ein, woraufhin die Frucht an meinen Lippen kleben blieb.

Als ich den Bissen gerade herunterschlucken wollte, spürte ich an meinen Lippen einen Wurm, ungefähr so groß wie der kleine Finger eines Babys. Er versuchte verzweifelt, sich zu retten, indem er in das nächstbeste warme Loch kroch: meinen Mund. Hastig spuckte ich mehrmals aus, wischte mir wütend über den Mund und rieb mir die Zunge mit dem Ärmel meines Pullovers ab. Vorher hatte ich allerdings noch auf den Wurm gebissen und die Bitterkeit seines gallertartigen Körpers geschmeckt. Apfelwürmer schmecken nach Eiter. Keine Ahnung, wie andere Würmer schmecken, aber Apfelwürmer schmecken nach Eiter.

Meine Eltern brauchten zu lang.

Bei unserer Ankunft hatte ein Junge mit blauen Augen auf dem Bürgersteig gesessen und Prophezeiungen des Dichters Hafis verkauft. Er hatte einen gelbgrünen Sittich dabei, der auf einem Stapel aus verschiedenfarbigen, zu kleinen Umschlägen gefalteten Blättern thronte. Auf jedem Blatt stand ein fal, ein Gedicht, das den Erfolg oder das Scheitern deiner niya, deiner Absicht, vorhersagte. Es war Aufgabe des Sittichs, einen Umschlag auszuwählen. Die ganze Zeit, während ich erst vergeblich versucht hatte, auf den Baum zu klettern, und dann vergeblich versucht hatte, den Apfel zu verhexen und zum Runterfallen zu bewegen, hatte mich der Junge beobachtet. Seine Blicke hatten mich angestachelt, es noch beharrlicher zu versuchen, seinetwegen hatte ich den Apfel noch heftiger begehrt. In dieser Hinsicht war ich wie meine Mutter. Nicht wie meine Mutter Aresu, sondern wie unser aller Urmutter: Eva. Ich wollte unbedingt das Gesicht wahren. Deshalb stand ich auf, nahm einen großen Stein, zielte sorgfältig und schleuderte den Stein mit aller Kraft in Richtung des Apfels. Wieder und wieder verfehlte ich mein Ziel. Schließlich kam der Junge näher, seinen Sittich auf der einen Hand, seine lyrische Einkommensquelle in der anderen.

»Wo sind deine Eltern?«, fragte er.

Ich vermied es krampfhaft, den Vogel anzusehen, starrte weiter hoch zu dem Apfel und gab keine Antwort.

»Wo sind sie? Noch da drinnen? Bist du stumm oder was?« Der Sittich knabberte an den Fingern des Jungen, tippelte dann zielstrebig seinen Arm hoch und setzte sich auf seine Schulter. Ich schwieg.

»Wenn du es mir sagst, hole ich dir den Apfel vom Baum«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen, bei dem er einen abgebrochenen Schneidezahn entblößte. Ich gab mich geschlagen und zeigte auf Dr. Vafas Praxis, die sich im Erdgeschoss des angrenzenden Hauses befand.

»Du musst lernen, wie man auf einen Baum klettert. Welchen Apfel willst du denn? Ich hole ihn dir. Aber du musst in der Zwischenzeit auf meinen Vogel aufpassen, damit ihn niemand klaut. Übrigens, du darfst nie die Blätter von einem Apfelbaum oder die Kerne essen.«

»Warum nicht?«

»Weil du dann stirbst.«

Noch bevor ich ihm den Apfel zeigen konnte, schob er seine Tageseinnahmen in die Brusttasche seines Hemdes und überreichte mir den Karton mit den Gedichten. Dann forderte er den Sittich mit einem Pfiff dazu auf, auf meine angststarre Schulter zu wechseln. Ich schrie auf, als der Vogel sich flatternd neben meinem Ohr niederließ und seine Federn mein Haar streiften. Er schlug noch ein paar Sekunden mit den Flügeln und beruhigte sich dann. Der Junge lachte und sagte, ich solle keine Angst haben, sondern mich ganz normal verhalten. Dann zog er seine hässlichen Schuhe aus und kletterte auf den Baum. Ich beobachtete, wie er den Stamm fachmännisch mit den Knien umklammerte und sich nach oben schob, ohne sich irgendwo festzuhalten, durch reine Muskelkraft. Sein magerer Po, der nicht viel größer war als meiner, sah von unten sehr lustig aus.

Ich streckte einen Arm aus und rief etwas zu laut: »Der da oben ist es, der glänzende Apfel über dir.« Der Sittich versteckte sich in meinem Haar, knabberte an meinem Ohr, rieb seinen gebogenen Schnabel an meinem Nacken und kitzelte mich so sehr, dass ich lachen musste. Als der Junge nach meinem Apfel griff, sah er zu mir herunter, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber da war es zu spät. Eva hatte den Apfel gewollt, Adam würde ihn essen. Mit den Beinen hielt der Junge die Taille des Baums umschlungen, griff mit der linken Hand nach dem Ast, zog ihn zu sich herab und pflückte den schimmernden Apfel. Er rieb ihn an seiner Hose blank und biss dann mit einem lauten Krachen hinein, das mir noch tagelang im Ohr klingen würde.

Tränen schossen mir in die Augen und begannen mir über die Wangen zu laufen. Wütend warf ich seinen Karton zu Boden, sammelte mehrere verfaulte, ameisenbedeckte Äpfel in meinem Pullover und begann, ihn damit zu bewerfen. Ich hasste ihn, ich hasste ihn abgrundtief. Der Sittich flatterte schimpfend über den regenbogenfarbenen Blättern, die jetzt überall auf dem Rasen verstreut waren. Einige Äpfel trafen den Jungen nur am Hals oder am Bauch, aber der letzte traf ihn mitten auf die Nase. Er verzog das Gesicht und plumpste wie ein Stein zu Boden, mit blutender Nase, den angebissenen Apfel in einer Hand.

Ich lief davon.

Eine Viertelstunde später kam ich mit meinen Eltern aus dem Haus. Ich versteckte mich hinter meinem Vater und umklammerte seine Beine wie ein verängstigter Koala. Ich zerrte so heftig an seinen Hosentaschen, dass er fast gestolpert wäre. Er befreite sich von meinen schwitzigen Tentakeln und sagte: »Baba dschan, bitte geh wie ein normaler Mensch.«

Der Junge saß auf dem Bürgersteig, an derselben Stelle wie vorher, und hielt sich ein blutiges Taschentuch an die Nase. Der Karton mit den Umschlägen stand wieder vor ihm, und obenauf thronte der Sittich wie ein gelangweilter Wahrsager, der in einem Jahrmarktszelt darauf wartet, dass jemand seine übersinnlichen Fähigkeiten in Anspruch nehmen möchte.

»He, junger Mann!«, sagte mein Vater, als er die blutige Nase und das schmutzige Hemd des Jungen sah, und wuschelte ihm aufmunternd durchs schwarze Haar. »Alles in Ordnung?«

Der Junge zog einen Apfel aus seinem Hemd und rieb ihn an der Hose blank. »Ja.« Er grinste mich mit seinem bescheuerten abgebrochenen Zahn an und streckte mir den Apfel hin. »Den hier hast du vergessen.«

Ich bat meine Mutter mit einem Blick um Erlaubnis, und der Junge erklärte: »Sie hat mich gebeten, ihr einen Apfel zu pflücken, und ist dann ohne ihn weggerannt.«

»Das war aber wirklich nett von dir«, sagte mein Vater zu dem Jungen. »Das war wirklich nett von ihm, nicht wahr, Sheyda?« Er schob mich zu dem Jungen. »Sei nicht undankbar! Er hat sich sogar verletzt, nur um dir einen Gefallen zu tun. Na los, nimm den Apfel.«

Ich tat wie geheißen. Ich riss ihm den Apfel aus der Hand, bevor der Junge es sich anders überlegen und ihn selbst essen konnte. »Warte!«, rief meine Mutter, als sie sah, dass ich Anstalten machte hineinzubeißen. »Wir müssen ihn erst waschen. Du kannst ihn zu Hause essen.« Sie griff in ihre Handtasche und kramte etwas Geld hervor, um den Jungen für seine Bemühungen zu bezahlen.

»Ich will den Vogel haben«, sagte ich ruhig.

»Sheyda dschan, sei nicht dumm«, zischte meine Mutter.

»Der ist nicht zu verkaufen«, rief der Junge wütend, und ich war heilfroh, dass ich den Apfel schon an mich genommen hatte.

»Warum lässt du den Sittich nicht eine Prophezeiung für dich aussuchen?«, sagte meine Mutter. »Du hast doch bestimmt eine Frage, auf die du eine Antwort möchtest, Schatz?«

»Nein. Ich will den Vogel.«

»Den kannst du aber nicht haben. Junger Mann, bitte lass deinen Vogel ein fal für meine Tochter aussuchen«, sagte mein Vater mit wachsender Ungeduld und einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Stell eine Frage, Sheyda. Aber behalte sie für dich. Oder formuliere einen Wunsch.«

»Wie viele Wünsche habe ich denn?«

»Einen.«

Ich schloss die Augen und dachte an etwas, was mir damals sehr bedeutsam vorkam. Nachdem der Vogel mit schiefgelegtem Kopf alle Möglichkeiten durchgegangen war, zog er mit dem Schnabel einen kleinen Umschlag hervor. Meine Mutter bat ebenfalls um ein fal. Wir bezahlten den Jungen und gingen mit den beiden Umschlägen davon; der eine war orange wie der Lolli, den ich von der Kinderärztin bekommen hatte, der andere himmelblau wie die Augen des Jungen. Im Taxi nach Hause öffnete meine Mutter ihren Umschlag und las das Gedicht, faltete das Papier dann sorgfältig wieder zusammen und schob es in ihre Handtasche. Dann öffnete sie meinen und las, was darauf geschrieben stand.

»Was um Himmels willen hast du dir gewünscht?«, fragte meine Mutter, die Hafis’ Prophezeiungen viel zu ernst nahm. Das Papier zitterte in ihren Händen.

»Ich habe geschummelt. Ich habe mir mehrere Sachen gewünscht.«

»Das macht nichts. Was hast du dir gewünscht?«

»Ich habe mir gewünscht zu verschwinden. Oder in einem Apfel zu leben wie ein Wurm.« Ich starrte auf die glänzende Schale des Apfels und versuchte, mein Spiegelbild darin zu erkennen. »Und du, maman? Was hast du dir gewünscht?«

Mein Vater drehte sich vom Beifahrersitz zu uns um. Er hielt eine halb abgebrannte Zigarette zwischen zwei angespannten Fingern, atmete den Rauch aus und sagte: »Sie hat sich gewünscht, du wärst normal.«

»Ich habe mir auch noch den Vogel gewünscht«, sagte ich und starrte weiter auf meinen Apfel.

Meine Mutter zerknüllte das orange Papier und warf es kurzerhand aus dem Fenster des fahrenden Taxis.

Ich habe nie erfahren, was in Dr. Vafas Sprechzimmer gesagt worden war. Aber ich kann es mir denken, denn drei Wochen später saß ich in einer anderen Praxis auf einer anderen Couch und sah aus einem anderen Fenster. Diese Couch stank nach teurem Parfüm, freien Assoziationen und Albträumen, und ich saß zwischen denselben Eltern, die fest überzeugt waren, dass ich verrückt war. Dr. Fereydun ist bis heute mein treuer Psychiater. Dr. Vafa hatte ihn meinen Eltern empfohlen, weil er große Erfolge mit schweren Fällen vorzuweisen hatte, und so einer war ich offenbar.

Die Wände seines Büros rochen nach verschämten Geständnissen und bösen Erinnerungen. Das Büro war zweimal so groß wie unser Wohnzimmer, und auf Dr. Fereyduns Schreibtisch standen viele schöne Dinge. Dinge, die in unserem Wohnzimmer, so fand ich, noch schöner ausgesehen hätten, zum Beispiel in einem der beiden Glasschränke, in denen meine Mutter das gute Geschirr und ihre Sammlung Porzellanengel aufbewahrte. Diesmal saß ich zwei lange Stunden still und wartete darauf, dass der Doktor mir einen Lutscher schenkte. Aber das tat er nicht. Er sprach die ganze Zeit mit meinem Vater und bombardierte mich mit Fragen zu meinem Spielzeug. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Am besten im Gedächtnis geblieben ist mir der Geruch seiner Couch, aber das liegt vor allem daran, dass er über die Jahre hinweg derselbe geblieben ist. Den Geruch von Erinnerungen bekommt man nicht so leicht wieder raus.

Der Glasschrank mit den Engeln war immer verschlossen. Meine Mutter versteckte den Schlüssel, aber ich wusste, wo ich suchen musste. Jeden Freitag schloss sie die Tür auf, um die Engel abzustauben und neu zu arrangieren. Sie nahm jeden einzelnen zärtlich in die Hand, hüllte ihn in ein feuchtes schwarzes Tuch und rieb ihn ab. Manche Engel beteten im Knien, andere blickten gütig auf mich herab, füllten meine Augen mit Wärme und segneten mich mit ausgebreiteten Armen. Ein weiblicher Engel spielte Harfe, zwei andere hielten arrogant die Augen geschlossen. Der Schlüssel befand sich in der Küche, in einem leeren Porzellankrug, in dem meine Mutter auch sämtliche Hemdknöpfe aufbewahrte, die mein Vater bei der Arbeit verlor.

Drei Tage später bemerkte meine Mutter die schwarze Katze, die trotzig zwischen all den monoton weißen Engeln stand, den Schwanz aufgerollt wie eine Peitsche, eine Pfote erhoben, als wollte sie ihrem Gegenüber das Gesicht zerkratzen oder einfach nur hallo sagen, ein Auge arglistig zusammengekniffen, die Zunge spöttisch rausgestreckt. Ihr geöffnetes Auge folgte mir gelb und hypnotisch durchs Zimmer. Meine Mutter knallte die Katze vor mich auf den Küchentisch. Ich war gerade damit beschäftigt, Erdbeermarmelade auf ein knuspriges Stück taftun zu schmieren. Ich sah lächelnd von meinem Frühstück auf, weil ich dachte, meine Mutter wollte sich bei mir bedanken. Falsch gedacht.

»Wann hast du die Katze an dich genommen? Wie hast du das angestellt?«, brüllte sie. »Wir saßen doch die ganze Zeit neben dir!«

Ich machte ein langes Gesicht. Leckte den Teelöffel ab, tauchte ihn erneut ins Glas, träufelte weiter Marmelade auf mein Brot.

»Meine Tochter ist eine Diebin! Was hast du noch gestohlen?« Meine Mutter riss mich vom Stuhl, ging vor mir auf die Knie und schüttelte mich. »Was hast du noch mitgenommen? Antworte!«

»Nichts. Nur die Katze.« Meine Mutter sah mich mit irren Augen an. Mir wurde klar, dass ich etwas sehr Schlimmes angestellt hatte, auch wenn ich nicht genau wusste, was daran so verwerflich war. »Ich wollte sie dir zum Muttertag schenken. Papa …«

Sie gab mir eine Ohrfeige, die nicht besonders wehtat. Vor Schreck begann ich zu weinen. Sofort zog sie mich in ihre Arme und rief atemlos: »Tut mir leid, Schätzchen, tut mir leid.« Ihr Haar geriet mir in die Augen und in den Mund, und ich musste husten. Es war ein trockener Husten, der mir im Hals wehtat und den ich mit Absicht übertrieb. Meine Mutter nannte mich ein dummes Mädchen und zog mich ins Badezimmer. Ich hielt immer noch den Löffel in der Hand und stolperte schluchzend hinter ihr her, während die Marmelade auf den Boden tropfte. Im Badezimmer hielt sie meinen Kopf über das Waschbecken und seifte mir Gesicht und Hände mit einer bitter schmeckenden grünen Seife ein. Die ganze Zeit über ließ ich den Löffel nicht los. Ich spuckte einen rötlichen Schaum voller kleiner schwarzer Samen ins Waschbecken. Dann hob ich den Blick. Das war die schlimmste Strafe: Meine Mutter zwang mich, im Spiegel mitanzusehen, wie ihr Tränen über das Gesicht liefen. Sie wollte mir zeigen, was ich ihr angetan hatte. Damals wusste ich nicht, ob es die Seife oder die Tränen meiner Mutter waren, die mich von meinen Sünden reinwuschen.

Jetzt weiß ich es.

»Wirst du es Papa sagen?«, fragte ich, während sie mir eine Jeans anzog und sie über meinem Bauchnabel zuknöpfte.

»Nein«, antwortete sie ohne jede weitere Erklärung.

Dr. Fereydun sagte, ich dürfe die Katze behalten. Er habe nicht einmal gemerkt, dass sie weg sei. Meine Mutter entschuldigte sich immer wieder und zerquetschte mir die Hand, damit ich dasselbe tat, damit ich wiederholte, was wir im Taxi einstudiert hatten: »Es tut mir leid, dass ich die Katze genommen habe, ohne Sie um Erlaubnis zu bitten. Ich verspreche, dass ich beim nächsten Mal vorher frage und dass ich nie wieder etwas stehlen werde.« Der Doktor sagte lächelnd, ich solle die Katze als Geschenk dafür betrachten, dass ich so ein mutiges Mädchen sei und meinen Fehler zugegeben hätte. Mit hochrotem Gesicht eilte meine Mutter mit mir aus dem Sprechzimmer.

Zu Hause angekommen, sagte sie, sie sei böse auf mich und wolle mich für den Rest des Tages nicht sehen. »Geh mir aus den Augen oder ich erzähle es doch noch deinem Vater.«

Ich verschwand in meinem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Die Katze nahm ich mit. Mein Magen knurrte, ich hätte gern eine Tasse heißer Milch mit einem Löffel Zucker getrunken. Ich zwang mich zu weinen, und es gelang mir auch, ein paar Tränen zu verdrücken. Ich leckte sie mir vom Gesicht und lag dann zufrieden auf meinem Bett, während der silbrige Nachmittag zu einem mitternachtsblauen Abend wurde. Irgendwann weinte ich noch etwas mehr, weil ich müde war und nicht schlafen konnte. Später muss ich dann doch eingeschlafen sein, wenn auch nur lang genug, um ins Bett zu machen. Ich wachte erst auf, als meine Blase den letzten Tropfen aus meinem Körper gepresst hatte. Ich fühlte mich erleichtert und schob eine Hand unter die Decke, um zu prüfen, wie groß der Schaden an der Matratze war. Als ich die Hand wieder hervorzog, war sie warm und klebrig. Mit den Beinen schob ich meinen Teddy unter der Decke hervor, um ihn vom Tatort zu entfernen, und als er in Sicherheit war, ließ ich von ihm ab. Er hing über der Bettkante, und zwischen seinen Beinen prangte ein Loch, genauso groß wie das Loch, das ich und die Welt eines Tages im Herzen meiner Mutter hinterlassen würden. Mein Teddy gebar einen Wattebausch.

In diesem Moment hörte ich das Glöckchen an der Tür klingeln, die von unserem Garten ins Wohnzimmer führte. Ich strampelte die stinkende Decke weg, sprang aus dem Bett und beobachtete durchs Schlüsselloch, wie mein Vater ein Bein hob, um seine Schnürsenkel zu lösen, wie er sich Halt suchend an die Wand lehnte und nacheinander beide Schuhe auszog. »Aresu«, rief er, während er in seine Pantoffeln schlüpfte, »Aresu dschanam, wo bist du?«