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Wie aus heiterem Himmel taucht ein 500 Jahre altes Dokument auf, das Hinweise auf den legendären, verschollenen Schatz des Klosters Adelberg enthält. Unvermutet wird das beschauliche Leben in dem unscheinbaren Dorf von unerklärlichen Einbrüchen erschüttert. Dubiose Gestalten setzen alles daran, das Geheimnis des Schatzes zu lüften. Der älteste Einwohner des Dorfes erzählt eine Geschichte voller Rätsel und Mysterien. Gibt es diesen Schatz tatsächlich? Wo hat ihn der Abt des Klosters verborgen? Und welche Rolle spielt ein Don der sizilianischen Mafia in diesem Spiel? Begleiten sie Annabelle und Rick Epple, Andrea Wissler und Klemens Maier auf ihrer Reise voller unerwarteter Wendungen durch die Jahrhunderte. Werden sie Schatz des Klosters finden oder ist er für immer verloren? »Im Schatten der Quelle« Ein fesselnder Regionalroman über die Jagd nach einem jahrhundertealten Geheimnis, das die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen lässt.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2024
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F. K. Neyer Im Schatten der Quelle Regionalroman aus Schwaben
Das Buch
Wie aus heiterem Himmel taucht ein 500 Jahre altes Dokument auf, das Hinweise auf den legendären, verschollenen Schatz des Klosters Adelberg enthält. Unvermutet wird das beschauliche Leben in dem unscheinbaren Dorf von unerklärlichen Einbrüchen erschüttert. Dubiose Gestalten setzen alles daran, das Geheimnis des Schatzes zu lüften. Der älteste Einwohner des Dorfes erzählt eine Geschichte voller Rätsel und Mysterien. Gibt es diesen Schatz tatsächlich? Wo hat ihn der Abt des Klosters verborgen? Und welche Rolle spielt ein Don der sizilianischen Mafia in diesem Spiel? Begleiten sie Annabelle und Rick Epple, Andrea Wissler und Klemens Maier auf ihrer Reise voller unerwarteter Wendungen durch die Jahrhunderte. Werden sie Schatz des Klosters finden oder ist er für immer verloren?»Im Schatten der Quelle« Ein fesselnder Regionalroman über die Jagd nach einem jahrhundertealten Geheimnis, das die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen lässt.
Der Autor
F. K. Neyer wurde im Jahr 1960 in einem kleinen Dorf im Schwabenland geboren. Er ist seit über vierzig Jahren verheiratet und hat zwei Töchter. Nach der mittleren Reife 1977 war er zuerst in unterschiedlichen Branchen tätig, bevor eine Ausbildung zum Programmierer es ihm in den frühen 1990er-Jahren ermöglichte, in die aufstrebende IT einzusteigen. Nach Jahrzehnten in dieser Branche erfüllte er sich im vorgezogenen Ruhestand 2022 einen lange gehegten Wunsch und begann zu schreiben. Der vorliegende Roman ist bereits der Sechste des umtriebigen Autors. Weitere werden folgen. Alle Romane des Autors können als E-Book direkt bei ihm erworben werden. Mail an: [email protected]
Impressum
Texte: © Copyright by F. K. Neyer
Umschlaggestaltung: © Copyright by F. K. Neyer
Fotos: Pixabay
Dieses Werk ist Fiktion. Die historischen Fakten sind der Realität entnommen. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil darf in irgendeiner Form, mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen werden, außer nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Autors. Namen, Charaktere und Ereignisse sind vom Autor frei erfunden oder werden als fiktive Elemente verwendet. Orte sind teilweise namentlich genannt und real. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.
Verlag:
Friedhelm Neyer, Hauffstraße 21/1
73084 Salach
Vertrieb:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Kapitel 1
05. August 202302:30 Uhr, Anwesen Epple, Adelberg,
Unruhig wälzte er sich zwischen den Laken hin und her. Ohne im Geringsten zu ahnen, was ihn bis in die Nacht verfolgte und beharrlich am Einschlafen hinderte. Seit dem letzten Fall waren etliche Monate vergangen. Notgedrungen hatten er und seine Freunde ihn ohne Resultat zu einem mehr als unbefriedigenden Abschluss bringen müssen. Frust und Enttäuschung darüber, dass diese Machenschaften unverändert weitergehen würden, beschäftigten ihn ständig. Mit anderen, neuen Akteuren und einer ebenso neuen Masche. Frederik Epple, genannt Rick, ließ die letzten Monate der Entspannung und Ruhe Revue passieren. In der Hoffnung, dass ihm endlich der ersehnte Schlaf gegönnt würde. Sein Freund Klemens Maier dagegen, ein pensionierter Kriminalhauptkommissar, hatte eine beinahe lähmende Trägheit entwickelt, die absolut untypisch für ihn war. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Andrea Wissler wohnte er in der Einliegerwohnung von Annabelle und Ricks großzügigem Anwesen. Rick kannte Andrea seit den späten 1970er-Jahren. Annabelle war noch wesentlich länger mit ihr befreundet. Beide hatten ihre Kinder- und Jugendzeit[1] in einem SOS-Kinderdorf im Nachbarort Schorndorf-Oberberken verbracht. Kriminaloberkommissar Florian Wegner machte sich seit Wochen rar. Nach dem überraschenden Suizid seines Vorgesetzten[2] war er zum kommissarischen Leiter berufen worden. Bis man einen neuen Dienststellenleiter gefunden hatte, würde es Monate dauern. Wegner arbeitete engagiert daran, den Sumpf der Korruption auszutrocknen, den Kriminaloberrat Stächele hinterlassen hatte. Der einzige Besucher, der von Zeit zu Zeit hereinschneite, war Ernst Staudinger. Immer auf der Suche nach Unterhaltung, tiefschürfenden Gesprächen oder einem kühlen Weizenbier. Bei fast jedem seiner Besuche gab er mit seiner charakteristisch knarzenden Stimme eine oder mehrere Episoden aus seiner langen Karriere als Kriminaloberrat und Klemens direktem Vorgesetzten zum Besten. Geschichten, die in dieser Form erfinden könnte. Mit Vorliebe erzählte er von dem Flugzeugträger und dem US-Marinecorps. Beides hatte er Klemens vor mehr als vierzig Jahren angeboten, um einen seit Jahrzehnten anhängigen, äußerst rätselhaften Fall[3] zu lösen, in den auch Ricks Vater verwickelt war. Rick schob seine Gedanken an die alten Zeiten beiseite und schloss die Augen. Es gab nichts, was ihn um den Schlaf bringen sollte. Und doch wälzte er sich weiterhin ruhelos von einer Seite auf die andere. Die dünne Decke hatte er schon vor Stunden zur Seite geschoben. Seit Tagen heizten Tagestemperaturen von knapp vierzig Grad sämtliche Räume im Haus auf. Von Regen keine Spur. Der Deutsche Wetterdienst hatte nichts zu vermelden, was in die Nähe einer Abkühlung kam. Die tropische Hitze würde noch tagelang anhalten. Neben ihm schlief seine Frau Annabelle den Schlaf der Gerechten. Ihre gleichmäßigen, tiefen Atemzüge erinnerten ihn an ein zufriedenes Baby. Hin und wieder gab sie ein röchelndes Geräusch von sich. Die unbewegte, fast drückende Luft schien sie nicht weiter zu stören. Den stattlichen Ventilator an der Decke schaltete sie regelmäßig aus. Sie befürchtete, sich zu verkühlen. Spontan beschloss Rick, den Rest der Nacht auf der Terrasse zu verbringen. Meist wehte dort eine leichte Brise vom Herrenbachtal herauf. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf in der frischen Luft konnten nicht verkehrt sein. Er brauchte keine Verkühlung befürchten. Zeit seines Lebens war er unempfindlich gegen derartige Attacken. Lautlos ließ er sich aus dem Bett gleiten und ging die Stufen ins Wohnzimmer hinunter. Die Decke nahm er mit. Die breite Schiebetür stand halb offen. Leise rückte er einen Relaxsessel an den äußersten Rand der Terrasse. Noch einen Moment blieb er stehen und sah sich um. Vollkommene Ruhe hier am südwestlichen Ortsrand des kleinen Dorfes zwischen Fils- und Remstal, wo sie seit vierzig Jahren wohnten. Der fast volle Mond malte bleiche, ausgefaserte Lichtpfützen auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche des Herrenbachstausees. Rick spürte die erhoffte Brise. Er drehte den Sessel mit der Liegefläche Richtung Tal, ließ sich in die bequemen Polster sinken und versuchte, sich zu entspannen. Die Decke legte er neben sich auf den Boden. Brauchen würde er sie nicht. Er ließ seinen Blick über den See schweifen. Fast von selbst fielen ihm die Augen zu.Na also, dachte er im Halbschlaf, geht doch. Ein kaum wahrnehmbares, knirschendes Geräusch katapultierte ihn aus dem Reich der Träume in die Realität. Es konnte nur von der Einfahrt gekommen sein. Dort war großräumig kleinteiliger, weißer Kies gestreut. Verwundert bemerkte er, dass bereits die Sonne aufging. Um diese Jahreszeit musste es ungefähr fünf Uhr sein. Ein paar Stunden Schlaf hatte er immerhin gefunden. Rick taumelte im Halbschlaf bis zur obersten Treppenstufe. Nichts zu sehen. Überrascht bemerkte er, dass einer der beiden Torflügel ein paar Zentimeter offenstand. Also doch! Oder sollte er sich verhört haben? War er einer besonders lebhaften Traumsequenz auf den Leim gegangen? Wer zum Donnerwetter trieb sich am frühen Morgen auf dem Grundstück herum? Dem Kerl würde er gehörig einheizen! Leise schlich er ins Wohnzimmer und griff nach dem Baseballschläger aus Hartholz. Der würde zur Verteidigung genügen. Die Frage, ob er wirklich zuschlagen würde, konnte er sich nicht beantworten. Ein direkter Treffer mit diesem Monsterschläger konnte tödlich enden. Unwichtig für den Moment! Ein kurzer Blick nach links und wieder zurück. Der nachtblaue Lack von Klemens Jaguar reflektierte das gedämpfte Morgenlicht. Nichts! Hatte er sich das knirschende Geräusch nur eingebildet? Doch weshalb stand dann einer der Torflügel ein Stück offen? Strenggenommen unmöglich! Einmal elektrisch geschlossen war es zu. Solange nichts den Weg der Flügel blockierte. Wer immer das Tor aufgedrückt hatte, wollte Aufmerksamkeit erregen. Ein richtiges Schloss gab es nicht. Die beiden Motoren hielten es zuverlässig geschlossen. Einen der Torflügel mit normalem Kraftaufwand aufzudrücken war möglich, aber äußerst mühsam. Der Widerstand der Elektromotoren war an sich ausreichend. Langsam stieg er die breiten Stufen aus Natursteinen hinunter. Den Baseballschläger schlagbereit in der rechten Hand. Das seltsame Gefühl, nicht allein zu sein, überfiel ihn. Niemand zu sehen! Falls sich irgendwo jemand verborgen hielt, konnte es nur außerhalb des Tores sein. Wenn derjenige von den beiden Kameras erfasst worden war, sähe er es auf den Monitoren. Doch dazu fehlte ihm im Moment die Geduld. Rick bemerkte die rot blinkende LED am Gehäuse eines der Elektromotoren, die signalisierte, dass das Tor manuell geöffnet worden war. Er würde einen Reset machen, um die Steuerung wieder zu aktivieren. Er zwängte sich zwischen den blockierten Flügeln durch. Ein weiterer Rundblick. Immer noch nichts zu sehen! Anscheinend war er doch einer Halluzination auf den Leim gegangen. Plötzlich stieg ihm ein unverkennbarer, charakteristischer Gestank in die Nase. Er erkannte ihn sofort. Klemens, der einen außerordentlich leichten Schlaf hatte, war aus einem unbestimmten Gefühl heraus aufgewacht. Leise kurbelte er die Jalousie nach oben und warf einen Blick auf die Einfahrt. Auf den ersten Blick alles wie immer. Der Lack seines Jaguars glänzte, die weißen Kiesel aus Carrara-Marmor strahlten im Licht der aufgehenden Sonne. Trotzdem – sein Gefühl trog ihn nicht. Das hatte es noch nie getan. Und das tat es auch jetzt nicht. Er spürte das bekannte Ziehen im Nacken. Das elektrisierende Kribbeln in der Bauchregion. Etwas war anders als sonst. Störte die Ruhe. Gemächlich ging der die Treppen zur Haustür nach oben. Vom zwanzig Meter entfernten Tor drang eine in der Stille des Morgens leise, aber dennoch unüberhörbare, Unterhaltung an sein Ohr. »Lämmle«, sagte Rick mit gedämpfter Stimme, »komm’ ‘raus. Ich weiß, dass du da bist! Was willst du hier? Um diese Zeit?« Hinter dem rechten Torpfosten war ein scharrendes Geräusch zu hören. Jemand hatte sich bewegt. »Verdammt, zeig’ dich, Lämmle!« Rick wurde zunehmend ungehaltener. »Ich weiß, dass du da bist!« Wieder dieses Scharren. »Entweder du kommst auf der Stelle ‘raus, oder ich gehe wieder ins Haus!« Zu seiner Überraschung kam nicht nur der alte Lämmle hinter dem Pfosten hervor, sondern auch sein ebenso verwahrloster Schwager Paul Scheuer. Zögernd. Unsicher. Beiden traten von einem Bein aufs andere. Die Geruchswolke wurde unerträglicher. Rick rümpfte angeekelt die Nase. Atmete nur noch durch den Mund. Kein normaler Mensch konnte den Geruch, den die beiden verbreiteten, länger als ein paar Minuten aushalten. Nicht ohne von einem heftigen Würgereiz übermannt zu werden. »Gleich im Doppelpack heute? Was wollt ihr hier? Um diese Uhrzeit? Bist du aus dem Bett gefallen, Lämmle? Oder hat dich der Ochsenwirt auf die Straße gesetzt? Es ist noch nicht einmal sechs Uhr!« Der mit weit über neunzig Jahren älteste Einwohner des Dorfes kam zwei Schritte in Ricks Richtung, der unwillkürlich ein Stück zurückwich. Noch näher und er würde seine Kleider im Müll entsorgen müssen. Diese Duftnote setzte sich in jeder Faser fest. Auch eine chemische Reinigung könnte sie nicht entfernen. Endlich bequemte sich Lämmle in seinem chronisch lallenden Singsang zu einer Äußerung. »Hör’ zu, Epple. Du musst uns helfen!« Er kramte einen halb aufgerauchten, zerdrückten Stumpen aus der Hosentasche, zündete ihn an und paffte ausdauernd bestialisch stinkende Rauchwolken in Ricks Richtung. »Seit drei oder vier Wochen wird regelmäßig in die ältesten Häuser im Dorf eingebrochen. Bei mir, bei Paul und ein paar anderen. Das muss umgehend aufhören! Dein Freund ist doch Polizist. Kann der nichts unternehmen? Zumindest muss er Beziehungen haben, damit etwas unternommen wird.« Nachdem Rick seinen Hustenanfall wegen des dichten Qualms in den Griff bekommen hatte, erwiderte er keuchend: »Dass das aufhören muss, ist klar. Das verstehe ich. Aber was haben Klemens oder ich damit zu tun? Ich bin Privatmann und Klemens ist längst pensioniert. Was erwartest du von uns? Was sollen wir unternehmen?« Lämmle stand da und schien anzunehmen, dass Rick wüsste, worum es ging. Sein Schwager Paul, sonst der größte Schwätzer des Dorfes, zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte das Resultat auf den Boden. »Epple«, sagte er, »ihr habt doch die ganzen Morde aufgeklärt. Vor einem Jahr oder so. Allein hätten die Büttel das nicht geschafft. Also, unternimm’ du etwas! Das nimmt langsam Ausmaße an, die wir nicht länger hinnehmen können und werden. Wenn ihr nichts tut, nehmen wir das selbst in die Hand. Dann knallt’s gewaltig! Was von den Kerlen dann übrig bleibt ... das willst du nicht wissen.« Mittlerweile war Klemens dazugekommen. Er hatte befürchtet, dass Rick in Schwierigkeiten steckte. »Rick, was ist hier los? Gibt es Probleme? Was haben die beiden hier zu suchen?« »Keine Ahnung, Klem«, brummte Rick, »noch nicht! Wenn sich die beiden nicht bald erklären, war es das! Lämmle fabuliert von etlichen Einbrüchen in die ältesten Häuser des Dorfes. Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. Einbrüche sind immer noch Sache deiner Ex-Kollegen.« An den alten Mann gewandt: »Also, Lämmle. Karten auf den Tisch! Was genau ist los? Weshalb kommt ihr wegen irgendwelcher Einbrüche zu uns? Wart ihr schon bei der Polizei? Wenn nicht, warum nicht?« Lämmle brummelte irgendetwas vor sich hin und verpestete weiterhin die Luft mit dem Qualm seiner Zigarre. Dann raffte er sich dazu auf, eine Erklärung abzugeben. »Epple, es hat einen ganz bestimmten Grund, weshalb nur in die ältesten Häuser eingebrochen wurde. Aber das ist vertraulich und nur für deine Ohren bestimmt. Du gehörst zu uns, du bist ein Dörfler, deshalb kann ich dir es sagen. Dein Freund allerdings«, er deutete mit einer abfällig wirkenden Geste auf Klemens, »ist ein Fremder. Ein Zugezogener. Er darf nichts darüber erfahren! Das,worum es geht, wird seit vielen Jahren von Generation zu Generation weitergegeben. Fremde dürfen nichts davon erfahren. Niemals! Seit Jahrhunderten nicht! Das ist ein ungeschriebenes Gesetz!« Er faselte weiter. Irgendetwas von einer alten Legende. Von ältesten Söhnen, an die irgendetwas weitergegeben werden müsse. Ohne jeden erkennbaren Zusammenhang. »Wie du meinst. Auf Wiedersehen, Lämmle«, lächelte Rick hinterlistig, »freut mich, dass du hierher gefunden hast. Bis zum nächsten Mal.« Der Gesichtsausdruck des alten Bauern wechselte von zuversichtlich zu fassungslos. »Aber ...«, stammelte er. »Pass’ auf, Lämmle«, Rick wollte ihm noch eine allerletzte Chance einräumen, »mir ist vollkommen gleichgültig, was du meinst, erzählen zu müssen. Alt oder nicht alt. Vertraulich oder nicht. Ungeschriebenes Gesetz hin oder her. Es ist deine Entscheidung! Ich bin bereit, mir deine Geschichte anzuhören. Ich kommentiere sie sogar, wenn du Wert darauf legst. Aber wenn Klemens daran interessiert ist, wird er zuhören. Er ist ebenso vertrauenswürdig wie ich!« Lämmle stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus, der jedem gläubigen Christenmenschen die Farbe aus dem Gesicht getrieben hätte. Dann feuerte er wutentbrannt seine Zigarre auf den Boden und zertrat sie mit dem Absatz seiner Arbeitsstiefel. Er packte seinen Schwager am Arm und zerrte ihn zur Seite. Rick und Klemens hörten die beiden tuscheln. Worüber, war nicht zu verstehen. Jedenfalls schienen sich die beiden einig zu sein. »Nein, Epple!« stieß er wütend hervor und stellte sich direkt vor Rick hin. »Nein, nein und nochmals nein! Das geht in keinem Fall! Das kann ich nicht allein entscheiden. Das müssen wir unter uns besprechen!« Rick lachte und trat zwei Schritte zurück, bevor ihm die Geruchswolke Lämmles auf den Magen schlagen konnte. »Immer noch deine Entscheidung. So neugierig bin ich nicht, dass ich Klemens vor den Kopf stoße. Wenn du uns etwas zu sagen hast, tu’ es. Oder lass’ es meinetwegen. Mein letztes Wort! Abgesehen davon weißt du ja, wo ich wohne. Falls du es dir anders überlegen solltest. Auf Wiedersehen, Lämmle.« Er drehte sich um und schlenderte demonstrativ langsam die Einfahrt hinauf. Außer Hörweite der beiden Alten meinte Klemens: »War es wirklich nötig, dass du den alten Mann so brüsk abgefertigt hast, Rick? Ich meine, was immer er zu sagen hat, scheint wichtig zu sein. Ich muss das nicht hören. Außerdem hat er recht ... ich bin kein Einheimischer.« »Darum geht es doch gar nicht, Klem« widersprach Rick, »ich bin sogar sicher, dass es wichtig ist. Für Lämmle zumindest. Allerdings akzeptiere ich auf keinen Fall, dass er dich durch die Blume als nicht vertrauenswürdig bezeichnet. Wer in meinem Haus etwas erzählen will, muss seinerseits akzeptieren, dass ich derjenige bin, der entscheidet, wer es zu hören bekommt!« Er schmunzelte und prophezeite dem Ex-Kommissar, dass Lämmle in spätestens zwei Tagen erneut hier auftauchen und die Geschichte erzählen würde. Unabhängig von seinen jetzigen Bedenken. Ob er sich tatsächlich mit jemandem beraten müsse, sei möglich, aber dennoch unwichtig. »Vielleicht steckt ja doch etwas dahinter, was wir derzeit noch nicht verstehen.«
Kapitel 2
Anno domini 1525
Unweit Lorche, dem ehemals römischen Laureacum Ein blutrünstiger Haufen von Söldnern und Plünderern reitet im gestreckten Galopp, mit gezogenen Schwertern und aufgerichteten Lanzen, entlang der alten Römerstraße hoch über der alten Stadt Lorch, dem ehemals römischen Laureacum. Vorbei am seit Jahrhunderten verwaisten Wachturm, der einst Bestandteil des römischen Limes war. Die Söldner nähern sich der jahrhundertealten Benediktinerabtei und ehemaligen Hauskloster der Stauferkaiser, die längst im Dunkel der Geschichte verschwunden sind. Sie lassen die trutzigen Gebäude links liegen. Dort ist keine Beute mehr zu erwarten. Ihre schwitzenden, geifernden Pferde tragen sie über die groben Steine. Das ohrenbetäubende Gebrüll der Männer erfüllt die Luft. Der marodierende, unkontrollierbare Haufen ist auf dem Weg zum Kloster jenseits des Tales der Rems, wo sie einen sagenumwobenen Klosterschatz vermuten. Zwei Meilen bis zu ihrem Ziel. Die Marodeure zerstören alles, was sich ihnen auf ihrem Weg in das reiche Kloster der Prämonstratenser, unweit des Dorfes Hundsholz, in den Weg stellt. Männer, Frauen, Kinder. Sie machen keinen Unterschied. Wer sich nicht hurtig aus dem Staub macht oder den Versuch wagt, sich der Truppe zu widersetzen, wird gnadenlos massakriert. Die altehrwürdige Römerstraße ist blutbesudelt. Abgeschlagene Arme, zerfetzte Beine und kopflose Leichen säumen den Weg des Gaildorfer Haufens. Die Söldner machen vor nichts halt. Jeder, der sich ihnen in den Weg stellt, wird gnadenlos erschlagen. Sie galoppieren Stunden später durch das Dorf Hundsholz und hinterlassen auch dortselbst eine Spur der Verwüstung. Mit gezogenen Schwertern und flackernden Augen naht sich der Gaildorfer Haufen dem Kloster. Bereit, alles zu zerstören. Die letzten Mönche, die über den Klosterschatz wachen, sind zu Tode erschrocken ob des Anblicks dieser gewalttätigen, mordenden Horde. Sie sind entschlossen, die Heiligtümer mit ihrem Leben zu verteidigen. Die Plünderer stürmen ins Kloster. Sie machen selbst vor dem Haus des Herrn, der Kapelle des Heiligen Ulrich von Augsburg, nicht halt. Ihre Schwerter veranstalten ein grauenhaftes Massaker. Blut! Überall Blut! Das Gebrüll der enthemmten Horde, die letzten Seufzer der Enthaupteten und Verstümmelten, das helle Klirren der Waffen erfüllen den Altarraum. Die Mönche kämpfen aufopferungsvoll, um die Kapelle zu schützen. Vergeblich! Mit Dreschflegeln, Heugabeln und hölzernen Stöcken haben sie der mordenden Horde nichts entgegenzusetzen. Keiner der Mönche überlebt das Gemetzel. Junge nicht und Alte ebensowenig. Bis zu ihrem Tod nicht ahnend, dass es nichts mehr zu verteidigen gibt. Die Söldner stecken viele Gebäude in Brand. Nur die Ulrichskapelle bleibt zum größten Teil unversehrt. Erst Tage später ziehen sie sich zurück. Ohne den begehrten Klosterschatz zu Gesicht oder in die Hände bekommen zu haben.
Kapitel 3
05. August 2023
08:00 Uhr, Anwesen Epple, Adelberg
Klemens trottete in seinen ausgetretenen Schlappen hinter Rick her wie ein Entenküken seiner Mutter. Er fragte sich zum wiederholten Mal, weshalb sein Freund den alten Mann so brüsk abgefertigt hatte. War sich aber im Klaren darüber, dass die beiden als gebürtige Dörfler eine ganz eigene Art hatten, miteinander umzugehen. Eine Art, die er nie vollständig verstehen würde. Anhören hätte er ihn trotzdem können. Falls das, was dieser Lämmle zu sagen hatte, tatsächlich nicht für seine, Klemens, Ohren bestimmt war, hätte er das ohne Widerspruch akzeptiert. Im Wohnzimmer setzte sich auf eine der Couchen und atmete tief durch. »Was denkst du, Rick?« Klemens konnte nicht verhehlen, dass er neugierig war. »Weißt du, Klem«, begann Rick zu erzählen, »ich kenne den alten Lämmle, seit ich ein kleiner Junge war. Damals war mir der Kerl unheimlich. Ich hatte riesengroße Angst vor ihm. Wie fast alle Kinder im Dorf. Er hat uns nie mit Schlägen gedroht oder noch mehr. Das nicht. Allein sein Erscheinungsbild und der unausstehliche Gestank in seiner Umgebung haben ihn immer zum Außenseiter gemacht. Dennoch ist er sich stets treu geblieben. Ich will damit sagen, dass er sich nie geändert, nur weil die Leute im Dorf das von ihm erwartet haben. Das Haus, in dem heute wohnt, war schon vor fünfzig Jahren uralt und kurz vor dem Zusammenfallen. Als Kinder hätte es uns brennend interessiert, wie es drin aussieht. Seltsame, manchmal unheimlich anmutende Geräusche konnte man abends hören. Wovon er lebt, weiß bis heute niemand genau. Er pflegt den Eindruck eines alten, verknöcherten Landwirts, aber das war er nie. Lämmle hatte kein Vieh, um das er sich hätte kümmern müssen. Er besaß nie einen Traktor, um sein Land zu bestellen. Von dem er bis heute übrigens jede Menge besitzt. Ich glaube, dass die zum Dorf gehörenden Wiesen und Äcker bestimmt zur Hälfte ihm gehören. Damals sicher noch mehr. Er hätte ein Vermögen machen können, wenn er mehr von seinem Land als Baugrund verkauft hätte. Auch unser Grundstück hat ursprünglich Lämmle gehört. Im Zug eines endlosen, verzwickten Erbschaftsstreits fielen einige der Wiesen an einen entfernten Verwandten und dessen Nachkommen.« Er erzählte weiter, dass er keine Ahnung hatte, was Lämmle wollte. Wenn der alte Mann sich die Mühe machte, hier aufzutauchen, müsse es etwas sein, was zumindest er für wichtig hielt. »Ich habe mich dazu entschlossen, ihn anzuhören. Es kann eigentlich nur ein Hirngespinst aus seinem mostverseuchten Schädel sein. Vielleicht hat es aber doch einen realen Hintergrund. Was immer es sein mag, beides gibt mir ein seltsames Bauchgefühl. Ins Haus lasse ich ihn allerdings nicht«, er schmunzelte, »seinen Gestank könnte ich nur mit einer umfassenden Generalsanierung wieder entfernen. Zudem würde Belle mich kalt lächelnd lynchen. Falls er erneut auftaucht, und das wird er, finden wir einen Ort, an dem er uns seine Geschichte erzählen kann. Im Biergarten der TSV-Gaststätte eventuell. Dort hockt der Kerl ohnehin ständig. Natürlich nur, wenn es dich interessiert. Ansonsten gehe ich alleine hin.« Klemens fragte ihn, ob er übergeschnappt war. »Wie kommst du auf den Gedanken, dass mich das nicht interessiert? Ich habe zwar absolut keine Idee, worum es gehen könnte, aber Geheimnisse locken mich an, wie eine arme Seele den Teufel. Außerdem wird es schwierig, die beiden Frauen da rauszuhalten. Andrea ist noch viel neugieriger als ich. Auch Belle wird sich der offenbar ganz besonderen Geschichte Lämmles nicht entziehen können. Wenn wir es ihnen erzählen.« Rick lachte schallend. »Glaubst du allen Ernstes, dass einer der beiden das gerade entgangen ist? Ich wette hundert Euro gegen einen toten Frosch, dass Belle längst ahnt, dass wieder etwas im Busch ist. Den toten Frosch kannst du allerdings selber suchen. Dich wird Andrea ins Gebet nehmen, bis sie alles weiß. Sie liebt Geheimnisse, Verschwörungen und mysteriöse Geschichten. Nein, sie fährt gerade zu darauf ab. Was immer es sein mag, was der alte Lämmle zu erzählen hat, Andrea wird es wissen wollen. Ich sehe es bereits jetzt kommen. Wir werden ein weiteres Mal als Quartett auftreten. Bei was auch immer.«
Kapitel 4
14. April 197423:00 Uhr, Ortsmitte, AdelbergDer spindeldürre, hoch aufgeschossene Mann mit den vom Alter und der jahrzehntelangen, harten Arbeit tief zerfurchten Gesichtszügen machte wie jeden Tag den letzten Rundgang durch sein Anwesen. Er kontrollierte alle Türen. Warf einen letzten Blick in den Stall, der längst keine Tiere mehr beherbergte und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Im Vorbeigehen zerrte er am Kabel den Stecker einer ungenutzten, weil defekten Maschine, aus einer uralten Steckdose, die nur locker an der Wand baumelte. Unbemerkt löste sich eine der beiden Adern des Kabels aus der Zugentlastung. Kaum war der Mann um die Ecke verschwunden, sprühten Funken aus der Steckdose. Bei einer modernen Elektroinstallation hätte spätestens jetzt der FI-Schalter ansprechen oder zumindest die Sicherung auslösen müssen. Die uralte Schmelzsicherung tat das nicht. Der Mann war zu geizig gewesen, die altertümliche Sicherung durch eine neue zu ersetzen. Stattdessen hatte er den dünnen Draht, der bei einem Kurzschluss schmelzen sollte, kurzerhand durch ein viel zu dickes, eisernes Drahtstück ersetzt. Das natürlich nicht schmolz. Der elektrische Widerstand des Drahtes war zu hoch. Er begann zu glühen. Noch immer wurde der Stromkreis nicht unterbrochen. Das inzwischen hellrot glühende Drahtstück kam in Kontakt mit den dicken Staubflusen. Dann mit einzelnen, zundertrockenen Strohhalmen, die aus der Wand herausragten. Die Halme fingen Feuer. In der anderen Richtung fraß sich die Glut an den brüchigen, bitumenummantelten Leitungen entlang bis hinein in die Decke. Das Isoliermaterial schmolz. Tropfte auf den Holzboden hinunter und kokelte dort weiter. Die ersten Holzbohlen begannen zu qualmen. Fingen Feuer. Es griff auf die hölzerne Wand über, wurde größer. Noch hätte man es löschen können. Wenn der Mann die drohende Gefahr bemerkt hätte. Doch wie jeden Tag hatten mehrere Krüge Most, zwei, drei Liter Bier und etliche Gläser des selbstgebrannten Obstschnapses seinen Aufmerksamkeitslevel bis nahe Null reduziert. Das Feuer erfasste die ersten Balken, setzte sie in Brand und breitete sich rasend schnell auf das gesamte Anwesen aus, das seit acht Generationen im Familienbesitz war. Das zundertrockene Holz gab den Flammen reichlich Nahrung. Die dichten, ätzenden Rauchwolken breiteten sich wesentlich langsamer aus als die Flammen. Noch hatte niemand die inzwischen unabwendbare Katastrophe bemerkt. Da! Jetzt musste man die Flammen von der Straße aus sehen. Das Feuer züngelte zwischen den brüchigen Dachziegeln hervor. Das knisternde Geräusch des brennenden Hauses und das laute Knacken der Balken in der Hitze lockte die letzten Zecher aus der gegenüberliegenden Kneipe. Das alte Haus war vollgestopft mit antiken Möbeln. Erinnerungsstücke und auf hölzerne Truhen verteilte, uralte Dokumente, die über die Geschichte des Dorfes und des Klosters hätten Auskunft geben können, wurden ein Raub der Flammen. Sie breiteten sich so schnell aus, dass diese unschätzbar wertvollen Zeugen der Geschichte unrettbar verloren waren. Die Hitze erreichte einen Grad, der die Balken des Dachstuhls wie Streichhölzer bersten ließ. Die inzwischen alarmierte Feuerwehr des Dorfes raste mit dem einzigen Löschfahrzeug zur Brandstelle. Die Feuerwehrleute konnten nichts mehr tun. Noch bevor die Schlauchleitung vom nahen Feuersee gelegt war, stürzte das Dach mit ohrenbetäubendem Krach in sich zusammen und begrub alles unter sich, was noch zu retten gewesen wäre. Mit Unmengen an Wasser versuchten die Feuerwehrmänner, das Feuer unter Kontrolle zu halten. Ohne die Unterstützung der Wehren aus den Nachbarorten wäre das Feuer auf die eng beieinanderstehenden, benachbarten Gebäude übergesprungen und hätte das halbe Dorf in Brand gesetzt. Man konnte das alte Bauernhaus nur noch kontrolliert abbrennen lassen. Es war nicht zu retten. Übrig blieb eine noch tagelang vor sich hinqualmende Ruine. Der spindeldürre Mann stand fassungslos vor den Trümmern seiner Existenz. Alles, was er und seine Familie jemals besessen hatten, war verbrannt oder vom Löschwasser zerstört. Uralte Dokumente, die einem seiner Vorfahren vor mehr als fünfhundert Jahren vom letzten Abt des Klosters anvertraut worden waren. Verbrannt! Für immer verloren! Was ihm blieb, war weniger wert als nichts. Gebäudebrandversicherung? Ja, das schon, weil es das Gesetz vorschrieb. Die gesetzliche Mindestsumme. Falls ein findiger Sachbearbeiter bei der Versicherung nicht grobe Fahrlässigkeit ins Spiel brachte. Wie wichtig ein Teil der Dokumente war, die ein Raub der Flammen geworden waren, konnte zu der Zeit niemand absehen. Außer dem spindeldürren Mann wusste niemand von ihnen. Für ihn persönlich waren sie nicht bedeutungslos. Für die Allgemeinheit umso mehr. Unschätzbar wertvolles Kulturgut, das nun für immer verloren war. Niemand wäre in der Lage, diese Dokumente zu rekonstruieren. Selbst dann nicht, wenn man irgendwelche Überreste gefunden hätte.
Kapitel 5
Anno Domini 1753Mühle im Tale des Herrenbachs, Klosteramt Adelberg, Wie seit vielen Jahren entleert er den schweren Sack aus grobem Rupfen mit Korn in den hölzernen Trichter. Darunter dreht sich der sogenannte Läufer über dem schweren Lagerstein. Zwischen diesen beiden kolossalen Steinen werden die Körner der Ernte zuerst gerollt und gequetscht, danach gebrochen und erst im äußersten Drittel des Mahlwerks zu grobem Mehl gemahlen. Im zweiten Mahlgang in der Feinmühle wird daraus das feine, weiße Mehl, das die Herren des Klosteramtes bevorzugen. Ganze Körner oder Spelzen wollen sie nicht in ihrem Mehl finden. Nur weißes Mehl aus den Ähren der ausgedehnten Kornfelder des Klosteramtes Adelberg, die von den Bürgern des Dorfes Hundsholz Jahr für Jahr im Frondienst geerntet werden. Das Jahr ist schlecht gewesen. Zu nass, zu wenig Sonne. Eine weitere Hungersnot zeichnet sich am Horizont ab. Vor allem die Kinder der Ärmsten im Dorf werden den Winter nicht überleben. Das von Anfang an Herrenmühle genannte Anwesen geht auf den fränkischen Adligen Volknand von Staufen zurück, der es als Mühle des Klosters errichtet hatte. Die Alten der Umgebung wissen jedoch zu berichten, dass es lange vorher schon eine Mühle gegeben hat. Ihre Geschichte beginnt mit der längst geschliffenen Ebersburg. Gelegen in einem Waldgebiet mit dem Namen ‘Schlössle’ zwischen der heutigen Mühle und dem Kloster. Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob es diese Mühle tatsächlich gegeben hat. Nichts ist davon übrig geblieben, was man heutigen Tages noch hätte finden können. Den Alten zufolge sollen diese beiden Bauwerke vor mehr als tausend Jahren errichtet worden sein. In einer Zeit, die im unbekannten Dunkel der Geschichte liegt. Der im sechzigsten Jahr seines Lebens stehende Müller hat die Mühle vor zwei Jahrzehnten von den Klosterherren käuflich erworben und mahlt seitdem nahezu ausschließlich für diese. Selten, dass ein Fremder sein Korn anliefert. Das garantiert ihm stetige Aufträge, beschert ihm aber auch eine mitunter unselige Abhängigkeit von den vornehmen Herren. Die Mühle, ein ausladendes Gebäude mit vielerlei Anbauten, steht seit Jahrhunderten am Ufer des friedlich dahinplätschernden Herrenbachs. Ihr hölzernes Gebälk ist moosüberwuchert. Das Mühlrad dreht sich langsam, aber stetig im Bachlauf. Am heutigen Tage sollte sich alles ändern. Schon vor Stunden haben sich dunkle, drohende Wolken aufgetürmt und kündigen ein heftiges Gewitter an. Die ersten Tropfen fallen. Werden mehr. Schließlich stürzt das Wasser wie ein Wasserfall vom Himmel. Der Bach schwillt rasch an. Hurtiger als es der Müller je zuvor erlebt hat. Der schmale Bachlauf wird binnen Minuten zu einem reißenden Strom, der ungehemmt über die Ufer tritt und droht, die Mühle zu verschlingen. Mit unvorstellbarer Wucht branden die Wassermassen gegen das uralte Gemäuer. Das gewaltige, mehr als ein Dutzend Ellen durchmessende, oberschlächtige Mühlrad dreht sich in den entfesselten Naturgewalten wie rasend. Den Schieber im Bachlauf zu schließen ist sinnlos geworden. Das Wasser sucht sich, seiner Natur entsprechend, einen eigenen Weg und schießt mit Urgewalt gegen die hölzernen Schaufeln. Schon lösen sich die ersten Verzapfungen der Balken. Das Mühlrad gerät in eine verheerende Unwucht. Ein ohrenbetäubendes Krachen. Das Rad bricht aus seiner Verankerung im Mauerwerk und zerbirst in Hunderte Einzelteile, die vom Wasser mitgerissen werden. Nichts kann die Fluten noch aufhalten. Längst hatte der Müller nach Hilfe geschickt, die dennoch zu spät kommen würde. Das Wasser schießt mit apokalyptischer Wucht gegen die alten Mauern, drückt sie zusammen und füllt den Innenraum bis an die Decke. Niemand unter dem Himmel des Allmächtigen hätte die Katastrophe abwenden können. Die Balken knarzen und ächzen unter der Last des Wasserdrucks. Schließlich halten die Mauern nicht mehr stand und brechen zusammen. Die Wassermassen reißen selbst kubikmetergroße Steine mit sich. Mit Tränen in den Augen stehen Michael Friz, der Müller, und seine Familie in sicherer Entfernung und müssen tatenlos zusehen, wie die Fluten ihr Lebenswerk, ihre einzige Einnahmequelle in wenigen Augenblicken vernichten. Es ist dem Bach zum Opfer gefallen, der sich als unberechenbarer Feind herausgestellt hat. Stunden später, als das Gewitter abgezogen ist und das Wasser langsam zurückweicht, ist von der einst stolzen Mühle nur eine Ruine übrig. Der Herrenbach plätschert friedlich an den Trümmern vorbei, als wäre nichts geschehen. Die Erinnerung an diesen unheilvollen Tag wird für immer in den Köpfen der Menschen bleiben. Der Müller ist verzweifelt. Nicht nur die Mühle, sondern auch viele wichtige Dokumente sind unwiederbringlich verloren. Seine Familie und er selbst versuchen, soviel als möglich zu retten, doch es ist zu spät. Er muss die Mühle in langer, mühsamer Arbeit und mithilfe der Dorfgemeinschaft wieder aufbauen. Erst nach Jahresfrist können wieder die ersten Säcke Korn gemahlen werden. In dem alten Gemäuer sind die uralten Dokumente aufbewahrt worden, die über die Geschichte der 㼀dort ansässigen Müller und über mancherlei Ereignisse im Dorf berichten. Der Müller ist den Menschen aus dem Dorf für immer zum Dank verpflichtet und schwört, vor den Klosterherren als Zeugen, einen heiligen Eid, dass er die Geschichte und die Tradition der Mühle im Herrenbachtal am Leben erhalten werde. Die alten Geschichten werden mündlich weitergegeben, auf dass sie niemals in Vergessenheit geraten. Dass sich unter den vernichteten Dokumente eines befand, das in ferner Zukunft von eminenter Bedeutung sein würde, kann niemand wissen. Es ist schon lange, bevor Michael Friz die Mühle erworben hat, in einem der Kellerräume scheinbar sicher verwahrt worden. Er weiß von diesem Dokument, der vormalige Besitzer hat es ihm zur Kenntnis gebracht. Wie es das Vermächtnis des letzten Abtes des Klosters Adelberg festlegt. Friz hat es nie in Händen gehalten. Wozu auch? Er ist, wie die meisten seiner Zeitgenossen, nicht des Lesens mächtig.
Kapitel 6
05. August 202314:00 Uhr, Anwesen Epple, Adelberg Rick lümmelte in seinem Relaxsessel herum und machte sich Gedanken über den alten Lämmle. Wer war der Mann? Sicher, er kannte ihn seit mehr als fünfzig Jahren. Die meisten Eltern hatten den Kerl als abschreckendes Beispiel für das bezeichnet, was der Alkohol aus einem Menschen machen kann. Lämmle war Zeit seines Lebens ein Trinker und Tunichtgut gewesen, der sich einen Dreck um andere Leute scherte. Früher, in den 1970er- und 1980er-Jahren, hatte er einen Teil seines umfangreichen Grundbesitzes an bauwillige Neubürger verkauft und damit sehr viel Geld erlöst. Die restlichen Äcker und Wiesen verpachtete er seit Jahren zu unverschämten Preisen an die Landwirte im Dorf, die kein oder nur wenig eigenes Land besaßen. Seine Baumwiesen hatte er behalten. Dort standen auf etlichen Hektar unzählige Birnbäume, die er Jahr für Jahr von Saisonarbeitern aus Polen und Rumänien abernten ließ. Niemand im Dorf konnte sich daran erinnern, dass Lämmle jemals einer geregelten Arbeit nachgegangen wäre. Auch wenn er den Eindruck eines viel beschäftigten Landwirts machte. Paul, ein ebenso heruntergekommenes Subjekt, hatte vor Jahrzehnten Lämmles Schwester geheiratet. Diese war kurz darauf unter bis heute ungeklärten Umständen verschwunden. Rick meinte, sich daran zu erinnern, dass es Mitte der 1980er-Jahre gewesen war. Trotz umfangreicher Suchmaßnahmen wurde Magdalena Scheuer, geborene Lämmle, weder tot noch lebend jemals gefunden. Sie war und blieb unauffindbar. Paul hatte damals kurz in U-Haft gesessen, weil der ermittelnde Staatsanwalt sicher war, beweisen zu können, dass Paul seine Ehefrau getötet und quasi entsorgt hatte. Er konnte es nicht zweifelsfrei beweisen und musste den Kerl wieder auf freien Fuß setzen. Seitdem hatten Lämmle und sein Schwager nichts Besseres zu tun, als die vielen Hundert Liter Most aus Lämmles Birnbäumen und den Schnaps, den sie aus dem Trester brannten, zu vernichten. Seit mehr als vierzig Jahren waren die beiden an keinem einzigen Tag ganz nüchtern gewesen. Pauls Geschichten, die er im Ochsen oder einer der anderen Dorfwirtschaften zum Besten gab, waren ebenso legendär wie erfunden und sorgten regelmäßig für donnerndes Gelächter. Jeder im Dorf kannte ihn, niemand nahm in wirklich ernst. Rick fragte sich, was den alten Lämmle dazu veranlasst haben mochte, ihn um Hilfe zu bitten.Belassen wir es dabei, dachte er resigniert, wenn an seiner Geschichte irgendetwas dran ist, wird er wiederkommen.
Kapitel 7
07. August 202309:00 Uhr, Anwesen Epple, Adelberg Kurz nachdem Rick an diesem Morgen aufgestanden war und sich unter der Dusche erfrischt hatte, trat er auf die Terrasse und atmete tief durch. Es würde wieder ein herrlicher Tag werden. Heiß, wie gewöhnlich im August, aber die fast immer wehende, leichte Brise aus dem Tal würde die Hitze erträglich machen. Andrea und Klemens waren schon vor Stunden aufgebrochen. Sie wollten eine Bekannte Andreas besuchen. Rick hatte vergessen, wohin die beiden fuhren. Mannheim oder Heidelberg möglicherweise. Jedenfalls glaubte er, dass Klemens etwas in der Art erwähnt hatte. Ein weiterer Tag lag vor ihm. Den er, wie viele andere zuvor, mit Müßiggang verbringen würde. Belle hatte es längst aufgegeben, ihn für andere Hobbys als seine Corvette und seine Kamera begeistern zu wollen. Immerhin etwas, hatte sie gemeint. Ihm selbst war bisher keine Idee gekommen, was er sonst unternehmen könnte. Annabelle behauptete beharrlich, dass er fast verbissen auf einen neuen Fall warte. Rick würde es niemals zugeben, aber eigentlich hatte sie recht. Er konnte es kaum erwarten, dass Lämmle wieder auftauchte. Dass der alte Mann das tun würde, sagte ihm sein Bauchgefühl. Auf das hatte er sich bisher immer verlassen können. Was mochte der alte Miesepeter für ein Problem haben, bei dem angeblich nur er, Rick Epple, ihm helfen konnte? Ging es um seine vor Jahrzehnten spurlos verschwundene Schwester, die nie wieder aufgetaucht war? Hatte er nach all den Jahren doch noch eine Spur gefunden?Nein, entschied er in Gedanken, wenn es darum ginge, wäre er vor zwei Tagen alleine gekommen und nicht in Begleitung seines Schwagers. Immerhin war Paul damals der Hauptverdächtige in diesem mysteriösen Fall gewesen.Was mochte es dann sein? Was könnte Lämmle von ihm wollen? »Belle«, rief er ins Haus, »kannst du dir vorstellen, was der alte Lämmle von mir will?« Annabelle streckte ihren handtuchbewehrten Kopf aus dem Wohnzimmerfenster. »Wer sagt, dass der alte Suffkopf etwas von dir will? Davon weiß ich nichts!« »Jetzt mach’ mal halblang, meine Liebe«, brummte er, »ich habe dir doch erzählt, dass Lämmle am Samstag in aller Herrgottsfrühe hier aufgetaucht ist und ein Mordsgeheimnis daraus gemacht hat, was er von mir will. Nicht einmal Klemens durfte hören, was er mir sagen wollte. Ich habe ihn weggeschickt. Wenn er etwas von mir will, kann Klem das auch hören.« Er schrak zusammen, als ihm plötzlich jemand die Arme von hinten um den Hals schlang. Offenbar war er so tief Gedanken versunken gewesen, dass er Belle nicht bemerkt hatte. »Das musst du geträumt haben. Du hast nur erwähnt, dass der Kerl unten am Tor gewesen ist. Ob und was er gesagt hat, weiß ich nicht. Es kann nichts Wichtiges gewesen sein, sonst hättest du es mir erzählt. Das holst jetzt bitte nach. Ich will wissen, woran du schon wieder herumknabberst.« Rick bestand darauf, ihr alles erzählt zu haben. Konnte aber nicht völlig ausschließen, dass er es mal wieder vergessen hatte. Das Problem mit seiner Vergesslichkeit hatte sich in den letzten Monaten nicht, wie erhofft, in Luft aufgelöst. »Ich habe es dir bereits erzählt«, brummelte er, »aber wenn du es vergessen hast, eben noch mal.« Er begann damit, dass Lämmle geklagt hatte, dass es mehrere Einbrüche im Dorf gegeben habe. Immer in den ältesten Häusern des Dorfes. »Auch davon weiß ich nichts«, unterbrach sie ihn etwas unwirsch, »vielleicht hat der Kerl seinen Verstand inzwischen komplett versoffen. Wenn im Dorf solche Verbrechen verübt worden wären, hätten wir bestimmt davon gehört. Meinst du nicht auch?« »Keine Ahnung«, knurrte er, »wann kommen wir denn schon ins Dorf? Und wenn, dann sicher nicht zum alten Lämmle. Was sollten wir auch dort?« Er erzählte weiter, dass Lämmle gedroht habe, die Sache selbst in die Hand nehmen zu wollen. Was immer er damit gemeint hatte. Falls er, Rick, nichts dagegen unternähme. Schließlich habe er auch die Morde aufgeklärt. Es würde gewaltig knallen. Was dann von den Tätern noch übrig bliebe, wolle niemand wissen. »Belle«, sagte Rick fahrig, »ich befürchte, dass der alte Trottel irgendeinen Blödsinn macht. Du weißt, dass jeder der Bauern ein Gewehr oder eine Flinte besitzt. Er wollte Klemens nicht dabeihaben, weil es um irgendetwas geht, dass nicht für seine Ohren bestimmt ist. Vielleicht, weil Klem ehemaliger Polizist ist und keiner der Bauern einen Waffenschein für die alten Schiessprügel besitzt. Ich dagegen sei ein Dörfler und würde dazugehören. Mir könne er es sagen. Nur mir.« Er stand auf und dehnte seine Muskeln. »Belle«, setzte er seine Erklärung fort, »du weißt, dass er nicht gerade mein Freund ist. Aber er gehört nun mal zur Dorfgemeinschaft. Ich ... ich ... muss zumindest hören, was er zu sagen hat.« Belle warnte ihn eindringlich davor, sich in irgendwelche alten Geschichten hineinmanövrieren zu lassen. Dabei könne er nur verlieren. »Rick, wenn er irgendetwas zu sagen hat, soll er es tun. Wenn er nicht will, dann eben nicht. Solange er nur Andeutungen macht, ignorierst du ihn bitte. Versprich’ mir das!« »Ja, es müssen wirklich alte Geschichten sein«, erwiderte er nachdenklich ohne darauf einzugehen, dass Belle ein Versprechen von ihm erwartete. »Falls an seiner Story etwas dran ist. Angeblich geht es um eine alte Legende, die seit vielen Jahren von Generation zu Generation weitergegeben wird. Immer nur an den ältesten Sohn der jeweiligen Familie. Lämmle hat keine Nachkommen. Vielleicht ist er deshalb auf mich gekommen. Es sei ein ungeschriebenes Gesetz, dass Fremde nichts davon erfahren dürfen. Fremd seien alle, die nicht im Dorf geboren sind oder zumindest seit Jahrzehnten hier wohnen.« Er betonte, dem alten Mann klar gemacht zu haben, dass Klemens dazugehöre und alles hören dürfe, was er selbst zu hören bekomme. Danach habe Lämmle mit seinem Schwager eine Zeit lang getuschelt und schließlich seien sie beide gegangen. Ziemlich wütend. »Ach ja«, ergänzte er, »er hat noch gesagt, dass er nicht allein entscheiden kann, wer von dieser seltsamen Geschichte erfahren darf. Ich glaube, es handelt sich um die Familien, die er erwähnt hat, die darüber entscheiden. Falls diese ... Abstimmung so ausgeht, wie Lämmle erwartet, wird er wieder herkommen.« »Na schön«, Belle lenkte ein. Es war nicht zu übersehen, dass ihr Göttergatte längst im Phillip-Marlowe-Modus war. »Was haben wir? Immer unter der Annahme, dass Lämmle nicht komplett übergeschnappt ist. Er will dir etwas mitteilen. Ein Geheimnis, das über Generationen weitergegeben wurde und jetzt dazu geführt hat, dass mehrere Einbrüche verübt worden sind.« Belle sinnierte laut vor sich hin. Sie war sicher, die Tatsache, dass nur in den ältesten Häusern des Dorfes eingebrochen worden sei, belege, dass die Täter etwas Bestimmtes gesucht hatten. Irgendetwas, von dem sie annahmen, dass es nur in den alten Anwesen verborgen sein konnte. »Lämmle redet von vielen Generationen. Also ein Ereignis, das sich vor mehreren Hundert Jahren zugetragen hat. Was fällt dir, dem Dörfler, dem Einheimischen, dazu ein? Was kann in diesem Dorf vorgefallen sein, das einen Mann wie Lämmle, der schon vieles gesehen hat, derart in Rage bringt?« Rick überlegte fieberhaft. Ohne Ergebnis. Zunächst. Dann begann er, seine Gedanken in Worte zu fassen. »Ich bezweifle, dass Lämmle wütend ist. Ich glaube eher, dass er Angst hat. Mein erster Gedanke war, dass es mit dem Dritten Reich zu tun hat. In dieser unseligen Zeit sind in vielen Dörfern unsägliche Dinge passiert. Nach allem, was im Dorf bekannt ist, gab es in Adelberg nur einen, der den Nazi-Bonzen in Berlin nachgerannt ist. Der damalige Ortsgruppenleiter der NSDAP, Hans Scheuerle.« Rick erzählte, dass Scheuerle Anfang 1945, als die alliierten Truppen hier durch gekommen seien, verhaftet und weggebracht worden sei. Niemand im Dorf wisse bis heute, was aus ihm geworden war oder wo man ihn hingebracht hatte. Man habe nie wieder etwas von ihm gehört. »Das sind aber höchstens zwei Generationen, drei, wenn man die Jüngsten mitrechnet. Eher unwahrscheinlich. Lämmle ist mit Abstand der älteste Dorfbewohner. Selbst wenn er vor Jahrzehnten ein Anhänger der Nazipartei gewesen sein sollte ... vor wem aus dieser Zeit kann er noch Angst haben? Außer ihm ist keiner mehr da, der ihm Probleme machen könnte.« Annabelle ließ ihn reden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Dorf ein derartiges Geheimnis so eisern bewahren konnte, dass es über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Und das nur an einige wenige Eingeweihte. Irgendjemand wäre aus der Reihe ausgeschert und hätte darüber geredet.Sicher, überlegte sie, es hat überall Leute gegeben, die vom Endsieg überzeugt waren. Leute, die den Nazis bis zum Schluss folgten. Und darüber hinaus. Aber was meint Lämmle, wenn er von vielen Generationen spricht? Bringt er möglicherweise etwas durcheinander? Ist er doch nicht mehr ganz bei Verstand? Sein exzessiver Alkoholmissbrauch könnte das erklären. Oder steckt wirklich etwas Handfestes dahinter? »Natürlich«, platzte Rick überraschend heraus und unterbrach Annabelles Überlegungen, »das ist es! Es kann nur das sein!«
Kapitel 8
05. August 202301:00 Uhr, alte Ortsmitte, Adelberg Leise summend rollte der mattschwarze Tesla durch die wie ausgestorben wirkenden Straßen des Dorfes. Vorbei an einem alten, fast zerfallenen Haus, das das Ziel des Fahrers war. Die grellen LED-Scheinwerfer hatte er lange vorher ausgeschaltet. Zu hell für diese ruhige Gegend mitten im Dorf, wo die Menschen mit einer ausgeprägten Neugier gesegnet waren. Die Tagfahrlichter waren hell genug, um ausreichend sehen zu können. Das einzige Geräusch war das kaum hörbare Knirschen der breiten Reifen auf dem abgenutzten Asphalt der Dorfstraße. Vor der Hausruine standen mehrere rot-weiße Warnschilder, die allzu neugierige Passanten davor warnten, dem Haus zu nahe zu kommen. Der Eigentümer, falls es einen gab, befürchtete anscheinend, dass herabfallende Dachziegel oder Teile der Mauern jemanden verletzen könnten. Dass er sich mit einfachen Schildern nicht aus der Verantwortung stehlen konnte, sollte er wissen. Das ließ eher darauf schließen, dass das Gebäude der Gemeinde gehörte, die sich stur nach den Vorschriften richtete. Dreihundert Meter weiter wurde der Tesla in einem Neubaugebiet mit großen Anwesen abgestellt. Hier fiel ein teurer Wagen der Oberklasse nicht weiter auf. Ein Schatten schälte sich aus dem Wagen und verschmolz mit der Dunkelheit. Er näherte sich, nach allen Seiten sichernd, dem verlassenen Haus. Keine Taschenlampe. Das bleiche Licht der Mondsichel spendete ausreichend Helligkeit. Die baufällige Haustür war flankiert von zwei Kastanienbäumen mit weit ausladenden Kronen. Vermutlich bewahrten die dicken Äste das Haus vor dem endgültigen Einsturz. Eine leichte Brise ließ die Blätter leise säuseln. Der Schrei eines Käuzchens störte die Ruhe. Die Alten wussten zu berichten, dass irgendwo jemand gestorben war, wenn man diesen Vogel in der Nacht schreien hörte. Irgendwo kläffte ein Hund müde und lustlos vor sich hin. Keine Menschenseele auf der Straße. Die letzten Nachtschwärmer, falls es in diesem verschlafenen Dorf solche geben sollte, hatten sich längst in Morpheus’ Arme zurückgezogen und schliefen den Schlaf der Gerechten. Oder den der Ungerechten. Konnte man es wissen? Nur noch wenige Stunden, dann mussten auch sie wieder ihrer Arbeit nachgehen. Nach Mitternacht. Die ideale Zeit für das Vorhaben des Schattens. Er schlich leise an die Hintertür, die eigentlich die Seitentür war und prüfte vorsichtig, ob sie verschlossen war. Das Holz der Tür hatte sich durch die Feuchtigkeit verzogen und klemmte im Rahmen. Sanft drückte er mit der Schulter dagegen. Nein! So nicht! Die geringste Bewegung verursachte ein Knirschen und Knarzen, das in der stillen Umgebung sicher meterweit zu hören war. Also doch die Vordertür! Gedeckt durch die beiden Bäume bewegte sich der Schatten zur Vorderseite des Hauses. Er drückte vorsichtig die Klinke nach unten. Verschlossen! Ein kleines Mäppchen wanderte aus der Hosentasche in seine Hand. Er wählte zielsicher einen der Sperrhaken aus und führte ihn in das altertümliche Bartschloss ein. Vorsichtiges Tasten mit dem Werkzeug. Er spürte den Widerstand und drehte den Passepartout nach rechts. Mehr Kraft. Das Schloss war völlig verrostet. Aus der anderen Hosentasche kramte er eine Flasche mit Kriechöl heraus und sprühte 㼀in das Schloss. Zwei Minuten warten! Eine beherzte Drehbewegung. Jetzt! Mit einem leisen Knirschen öffnete sich die Zuhaltungen. Lautlos glitt er ins Innere. Sofort stieg ihm der typisch modrige Geruch nach Verfall, nach Alter in die Nase. Eine winzige Bleistiftlampe holte die wenigen Einrichtungsgegenstände aus der Dunkelheit. Staub lag fingerdick auf den uralten Möbeln. Etwas aufbereitet würden diese auf jedem Antikmarkt ansehnliche Preise erzielen. Der Schatten machte sich nicht die Mühe, die klobigen Schränke zu durchsuchen. Außer Staub und Dreck würde er dort nichts finden. Auf einer bestimmt hundert Jahre alten Kommode stand eine kunstvoll geschwungene Schale aus Zinn oder Messing. Darin lagen drei Ringe mit protzigen Steinen. Imitate! Das war ihm sofort klar. Niemand würde echte Steine dieser Größe einfach herumliegen lassen. Selbst wenn er auf schnöden Mammon aus gewesen wäre, diese Ringe waren nicht sein Ziel.