Im kleinen wilden Schnergenland - Edward Wyke-Smith - E-Book

Im kleinen wilden Schnergenland E-Book

Edward Wyke-Smith

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Beschreibung

Warmherziges Vorlesebuch über beste Freunde und eine Welt voller Fantasie, für Kinder ab 6 Jahren. "Im kleinen wilden Schnergenland" inspirierte J.R.R. Tolkien zu seinem Buch "Der kleine Hobbit".

Als Pip und Flora im Sunny Bay Home, dem von Miss Watkyns geführten Heim für elternlose Kinder, in Schwierigkeiten geraten, laufen sie mit ihrem Hund Tiger davon: mitten hinein in eine andere Welt. Sie entdecken das Land der Schnerge, ein magischer Ort tief im Wald mit seinen Baumhäusern und kuriosen Bewohnern. Hier gibt es Zimtbären, tolle Feste und seltsame Rituale – aber auch Hexen und andere merkwürdige Wesen. Zum Glück haben die beiden Kinder einen Freund, den chaotischen und vergesslichen, aber dafür sehr liebenswerten Schnerg Gorbo. Mit ihm stolpern sie von einem grandiosen Abenteuer zum nächsten.

Ausgestattet mit vielen farbigen Bildern

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Das Buch

Tief im Wald gibt es einen magischen Ort voller wunderbarer Feste und liebenswerter Bewohner: das Land der Schnerge. Doch diese Welt ist ebenso zauberhaft wie gefährlich. Zusammen mit ihrem guten Freund, dem Schnerg Gorbo, nehmen Pip und Flora es mit Wobsern, hinterlistigen Bäumen und fiesen Hexen auf. Werden sie den Weg zurück nach Hause finden?

Die Autoren

© Privat

Veronica Cossanteli wuchs in Hampshire und Hongkong mit einer Reihe von Tieren auf, darunter ein imaginärer Haustierdinosaurier, der auf ihrem Bett schlief. Sie arbeitet in einer Grundschule in Southampton, wo sie mit drei Katzen, zwei Schlangen, einem Meerschweinchen und einer großen Anzahl von Eidechsen lebt.

© Privat

E. A. Wyke-Smith (1871–1935) führte überwiegend das Leben eines Weltenbummlers und Abenteurers. The Marvellous Land of Snergs (1927) war sein letztes Buch, dem heute besondere Bedeutung zukommt, weil es J. R. R. Tolkien zu seinem berühmten Klassiker The Hobbit inspirierte.

Der Illustrator

© Privat

Paddy Donnelly ist ein irischer Illustrator, der heute in Belgien lebt. Er hat über 15 Jahre Erfahrung als Illustrator und Designer und liebt es besonders, mit einem strukturierten, malerischen Ansatz zu arbeiten. Stets versucht er, seiner Arbeit einen Hauch von Humor zu verleihen, wo immer er kann. Paddy hat einen grafischen Hintergrund und arbeitet je nach den Anforderungen des Projekts problemlos in verschiedenen Illustrationsstilen. Er wünschte, Pluto wäre noch ein Planet.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer*in erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Xander mit Dank für so viel Lachen währendder ganzen Zeit und für die vielen Spaziergänge.

Ein Wort der Entschuldigung an jene,die dieses Buch so gekannt und geliebt haben,wie es war. Ich habe alles darangesetzt,den Geist des Originals zu bewahren,aber Geschichten sind etwas Lebendiges unddiese Geschichte zeigte sich ungestümer, alses sonst meist der Fall ist. Von ihren historischenSchichten befreit, verhielt sie sich plötzlich wie Tiger,der Welpe, und schoss ohne Vorwarnung inunerwartete Richtungen davon. Mir blieb nur,ihr einfach zu folgen. Verzeiht.

ERSTER TEIL

in dem Regeln gebrochen werdenund Miss Watkyns ungehalten wird.Die Proben von Captain VanderdeckensBlaskapelle werden gestört,eine Fremde taucht in Sunny Bay aufund zwei Kinder sowie ein kleinerHund verschwinden durch ein Torund finden sich in einem Woanders wieder.

»Kinder brauchen Regeln«, erklärte Miss Watkyns. »Und Regeln sind dazu da, befolgt zu werden.«

Als eine Frau mit klaren Kanten und festen Prinzipien, akkurat und streng von den Haarnadeln bis zum Saum ihrer langen schwarzen Röcke, setzte Miss Watkyns auf gutes Benehmen, Fairness, viel frische Luft für die heranwachsenden Kinder – und eben auf Regeln.

Aufrecht und steif saß sie an ihrem großen Schreibtisch, auf dem nie etwas verrückt werden durfte. Selbst der Goldfisch in seinem Glas schwamm stets im Uhrzeigersinn seine immer gleichen Bahnen. Hinter Miss Watkyns ließ das offene Fenster nicht nur das von Meersalz getränkte Sonnenlicht herein, sondern auch die Rufe der ins Freie gelassenen Kinder und das Kreischen der Möwen. Vor ihr saßen drei Regelbrecher: ein Mädchen, ein Junge und eine kleine Gestalt, die kein Kind war und es deshalb hätte besser wissen müssen.

Flora saß still und stumm da, halb verdeckt von ihrer blonden Haarmähne. Sie hatte so einen Ausdruck von Ganzwoanderssein und den Blick von jemandem, der seine Gedanken und Gefühle für sich behält. Der dürre Junge neben ihr mit den aufgeschürften Knien ließ nervös seine Beine vor- und zurückschwingen und hatte hellwache, leuchtende Augen. Pip hatte gelernt, auf der Hut zu sein: Beim ersten Anzeichen von Ärger zog er den Kopf ein und war auf dem Sprung.

Die Bank, auf der Pip und Flora saßen, war in dem Heim für überflüssige und aus Zufall elternlose Kinder in Sunny Bay berüchtigt. Sie hieß die Standpaukenbank und ihr Holz war blank geschliffen vom Hin- und Herrutschen allzu vieler schuldbewusster Hintern. Flora und Pip kannten die Bank nur zu gut – doch diesmal galt die Standpauke jemand anderem.

»In Sunny Bay hungern die Kinder nicht, Mister Gorbo«, erklärte Miss Watkyns der kleinen dicklichen Gestalt, die vor ihr stand. Nur wenig von Mister Gorbo ragte über die Schreibtischplatte, obwohl er so erwachsen war, wie er nur sein konnte. »Sie bekommen eine sehr ausgewogene Ernährung, sonntags zusätzlich einen Vanillepudding und jede Menge Backpflaumen. Ein gut regulierter Magen schafft einen gut regulierten Verstand. Können Sie mir also erklären, wieso ich diese beiden da«, sie warf einen Blick auf Pip und Flora, »an einem Ort finde, wo sie nichts zu suchen haben, noch dazu zu einer Zeit, wo sie nirgends zu sein haben außer im Bett – und schon gar nicht voller Krümel und Marmelade?«

Gorbos Stöhnen war heftig. »So ein paar Marmeladentörtchen schaden doch nicht, oder? Ein kleines Mitternachtsmahl? Wie meine Mutter immer gesagt hat: ›Nimm vom Kuchen ein Stück, danach schläfst du im Glück.‹«

»Es wurden Regeln gebrochen. Das schadet immer.« Miss Watkyns blieb hart. »Die Kinder wurden im Wäscheschrank gefunden, für den sie keine Erlaubnis haben. Essen von Fremden anzunehmen, ist strengstens verboten …«

»Gorbo ist doch kein Fremder«, warf Pip ein. »Er ist unser Freund.«

»… und nachts ihr Bett zu verlassen, nachdem das Licht ausgeschaltet ist«, fuhr Miss Watkyns fort und überging den Einwurf, »ist strikt untersagt. Ich kann nicht dulden, dass Kinder im Dunkeln herumlaufen. Es könnten ihnen wer weiß was für schlimme Dinge passieren, von Holzsplittern im Fuß bis zu einem frühen Tod.«

Gorbo senkte den Kopf vor Scham.

»Vielleicht hat Mister Gorbo die Regeln ja nicht gelesen«, schlug Miss Scadging, die Oberin von Sunny Bay, vor. Die Frau mit ihren plinkernden Augen, die vor langer Zeit selbst als Waisenkind in Sunny Bay gewesen war und nie mehr fortging, war ein wahrhaft kuscheliges Kissen zum Anlehnen. Sie erinnerte sich noch genau an die finsteren Zeiten, bevor Miss Watkyns die Leitung des Waisenhauses übernahm. »Können Sie lesen, Mister Gorbo?«

»Ich kann nicht nicht lesen, um es genau zu sagen.« Gorbo kräuselte die Nase beim Blick auf die lange Liste von Regeln und Vorschriften, die bei Miss Watkyns an der Wand hing. »Kommt auf die Schrift an, auf die Wörter und darauf, ob sich die Buchstaben so verhalten, wie sie es sollen. Manche schlängeln sich sehr. Geht leichter, wenn ich das hier mache.« Er zog den Kopf nach unten und betrachtete die Regeln verkehrt rum, mit dem Schädel zwischen den Beinen. »Auf diese Weise schwappt die ganze Klugheit in meine Denkteile …«

Pip kicherte.

»Kein Gekicher bitte.« Miss Watkyns starrte ihn mit einem einschüchternden Blick an. »Herzlosigkeit verstößt gegen die Regeln von Sunny Bay.«

»Ich wollte nicht herzlos sein«, sagte Pip und starrte wenig schamvoll zurück. »Aber wen kümmert es, wenn Gorbo nicht lesen kann?«

In Wahrheit konnte auch Pip nicht lesen.

Er hatte sein Leben im Zirkus begonnen, als jüngstes Mitglied der Fantastischen Fliegenden Frangipani-Familie. Das Einzige, was er dort hatte wissen müssen, war, wie man sich von einem Trapez schwang. Als ihn das Schicksal schließlich nach Sunny Bay führte, hatte man ihn genauso wie alle anderen Kinder im Klassenzimmer an ein Schreibpult gesetzt, doch an Pip schien jede Art von Erziehung einfach abzuperlen wie Regentropfen an einer Ente.

Miss Watkyns konzentrierte sich wieder auf Gorbo.

»Der Koch ist sehr wütend«, erklärte sie ihm. »Die Marmeladentörtchen waren für den Nachmittagstee zu Miss Scadgings Geburtstag gedacht.«

»Am liebsten mag ich Erdbeermarmelade«, gab Miss Scadging zu.

»Das wusste ich nicht.« Gorbo richtete sich wieder auf und schaute ganz schuldbewusst. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem wasauchimmerig-wasauchimmerig-wasauchimmerigsten Geburtstag und alles Gute, Miss Scratching.«

»Nicht so viele ›Was auch immer‹ bitte«, antwortete Miss Scadging. »Ich bin dreiundvierzig.«

»Kaum älter als ein Kind! Schauen Sie mich an, ich war so um die zweihundertzweierig, als jemand das letzte Mal nachgerechnet hat. Und werde ich je erwachsen und mich wie ein vernünftiger Kerl benehmen?« Er fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn und sank auf die Knie. »Oh, du schurkig schlingelschurriger Schauerschelm von einem Gorbo!«

»Geht es vielleicht ein bisschen weniger dramatisch?« Miss Watkyns klang frostig. »Und stehen Sie gefälligst auf, Mister Gorbo. Wir müssen reden. Es ist inzwischen einige Wochen her, seit Sie in Sunny Bay nach Arbeit gefragt haben. ›Ich mache alles‹, haben Sie damals gesagt. Sie könnten überall zupacken, das waren Ihre Worte. Ich habe mir mal Ihre Leistungen seither überlegt.«

»Ja?«, fragte Gorbo ängstlich.

Miss Watkyns setzte ihre Brille auf und betrachtete eine Liste auf ihrem Schreibtisch. »Da war die undichte Stelle im Dach …«

»Ich hab das Loch gestopft«, versicherte Gorbo. »Komplett dicht gemacht. Kein Tropfen Regen ist da mehr durchgesickert … bis die Sonne rauskam und das Karamellbonbon geschmolzen ist.«

»Sie haben gesagt«, fuhr Miss Watkyns fort, »dass Sie meine Uhr reparieren könnten.«

Alle schauten zu der Mahagoni-Uhr auf dem Kaminsims. Sie tickte zwar selig vor sich hin, aber alle drei Zeiger liefen rückwärts.

»Die Zeit bewegt sich nach vorn, Mister Gorbo«, erklärte Miss Watkyns. »So funktioniert nun mal die Welt.« Sie sah wieder auf ihre Liste. »Von den Regalen, die Sie im Schlafraum der Jungen aufgebaut haben, will ich erst gar nicht reden – traurig ist nur, dass gerade der kleine Humphrey da stand, als die Regale umkippten. Es lässt sich nicht ändern, zum Glück hat er nach ein, zwei Stunden aufgehört zu weinen und ich denke, dass er keine dauerhaften Schäden davontragen wird.«

»Er blutet nicht mehr«, bestätigte Miss Scadging. »Und die Beule geht auch langsam wieder zurück.«

Gorbo sackte in sich zusammen. »Ich hab Ihre Hecken geschnitten«, sagte er mit dünner Stimme.

»Ja«, stimmte Miss Watkyns grimmig zu. »Das haben Sie.«

Sie stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Hinter den Mauern des Waisenhauses fiel die Klippe steil zu der Bucht ab, wo das Meer im Sonnenlicht flimmerte und Wellen an dem bleichen kekskrümeligen Sand leckten. Es war eine schöne Aussicht übers Wasser bis nach Puffin Island, aber Miss Watkyns’ Blick lag auf ihrem Garten. Zu beiden Seiten des hohen Eisentors wuchsen Ebereschen. Die Kinder spielten zwischen den niedrigen Rosmarin- und Lavendelhecken. Hier und da waren diese in äußerst seltsame Formen getrimmt.

»Sie sind wirklich ein Künstler, Mister Gorbo.«

Das meinte sie natürlich nicht ernst, doch Gorbos Gesicht hellte sich auf. Er gab sich einen Ruck und trat zu ihr ans Fenster.

»Das ist meine Tante Plumpser mit ihrem schönsten Hut auf dem Kopf«, erklärte er und schwenkte die Hand in Richtung eines Buschs, der zu etwas verstümmelt war, das einem großen Giftpilz ähnelte. »Das da ist eine Teekanne. Und das«, ergänzte er mit einer leichten Verbeugung in Richtung Miss Watkyns, »sollte Sie darstellen. Aber ich fürchte, Sie sind nicht so richtig gut getroffen. Es hat eher so was von einer Hexe …«

»Einer bösen Hexe?«, fragte Pip von der Bank her.

»So böse wie nur was«, stimmte Gorbo zu. »Das erkennt man an ihrer spitzen Nase. So wie die Nasen in –«

»In den Geschichten«, sagte Miss Watkyns. »Hexen gibt es in Geschichten. Und zwar nur in Geschichten. Ich denke, das wissen wir alle.«

Gorbo warf ihr einen skeptischen Blick zu und fummelte an der Eichel herum, die er als Glücksbringer an einer Kette um den Hals trug. »Genauso gut könnte man sagen, es gibt keine Kobolde, keine Wobser und keine Squiesel, keine Schnodderwürmer und auch keine …«

»Was ist denn ein Wobser?«, fragte Pip. Selbst Flora hatte sich hinter ihren Haaren gerührt.

»So etwas gibt es nicht«, fauchte Miss Watkyns. »Hören Sie auf, Mister Gorbo, den Kindern solch einen Unsinn in den Kopf zu setzen, der ihnen nur Albträume macht.«

Ich fürchte mich vor keiner alten Hexe«, sagte Pip verächtlich.

Die Sonne schien jetzt genau auf Flora neben ihm. So still und stumm, wie sie dasaß mit ihren blauen Augen, die nichts preisgaben, wirkte sie wie ein Kind, dass noch nie in seinem ganzen Leben irgendwas Schlimmes getan oder auch bloß gedacht hat.

Wenn ich eine Hexe träfe, würde ich sie bitten, dass sie mir zeigt, wie man Menschen in Frösche verwandelt, so wie in den Märchen. Das, dachte Flora, würde einigen Leuten ganz recht geschehen.

Es war drei Jahre her, dass Flora zum letzten Mal etwas laut ausgesprochen hatte. Ihre Gedanken huschten umher wie Schmetterlinge, die in ihrem Kopf gefangen waren.

Miss Watkyns hatte inzwischen die Geduld verloren. »Das Dach kann ich entschuldigen und auch die Uhr, das Regal und den Kopf des armen Humphrey«, erklärte sie Gorbo. »Auch mein Garten wird mit der Zeit wieder nachwachsen. Aber Sie haben diese Kinder ermutigt, Regeln zu brechen, und das kann ich auf gar keinen Fall dulden. Es tut mir leid, Mister Gorbo, doch es ist an der Zeit, dass wir getrennte Wege gehen. Sie sind in Sunny Bay nicht mehr erwünscht.«

Es entstand ein unangenehmes Schweigen, das nur von den schreienden Möwen und von den Kindern durchbrochen wurde, die draußen spielten. Gorbo sackte in sich zusammen. Pip runzelte die Stirn. Flora biss sich auf die Lippe. Nicht fair.

»Das ist nicht fair«, sagte Pip für sie. »Gorbo hat die Törtchen nur geklaut, weil wir ihn darum gebeten haben. Er war einfach bloß nett.«

»Es gefällt mir, dass du bereit bist, die Schuld auf dich zu nehmen, Pip«, antwortete Miss Watkyns, »aber das ändert nichts. Mister Gorbo hat eine unkluge Entscheidung getroffen, jetzt muss er dafür die Konsequenzen tragen. Ich bin sicher, er wird das verstehen.«

»Das sollte ich inzwischen«, seufzte Gorbo. »Sie klingen genau wie meine Tante Plumpser.«

Miss Watkyns öffnete eine Schublade, nahm einen kleinen Stoffbeutel heraus und schob ihn über die Schreibtischplatte. »Ihr Lohn, Mister Gorbo.«

Gorbo wirkte überrascht. Er löste die Kordel und kippte den Inhalt aus. Münzen rollten über den Schreibtisch. Er hielt eine hoch, damit die Sonne darauf fiel.«

»Die glänzen aber schön«, sagte er höflich. »Und wer ist der Typ mit dem Bart?«

Miss Scadging schien schockiert. »Das ist seine Majestät, der König!«

»Ich nehm nur eine, entschied Gorbo, »um sie mir an die Wand zu kleben.« Dann zog er seine kleine Kappe vom Kopf, die aussah wie eine Untertasse, und verbeugte sich tief vor Miss Scadging. Und danach noch einmal, so tief, dass sein Kopf fast den Boden berührte, vor Miss Watkyns.

Schließlich wühlte er, während er sich zu den Kindern umdrehte, in seiner Hosentasche und zog ein paar Schnüre heraus. »Auf Wiedersehen, ihr kleinen Halbnudeln«, sagte er und reichte beiden ein Stück Schnur. »Macht einen Knoten rein, damit ihr euch an mich erinnert. So verabschieden wir uns voneinander, dort, wo ich herkomme. Möge euer Teig immer golden sein und eure Schnur nie ausfransen. Passt auf Miss Watkyns auf, denn sie weiß, was was ist und was nicht, dann werdet ihr klug und gescheit werden – nicht wie der arme alte Gorbo, der der Dümmste unter den Schnergen ist!«

»Was in aller Welt ist ein Schnerg?«, fragte Miss Scadging stirnrunzelnd, als sich Gorbos Schritte in der Ferne verloren. »Er hat äußerst seltsam gesprochen und irgendetwas von Squobsern und Wieseln geredet.«

»Von Wobsern«, sagte Pip. »Und von Squieseln.«

»Sehr merkwürdig«, erklärte Miss Scadging. »Irgendwie tut mir der arme Kerl leid. Ich denke schon, dass er einen Ort hat, wo er hingehört – aber ob er ihn auch findet?«

»Gorbo kennt seinen Weg durch den Wald«, meinte Miss Watkyns. Sie schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen in ihr Goldfischglas. »Ich hoffe nur, er vergisst nicht, das Tor zu schließen …«

»Welches Tor?« Miss Scadging war verwirrt. Die Tore von Sunny Bay standen doch immer offen. Miss Watkyns vertraute ihren Ebereschen, dass sie die falschen Besucher schon fernhalten würden.

Sie presste die Lippen zusammen, als ob ihr aus Versehen etwas herausgerutscht wäre, und blickte über den Schreibtisch zu Pip und Flora. »Ich hoffe, ihr schämt euch für den Ärger, den ihr verursacht habt«, sagte sie, ohne auf die Frage einzugehen. »Um die Sache wiedergutzumachen, dürft ihr Captain Vanderdecken einen Sack Gemüse vorbeibringen.«

Das Schiff des Captains, die Flying Dutchman, was Fliegender Holländer heißt, lag in der Nachbarbucht. Der Weg dorthin war weit. Wenn sie schön langsam gingen, könnten sie einen ganzen Vormittag im Klassenzimmer schwänzen, überlegte Pip. Dann würde ihnen diese ganze Qual aus Schreiben, Rechnen und Erdkunde erspart bleiben …

»Und macht euch keine Sorgen, dass ihr den Unterricht verpasst«, ergänzte Miss Watkyns, die das Leuchten in seinen Augen bemerkt hatte. »Denn das wird nicht passieren. Die anderen Kinder werden nach Puffin Island fahren und dort ihr Picknick veranstalten.«

Es folgte ein Moment schockierten Schweigens.

Nicht das Picknick! Wir können nicht nicht bei dem Picknick dabei sein!

»Nicht das Picknick!«, gab Pip Floras stummen Aufschrei wieder. »Wir haben so lange darauf gewartet … Sie haben nie gesagt, dass das Picknick heute ist!«

Die Picknicks auf Puffin Island waren das Beste an den Sommern in Sunny Bay. Es gab sie nicht oft, sondern nur, wenn Miss Watkyns entschied, dass es ein Picknick geben sollte. Sie schien es immer so einzurichten, dass der Himmel blau war, das Meer flimmerte und sich der Sand perfekt zum Burgenbauen eignete. Dann tauchten Boote in der Bucht auf, die die Kinder zur Insel brachten. Neugierige Seehunde hoben ihre Schnurrbartköpfe aus dem Wasser und schauten mit ihren schokoladenbraunen Augen den Geschehnissen zu. Manchmal bekamen sie sogar Delfine zu sehen.

Mit den Kindern wurden auch Körbe voll Broten, Kuchen und Limonade zur Insel gebracht. Sie würden schwimmen, sich gegenseitig mit Wasser vollspritzen, sie würden von Flößen und Felsvorsprüngen hüpfen, sie würden bockspringen und es würde einen Wettbewerb um die beste Sandburg geben, ehe sie abends, wenn die Sonne tief über dem Wasser stand, wieder zurücksegelten – voller Sand und Salz auf der Haut und ihren Sachen und gähnend vor Müdigkeit –, um in Sunny Bay Abendbrot zu essen und danach in ihre Betten zu kriechen.

Als jüngste Waisen-Zugänge waren Pip und Flora bisher noch nie auf Puffin Island gewesen, doch sie hatten die andern viel davon reden hören und wussten genau, was sie verpassen würden.

Pip war verzweifelt. »Wir stehen auch ganz früh auf, um dem Captain gleich morgen noch vor dem Frühstück sein Gemüse zu bringen.«

»Er braucht es heute«, sagte Miss Watkyns barsch. »Able Seaman Pollock hat sein künstliches Gebiss verlegt und kann nicht kauen, deshalb gibt es für die ganze Mannschaft Gemüsesuppe.«

Die Mannschaft der Flying Dutchman bestand aus uralten Seeleuten, die längst außer Dienst waren und alle nur noch wenige Zähne, geschweige denn ein Zuhause hatten. Keiner von ihnen war unter siebzig, manche eher so um die neunzig. Captain Vanderdecken nahm sie auf und hielt sie durch ein striktes Programm aus körperlicher Ertüchtigung, Waffendrill und Blasmusik-Proben fit.

»Die beste Mannschaft, mit der ich je gesegelt bin«, erklärte er oft. In Wirklichkeit waren schon seit vielen Jahren weder der Captain noch die Flying Dutchman mehr in See gestochen.

Die Enttäuschung stieg in Pit immer höher, bis sie schließlich aus ihm herausplatzte: »Sie machen das Picknick nur aus reiner Bosheit heute, damit wir nicht mitkönnen! Und alles bloß wegen der dämlichen Regeln! Die erfinden Sie doch, wie sie Ihnen gerade in den Sinn kommen.«

»Es ist meine Pflicht, die Kinder in meiner Obhut zu schützen und ihnen Sicherheit zu geben«, antwortete Miss Watkyns ruhig. »Ohne Regeln kann alles passieren. Wirklich alles.«

»Ich wünschte, irgendwas würde passieren!«, tobte Pip weiter. »Von mir aus herzlich gern.« Er zeigte auf den Goldfisch in seinem Glas. »Und ich wette, der Fisch da wünscht sich das ganz genauso. Der darf doch auch immer nur in dem verdammten Glas rumschwimmen, ohne Abwechslung, bis ihm irgendwann so schrecklich langweilig ist, dass er sich auf den Rücken legt und stirbt. Und genauso halten Sie uns – aber ich will hier nicht in lauter Sicherheit festsitzen und eingehen!«

Miss Watkyns schaute erst auf sein rot angelaufenes Gesicht, danach zu Flora, die wieder hinter ihren Haaren verschwunden war. Sie spürte ein Stechen im Bauch. War sie wirklich zu streng mit ihnen? Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Regeln sind Regeln.

Oh, Miss Watkyns! Wenn Sie doch nur auf das Stechen gehört hätten! Wenn doch Pip und Flora nur zu dem Picknick gefahren wären, wie viele Gefahren und Katastrophen hätten sich dadurch womöglich vermeiden lassen? Aber wozu das »hätte, wäre, wenn«? Das Leben ist, wie es ist, auf Gedeih und Verderb. Manchmal endet alles glücklich.

Und manchmal eben nicht.

»Bleibt auf dem Weg«, befahl Miss Watkyns. »Seid höflich zum Captain. Und nicht so trödeln!«

Es war ein trostloses Paar, das sich da mit dem Sack voll Gemüse zwischen ihnen aus dem Tor des Waisenhauses schleppte. Das Leben hatte sie wieder einmal enttäuscht: Sie waren traurig, aber nicht überrascht. Leckereien und selige Zeiten waren etwas, das andere traf. Das Leben wurde von Erwachsenen bestimmt – und beide Kinder hatten schon lange gelernt, von denen nicht viel zu erwarten.

Irgendwann hatte Pip eine Mutter gehabt: eine Frau in sternenbesetzter Strumpfhose, die auf dem Rücken eines weißen Ponys balancierte und Kunststücke vorführte. Doch in einer mondhellen Nacht war Bella, die betörend biegsame Balancier-Baronin, mit Stefano, dem schönen, stolzen Schwertschlucker, aus dem Zirkus fortgaloppiert und hatte ihr Baby, ein paar Pailletten und einen Hauch von Pferdegeruch zurückgelassen. Allein mit seinem Vater – einem drahtigen, hitzigen Mann mit kräftigen Fäusten und einem Ledergürtel zum Schlagen –, war die Welt für Pip zur Hölle geworden. Es war ein Jammer, doch der Kleinste und Jüngste der Fantastischen Fliegenden Frangipani-Familie erwies sich als nicht allzu fantastisch, was das Fliegen betraf. Wenn sein Vater weniger brutal und nicht so flink mit dem Anschreien und Zuschlagen gewesen wäre, hätte es Pip vielleicht besser geschafft. Er gab sich wirklich Mühe – er übte und übte, bis er mit seinen Nerven und seiner Angst am Ende war –, doch wenn man anfängt, das Schlimmste zu fürchten, dann passiert es auch meistens.

Es war der Tiger, der am Ende alles veränderte. Wo immer der Zirkus sein Zelt aufschlug, kamen die Menschen in Scharen, um Boris, die brutale, blutrünstige Bestie, zu sehen. Die Bestie war alt, mit geschundenem Fell, und manchmal, wenn Pip Probleme hatte und sich verstecken musste, kroch er zwischen die Räder von Boris’ Käfig. Vor dem Tiger hatte Pip weniger Angst als vor den Wutausbrüchen seines Vaters.

Niemand wusste, wie das Tier an jenem Tag aus dem Käfig gelangt war. Pip, hoch oben unter der Zirkuskuppel, entdeckte Boris als Erster. Die Fantastische fliegende Frangipani-Familie probte gerade ihr Programm. Je mehr der Vater Pip anschrie, desto mehr misslang ihm alles. Er hing vom Trapez – schwang vor und zurück, hin und her und ihm wurde immer übler –, da sah er auf einmal, wie die gestreifte Gestalt durch die Vorhänge ins Zelt geschlichen kam.

»Was ist los mit dir? Wie lange willst du noch brauchen?« Seine Onkel und Vettern standen als Pyramide übereinander und warteten darauf, dass er an der Spitze landete. Sein Vater stand in der untersten Reihe, die Muskeln gespannt, mit rotem Gesicht, glänzend vor Schweiß. »Spring, du mieser kleiner …«

Sein Vater schrie weiter – und der Tiger antwortete mit einem tiefen, dunklen und Grauen erregenden Brüllen. Danach wurde das Schreien noch lauter, als die Pyramide der Onkel und Vettern in einem Wirrwarr verdrehter Gliedmaßen zusammenbrach. Einer nach dem andern standen sie wieder auf – alle bis auf Pips Vater.

So kam es, dass Pip überflüssig und zufällig elternlos in Sunny Bay landete – genau am selben Tag wie Flora.

Flora wusste nichts von gewalttätigen oder sonst welchen Vätern; ihrer war schon vor langer Zeit verschwunden. Sie war in ihrem eigenen Kinderzimmer aufgewachsen, umgeben von einem großen Puppenhaus, einem gescheckten Schaukelpferd und einer teuren französischen Gouvernante. Ihre Mutter besuchte sie einmal am Tag, weil sie glaubte, dass sie das müsse, aber die zehn Minuten vorm Schlafen schienen ihr mehr als genug.

»Muttersein ist so anstrengend«, beklagte sie sich gegenüber ihren Freundinnen. »Ich gebe natürlich mein Bestes, aber das Mädchen ist so ein komisches Wesen und so ein schreckliches Plappermaul. Sie hört überhaupt nicht auf zu reden …«

Einmal an einem Frühlingsmorgen vor drei Jahren hatte die Gouvernante sie zu einem Spaziergang im Park mitgenommen. Es war Floras Geburtstag gewesen. Nach dem Spaziergang durfte sie, als besonderes Geschenk, mit ihrer Mutter gemeinsam zu Mittag essen.

»Du musst unbedingt mit in den Park kommen und die Enten anschauen, Mama«, redete Flora mehr als sonst. »Die sind so schön und weißt du, sie quaken. So –«

»Lass diese albernen Laute bei Tisch, Flora«, sagte ihre Mutter. Sie war in der Nacht zuvor auf einer Party gewesen und hatte mögliche neue Ehemänner erkundet. Deshalb war sie erst spät nach Hause gekommen und ihr tat noch der Kopf weh.