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Eine weibliche Leiche auf einem Gehweg am Stadtrand. Ausgerechnet eine der Frauen, die sowieso schon für Aufsehen sorgen. Sie muss gesprungen sein, das ist sofort klar - wäre da nicht der Lausitzer Gerichtsmediziner - und noch einer, der genauer hinsieht. Einer, der versucht, mit der eigenen Vergangenheit abzuschließen. Doch holt sie ihn wieder ein? Der junge Polizist Benedikt Ayari wird mit einer Welt konfrontiert, der er eigentlich entkommen wollte. Wird es ihm gelingen, den richtigen Blick zu bewahren?
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0039-4
ISBN e-book: 978-3-7116-0040-0
Lektorat: novum publishing gmbh
Umschlagabbildung: Sarah Bialek
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Im Schatten der Hausmauer
Ich spüre ihren Spliss zwischen meinen Fingern. Wieder füllt sich kaum ein Tagtraum ohne sie. Sie hat sie liegen lassen, ihre alten abgestorbenen Haarsträhnen, in einer Bürste auf meinem Nachtschrank. Das liegt beinahe eine Woche zurück.
Die Haarfusseln haben sich zu einem Knötchen vereint. Ich ziehe es heraus und knülle es in der Hand zusammen. Ich versuche gedanklich durch ihre Haare zu fahren, von oben hindurch, doch es gelingt mir nicht. Sie ist verblasst, die Erinnerung an sie und das Gefühl, das wir füreinander hatten. Alles ist verblasst, obwohl kaum eine Woche dazwischen liegt.
Unten, vor dem Fenster, hatten sich Sirenen aufgereiht, als sie das letzte Mal aus meinem Bett gestiegen war. Laute, tosende Sirenen, die noch immer in meinem Gehörgang sitzen und nur darauf lauern, mich zurück in diesen Augenblick zu versetzen.
Ich lehne mich zum Fenster hervor, als könnte ich die Sirenen noch hören, die Lichter noch aufblitzen sehen, wie winzige Raketenfünkchen, und finde mich zurück in dem Moment, als sie von mir ging. In jenem, als ihr Makeup vom Vortag übrig geblieben auf dem zarten Gesicht lag, unsorgfältig und orientierungslos. Sie sah mich an, mit ihren matten blauen Augen, blickte innig und verbunden. Sodass es still wurde um uns herum, ganz flüchtig nur still. Ihr Blick, der versprach, dass es bald vorbei sein würde und obwohl ich wusste, dass dieser der letzte sein würde, fühlte er sich noch immer wie der erste an.
„Wir sind jetzt ruhig.“ Verbargen sich ihre Lippen hinter aufrechtem Zeigefinger
„Wir werden von nun an schweigen.“
Dann riss sie alles auseinander, indem sie ging. Indem sich mich zurückließ. Ich vernahm das Einrasten der Tür wie das Klappen der Klappe beim Einhundertmeterlauf. Als würde ich fortan beginnen zu laufen, geradeaus und so schnell ich kann und an allen anderen vorbei. Nur nach vorne schauen und so lange durchhalten, bis sie mich befreien würde. Bis sie irgendwann wieder auftauchen würde, um mir zu sagen, dass alles überstanden ist. Doch kurz nachdem sie fort war, war plötzlich nichts mehr von ihr da. Nichts mehr außer ihren Haarfusseln.
Noch einmal rolle ich das kleine Haarklümpchen in meiner Hand zusammen. Es ist so karg und zerbrechlich wie der hauchdünne Faden meiner Hoffnung. Und nur der Drang, der mich von Anfang an zu ihr zog, kann sich nicht lösen. Nach all dem, was passiert war, noch immer nicht.
Ich erinnere mich noch genau daran, als wir uns das erste Mal begegneten. Als sie dort saß und ich an ihr vorbeigeschlichen war. Ignoriert hatte sie mich, stattdessen stillschweigend in sich hineingekichert. So wie sie dort saß, friedlich und apathisch zugleich. Da hätte ich nicht ahnen können, dass eine einzige Person alles in mir verändern würde. Dass so eine einzige Person so mächtig war. Von Beginn an war sie es, die meinem Dasein einen Sinn bescherte, von Beginn an, für diese kurze Zeit. Ich spürte eine sofortige Neugier zu ihr, eine gewisse Verbundenheit, spürte, wie sehr ihr Anblick mich belebte. Ich verstand sie mit all dem Schmerz, mit all dem Leid, das ihr widerfahren sein musste und ich konnte nur erahnen, wie viel es tatsächlich war.
Doch dies ist vorüber, da ist nichts mehr, außer dem in meinen Händen von ihr.
Einen Moment halte ich inne. Noch einmal versuche ich, gedanklich, durch ihre Haare zu fahren.
Dann entsorge ich das Haarbüschel in die Toilette. So wird es besser sein. Wenn sie fort ist. Wenn das Klümpchen einfach durch die Kanalisation rollt und sich mit all den anderen Exkrementen vereint, bis es sich langsam in Luft auflöst. Ganz passend zum Rest des Körpers, der immer mehr vor meinen Augen verschwindet.
Es wird Zeit, die Ursachen zu ergründen. Es wird Zeit, einen anderen Blick einzunehmen und jene um mich herum zu verstehen.
Wer war diese Frau, die im Schatten der Hausmauer gelegen hatte?
Ungefähr eine Woche zuvor
Ich spüre, wie das Beben und Leuchten von draußen immer näher zu mir dringt, als klopfe es an die Scheibe. Ich öffne das Fenster und puste Zigarettenrauch zu den Männern nach unten, sie können mich nicht sehen, hinter seichten Vorhängen, hinter denen ich hindurch zu ihnen nach unten spähe. Großer Tumult macht sich breit, angetriebene Körper bewegen sich von links nach rechts. Fadendünne Lichtkegel erleuchten den schmalen Straßenabschnitt und versetzten dem Spektakel unter meinem Fenster jene Deutlichkeit, welche ich nicht hatte kommen sehen. Die Männer erscheinen unvorbereitet, ihre Bewegungen viel zu vorsichtig. Kaum können sie ihre rauchenden Lungen pausieren.
Es wurde ein Leichnam vorgefunden. In den frühen Morgenstunden. Jenseits des Vorstadtviertels, genau dort, wo die Leute solch eine Tat vermuteten. Der seelenlose Frauenkörper hatte für Aufregung gesorgt und für Verunsicherung, als eine Angestellte der Klinik an diesem Feierabend den Weg zum Bus genommen hatte.
Es sind fünf Uniformierte, die den Fundort mit rotweißgestreiftem Absperrband ummanteln und irgendetwas in leuchtende Displays eintippen. Erkenntnisse oder Annahmen, Notizen, Fotografien. Einer unter ihnen sticht heraus, zivilgekleidet, mit kariertem Pullunder über grauen Strickjackenärmeln, unpassend für die warme Frühjahrsnacht. Es ist der, der scheinbar die Verantwortung trägt, aber auch die Angst in sich, etwas zu übersehen. Ich kann es seiner Mimik entnehmen, die sich nun wenige Meter von mir unter dem Flutleuchter abbildet und erkenne, dass er sich der Situation unpässlich verhält.
Ich habe soeben gegen die erste Regel verstoßen, so wie auch sie sich nicht an unsere Abmachung gehalten hatte und sitze nun am Rande des Ganges, unscheinbar hinter einem geöffneten Türspalt. Was hätte ich machen sollen? Warten und so lange an die Decke starren, wie sie es verlangte? Sollte ich tatenlos wegsehen? Oder aber war dies nicht erst der Anfang von allem? Den es zu verfolgen galt?
„Kommissar Reiter“, kann ich aus unweiter Entfernung vernehmen.
Eine Stimme, die nach etlichen Zigaretten klingt. Der Mann wirkt entkräftet, während er mehrfach versucht, seine Ärmel zu den Ellenbogen zurückzuschieben und das Wort seines Gegenübers offensichtlich an ihm vorbeizieht.
Ich habe es gelernt, stille Beobachterin zu sein. In den letzten Wochen wurde ich nach und nach besser darin, mir die Menschen mit ihren Gedanken und innersten Sehnsüchten vorzustellen. Dieser hier, der ist nicht der richtige Mann dafür, irgendeinen Einsatz zu leiten. Er ist entladen, vollkommen unkoordiniert, wie er von rechts nach links wippt, um seine Unruhe unter Kontrolle zu halten. Dieser Mann hat seine besten Zeiten hinter sich. Das ist kein Geheimnis.
Kommissar Reiter, wie er sich nennt, folgt dem jungen Pfleger und gesellt sich neben ihn, mit einem Glas warmen Kaffee in der Hand.
Beide haben sich nun von mir entfernt. Jetzt kann ich nur noch grobe Umrisse erspähen. Doch die unsicheren Bewegungen des Polizeibeamten stechen heraus, sodass ich weiterhin genügend überschauen kann. Im gleichen Moment kommt eine Frau hinzu, eine junge Blonde, diese ist mir bereits bekannt.
Lautstark schildert sie, was sie in Aufruhr versetzt habe, der Kommissar jedoch bleibt unberührt, schaut zum Tablet hinab und bemüht sich, ihre Darstellung zu digitalisieren.
Kapitel 1
Reiter
Der Leichnam habe in den Schatten der Hauswand gelegen, zusammengepfercht wie ein eingeklappter Winkel. Mutterseelenallein und allein der Anblick seiner Umrisse betrübte die junge Mitarbeiterin, die inmitten dieser Nacht in den Feierabend zu kehren versuchte. Die Tote sah nach Einsamkeit aus, danach, von jemandem zurückgelassen worden zu sein.
Als die angehende Ärztin kurz darauf die Forster Leitstelle informierte, nahmen die Dinge ihren üblichen Lauf. Sodass kurz darauf das Telefon des ortsansässigen Oberkommissars klingelte, der sich in nächtlicher Bereitschaft befand. Es war Dietmar Reiter, der schläfrig den Hörer abnahm und sich nicht vorstellen konnte, dass der Grund des Anrufes ein aufgefundener weiblicher Leichenkörper war. Eine Leiche, vorgefunden auf einem Gehweg außerhalb des Stadtrandes. Etwa wie aus dem Fenster gestürzt oder beim Laufen zusammengesackt und dort vergessen, an den Flanken der Hausmauer. So etwas war hier selten passiert. Es waren Einbrüche, die üblicherweise das Bereitschaftstelefon in Beschlag nahmen oder Taten der häuslichen Gewalt. Aber keineswegs der Fund einer Leiche. Er hatte sich völlig aufgebracht auf den Weg begeben und befand sich in der Hoffnung, schnellstmöglich wieder zurück in das angewärmte Bett kehren zu können,aus dem ihn der Anruf seiner Leitstelle gerissen hatte. Doch als Oberkommissar Reiter am Tatort aus dem Wagen stieg, wurde ihm in dieser blitzschnellen Hellwachheit klar, dass jene tiefe Sehnsucht noch sehr viel länger warten musste. Denn der Fundort verlangte seine sofortige Reaktion.
Und so gab er sich wenig erfreut, als er seine Augen vom übrigen Schlafsand befreite und angestrengt sich zu konzentrieren versuchte, während er neben dem Leichnam saß. Wahrlich unsicher, denn der Zeitpunkt konnte ungünstiger nicht sein. Kaum hatte der Mittvierziger die Chance gehabt, sich von den Auswirkungen der vergangenen Monate zu erholen, befand er sich bereits inmitten einer psychischen Diffusion. Er spürte, dass er längst von den letzten Reserven zehrte. Keine geeignete Verfassung, um sich einer weiteren Angelegenheit zu widmen, denn die Dinge wurden eben übersehen.
Also übernahm er als Leitender des Teams die Aufgabenverteilung und beschränkte die Dringlichkeiten auf das Wesentliche. So wie es zunächst aussah, war die Verstorbene aus einem oberen Stockwerk gesprungen. Auf den ersten Blick sprach aus der Sicht des Oberkommissars nichts dagegen. Das war der Verdacht, den er nach spärlichen Ermittlungen nur wenige Stunden später der Gerichtsmedizin zukommen ließ.
Der Leichnam ist bereits eingetroffen, als Kommissar Reiter hinab zur Obduktionsstätte steigt. Er wankt und er klammert sich ans Geländer, als sehe er vor lauter Erschöpfung kaum noch geradeaus. Die letzte Nacht war wie ein Sturm über ihn hinweggezogen und hatte ihm auch das letzte Fünkchen Kraft noch entrissen. Ein Fiasko für den Oberkommissar, der sich seit geraumer Zeit mit ganz anderen Dingen befasste und kaum mehr fähig war für solch einen ominösen Fall. Kaum Gleichgewicht bei sich, müht er sich Stufe für Stufe hinab und er bemerkt, dass er seit Jahren nicht dort gewesen war.
Seine Angelegenheiten hatten ihn selten nach draußen geführt. Nicht oft musste er das Präsidium verlassen. Höchstens ein, zwei Mal, doch einen Leichnam hatte es kaum mehr gegeben. Keinen solchen, keinen der den Forster Oberkommissar selbst zum Zweifeln brachte.
Trotz großzügiger Unterkellerung hält bereits die Schwüle Einkehr, sodass der leichtsüßlich verdorbene Geruch des Todes mit jedem Schritt näher dringt. Für den Kommissar eine wahre Konfrontation mit sich selbst, eine Herausforderung, wie es sie seit Jahren nicht gegeben hatte.
Er und sein jüngerer Kollege sind seit dem Morgengrauen unterwegs. Nachdem Dietmar Reiter seinen Part in der Psychiatrie beendet hatte, hatte er seinen ungeformten Körper in Form von Wechselduschen kurzzeitig zurückerobert und sich daraufhin mit zwei aufgeschäumten Milchkaffees zu dem neben ihm Stehenden begeben, um ihm zu verkünden, dass in der Nacht eine tote Frau vorgefunden wurde. Dort, vor der städtischen Psychiatrie.
Ein bisschen frustriert wirkt er jetzt, weil es ihm nicht gelingt, sich einzufinden. Weil ihn diese Situation vollkommen übermannt, weil sein Posten als Vorstadtkommissar bedeutungslos geblieben ist, anders, als er es einmal erwartet hatte, anders, als der Weg seines jüngeren Begleiters aussehen wird. Derjenige, dem er am Morgen beinahe Kaffee übers Hemd geschüttet hatte. Und der nach der Verkündung eine solche Gefasstheit ausgestrahlt hatte, dass es Dietmar Reiter unbegreiflich schien. Ein vollkommener Kontrast, hätte er meinen können, wenn er beide nun so miteinander verglich. Doch Reiter verglich sich nicht. Er besaß ebenso eine starke Persönlichkeit, nur eben unter anderen Umständen. Unter Bedingungen, die vorhersehbarer waren, die ihm Sicherheit gaben, aber nicht hier und nicht heute, wo er sich andauernd darauf konzentrierte, nicht nach hinten zu kippen.
„Guten Morgen!“, vernimmt Reiter in diesem Augenblick voller Deutlichkeit Töne eines wachsamen Gerichtsmediziners. Denn dieser hat beide Herren längst überprüft, wie sie da so stehen, angewurzelt und angelehnt, wie zwei von der unteren Dienstbehörde. Doch einer von ihnen erscheint mutiger. Es ist der Jüngere, der sich der Verantwortung stellt und dem wartenden Herrn freundlich entgegentritt.
„Guten Morgen auch, wir sind von der Kripo“, sagt er, als stünde die Frage noch immer im Raum.
Reiter hingegen kann sich kaum bemühen, dem weißbärtigen Herrn entgegenzuschauen. Und wird dennoch schonungslos mit der unbegreiflichen Tatsache konfrontiert, dass auf dem Seziertisch, dort, eine Tote liegt. Kaum kann er aufschauen und Mageninneres beisammenhalten. Diese Tote hatte ihm schon in der gestrigen Nacht seine kommissarischen Fähigkeiten aberkannt. Lieber wäre ihm doch ein strafwürdiges Verkehrsdelikt gewesen, das sich etwas komplizierter darstellte oder das Enteignen größerer Sachbestände. Dieses Ereignis aber bleibt zu abstrus, sodass er sich gedanklich vom Geschehen zu distanzieren versucht.
„Sehen Sie, es kommt einfach niemand mehr, wir werden hier unten einfach vergessen.“
Noch kurz klagt der Gerichtsmediziner, um Tatsachen zu verdeutlichen, bevor er sich dem eigentlichen Anlass dieser Zusammenkunft widmen kann. Tatsachen, die beiden nun sichtbar werden. Hier unten wurden einige vergessen und nicht nur die, die längst verstorben sind.
Reiter und sein Kollege schauen an rissigen Betonwänden entlang zur Wölbung hinauf. Überall ragen Rohre aus der Deckenverkleidung, es ruft nach einer oberirdischen Baustelle. Danach, dass Ersatzteile nicht vorrätig waren und sich helfende Hände allmählich entfernten. Reiter wusste um die Umstände dieser Stadt. Dass Forst sich nicht gerade im Aufschwung befand, dass diese Stadt allmählich zerfiel. Nach dem letzten Umbruch waren viele gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Provinzielle Systeme wurden längst unterversorgt, vor allem kleine Städte im Grenzgebiet zu Polen verloren nach und nach an Eigenständigkeit. Und wenn er ehrlich war, ganz ehrlich zu sich selbst, der Kommissar, dann kam ihm dies sogar gelegen.
Nun aber kann er sich dieser Blöße nicht hingeben und kehrt noch einmal in den Raum zurück. Jetzt, da muss er hinsehen. Ganz genau. In der Nacht erschien ihm der Leichnam etwas zu künstlich, zu unreal, um ihn als verstorbenen Menschen identifizieren zu können. Als ein Lebewesen, dessen Körper genau wie seiner einmal von einem Blutkreislauf versorgt worden war. Zwischen Lichtern und Zigarettenqualm hatte ihre Haut zart weiß hervorgeblitzt und wie sie da so gelegen hatte, etwas abgeschieden an der Hausmauer platziert, da glich sie eher einer Wachsfigur. So zart sah ihr Gesicht noch aus, ein wohlgeformtes Nasenbein, zwei gleichgeschwungene Lippen, trotzdem sie längst verstorben war.
Nun aber besitzt der unbekleidete Leib dunkle fleckenartige Stellen und hat an jeglicher Plastizität verloren. Unregelmäßig und besonders an Armen und Beinen ausgeprägt, verleihen sie ihm Finsternis. Seine Augen sind geschlossen und längst in sich zusammengefallen. Er scheint wie ausgetrocknet, deutlich fortgeschrittener in seinem Verwesungsprozess, als der Hauptkommissar es beurteilt hatte.
Dietmar Reiter hatte die Merkmale der Toten gestern Nacht in seiner Aufregung kaum verinnerlicht. Er erinnert sich nur an ihr feines Gesicht, an kräftiges Haar, eine feste dunkle Strähne, die über dem Gesicht lag, wie das Ende einer gekringelten Federboa. Er begutachtete spärlich und unkonzentriert. Denn seiner Meinung nach gab es nichts, wofür es lohnte, sich seine letzten Reserven zu entlocken.
Instrumentelle Klänge der späten Sechziger ertönen im Hintergrund, etwas unangemessen der Situation. Doch passend zum Erscheinungsbild des kraushaarigen Gerichtsmediziners. Walther Fuszius scheint aufzublühen,während seine Handfläche aufrecht über den blassen Körper der Toten fährt.
Direkt unter dem Bauchnabel bildet sich eine wollfadendicke Narbe ab. Bereits ausgiebig verblasst, ist dennoch erkennbar, dass sie von einem Chirurgen vernäht wurde.
„Vielleicht ein Kaiserschnitt, der Schnitt einer Blinddarmentfernung wird üblicherweise seitlicher angesetzt,“ berichtet er wahrlich fokussiert.
Erkennbar sind außerdem massive Schürfwunden, beginnend an den Fersen ziehen sie sich zum Gesäß hinauf. Nicht durchweg in gleicher Ausführung. Doch es sind lange schlierenartige Schürfungen, die aus gleicher Richtung stammen.
„Ich bin mir fast sicher, dass die Frau noch einmal bewegt wurde, nachdem sie bereits leblos war. Es kann natürlich auch sein, dass sie einfach nur zur Seite geschoben wurde, weil sie im Wege lag, aber wer sollte so etwas bitte tun?“, fügt er noch hinzu, nachdenklich berühren sich Zeigefinger und Lippen.
Dietmar Reiter hatte nicht mehr gewusst, wie der Tod riecht. Bittersüß, wie eine Mischung aus ranziger Seife und einem Biotop verwesender Essenreste.
Reiter befreit sich augenblicklich und zieht seinen vom Schweiß durchtränkten Mundschutz unters letzte Gesichtsdrittel. Er gibt nach und begibt sich schwerfüßig zur einzigen natürlichen Lichtquelle des Raumes, um das mit Gittern verkleidete Fenster anzukippen. Mit angelehntem Rücken können ihn seine Beine halten. Dann betrachtet Reiter aus der Entfernung seinen beflissenen Kollegen. Neben dem er sich, in Anbetracht der Umstände, heute noch blasskranker aussehend fühlt als in sonstigen Momenten. Er beobachtet, wie er sich gibt, wie er kommuniziert, wie er überlegt, als sei er eindeutig der Erfahrenere der beiden. Die Hände immer etwas zu unruhig unter seinen Hüften hängend, doch er vermittelt eine unübersehbare Neugier.
Benedikt schaut über die Schulter des Gerichtsmediziners. Seine Augen verfolgen jeden Schritt und obwohl der Fäulnisprozess in Gestank ausartet, weicht er nicht von der Stelle.
Der Mediziner tastet sich übers Gesicht der Verstorbenen, er öffnet ihre eingesunkenen Augenlider. Sie sind tiefschwarz und seelenlos und winzig klein anzusehen.
„Also die hier ist schon länger tot, mindestens zwei Tage. Vielleicht drei.“
Seine Hände springen rasch zu den Gliedmaßen.
Er erklärt: „Schauen Sie sich den Rückgang der Nägel an, die Verwesung ist schon mitten im Prozess.“
Doch Benedikt beweist klaren Verstand.
„Allerdings hat die Tote an der Luft gelegen, das Thermometer ist gestern Morgen schon auf zwanzig Grad geklettert …“
Und er verweist auf die optimalen Bedingungen, welche den Verwesungsprozess hätten beschleunigen können. Wie aus dem Lehrbuch aufgesaugt, doch auszuschließen war dies nicht. Dennoch besitzt der erfahrene ältere Herr genügend Argumente, um seine soeben gestellte Theorie zu belegen.
„Da haben Sie gut aufgepasst, mein Junge, aber die hatte schon keine Starre mehr, als sie heute Früh geliefert wurde und einige Stellen sind übersehen mit Flecken. Das ist mehr als eindeutig.“
Benedikt wirft einen Blick zur Fensterbank und begegnet Reiters Kraftlosigkeit. Wie er versucht, sich gegen die Wand zu drücken und sich flüchtend der Frischluft widmet. Fast so, als schäme er sich für seine eigenen Ermittlungen.
„Außerdem wurde sie im Fußverkehr vorgefunden. Lange hätte sie sicher nicht unbemerkt dort gelegen“, argumentiert Benedikt zusätzlich.
Ein wenig lautstarker, sodass dies auch in Dietmar Reiters Ohren dringen kann. Kurzzeitig kehrt Ruhe ein.
„Wie alt wird sie gewesen sein? Etwa Mitte dreißig?“, bricht er unsichtbare Gedankenflüsse.
„Wenn überhaupt. In Anbetracht dessen, dass sie schon länger liegt, vermutlich sogar jünger“, erwidert der Gerichtsmediziner.
Sie war hübsch. War einmal ansehnlich gewesen, als das Blut noch strömend durch ihren Kreislauf fuhr. Nun ist sie nur noch grell und verfärbt und vom Antlitz des Lebens weit entfernt.
Die Blicke der Beratenden gleiten am violett getönten Frauenschädel entlang. Hautstrukturen wurden kaum zerstört, doch unter dem Haar verbirgt sich eine Kerbe. Deformiert wurde der Schädel dieses weiblichen Geschöpfes, deformiert mit beachtlicher Kraft.
„Ein Hinweis des Aufpralls?“, widmet sich Benedikts Kopf wiederholt dem am Fenster Lehnenden. Fraglich und zögernd. Denn es lässt kaum darauf schließen.
„Nein, mein Junge, diese Frau kann keinesfalls gesprungen sein. Wer dies behauptet, hat nicht hingesehen.“
Dabei fallen die Blicke des älteren Herren in selbige Richtung. Kommentarlos schüttelt er seinen graugelockten Kopf.
Kriminalkommissar Reiter fühlt sich ertappt, doch er hält sich bedeckt. Er schafft es nicht, den zugeworfenen Vorwurf anzunehmen. Er schafft es nicht mehr, dieses Gespräch zu verfolgen. Es ist lediglich möglich, die Dynamik der Unterhaltung anhand von Mimik und Gestik abzulesen.Der Kontrast zwischen beiden wird nun noch deutlicher.
In diesem Moment wird es ihm bewusst. Er begreift, dass die Zeit herangebrochen ist, demjenigen, dessen frisch geschorene Haare beinahe seine Herkunft verbergen, noch mehr Vertrauen entgegenzubringen.
Er ruft sich in Erinnerung, wie viele Jahre zwischen damals und heute vergangen waren. Wie sein Kollege einmal ausgesehen hatte. Damals, vor mehr als einem Jahrzehnt.
Reiter war seinem Kollegen das erste Mal begegnet, als noch geschwungene Locken über seine Schultern ragten wie samtweiche Wattebausche. Beide hatten sich auf einer Weiterbildung in Hameln kennengelernt. Damals trug der angehende Kriminalbeamte diesen besonderen Look. Einen präsenten charakterstarken Look, dem man nicht unbedingt auf dem Lande begegnete. Knallgrüne Hosen, kombiniert mit eleganten Ledersandalen und einem weißen gemangelten Stehkragenhemd hatte noch niemand zuvor für ein Seminar zur „Organisierten Kriminalität“ ausgewählt.
Anhand seines Haarschnittes konnte Dietmar Reiter allerdings über die Jahre nach und nach die Länge seiner Dienstzugehörigkeit bestimmen. Zunächst waren es nur wenige Zentimeter, die fielen, nur so viel, dass der Mann, dessen Name stimmig mit seinem gesamten Erscheinungsbild harmonierte, die Lockenpracht noch immer hinter seine Ohren legen konnte. Inzwischen jedoch sind die Haare des Oberkommissars länger als die seines jüngeren Kollegen. Und auch die Intensität seiner Kleidung distanzierte sich über mehrere Zeiträume immer mehr von der vorherigen Farbauswahl. Optisch gesehen passte er sich für Dietmar Reiter nach nur wenigen Jahren schon den Gegebenheiten eines Schutzpolizisten an -Jedoch nur optisch gesehen. Und Reiter musste sich eingestehen, dass er diese Umorientierung verstand. Denn jemandem, der den Namen Benedikt Ayari trug, wurden selten Dinge hinterhergeworfen, die es sich lohnte aufzuheben.
Walther Fuszius wechselt das getragene Handschuhpaar und stülpt sich ein Plastikvisier übers Gesicht. Anschließend tasten seine gummierten Finger zunächst weitere Glieder des toten Körpers ab. Er arbeitet sich nochmals sorgfältig vom Schädel zum oberen Rumpf hindurch. Auf Dünndarmhöhe halten seine Finger, um sich wiederholt der Narbe zu widmen. Sie untersuchen den unteren Bauchbereich, dort werden unzählige Flecken ersichtlich, die Adern sind grünlich verfärbt.
„Sie müssen die Haut weit auseinanderziehen, umso sauberer wird der Schnitt“, demonstriert der Rechtsmediziner und enthüllt anschließend das Operationsbesteck.
Allmählich erlangt Dietmar Reiter nun wieder Festigkeit unter seinen Füßen und nähert sich dem Seziertisch. Er räuspert sich unüberhörbar und richtet sich auf, um zu verdeutlichen, dass sein Leib nun wieder bei Kräften ist. Jedenfalls für diesen kurzen Augenblick.
„Sie melden sich dann am Montag?“, kehrt er zurück in seine diensthabende Position und blendet vollkommen aus, dass er sich soeben noch kurz vor dem Zusammenbruch befand.
Nicht sonderlich beeindruckt von seiner Rückkehr zeigt sich Walther Fuszius. Seine Hand, bereits bewaffnet mit Sezierbesteck, bewegt sich nun wieder von der Haut hinweg.
„Selbstverständlich!“, klingt er hoch erregt. „Sofern es möglich ist natürlich auch früher.“
Kommissar Reiter entfernt sich sachlichen Schrittes vom Geschehen. Er hofft, dass er den nun wiederkehrenden Schwindel für diesen Moment unterdrücken kann.
Nachdrücklich bleibt er noch einmal auf dem ersten Treppenansatz stehen, wendet seinen Körper, stützt einen Arm in die Hüfte, um seinem Kollegen Nachdruck zu verleihen. „Kommst du?“ Denn offensichtlich kann sich der angehende Kriminalbeamte von diesem Fall noch nicht lösen.
„Ben, heute ist dein freier Tag.“ Doch dieser scheint für diesen Moment nicht geistesgegenwärtig. Er starrt in die Luft, den Kopf gerichtet auf etwas, das nicht vorhanden scheint. Sein Gemütszustand hat sich verändert. Er wirkt plötzlich geschafft, ein wenig in Unmut versetzt.
Benedikt Ayari ringt damit, innerlich etwas auszufechten. Die Stirn runzelt sich, als befände sich bewegliches Leben unter ihr. Offensichtlich befindet sich sein Soma etwas getrennt vom Geist am Seziertisch stehend. Und beide vereinen sich erst dann wieder, als der Pathologe die Haut des Leichnams mit beiden Fingern auseinanderstrafft und das frisch geschliffene Metall vor seinen Augen in die Bauchdecke eindringt. Fokussierenden Blickes wartet der angehende Kriminalbeamte noch einen Moment, bevor er sich abwendet, doch es tritt scheinbar nicht der erwartete Effekt ein, denn das Blut der Toten hat längst gestockt.
„Herr Ayari, kommen Sie?“, fordert Reiters Betonung nun deutlicher. Er verspürt Ungeduld, für ihn wird es Zeit, dieses Gemäuer zu verlassen. Dann stampft er mit einem Bein auf die metallenen Treppenstufen, sodass der dumpfe Klang durch alle Ohren schmettert. Schließlich erwacht Benedikt aus seiner Starre, in der er beinahe eins mit der des Leichnams geworden wäre. Er umkreist abschließend das dargelegte Szenario, als präge er es sich noch einmal genauestens ein.
„Bis bald“, sagt er noch zum Abschied. „Hoffentlich …“
Die Beamten verlassen das Gebäude nacheinander und begeben sich zu ihren Fahrzeugen. Als Benedikts Hände in den Hosentaschen versunken nach dem Schlüssel herumkramen, wirft er Reiter zum Abschluss noch eine nachhaltige Empörung entgegen. „Warum hast du die Sachlage eigentlich so eindeutig formuliert …?“, erkundigt er sich und es war nie so, dass er die Arbeit seines Kollegen tatsächlich in Frage stellte.
Reiter bleibt stehen, bevor er die Schneise zum roten Volvo nimmt, wieder beginnt es ihm innerlich zu flattern.
„Ich meine, vielleicht läuft hier im schlimmsten Fall sogar ein Mörder herum“, fügt Benedikt seiner Frage noch einen Hauch Dramatik hinzu.Und Kommissar Reiter versucht dies aufzunehmen, so gut es ihm gelingt.
Er weiß sehr wohl, dass Benedikts Vorwürfe eine vollkommene Berechtigung tragen.
Reiter hatte es nicht geschafft, zwischen den Zeilen zu lesen und den Fund zu seinen persönlichen Gunsten analysiert. Es war ihm äußerst bewusst, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, solch eine Angelegenheit zu bewältigen. Sehr viel mehr war es ihm bewusst, dass sein Wort das Letzte bleiben konnte.
Es war nun schon so, dass die ersten groben Spuren auf suizidale Tötung hindeuteten. Der Tatort, vorgefunden, wie er im Handbuch hätte abgebildet sein können, ließ auf einen Sprung aus dem oberen Stockwerk schließen, wenn man nicht sehr genau hinsah. Ein Laie also hätte genau dies unterzeichnet.
Doch Reiters Gewissen hatte einmal anders ausgesehen und er wusste, dass ihm die Bedingungen zugespielt hatten. Dass er es ausgenutzt hatte, dass diese Tote doch ein Niemand war. Ein Niemand, für den sich dieser Aufwand nicht lohnte.
Der Oberkommissar versucht sich dennoch gegen die Anschuldigung seines jüngeren Kollegen zu wehren.
„Was hättest du geschrieben, Ben? Du weißt doch, wie die Dinge ablaufen“,wirft er zurück, um dessen Besorgnis zum Stillstand zu bewegen.
In diesem Moment ist der Kommissar zu schwach. Der Klang seiner Stimme wirkt angeschlagen, als durchzöge ihn diese Erschöpfung bereits von Kopf bis Fuß. Er richtet sich gerade, dann klopft er seinem Mitstreiter auf die Schulter und haucht ihm eindeutige Worte in den Nacken. „Es ist nicht immer alles so einfach, nicht wahr!?“
Denn er weiß, dass Benedikt Ayari oft selbst schon zum eigenen Vorteil gehandelt hatte.
Benedikt
Benedikt schaut dem Hauptkommissar nach, als er sich davonbewegt. Die Erschöpfung seines Freundes ist nicht zu übersehen und auch seine Worte haben ihn erreicht. Dies ist der Moment, als die Erinnerungen zurückkehren. Es beginnt ihn kürzlich Vergangenes einzuholen, bevor Reiters Motorengeräusche den jungen Beamten noch einmal in die Gegenwart versetzen. Benedikt nimmt Bremsgeräusche wahr, er beobachtet den immer kleiner werdenden rotgelackten SUV. Dann betätigt er die Öffnung seines Fahrzeugs und steigt hinein. Als er seinen Gurt anlegt, schaut er noch einmal in den Rückspiegel, wie immer setzt er zum Abschied seines Kollegen den Warnblinker ab. Er schaut ihm noch einmal nach, bis er kurz darauf nicht mehr sichtbar ist, erst dann regt sich die Zündung. Automatisiert gleitet Benedikt nun zur Kreuzung, biegt nach rechts zwischen Alleen auf den spröden Landstraßenasphalt.
Reiters Worte haben das Gefühl in ihm noch einmal verstärkt. Das Gefühl eines Irrtums, den Dingen ihre Bedeutung genommen zu haben, um sich von Selbstvorwürfen zu befreien. So wie früher und so wie in dieser einen vergangenen Nacht. Allmählich wird ihm begreiflich, dass er gedankenversunken nach Hause fahren wird. Jeglicher Versuch zur Konzentration auf den umgebenden Verkehr verliert sich immer mehr in Erinnerungen. Es sind Erinnerungen an den nächtlichen Vorfall im Präsidium vor ungefähr drei Wochen, die in ihn einkehren, ohne dass er diese zurückhalten kann.
Es war dieser eine Tag, im Prinzip unterschied er sich nicht sehr von all den anderen. Doch Benedikt war kurzfristig für ein paar Stunden alleine auf der Wache gewesen. Und es sah in dieser Nacht zunächst danach aus, dass es Benedikt sogar sehr zum Vorteil kam.
„Ich muss noch einmal schnell nach Hause fahren!?“, hatte der andere diensthabende Kollege gemeint, dessen hochschwangere Frau kurz vor der Entbindung stand.
„Lass dir Zeit“, winkte Benedikt mit beiden Händen ab. In großer Erleichterung, in dieser Nacht nun auch selbst etwas Außerdienstliches erledigen zu können. Er hatte noch einen Stapel von der Polizeischule abzuarbeiten, den er seit Tagen längst hätte in das Postfach des Professors legen sollen.
Kurz nachdem Benedikt Ayari seinen Kollegen in die Nacht entließ, setzte er sich in seine Schreibtischecke und kramte den mehrseitigen Stapel Kopien aus seiner Umhängetasche heraus, um die gewonnene Zeit nun nützlich zu verbringen. Natürlich befand sich auf dem anderen Ende des Schreibtisches ebenso ein angehäufter Stapel von der Alltagsstreife der letzten Wochen. Doch Benedikt setzte der Druck seines Professors mittlerweile so sehr zu, dass er diesen endlich ein wenig zu entschärfen versuchte.
Kaum sitzend, fuhr er mit dem Marker über die ersten Seiten, um das Wichtigste herauszufiltern. Er las einen Text zum Umgang mit Spürhunden. Was den angehenden Kriminalkommissar nicht sehr begeisterte.
Die Begriffe rangen sich aneinander, wie elendig lange Kettenwörter. Satzzeichen überlas er beinahe und Benedikt bemerkte, wie ein zunehmender Druck in seiner Stirn hinaufstieg. Ein stechendes Kopfbrummen machte sich breit und es kostete ihn Mühe, beide Augen offen zu halten. Also legte er den grellgelben Marker zwischen die aufgeklappten Kopien, um sich ein paar Schritte zu bewegen.
Schlendernd lief er auf und ab, mit beiden Händen in den Hosentaschen, durch den quadratischen Büroabschnitt. Somit geriet sein Kreislauf immerhin ein wenig in Schwung, dachte er sich.
Noch immer trug er die abgelatschten Nikes, die er als Wechselschuhe nutzte, um seine Füße zwischendurch immer mal wieder von den Uniformschuhen abzulösen. In denen hatten sich seine Füße noch nie besonders wohlgefühlt. Und weil er ahnte, dass sein Kollege so schnell nicht zurückkehren würde, entschied er sich, eine weitere Stufe der Gemütlichkeit einzulegen. Also begab er sich zu seinem Spind und schlüpfte gelassen aus den heruntergetretenen Sportschuhen. An den Zehenspitzen erkannte er weiße Rückstände, die den getrockneten Salzgehalt des Schweißes widerspiegelten. Ein paar Schritte bewegte er sich auch im Eingangsbereich des Revieres auf und ab, für ein paar Minuten lief es sich auf den Socken erlösend.
Es war mucksmäuschenstill gewesen um ihn herum. Das Flackern des Überwachungsbildschirmes erhellte als einzige Lichtquelle den großzügigen Korridor. Lediglich der Regen war hörbar, der sanft die Fenster streifte. Wie ausgestorben war diese Nacht, gleichbleibend still. Bis der Polizist plötzlich etwas wahrnahm. Einen Ton, der die Stille brach. Kaum zu lokalisieren, kaum einzuordnen, was es war. Doch das Geräusch wiederholte sich, noch einmal und noch einmal. Und es klang wie das Anschlagen einer Faust auf eine Tür. Jedoch sehr zaghaft und zurückhaltend. Es war ein Klopfen.
Benedikt Ayari öffnete die Eingangstür zum Präsidium und streckte seinen Kopf hinaus in diesen fürchterlichen Regen. Er schaute sich um, doch zunächst schränkten gigantische Wassertropfen sein Sichtfeld ein. „Hallo?“, fragte er unsicher und sich etwas lächerlich vorkommend, weil er scheinbar mit dem Nichts in Kommunikation trat. Er kniff beide Augen zusammen, noch hatte er die Grenze zum Brillenträger nicht überschritten und vernahm, in schon recht weiter Entfernung, etwas Eilendes im Lichtkegel der Laternen. Es sah aus, als würde jemand davonrennen, jemand, dessen Zopf hin und her baumelte, jemand, der sich bemühte zu entkommen. Eine Person.
Sie trug einen hellen Anzug, dessen Ober- und Unterteil sich farblich nicht voneinander absetzten. Das Haar aber wies einen etwas anderen Ton auf, doch verschwamm es allmählich zwischen den Straßenleuchten.
„Halt!“, rief er energisch, ein wenig selbst erschrocken von der Vibration seiner Stimme. Doch die Person reagierte nicht auf seine Rufe, bewegte sich weiterhin im Gleichschritt davon, bis sie kleiner und kleiner wurde. Benedikt fühlte sich herausgefordert. Er musste reagieren. Doch bevor er zum Sprint hasten und in seine Nikes zurückschlüpfen konnte, verschwand die Person in der lückenlosen Dunkelheit.
Und wie er da noch immer stand, sich fragte nach der Absicht, nach dem Anlass des Klopfens, erspürten seine inzwischen durchnässten Füße, dass die Klopfende auch etwas hinterlassen hatte. Einen Stein, der auf der Türschwelle lag und einem Stückchen Papier darunter Schutz bot.
Benedikt griff nach dieser anscheinenden Botschaft, noch bevor auch diese von Feuchtigkeit durchtränkt wurde und schlug die Tür in den Rahmen.
Die fortgerannte Person hatte diesen Zettel akribisch gefalzt. Ihn Kante auf Kante ins Miniaturformat versetzt. Es schrie geradezu danach, dass jemand eine bemerkenswerte Falttechnik besaß. Innerlich in Hektik versetzt, zog er seine durchtränkten Socken von den Füßen und kehrte barfüßig zurück zum Schreibtisch.
Der große Zeiger stand nun auf zwei Stunden nach Mitternacht und der Dienst sollte noch bis zum frühen Morgen andauern. Benedikt spürte auf seinen Schultern eine bedrückende Unrast in den Nacken kehren, die ihn in Beschlag nahm und welche ihm bisher selten widerfahren war. Irgendwie anders, als er sie von den Streifen aus der Großstadt kannte.
Hunderte Male hatte er Nächte erlebt, in denen er nicht zum Denken gekommen war, Hunderte Male. Dennoch konnte er nicht eine mit der jetzigen vergleichen.
Vielleicht raubten ihm in dieser tiefdunklen Nacht jene unbekannten Bedingungen die Fassung und trugen eine befremdliche Unvorhersehbarkeit in die Räumlichkeiten des Polizeireviers. Der brausende Wind, der sich in der warmen Mainacht aufgetan hatte und das Tröpfeln des Regens gegen die Fenstergläser. Diese Verlassenheit, in der weit und breit kein menschliches Wesen umherzuirren schien, umrahmte die gesamte Situation mit einer Mystik, die dem Ganzen nun Nachdruck verlieh.
Mit zitternden Fingern öffnete Benedikt das klein gefaltete Blatt Papier, dessen Enden er Stück für Stück wieder in seine Ursprungsform versetzte. Dann fegte er die ausgebreiteten Studienaufgaben zur Seite, wie einen Stapel ausgelesener Zeitungen und legte das mysteriöse Schriftstück auf die Tischoberfläche, um mit der geöffneten Hand die stark ausgeprägten Fältchen glatt zu streichen. Eine leichte Spur des Starkregens war unvermeidbar gewesen und sorgte nach dem Öffnen für verschmierte Tinte. Ein sichtbarer Schmierfleck zog sich hauchdünn über das strahlende Weiß. Geschwungene Buchstaben wurden einzeln mit der Hand in das Papier eingearbeitet, ein bisschen künstlerisch dargestellt in sonderbar makelloser Schreibschrift. Es sah aus, als verstünde jemand etwas von seinem Fach. Als hätte sich jemand die Zeit genommen, dieses Stück Papier anzufertigen. Es waren hunderte Großbuchstaben in unfassbar winziger Schriftgröße. Es sah aus, als hätte jemand eine Botschaft hinterlassen. Als hätte jemand versucht, etwas mitzuteilen und dann aus unbestimmten Gründen einen Rückzieher gemacht.
Benedikt spürte, wie sein Schädel versuchte, sich gegen die Erschöpfung der Nachtwache zu wehren, dass sich die Gedanken überschlugen, weil sie nach Lösungen rangen. Es hätte in diesem Moment alles bedeuten können und war bei Weitem eine viel zu herausfordernde Denkaufgabe für diese Uhrzeit.
Also hatte sich der junge Polizist von seinem Stuhl erhoben, sich zunächst einen Cappuccino zubereitet und nach Ewigkeiten wieder einmal den unentwegten Drang verspürt, schleunigst etwas Tabakrauch in sich einkehren lassen zu müssen. Ein tiefer Zug versprach das Herunterfahren schon in der Vergangenheit. Und Benedikt wusste, dass er dieses Bedürfnis auch nun stillen konnte, da sein Vorgesetzter immer ein gefülltes Päckchen Zigarillos in seiner dienstgebräuchlichen Jacke umhertrug. Es war nicht unbedingt die genussvollste Marke, die Dietmar Reiter in der Innentasche seines Ledermantels aufbewahrte, aber immerhin etwas Qualmendes zwischen den Lippen. Ganz unverfroren kramte Benedikt darin herum und bediente sich an dem eingedrückten Schächtelchen. Eigentlich hatte er sich das Rauchen längst abgewöhnt, aber jetzt erschien es ihm angemessen, vollkommen angemessen in dieser Situation.
Vorschriftsmäßig begab er sich mit dem bereits glühenden Zigarillo in den Raucherbereich, der dort noch immer existierte. Noch immer fragend, wie viel Ernsthaftigkeit hinter diesem seltsamen Ereignis wohl stecken würde. Fragend, ob er zum Opfer eines infantilen Streiches geworden war und nun zum Gespött werden würde?
Er legte seinen verglühten Kippenstummel zu den anderen in den überfüllten Sturmaschenbecher und begab sich zurück in die Schreibtischecke. Er konnte das Zettelchen doch einfach bei der Spurensicherung abgeben. Ohne Aufsehen zu erregen, als wollte er sich inmitten seines Studiums nun einer praktischen Erfahrung unterziehen. Doch wenn er ehrlich war, hatte er die Strukturen des Papiers bereits zu sehr geschunden. Die Produktion seiner Schweißdrüsen hatte besonders an den Fingerkuppen Spuren gesetzt, sodass das Papier nun an einigen Stellen Wellen schlug. Längst verdrängten seine Hinterlassenschaften die des Übermittlers. Er konnte sich vorstellen, dass sie ihn für einen Anfänger halten würden, nach all den Jahren Dienstzeit, oder eben für jemanden mit einer sehr ausgeprägten Phantasie. Ein bisschen erhoffte Benedikt in diesem Moment die Rückkehr seines Kollegen. Eine Stimme, die mit ihm spricht und ihn aus dieser Gedankenwelt herausreißt. Ein Stück fassbare Realität. Er hoffte auf einen Impuls, der sich lebendig anfühlt. Doch um ihn herum blieb nur die Stille.
Benedikt versetzte das rätselhafte Zettelchen zurück in seine vorgefundene Form und lehnte sich zurück in seinen Bürostuhl. Er streckte beide Füße zum Tisch hinaus und suchte danach, wieder zurückzufinden. Wieder zurück ins Hier und Jetzt zu gelangen und die Dinge zunächst zu belassen. Es fühlte sich gut für den Polizisten an, beide Zehen auszustrecken und etwas Luft auf der Haut zu spüren.
Er vernahm jene freitägliche Aufbruchstimmung, die von der Abteilung nach Dienstschluss hinterlassen wurde. Um ihn herum bildeten überladene Ordner, zum Einstürzen verurteilte Türme. Es hätte nur ein Windhauch genügt. Neben all den anderen Schreibtischen quollen die Mülleimer bis oben hin. Versehen mit Verpackungen asiatischer Schnellkost, die am Mittag bestellt worden war. Reste von Feuchttüchern klebten an Tastaturen wie überreife Bananenschalen, die eins wurden und begannen, einen hauchzart- fruchtigen Geruch abzusondern. In dieser feuchten Nacht wichen selbst die milderen Gerüche kein bisschen.
Benedikt erinnerte sich daran, dass er jene Geruchskulisse mit einem frisch gebrühten Wintertee verglich. Einem Sbiten, den ihm seine Frau aufbrühte, wenn es ihm schlecht erging. Der fruchtig winterliche Duft versprach Geborgenheit und Wärme und erinnerte an die Traditionen ihrer Heimat. Auch, wenn er um diese Jahreszeit kaum her passte, kehrte in Benedikt Ruhe ein. In diesem Moment fühlte er sich leichter. Dort an seinem Schreibtisch sog er dieses Gefühl auf, um sich ein wenig vom Geschehen zu entfernen. Vielleicht sogar zu sehr.
So lange, bis ihn plötzlich ein Schulterklopfen aus seinem Dämmerzustand riss. Sein Kopf war bereits zur Seite genickt und er verspürte eine Verspannung in den Halswirbeln. Die Uhr stand nun genau auf Vier und allmählich erklang das morgendliche Vogelgezwitscher, obwohl es draußen noch immer stockduster war.
„Geh nach Hause Ben, ich übernehme den Rest der Schicht“, sprach der zurückgekehrte Kollege.
Benedikt wischte sich eine leichte Speichelspur von der Wange und warf seinem Gegenüber ein wortloses Nicken zu. Er gab sich unwissend und erkundigte sich wortkarg und nur aus Höflichkeit, wie es der schwangeren Frau zu Hause ergangen war. Doch der nun in der Küchenzeile Stehende hielt sich in seiner Ausschmückung zurück. Und schlug die Stirn in runzlige Falten, als fragte er sich nach der Hysterie schwangerer Frauen.
„Ach, es war nur ein Fehlalarm. Schwangere Frauen eben.“
Benedikt sortierte die Unterlagen des Professors zurück in den Universitätsordner. Schon dabei, sich auf den Heimweg einzurichten, doch eine Sache, die gab es noch zu beschließen. Er griff nach dem inzwischen wieder gefalzten Papierquader und drehte sich zu seinem Kollegen, der dabei war, Benedikts benutzen Kaffee-Pad in die Tonne zu entsorgen und einen spürbar genervten Gesichtsausdruck mit sich trug.
„Ich hab’s vergessen, entschuldige bitte“, fügte Benedikt tröstlich hinzu, doch jene Frustration schien nicht seiner Nachlässigkeit geschuldet zu sein.
Benedikt hätte sagen können, dass jemand an der Tür geklopft hatte und etwas hinterließ.
Oder dass er etwas vor der Tür vorgefunden hatte, während er den Zettel hinter den gehärteten Papphefter klemmte. Aber das tat er nicht, denn die eingetroffene Aufregung des Anwesenden hielt ihn davon ab. Stattdessen spürte er, wie sein Puls rasant anstieg und ihn innerlich aufscheuchte. Dröhnend atmend zog er seine Socken über die nackten Füße, ließ das gefaltete Zettelchen zusammen mit dem anderen Stapel in seine Umhängetasche gleiten, als wäre dieses niemals aufgetaucht und formulierte zum Abschied ein nüchternes „es war sehr ruhig … hast nichts verpasst“.Während er in Eile ausgebrochen schon halb gebücktmit einem Bein im Korridor stehend seine Schnürsenkel zusammenband. Dann verließ er geradewegs das Präsidium.
Noch immer sitzt Benedikt auf dem Rückweg von der Rechtsmedizin hinterm Steuer, als er aus seinen Erinnerungen zurückkehrt. Die Alleen sind übersät von Frühblühern. Er bemerkt, dass sein Geist die Fahrt über diesen Augenblick noch einmal Revue hatte passieren lassen. So eindringlich, dass er nun nicht mehr weiß, wie er ans Ziel gelangte. Vielleicht hatte er Umwege genommen, vielleicht war er über rote Ampeln gebrettert, doch er erinnert sich kaum ein einziges bisschen.
Nachdem er in den heimischen Carport einfährt, weiß er nur, dass der erste Gang der in sein Arbeitszimmer sein wird. Er weiß, dass er alles um sich herum zunächst ignorieren, stattdessen das Taschenfach öffnen und seine dort abgestellte Umhängetasche herausziehen wird. Denn seitdem er an jenem Morgen von der Schicht zurückgekehrt war, ruhte das gefaltete Papierquadrat noch immer genau dort. Er hatte am darauffolgenden Tag nicht mehr den Sinn darin gesehen, sich weiterhin dieser Merkwürdigkeit zu widmen. So nahmen die Dinge ihren Lauf und entzogen dem seltsamen Ereignis nach und nach die Intensität. Aber nun, da holte es ihn wieder ein, schon als der Anruf des Hauptkommissars in den frühen Morgenstunden auf seinem Diensttelefon eintraf.
Der Zettel hatte die Zeit über unbeschadet in der ledrigen Seitenschneise verbracht, unberührt und nun wieder faltenfrei. Benedikt zieht ihn heraus und schaltet das Licht über dem Schreibtisch ein. Er erkennt noch immer die Hinterlassenschaften aus der Nacht, den Regen, seine Fingerspuren, doch sie sind ein wenig verblasst.
Es ist ein Wirrwarr an Buchstaben, daran hat sich nichts geändert. Doch heute, empfindet er, erscheint sein Sehvermögen etwas klarer als inmitten dieser finsteren, fast mondlosen Nacht.
Er überschlägt die Reihen des Zettels, erst waagerecht, dann senkrecht und notiert Wörter mit einem Bleistift. „EIN, DER“,liest er sich selbst laut vor. Er versucht es rückwärts und diagonal. Fährt in sanfter Geschwindigkeit mit der Fingerspitze über geschwungene Tintenkleckse. Es sind viele und kleine, ziemlich kleine Großbuchstaben und Benedikts Augen benötigen immer wieder Erholungsphasen. Er kramt im Fach des Schreibtisches nach einer Lupe. Dann klappt er seinen Laptop auf, recherchiert im Netz nach Vergleichbarem. Er erkennt, dass die Buchstaben zwardem modernen deutschen Alphabet angehören, doch es lassen sich kaum Wörter finden. Er versucht es mit Latein, mit Polnisch, mit Spanisch, Allerdings, es fehlt die Lautschrift.
Er reibt über seine geschlossenen Augenlider. Sie strengen ihn an, diese bedrückenden Fragen, das Gefühl, sich im Buchstabenwirrwarr zu verlieren.
Jetzt gerade wird Benedikt Ayari bewusst, er braucht dringend den Rat eines anderen.
Reiter
Der Kommissar schaut seinem Kollegen nach, dessen Worte ihm Bekümmernis bereiten.
Vertuschung, könnte man meinen, das war der richtige Begriff für das, was Dietmar Reiter an diesem Vormittag beabsichtigte.
Dem Kommissar war sehr bewusst, was er auslösen würde, sobald er auf die schmalspurige Autobahn gelangte. Dass eine Zeit endete, welche Frieden und Hoffnung beschert hatte. Ihm und allen Beteiligten. Dass sein Wort nur noch einem huschenden Windzug glich, denn nun konnte er diesen Frieden wahrhaftig nicht mehr schützen.
Dietmar Reiter hält noch einmal an der nächsten Gelegenheit, um Koffeintabletten mit billigem Filterkaffe zu vermengen, um seine Batterie zumindest vor dem Ausgehen zu bewahren, solange er nicht wieder auf dem Rückweg war.
Dann wird er erschlagen von einer schimmernden Fassade, von hunderttausend gläsernen Fensterscheiben.
Reichlich imposant gewährt das neue Präsidium Einblick in jeden aufgeführten Winkel. Glanzvoll und rein, majestätisch irgendwie.
Ein leibhaftiger Beweis dafür, dass Dietmar Reiter im gesamten letzten Jahr umsonst gebettelt und gebangt hatte, dass er sich zum wahrhaftigen „Gespött“ gemacht und sie ihn für lächerlich befunden hatten. Er hatte es nicht begreifen wollen, doch nun erscheint es ihm so glasklar wie dieses wuchtige Exemplar vor seinen Augen.
Nebenan, da hat der Kommissar einst die Polizeischule besucht, wovon heute nur noch ein Pförtnerhäuschen übrig scheint. Der ehemals sowjetische Bau musste weichen für staubtrockene PKW-Stellflächen und eben das, was mit der Zeit immer größer wurde.
Wie er da so steht und am weißen Anstrich hinaufschaut, traut er sich kaum, einen Fuß hineinzusetzten. Es fühlt sich danach an, als hätten all die Forster Ersparnisse diesem Exemplar nach und nach zu mehr Prunk verholfen. Jetzt kann er nicht anders, als Vergleiche zu ziehen. Reiters hart erkämpfte Einsparungen, umgewandelt in unnütze Deckenlampenkonstruktionen, zum Treppenhaus hinaufragend.