Im Schatten des Wolfes - H.E. Otys - E-Book

Im Schatten des Wolfes E-Book

H.E. Otys

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Beschreibung

Robyn, Tochter des angelsächsischen Gelehrten Ath of Abingdon, wird während einer Reise mit ihrem Vater von Nordmännern entführt. Doch das Schiff der Peiniger gerät in einen Sturm und sinkt. Wulf Eilafson, Ziehsohn des König eines abgespaltenen kleinen Reiches im Nordland, kehrt nach 15 Jahren aus den Diensten des Kaisers von Byzanz in sein Heimatland zurück. Zwietracht beherrscht das geteilte Königreich, welches Wulf jedoch nicht aufgeben will. Sein Ziel: ein vereintes Königreich. Robyn, die von Wulf gerettet und mit ihm zwangsverheiratet wird, bemerkt eine seltsame Verbundenheit zum Land der Nordmänner. Durch eine Verschleppung des rivalisierenden Wiglif, dem wahren Herrscher des Landes, kehren Robyns Erinnerungen an ihre Kindheit zurück: Sie ist die Tochter und somit einzige Erbin von Wiglif. Von nun an wird sie von allen Herrschern, die das Königreich für sich beanspruchen, gejagt. Können sich Robyn und Wulf in Sicherheit bringen? Wird sich ihr Schicksal erfüllen und das Königreich vereinigt? Im Schatten des Wolfes verbindet historische Begebenheiten mit fiktiven und realen Charakteren und erschafft so ein Lesevergnügen für alle, die gerne in historische Welten eintauchen und sich verzaubern lassen.

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H. E. OTYS

IM SCHATTEN DES WOLFES

EDITION ROTER DRACHE

1. Auflage Oktober 2018

Copyright © 2017 by Edition Roter Drache.

Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Titel- und Umschlagbild: Holger Much

Buch- und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel

Lektorat: Isa Theobald

Korrektorat: Sabrina Schmidt

Kapitelbild: H. E. Otys

Schmutzseitebild: Sabrina Schmidt

Gesamtherstellung: Wonka Druck, Deutschland

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-964260-46-8

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Teil 2

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Teil 3

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Teil 4

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Teil 5

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Teil 6

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Teil 7

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Teil 8

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

1.

Das Leben ist eine Reise, eine nicht enden wollende Reise, unerschöpflich, unergründlich, unvorhersehbar.

Robyn stand an der Reling, blickte hinab in die schwarzen Fluten. Wenn sie sprang, wohin würde sie die Reise führen? Wie konnte sie wissen, ob dies die richtige Entscheidung war? Ein Sprung nur, ein Satz und ihr Leben wäre anders. Vielleicht beendete sie es. Vielleicht. Vielleicht würde Gott sie zu einem lichten Ort führen, besser als die dunkle, grausame Welt, in der sie seelisch tief verwundet dahinsiechte.

Sie wartete den nächsten vernichtenden Windstoß ab, entledigte sich ihres Umhanges, er würde sie im Wasser nur behindern. Niemand beachtete Robyn, als sie über die Reling kletterte und ihre Entscheidung traf. Ein Sprung nur.

Sie zögerte für einen kurzen Augenblick, dann holte sie Luft und sprang. Die Schwerelosigkeit berauschte sie, ließ sie für diesen Moment vergessen, dass sie sich vielleicht umbrachte. Alles war besser als das, was sie zurückließ. Sie würde nicht mit dem Schiff an den Felsen zerschellen. Sie wollte Gott zumindest entgegenschwimmen.

Der Aufprall lähmte sie kurzzeitig, noch ehe sie jedoch Kälte und Schock spüren konnte, explodierte ihr Kopf vor Schmerz. Hysterisch ruderte sie mit den Armen und stieß wieder an die Oberfläche. Wimmernd sog sie die Luft ein. Dann spürte sie die Kälte mit einem Mal, wie eine Eisenhand umschloss sie sie, erdrückte sie. Ihr Wimmern versiegte. Jener eiserne Griff schien ihr die Luft abzuschnüren, Panik ergriff sie das erste Mal seit langer Zeit, weckte sie und ließ sie sich umwenden.

Es war keine Sekunde zu spät. Sie ruderte plötzlich mit den Armen, um dem sich windenden Schiff zu entfliehen. Die wogende, sich dem Sturm beugende See spielte ihr Spiel mit dem verlorenen Schiff, verwandelte es in eine Waffe, die Robyn erschlagen konnte.

Dann schwenkte das Schiff ab. Eine Woge schien es zu holen, um das Spiel endgültig zu beschließen. Robyn schwamm. Ihr Atem ging schwer. Die Wellen zeigten zuweilen Erbarmen, zogen sie fort von dem Schiff, hinaus, weit hinaus in die Dunkelheit, während das Schiff zerschellte. Sie hörte nur das Rauschen der See. Sie wusste, sie war jetzt allein, war wieder Herr über sich selbst. Einige Stunden vielleicht, bevor sie ertrank. Aber sie würde frei sterben, niemandes Sklavin oder Gefangene, niemandes Eigentum.

2.

Seine Rückkehr stand unter keinem guten Stern. Wulf beobachtete die noch immer unruhige See, die nun in der Sonne gleißte. Der Sturm hatte sie weit vom Kurs abgebracht. Sie hatten mindestens einen halben Tag verloren.

In der Sonne schimmerte das Wasser einladend, die Wellen schienen ihre Arme auszubreiten, verbreiteten kühlen, klaren Geruch, nachdem der Sturm über sie hinweggefegt war. Wulf atmete tief ein und ließ sich berauschen. Er hatte zu lange ohne all das auskommen müssen. Jetzt endlich kehrte er heim und war seiner Pflicht entlassen, einem fremden Herrn zu dienen. Nur aus Ehrerbietung seinem Vater gegenüber hatte er jene Pflicht erfüllt.

Ungeduld war ihm fremd, trotzdem beäugte er den Stand der Sonne, rechnete, wie lange sie brauchen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Zwei Tage, wenn nichts dazwischenkam. Die Reise bis hierhin hatte ihn schon mehr Zeit gekostet, als er beabsichtigt hatte. Basileios, gerechter, aber unnachgiebiger Kaiser von Byzanz, hatte bis zuletzt Entschuldigungen gefunden, um die Fähigsten unter seiner Leibgarde am Weggehen zu hindern. Aber ihr Eid war nach fünfzehn Jahren erloschen. Die Abmachung zwischen ihm und seinem Vater hatte ihr Ende gefunden. Mehr als sein halbes Leben hatte Wulf dem Kaiser gedient. Nur für einige Zeit war er heimgekehrt, um seinen ältesten Bruder sterben zu sehen, um ihn zu bestatten, um zu sehen wie der Jähzorn seines Vaters wuchs. Er hatte versucht, seine anderen beiden Brüder zu erinnern, dass ihr Vater den Zwist im Volk nur noch verstärkte, dass sie dagegen steuern mussten, um das Schlimmste zu verhindern. Aber seine Brüder waren dem Vater nicht gewachsen.

Seine Heimkehr wurde davon überschattet. Wulf blickte über das Deck und sah in die Gesichter jener Männer, die mit ihm gedient hatten. Sie kehrten zu ihren Familien zurück. Familien, die unter der Zwietracht zu leiden hatten, der Uneinigkeit, der Unentschlossenheit, wie es weitergehen würde. Die Zukunft schien unberechenbar. Er kannte sie gut, wusste um ihre Sorgen und teilte sie. Sie waren ein zerworfenes Volk, deren Führer uneinsichtig blieben.

Wulf atmete mit leicht geöffnetem Mund leise aus und sah kurz zu Boden. Wie konnte ein solches Volk einem Mann wie Olaf Tryggvason trotzen? Ihm mit Selbstvertrauen entgegentreten, um zumindest eine gewisse Unabhängigkeit zu behalten und ein eigenständiges Königreich zu bleiben? Sie würden es nicht mehr lange können. Vasallen waren sie seit vielen Jahren, seit dem Tage, da Olaf sich zum König über ganz Norwegen ausgerufen hatte. Er erdrückte sie mit einem neuen Glauben, gleich wenn er seinen Vasallen Zugeständnisse machte und sie in gewissem Maße selbstbestimmen ließ.

Er schloss kurz die Augen. Es bekümmerte ihn, sein Volk so zu sehen, aber was konnte er schon tun? Es lag nicht in seiner Macht. Jene einzige Hoffnung blieb verschollen bis in alle Ewigkeit. Dafür hatte sein eigener Vater gesorgt. Gut gesorgt. Wulf wünschte ihn in diesen Sekunden in die tiefsten Abgründe Ginnungagaps. Diese Schuld würde nie gesühnt werden.

Eine einzelne Planke stieß in Wulfs Nähe an die Seite ihres Schiffes. Er sah auf, zog die Augenbrauen zusammen. Die Planke war an den Enden zerfetzt. Fast ruckartig hob er den Blick höher, streifte damit über die See, erkannte weitere Wrackteile zu seiner Rechten.

Egill, der zur Wache eingeteilt gewesen war, kam mäßigen Schrittes an der Reling entlang.

»Ich denke, da gibt es wenig Hoffnung, Überlebende zu finden«, stellte er fest. »Weiter südwestlich könnten sie am Riff zerschellt sein, wenn ihnen der Wind den Weg zum offenen Meer verwehrte.«

Wulf hatte nicht aufgesehen, aber Egill wusste, dass er stets aufmerksam zuhörte. Sein Kommandant, und das würde er für ihn immer sein, hatte nicht umsonst den Respekt seiner Männer, der Leibgarde des Kaisers. Jene Fertigkeiten, einen Mann zu schützen und ihm Sicherheit zu bieten, hatte Egill von Wulf gelernt, aber nicht allein das. Mehr noch. Egill erkannte durch ihn eine noch größere Aufgabe für sein eigenes Volk. Sicherheit und die daraus entstehende Zufriedenheit hatten Egill und die anderen Wächter bewogen an ihre Heimat zu denken und an das, was sie erwartete: ein Volk seit fünfzehn langen Jahren in Unfrieden. Wulf hatte sie vorbereitet. Es gab kein Zurück zu ihrer alten Sicherheit, nur das Wissen, das es eine solche in der Heimat schon lange nicht mehr gab.

»Eines unserer eigenen Schiffe«, stellte Wulf nach einer Weile nicht minder sachlich fest.

»Aus unserem Dorf?«, wollte Egill wissen.

»Nein«, Wulf erkannte die Planken. »aus dem Westdorf.«

»Dann ist es nicht unsere Sorge«, entgegnete Egill missbilligend.

Wulf richtete sich auf, maß Egill einen Moment lang und sah zurück aufs Meer.

»Niemand wird je ändern, wie wir fühlen«, sagte Egill dann.

»Ihr belügt euch doch nur selbst.« Wulfs Worte waren ruhig gesprochen und verbargen den Zorn dahinter. Er wollte es nicht wie einen Vorwurf klingen lassen, denn dazu bedeuteten ihm seine Männer zu viel. »Dieses Schiff wurde von Männern des Westdorfes, des Süddorfes und unseres Dorfes gebaut. Zumindest diese Männer führen keinen Krieg untereinander, arbeiten gemeinsam, erzählen von ihren Familien, lassen den ewigen Streit nicht ihr Urteilsvermögen trüben.« Wulf wandte ihm wiederum den Blick zu. »Wir haben noch nicht vergessen, dass wir alle einmal zu einem Königreich gehörten; einmal ein Königreich waren.«

Egill bemerkte die Betonung des Wortes wir nur allzu gut. Wulf war Schiffsbauer. Seit er ein Junge war, hatte er das Handwerk bei jenen Männern gelernt. Wann immer er einige Monate zu Hause gewesen war, hatte er bei ihnen gearbeitet, ihre Kunst erlernt, die eigentlich nur von Vater zu Sohn weitergegeben wurde. Doch Wulfs väterlichem Freund, Arnulf, war es gestattet worden, Wulf auszubilden. Er gehörte mit jeder Faser zu dieser Gemeinschaft, die sich über den jahrelang schwelenden Streit erhoben und aus Mitgliedern aller drei verfehdeten Dörfer bestanden. Ein Dorn im Auge jener zwei Könige, die einander hassten und ein ganzes Königreich damit ins Unglück gestürzt hatten.

»Du solltest solche Gedanken in Gegenwart deines Vaters und einiger anderer schweigen lassen.« warnte Egill ihn. Obgleich viele aus allen drei Dörfern Wulfs Meinung teilten. »Wir werden nie stark genug sein, um jene zu fordern, die unser Volk in dieses Unglück stürzten. Angst herrscht und zu wenige haben Mut wie du.«

»Ich weiß, Egill.« Wulf bedauerte die Entmutigung seines Freundes und hasste seine eigene zuweilen aufflammende Gleichgültigkeit. »Aber warum - warum kehren wir dann zurück?«

»Meine Frau und meine Kinder brauchen mich, Wulf. Ich will nicht, dass sie dieses Leben allein führen müssen.«

»Ein Leben führen müssen«, lachte Wulf bitter auf. »Ja, wie Recht du doch hast.«

Wie so oft in all den Jahren wusste Egill keine Antwort darauf und sie schwiegen. Sie hingen mit ihren Gedanken an der Heimat und ließen dabei die eines Nordmannes unwürdige Schwermut zu. Beide wussten, dass der andere genauso dachte.

3.

Einige Stunden vergingen, in denen noch weitere Wrackteile an ihr Schiff stießen. Sie entdeckten ein paar Kleidungsstücke, aber keine Ertrunkenen. Irgendwann war das gesunkene Schiff nur noch eine Erinnerung und Egill nutzte die Gelegenheit auf dem letzten Rundgang vor seiner Ablösung, bei Wulf zu halten. Dieser hatte sich die Zeit genommen, um nach seinen Männern zu sehen. Zwei hatten sich während des Sturmes Prellungen zugezogen, einem war der Arm gebrochen, als er in der Mitte des Schiffes in den Laderaum gestürzt war. Man hatte sie gut versorgt. Sie ruhten auf Deck, eingehüllt in ihre Mäntel, dem kühler gewordenen Nordwind abgewandt.

»Es sollten ein paar Gliedmaßen weniger brechen nächste Nacht«, scherzte Egill leichthin mit Blick auf die nun ruhige See und die untergehende Sonne, die nur noch wenig Wärme schenkte, jedoch wie siedendes Gold ins Wasser tauchte.

»Es hätten weniger sterben sollen letzte Nacht.« Wulf konnte darüber nicht lachen. Er sah es Egill nach, doch er dachte auch an die Männer, die in der Nacht ertrunken oder mit dem Schiff zerschellt waren.

Wulf schärfte den Blick etwas, als er in der Ferne einen Punkt ausmachte. Es war ein heller Punkt, als schwämme ein Wassergeist in der Gold triefenden See. Die Strömung, der sie seit dem späten Morgen folgten, brachte sie dem Wassergeist näher. Egill und einige andere an der Reling entdeckten ihn wenig später auch.

»Es hätten weniger sterben sollen«, wiederholte Wulf seine Worte, als sie die Konturen eines leblosen Körpers erkannten.

»Nun doch eine Leiche, die wir bestatten müssen«, murrte Egill.

Als der Körper näher an sie heran getrieben wurde, glaubte Wulf wiederum, dass die Geister ein Spiel mit ihnen trieben. Eine Frau.

»Eine Sklavin«, stieß Egill wütend hervor, »und du bedauerst sie noch. Die Fische sollen ihre Körper zerfressen, damit man ihnen in Walhalla den Einlass verwehrt.«

Wulf widerte der Gedanke an, dass das Westdorf noch immer mit Sklaven handelte. Vor allem mit Frauen, da es unter ihnen nicht genug gab. Die rauen Sitten dort, obwohl der rechtmäßige König über sie herrschte, führten zu Widerstand bei den Frauen und viele ergriffen die Flucht. Nur wenige Kinder wurden geboren, und, als sei es ein Omen, vor allem Jungen. Seit Jahren sprach man hinter vorgehaltener Hand von einem Fluch. Und seit langer Zeit wurden die Wälder im Westen von den Frauen der anderen Dörfer gemieden, da sie dort Freiwild waren. Sie wollten nicht ins Westdorf entführt werden, wo man sie schwängern würde, um sie an einer Rückkehr zu hindern.

Die tote Wassernixe trieb nahe genug, um sie aus dem nassen Grab zu holen. Egill deutete einer weiteren Wache, ein Seil zu bringen. Wulf wollte es herablassen, sah hinab auf das weiße Gesicht der Toten, als sie unvermittelt die Augen aufschlug.

Robyns Aufschrei ließ die Männer an Deck einen Moment zögern. Noch im Schreien schob sich Robyn von der schmalen Planke, auf der sie stundenlang getrieben war, gehofft hatte, Gott möge sie holen. Ihre Beine gehorchten ihr nur noch unter Aufbringung all ihrer Kräfte, sie waren taub gefroren im eisigen Wasser. Doch sie schwamm, halb unter Wasser, nach Luft ringend, nur um den Nordmännern zu entkommen. Sie ruderte halb wahnsinnig, verlor für einige Augenblicke nahezu die Besinnung, sah sich plötzlich als Kind, es war heiß, unendlich heiß ...

Sie hatten das Mädchen im Morgengrauen geraubt. Es war ihnen ein Leichtes. Sie hatten genau gewusst, wann die Kleine aus dem Zelt treten würde, um die Fohlen der Sarazenenpferde zu streicheln, so wie sie es jeden Tag tat. Sie hatte sie nicht einmal kommen hören, geschweige denn erkannt.

Ihre Anordnungen, was aus ihr werden sollte, ließen keine Zweifel zu. Drei Tage hindurch ritten sie durch die karge Steinwüste, jagten ihre Tiere bis zur Erschöpfung in einen entlegenen Winkel des Byzantinischen Reiches.

Das Mädchen weinte still, wehrte sich aber nicht. Sie verstand nicht; vier Jahre waren zuwenig, um die Tragweite dessen zu erfassen, was die Männer im Begriff waren zu tun. Alles, was sie sah, waren Felsformationen, heißer kalkweißer, zuweilen blassgelber Sand und die unerbittliche Sonne. Die Männer sprachen nicht mit ihr, nicht untereinander. Nur manchmal rasteten sie, dann hetzten sie wieder Stunde um Stunde.

Wo war ihr Vater? Warum ließ er dies mit ihr geschehen? Sie meinte ihn zu vermissen, aber war sich nicht sicher. Zu streng, zu kühl war er ihr gegenüber. Auch das verstand sie nicht. Vielleicht hatte er den Männern geheißen, sie fortzubringen.

Ihre helle unbedeckte Haut war verbrannt, sie wollte weinen, aber irgendwann waren die Tränen versiegt. Ihre Kehle kratzte, sie fühlte ihre Augen zuklappen, ein Reflex, alles drehte sich. Ein Ruck ging durch den Pferdekörper.

Sie ließen sie auf den harten Steinboden fallen. Es schien ihnen die geeignete Stelle, um sich von ihr zu trennen. Es war ihnen strengstens untersagt worden, Hand an sie zu legen. Sie würden sie ihrem Schicksal überlassen, einem unentrinnbaren Schicksal, aber sie selbst durften es nicht wagen, ihr Leben zu nehmen.

Nach all der Zeit schluchzte sie laut vernehmbar in der Ödnis aus Stein und Felsen und zeigte endlich eine Regung. Ihre Knie und Ellenbogen bluteten durch den Aufschlag. Ihr zuckender Körper lag zusammengekrümmt auf dem heißen Boden.

Erstaunt blickte sie dann auf, blinzelte in die Sonne, als die drei Männer von ihren Pferden stiegen. Sie sanken vor ihr auf ein Knie, neigten ihre Köpfe und eine Stimme rauschte an ihr vorüber, sprach Worte ihrer Zunge, die ihr aber fremd blieben.

»Mögen die Götter uns verzeihen, kleine Prinzessin.«

Sie schluchzte weiter, als sie längst fort waren. Schluchzte in der Glut des sterbenden Tages, schluchzte in der eiskalten Dunkelheit, tat es noch, als sich Schritte näherten ...

Robyn atmete schwer, als sie es schaffte, erneut die Oberfläche zu durchstoßen. Sie trat das Wasser mit all ihrer Macht, tat einen langen Luftzug, da sie nicht verhindern konnte, dass sie wiederum absank. Einige Züge kämpfte sie sich unter Wasser hindurch, weg vom Schiff, weg von den Sklaventreibern, weg von Gefangennahme, von Gewalt, Schmerz, Verdammnis.

Als sie das nächste Mal auftauchte, wagte sie einen Blick zurück. Sie erschrak wimmernd, als sie den Hünen, in dessen Augen sie zuerst geblickt hatte, an der Reling hantieren sah. Scheinbar hatte er Mantel und Schuhe abgelegt. Sie drehte sich um, verschluckte sich, hustete im Untergehen, hörte das unverkennbare Geräusch eines ins Wasser eintauchenden Menschen hinter sich. Sie konnte nicht mehr schreien, niemand würde sie unter Wasser hören.

Etwas umfasste ihr Fußgelenk. Ihr Strampeln konnte dem eisernen Griff nichts entgegensetzen. Ein Schwall Wasser rauschte ihre Kehle hinunter, das Salz brannte in ihren Augen, als sie sie erschreckt aufriss, nach oben blickte, spürte, dass sie die Oberfläche nicht mehr selbst erreichen würde. Ein Arm umfasste ihre Taille. Sie spürte, dass ihre Gliedmaßen endgültig ihrem Willen entzogen wurden ...

Fast wäre sie am Tisch eingenickt, doch während ihr Kopf nach vorn sackte, erwachte sie, fuhr auf und umklammerte kurz die Tischkante.

Ath lächelte ob ihres Anblickes. Er stand im Schatten des hinteren Zeltes, betrachtete liebevoll die vom Kerzenschein umschienenen Konturen seiner Tochter. Sie hatte an einigen Papieren gearbeitet und darüber die Zeit vergessen. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich Zeit für sich nehmen, aber das Mädchen teilte die Arbeitsmoral ihres Vaters. Die Rechnungen hätten auch noch Zeit bis morgen gehabt, aber nicht in ihren Augen.

Ath überlegte kurz. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen in der Steinwüste. Über zwölf Jahre war es her. Zwölf Jahre des Vaterglücks, zwölf Jahre, in denen sie sein Leben erhellt hatte, in denen er Worte hörte, die er längst vergessen zu haben schien, hatte vergessen wollen. Einige Monate dauerte es, ehe sie anfing zu sprechen, seine Sprache lernte, ihn Vater nannte. Selbst kinderlos, weil seine Frau im Kindsbett gestorben war, liebte er das Kind wie sein eigenes. Woher sie kam, wer sie war, wie sie wirklich geheißen hatte, ob sie sich noch an etwas erinnerte - Ath hatte sich diese Fragen tausendmal gestellt. Sie hatte es nicht wissen wollen. Sie hatten Byzanz noch zweimal besucht seitdem, aber es hatte sie nicht sonderlich gestört. Er sei ihr Vater, nichts anderes zählte für sie. So oft er sie danach gefragt hatte, hatte sie ihm dieselbe Antwort gegeben.

Sie hatten bemerkt, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, der nordischen Zunge zu folgen. Ath schätzte deshalb, dass sie vielleicht zu den vielen Nordmännern gehört hatte, die hier in Byzanz genau wie er Handel betrieben hatten. Ihre helle Haut und die gleichfalls hellen braunen Haare sprachen dafür. Trotzdem hatte sie wenig Interesse gezeigt, dem nachzugehen.

»Tochter«, sprach er sie an, »du solltest deinem Vater nicht immer alles gleichtun.«

Sie legte den Kopf in den aufgestützten Arm und lächelte ihn schelmisch an.

»Ach«, murmelte sie, leicht schlaftrunken, »und wer von uns beiden hat es wohl nötiger, sich etwas auszuruhen?«

Sie stand auf, kam auf ihn zu und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

»Du gehst in letzter Zeit langsamer.« Sorge klang in ihrer Stimme.

»Das scheint dir nur so.« Im Zwielicht der einsamen Kerze schloss er kurz die Augen. Er vermochte es nicht, den scharfen Augen seiner Tochter etwas zu verheimlichen.

»Deinem unausgesprochenen Rat soll gefolgt werden«, sagte er dann. »Ich werde mich zurückziehen, nur noch über einige Briefe gehen und unsere Heimreise übermorgen noch etwas vorbereiten.«

»Ist gut.« Sie wirkte beruhigt. »Ich konnte das heiße Wetter noch nie ausstehen.«

»Deine zynische Zunge in Ehren«, diesmal klang Sorge in seiner Stimme, »bist du sicher, dass ich auch diesmal nichts unternehmen soll?«

»Nein.« Sie brauchte nicht darüber nachzudenken. »Ich will nichts darüber wissen. Was würden deine Nachforschungen schon bezwecken? Ich bin stolz, deine Tochter zu sein. Die Tochter des ehrenwerten Angelsachsen Ath of Abingdon ...«

Sie dachte kurz nach. »Es sei denn, du willst, dass ...«

»Denk nicht mal daran, Tochter. Du weißt, ich würde dies nur in deinem Interesse tun, um dein Wohl.«

»Dann tu nichts«, stieß sie hervor.

»Du machst mich sehr glücklich.«

»Und du machst mich verlegen.« Sie schlug den Blick nieder. Ath konnte sich nicht erklären, wie er eine solche Tochter verdiente. Ihre Ergebenheit, ihr Respekt, ihre Liebe zu ihm. Wie konnte es sein, dass er allein all das erfahren durfte?

»Sag«, meinte sie dann, »soll der Wein zu Sahib? Und der Umschlag?«

»Ja, ich wollte ihm beides noch bringen. Es ist die Rechung für die Gewürze und den Honig, den ich ihm besorgt habe, und eine Flasche Wein für seine Gäste. Sie scheinen ihn zu mögen und du weißt wie schwer es ist, hier guten Wein zu bekommen. Er hatte mich heute Nachmittag darum gebeten. Er hat ein paar Nordmänner zu Gast und wollte sichergehen, sie wohlversorgt zu haben.«

»Lass mich hinübergehen und es ihm bringen, dann werde ich auch zu Bett gehen.«

»Wenn es dir nichts ausmacht.« Er gab ihr die beiden Sachen. »Dann sehe ich dich gleich noch.«

Er nickte ihr zu und zog sich in das hintere Zelt zurück, schlug die dicken Vorhänge im Gehen zu.

Jetzt war sie es, die ihm nachblickte und lächelte. Wie konnte sie erwägen, nach ihrem richtigen Vater, nach ihrer richtigen Familie zu suchen, wenn er all das war? Noch immer lächelnd, schüttelte sie unverständig den Kopf, wandte sich dem anderen Ausgang des Zeltes zu, der sie nach weiteren Vorhängen direkt in den lärmenden Gastraum brachte. Sie waren wie jedes Mal Gäste Sahibs gewesen. Ath und er kannten sich seit Jahren, Ath nannte ihn Freund und sie wusste, auch Sahib hegte eine große Schwäche für ihn und seit vielen Jahren nun auch für sie.

Sahib war nirgends im Zwielicht des großen Zeltabschnittes zu sehen. Etwa zehn Nordmänner waren Gast des Weinhändlers und gaben sich den lukullischen Köstlichkeiten und den auserlesenen Getränken hin, die gereicht wurden. Nur drei der Nordmänner saßen allein, die anderen hatten ein Mädchen im Arm und gaben sich auch dieser Kostbarkeit mehr oder weniger offensichtlich hin.

Aths Tochter gab sich Mühe, nicht über die Kissen zu stolpern, während sie einem herangeeilten Diener die Sachen reichte. Er schien zu wissen, worum es sich handelte. Froh darüber wollte sie sich zurückziehen. Der Geräuschpegel war nahezu unerträglich und das Benehmen nicht minder. Dann jedoch spürte sie ihr Fußgelenk umfasst, fuhr erschreckt herum und sah in das grinsende Gesicht eines der Nordmänner.

»Wag es nicht«, fuhr sie ihn auf Angelsächsisch an. Sie versuchte, ihren Fuß zu befreien.

»Sieh an, eine angelsächsische Kratzbürste«, grölte der rothaarige Riese in die Runde. »Sahib erwähnte nicht, dass seine Mädchen auch derart wählerisch sind.« »Ich bin keines von diesen Mädchen«, fauchte sie ihn an. Im Dämmerschein stolperte sie mit ihrem anderen Fuß über einen der Teppiche, fiel halb auf ihn, was ihm die Gelegenheit gab, sie an sich zu ziehen. Doch er hatte nicht mit ihrer Gegenwehr gerechnet. Sie krümmte sich, schob ihm ihren Buckel vor die Nase und kratzte ihn über die Hand, die noch immer ihren Fuß festhielt. Sie glaubte, er würde sie loslassen. Stattdessen klatschte seine flache Hand beseelt auf ihr Hinterteil, was sie entrüstet auffahren ließ. Ihr Kopf stieß dabei seine Nase, was endlich Pein genug schien, um sie freizulassen. Sie stolperte auf allen Vieren von ihm weg und sah zurück. Er hielt sich die Nase. Zwischen seinen Fingern quoll dunkle Flüssigkeit hervor, Blut, in dem Licht schwarz wie seine Augen.

»Du verdammtes Biest ...«

Noch ehe er die Worte ausgesprochen hatte, hievte sie sich hoch, wissend, er würde sich dies nicht vor den anderen, die bereits brüllend lachten, gefallen lassen. Sie strauchelte weiter, passierte zwei weitere Nordmänner, dann jenen am Kopf der Gruppe Sitzenden. Dieser jedoch griff blitzschnell nach ihrem Webgürtel, zog sie zu sich herunter. Noch ehe sie wiederum zum Kampf ansetzen konnte, spürte sie seinen Mund dicht neben ihrem Ohr.

»Ruhig, Mädchen«, zischte er, »tu nichts. Ich werde dich hier rausholen. Vertrau mir.«

Sie wusste nicht, warum, aber sie blieb augenblicklich still. Rührte sich nicht, verfolgte ungläubig das Gespräch der beiden Nordmänner.

»Ich denke, dass Mädchen hat sich die Gesellschaft für diesen Abend ausgesucht, oder nicht?«, meinte ihr Retter.

Der andere Nordmann, der aufgestanden war, um sie einzuholen, verschränkte die Arme.

»Das sehe ich. Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn du sie mir überlässt. Ich hätte da noch ein oder zwei Sachen mit ihr zu klären.«

»Lass mal, Sazur, du hast bloß eine Nase.«

Die anderen lachten, selbst der gescholtene Nordmann. Er konnte seinem Kommandanten nicht wirklich gram sein und scheinbar hatte das Mädchen tatsächlich gewählt, hatte selbst die Arme um seinen Hals gelegt und schmiegte sich an ihn.

»Sie hat gut gewählt.« Sazur wandte sich ab. Sein Kommandant erhob sich daraufhin, noch immer das Mädchen im Arm.

»Ihr werdet verstehen, dass ich diesen Leckerbissen allein genießen werde.«

Seine Männer erhoben daraufhin ihre Hörner, prosteten ihm zu und wünschten ihm Vergnügen, bis er durch den Gang entschwand, aus dem das Mädchen erschienen war.

Aths Tochter wurde augenblicklich heruntergelassen, als sie ihren Zeltabschnitt wieder betreten hatten. Noch immer verwirrt durch das, was eben passiert war, schritt sie zum Tisch, hielt sich, diesmal stehend, an der Tischkante fest, schluckte und befeuchtete ihre trockenen Lippen.

»H-Habt dank, Nordmann.«, ihre Stimme war nicht ihre eigene. Wo war ihre dunkle, beherrschte Stimme in diesem Moment?

»Verzeih meinen Männern«, antwortete er stattdessen. Sie glaubte zu träumen, sich einen Nordmann entschuldigen zu hören. Er fuhr fort: »Sie sind heute etwas zu ausgelassen, aber sie haben ihre Gründe. Einige harte Prüfungen liegen hinter ihnen. Zudem fehlt ihnen der Respekt vor Frauen.«

»Respekt vor Frauen«, wiederholte sie, ohne sich umzuwenden. Der Nordmann bereitete ihr selbst in dieser Entfernung eine Gänsehaut. Er sprach ihre Sprache fließend, roch nach herber Seife und gutem Wein. Sie wusste plötzlich, wer jenen Wein bevorzugte, den sie selbst hinübergebracht hatte.

»Respekt«, sagte sie nochmals. Sie hatte es geflüstert und trotzdem nicht gemerkt, dass er direkt hinter sie getreten war.

»Es scheint, dir ist bisher wenig Respekt von Männern entgegengebracht worden.« Seine Stimme klang nicht länger klar, ein Unterton schwang darin, leise, rau. Die Kerze flackerte kurz, dann erlosch sie. Sie bemerkte den Hauch der Atembewegung, als er sie ausblies.

Sie konnte sich nicht rühren. Wie zuvor. Sie stand nur da.

»Du solltest zumindest wissen, dass es Männer gibt, die euch sehr wohl Respekt entgegenbringen.« Während er das sagte, strich er das Haar aus ihrem Nacken und legte es vorn über ihre Schulter. Bei seinen nächsten Worten spürte sie seine Lippen auf ihrem Nacken, spürte, wie seine Barthärchen die Liebkosung begleiteten.

»Und du solltest es nicht vergessen, wenn du einem Mann einmal gehörst.«

Seine Arme legten sich um ihre Taille, zogen sie an ihn. Sie ließ es geschehen, lauschte seinen Worten, verfolgte seine Berührung. Sie hatte keine Angst. Vor diesem einen Mann nicht. Sie ließ zu, was kein anderer je gewagt hatte, was kein anderer je hätte tun dürfen.

»Männer wie ich nehmen sich niemals das, was eine Frau ihnen nicht freiwillig schenkt.«

Ihr Kopf legte sich auf seinen Oberarm, ihr Hals hieß seine Lippen willkommen, während seine Hände nach oben wanderten, den Ansätzen der sanften Wölbungen unter dem Webstoff des Kleides folgten.

»Jene anderen Männer werden nie in eure Seele schauen dürfen, merk dir das.« Er drehte sie langsam zu sich, nahm ihr Gesicht in beide Hände. Nichts vermochte die Dunkelheit zu durchdringen, weder ihre Gesichtszüge, noch ihre Haarfarbe oder die Farbe ihres Kleides. Nichts gab sie preis. Aber das Gefühl, das beide in Gegenwart der vielen Nordmänner beschlichen hatte, konnte die Dunkelheit durchbrechen.

»Ich zeige dir Respekt«, sagte er.

Wie von selbst öffneten sich ihre Lippen etwas, ließen den seinen ihren Willen, mehr noch, unterwarfen sich ihnen. Er atmete lang aus, eine jede Spannung schien den Hünen zu verlassen. Er genoss und sie wusste ganz plötzlich, was er meinte. Sie öffnete sich ihm, ohne sich selbst aufzugeben.

Der Nordmann bemerkte es, fühlte ihre Gedanken, wusste, er hatte erreicht, was er wollte. Er erhielt jene Antwort, die er begehrte, stellte trotzdem überrascht fest, dass ihm dieses Mädchen mehr gab als all jene vor ihr. Er bedauerte, dass Welten zwischen ihnen lagen.

Sie stellte sich unverhofft auf die Zehenspitzen und legte ihre Arme um ihn. Ihre Lippen antworteten den seinen sanft, ohne jede Hast, unverfälscht. Eine ewige Zeit. Sie beide genossen. Vergaßen, wo sie waren, wer sie waren, gaben sich einzig dem Gefühl hin.

Ungern trennte er sich dann von ihren Lippen.

»Bei den Göttern, ich wünschte, ich könnte dies hier zu Ende führen«, hauchte er in ihren Nacken und presste sie an sich.

»Gott schütze dich, Nordmann«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich werde niemals vergessen.«

»Suche jenen Mann, der dir gibt, was du verdienst. Suche ihn sorgfältig.«

Sie hielt sich wie zuvor an der Tischkante. Der Luftzug der herunterfallenden Vorhänge umgab sie. Er war fort.

Robyn schnappte nach Luft, Schmerzen durchfuhren ihren kältesteifen Körper. Schmerzen, die sie nie derart erfahren hatte. Nicht in all den Jahren. Wer war sie? Warum hatte sie als vierjähriges Mädchen inmitten einer unwirtlichen Steinwüste gestanden? Warum hatte ihr Vater das zugelassen?

Sie wimmerte auf, Tränen mischten sich auf ihren Wangen mit dem Salzwasser, das sie nur zu gern verschlingen wollte. Doch der Arm hielt sie fest. Die Präsenz des Nordmannes, der zwischen ihr und dem nassen Grab stand, war keine Einbildung. Kein Trugbild. Für einen Moment schloss sie die Augen.

Sie würde nie erfahren, wer jener Nordmann gewesen war. Warum hatte er ihr jene Erinnerung bereitet? Was hatte ihn bewogen, ihr an diesem Abend einen Glauben einzupflanzen, den sie nur zu bereitwillig aufnahm? Sie hatte nie einen solchen Mann getroffen.

»Es wird dir bei uns besser ergehen als bei jenen, die dich deiner Familie entrissen.«

Robyn brauchte eine Weile. Die Worte drangen nur langsam zu ihr vor. Dann begriff sie. Der Nordmann hatte zu ihr gesprochen. Sie drehte ihren Kopf langsam, zwinkerte im Sonnenlicht.

»Ich kann dir nicht das Paradies versprechen. Nur eines ...«

Robyn fühlte den Druck seiner Arme. Er würde sie nicht gehen lassen.

»Du wirst keine Sklavin sein.«

Wie konnte sie weiterleben wollen? Wenn nicht als Sklavin, als was dann? Was war mit all ihren Fragen? Wie würde sie je eine Antwort darauf erhalten?

Sie wandte sich ab, blickte auf die See, die ruhige See. Sie lag vor ihr, ließ in ihr die Hoffnung aufkeimen, dass sie irgendwo dort am Horizont die Antworten zu all ihren Fragen finden würde.

Wulf spürte, dass sie nach seinen Armen griff, doch ehe er feststellen konnte, ob sie sich von ihm befreien wollte oder die Ausweglosigkeit ihrer Situation zuließ, sank sie in sich zusammen. Er verhinderte ein erneutes Abgleiten unter Wasser, in dem er sie nach hinten kippen ließ, um mit ihr zum Schiff zu schwimmen.

Der Rauch quoll um alle Häuser am Strand. Sie floh, hielt ihre Röcke mit eiserner Hand fest, um nicht über sie zu fallen. Der sandige Boden ließ sie straucheln, sie fiel, spuckte den Sand aus, schluckte den Rest hinunter, nur um wieder auf die Beine zu kommen und weiterlaufen zu können.

In dem Durcheinander suchte sie ihren Vater. Etwas sagte ihr, er würde sich wie die anderen flüchtenden Menschen in das Wäldchen nahe dem Kloster zurückziehen. Dort war es unwegsamer, die Bäume und vereinzelten Sträucher boten mehr Schutz vor den raubenden und plündernden Nordmännern.

Ihr Vater würde mit den Mönchen und den anderen Bewohnern dort auf sie warten. Und abwarten. Die Nordmänner hatten, was sie wollten, zogen sich zum großen Teil bereits auf ihr Schiff zurück mit Gold, Wolle, den Vorräten des Klosters, insbesondere dem wertvollen Honig. Sie trugen ihre Beute nahezu ohne Gegenwehr der Menschen auf ihr Schiff, das am Strand lag und unheilvoll umwoben wurde vom Rauch der angezündeten Hütten und des flammenden Klosters.

Sie hörte die Nordmänner brüllen. Das Drachenboot wurde bereits ins Wasser geschoben, sie stemmten sich gegen die Planken, übergaben es der See. Verloren keine Zeit. Das Unheil, welches sie hinterließen, rief kein Mitleid in ihnen wach. Eine Pranke umfasste im Laufen ihren Hals, drückte ihr die Luft ab. Sie krallte sich in die Hemdsärmel des Nordmannes, der sie festhielt. Sie würgte an ihrem aufsteigenden Mageninhalt. Sein Blick war durchdringend, als er sie von oben bis unten betrachtete. Sie verstand augenblicklich. Er besah sich seine Ware. Sie fühlte, wie der Schock sie lähmen wollte, sie erkalten lassen wollte. Doch als der Nordmann sie mühelos über seine Schulter legte, holte sie aus tiefster Seele Luft und schrie, dass selbst die Nordmänner, die am Strand warteten, aufsahen.

»Vaaaaaaaateeeeeeeer ...« Sie wollte nicht so aufgeben, nicht ohne ihren Schmerz und ihre Verzweiflung herausgerufen zu haben. »Vaaaaaaateeeeeer ...«

Sie sah zurück auf das Wäldchen, im Dunst der Feuer kaum noch auszumachen. Sie starrte es mit tränenden Augen an, schrie unentwegt, ohne dem Schreien noch Silben zu verleihen. Dann, als sich ein anderer Nordmann von hinten näherte, sah sie ihren Vater plötzlich aus dem Wald stürzen. Er schrie genau wie sie, aber es war nur noch ein entferntes Echo. Der Schatten des anderen Nordmannes legte sich auf sie. Dann war es plötzlich dunkel ...

4.

Mit steifen Gliedern ließ Wulf sie wenig später unsanft auf Deck gleiten. Der Aufprall führte zu einem Hustenanfall, bei dem Robyn minutenlang das Wasser hervorwürgte.

»Eine schöne Fracht.« Egill stand mit verschränkten Armen über ihr, neben sich Wulf, der einige Male tief ein- und ausatmete. »Warum hast du sie nicht gehen lassen? Es schien ihr Wunsch sein.«

»Seit wann gewähren wir einem Menschen in Not nicht mehr unsere Hilfe?«, fuhr Wulf ihn an. Er hatte Egills ewiges Jammern satt. »Ist es nicht dein Wunsch, jene im Westdorf zu verurteilen? Sie hätten vielleicht so gehandelt. Aber nicht wir. Wir pflegen nicht wie sie auf Raubzug zu gehen. Nicht mehr. Hast du das vergessen?«

»Nein, Wulf. Aber du weißt, dass Frauen an Bord nur Unglück bringen. Noch dazu eine, die wie eine Nixe leblos im Wasser trieb.«

»Verdammt sei dein Aberglaube.« Wulf zog sich das Hemd aus, die untergehende Sonne würde nicht mehr lang Wärme spenden. »Sag zwei Männern, sie sollen ein Feuer machen und dann sieh zu, dass du irgendwelche trockene Kleidung für sie findest.«

Egill gab ein zustimmendes Brummen von sich und ging, bellte wenig später zwei der Männer an, damit sie Holz zusammentrugen.

Robyn fühlte zum ersten Mal seit Stunden ihre Beine. Sie zog sie heran, spürte keinen Schmerz, nur Kälte.

Eine Reise. Sie trat erneut eine Reise an.

Sie stöhnte leise. Warum nur? Warum?

Sie betastete ihren Kopf. Er hämmerte unerträglich. Der Nordmann am Strand hatte sie mit bloßer Faust bewusstlos geschlagen. Ihre Hand wanderte weiter. Fast hätte sie aufgeschrieen. Die gesamte linke Seite schien zu zerspringen. Sie versuchte stillzuliegen, damit der Schmerz nachließ. Befremdet zerrieb sie das geronnene Blut, das aus ihrem Ohr gelaufen war, in ihrer Hand. Sie benötigte einige Atemzüge, um den Blick endgültig zu schärfen, um ruhig aufzublicken, ohne Drehen, ohne verschwommene Bilder. Der Nordmann hatte abwartend über ihr gestanden.

Wulf bemerkte ihren schweren Augenaufschlag, sah gleichzeitig, wie sich ihre Lippen aufeinanderpressten. Sie war bemüht, ihren Schmerz zu verbergen, durchaus gekonnt, aber seine Augen waren zu gut trainiert.

»Nimm einige der Decken dort.« Er wies hinter sie auf einige Decken in Reichweite. »Zieh deine nassen Kleider darunter aus, dann begib dich zu dem Feuer, dass die Männer für dich anzünden. Und fürchte dich nicht. Niemand wird Hand an dich legen. Ich stehe zu meinem Wort.«

Wulf beobachtete sie noch kurz. Sie brauchte eine Weile. Er glaubte nicht, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Vielmehr sammelte sie all ihre Konzentration, um seinen Worten folgen zu können. Sie zog sich langsam zu den Decken hin, ergriff eine. Damit hatte er genug gesehen. Er wandte sich ab, um selbst seine Kleidung gegen trockene einzutauschen.

Robyn konnte ihm nicht einmal hinterherblicken. Sie musste ihre Augen schließen, während sie die Decke um sich legte und das Kleid auszog. Ihre Schuhe hatte sie im Wasser verloren. Wozu hatte sie sie auch behalten sollen? Sie hatte sterben wollen. Für einen Augenblick bettete sie ihren Kopf auf die anderen Decken, sehnte sich zurück in die See, nach dem Horizont, dem kalten Wasser, da es sie nach all den Stunden zärtlich umarmt hatte, ihre Sehnsucht erwidert hatte.

»Weib!«

Sie schreckte auf. Woher kam das? Undeutlich erkannte sie die Konturen des Hünen wieder. Sie schärfte den Blick, diesmal mit Erfolg. Die kurze Entspannung hatte ihr gut getan. Er trug trockene Kleider, hatte sein Haar im Nacken zusammengebunden. Die Sonne war längst untergegangen, der Himmel in seinem Rücken rötlich.

»Wir riskieren eine Menge, indem wir ein Feuer an Deck entzünden. Hab die Güte und nutze es aus.«

Wieder brauchte es eine Weile, dann reagierte sie, zog sich an der Reling hoch, stützte sich auf sie, während sie langsam nach vorn strauchelte.

Wulf nahm einige Decken und folgte ihr im kurzen Abstand. Seine Männer beobachteten ihre Silhouette aufmerksam, vorsichtig. Wulfs Entscheidung, sie an Bord zu lassen, hatten einige nicht gutgeheißen und ihren Kommandanten dies auch wissen lassen. Er hörte ihren Eingebungen zu, bestimmte aber trotzdem, dass sie bleiben würde. Die Überfahrt näherte sich ihrem Ende. Zwei Tage noch, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Bis dahin mussten sie die Nixe an Bord dulden, hernach würde ihr König über sie entscheiden. Vielleicht würde einer der Nordmänner sie zur Frau begehren. Eine Heirat hatte den Vorteil, dass sie niemandem außer ihrem Mann und dem König Rechenschaft schuldig war. Für den Fall, dass sich niemand für sie fand, würde sie einfachen Arbeiten im Dorf nachgehen müssen, jedoch ohne den Schutz eines Ehemannes. Aber sie würde dieselben Rechte erhalten wie all die anderen. Sklaven gab es unter ihnen seit einer Generation keine mehr.

Und ein Zurück gibt es für dich auch nicht mehr, dachte Wulf, während sie kraftlos am Feuer niedersank. Wer immer du bist, deine Familie, dein Mann wird dich unter Nordmännern wissen; keine Schande dürfte größer sein.

Seine eigenen Gedanken widerten ihn an, aber er kannte den Ruf seines Volkes, wenngleich die Wahrheit anders war. Sehr anders.

Sein Blick streifte seine Männer. Große, starke Männer, kampferprobt seit vielen Jahren, in jeder erdenklichen Waffe trainiert, geschickt, furchtlos, ihre Haut gebräunt von der unerbittlichen Sonne in Byzanz. Versteinert sahen sie auf die Nixe, deren weiße Haut sich von der dunklen Decke absetzte wie ein unheimliches Omen. Misstrauen lag in Egills Bewegungen, als er sich hinabbeugte und ihr einige Kleidersachen hinlegte. Männerkleidung. Sie würde genügen müssen.

Wulf legte zwei weitere Decken zu ihr. Als sie sie bemerkte, ließ allein ihr Anblick ihre Augen zufallen. Ohne auf die Nordmänner zu achten, ließ sie sich nieder. Furcht und Schmerz verloren sich für den Moment und sie gab sich dem Schlaf hin. Der Nordmann würde zu seinem Wort stehen.

5.

Sie schlief einen ganzen Tag hindurch, ungeachtet der Männer, des Windes, der Planken, die nie still zu sein schienen. Robyn blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel.

Trotz des Misstrauens waren die Nordmänner nicht ohne Freundlichkeit. Ein Hauch von Winter lag seit einigen Stunden über dem Schiff, je näher sie ihrer Heimat kamen. Jemand hatte ihr eine wärmere Decke um die nackten Schultern gelegt, während sie schlief. Das Feuer war erloschen, aber sie empfand keine allzu große Kälte. Die Decken waren von guter Qualität, ein Zeichen, dass die Nordmänner zu etwas Reichtum gelangt waren.

Robyn tastete vorsichtig ihr Ohr ab. Es war heiß und geschwollen. Sie wünschte sich sehnlichst, es kühlen zu können, aber das musste warten. Wenn man der Luft glauben schenken konnte, würde im Land der Nordmänner bereits Schnee liegen. Schnee ... Robyn glaubte für einen Moment ein Bild vor sich zu sehen. Doch es verschwand genauso schnell wieder. Ob es Erinnerungen waren? Die Zunge der Nordmänner bereitete ihr keine Probleme. Sie verstand jedes Wort. Andere Nordmänner aus Jutland, Svealand oder Götaland hätten ihre vollste Aufmerksamkeit benötigt, um sich verständlich zu machen. Nicht diese. Sie selbst hatte das meiste aus ihrer Vergangenheit vergessen, hatte die nordische Zunge nie gesprochen, solange sie bei Ath gewesen war. Alles, was vor der Steinwüste gewesen war, erschien ihr vage, verschwommen, niemals kehrten konkrete Sachen in ihr Gedächtnis zurück. Nur die kratzige Zunge, rau und doch für ihre Ohren nicht unangenehm, war ihr geblieben.

Ich verstehe jedes Wort.

Was bedeutete das? Konnte es sein, dass ihr Ursprung irgendwo im Land dieser Nordmänner lag?

Geliebter Vater, werde ich dich je wiedersehen?

Ihre Verzweiflung gewann erneut die Oberhand, verdrängte jene Gedanken. Die Furcht kehrte schockartig zurück. Sie war verdammt zu einem Leben unter diesen Menschen, die ihr so fremd waren. Was geschah, wenn sie an Land gingen? Was würden sie mit ihr tun?

Vater, steh mir bei. Lass mich nicht allein.

Die Angst verstärkte ihre Schmerzen. Sie wusste, sie musste sich zusammennehmen. Tat es nach einer Weile, atmete tief ein und aus.

Langsam richtete sie sich auf, das Blut rauschte in ihrem Kopf, ließ sie nochmals geraume Zeit verweilen. Dann erst klärte sich ihr Blick und sie erkannte die Umrisse der Kleidung, die einer der Nordmänner ihr hingelegt hatte, Hosen und eine weite helle Tunika, einige Lagen groben Stoffes und Lederschnüre, um ihre Füße zu schützen. Vielleicht würden sie ihr später Schuhe geben.

Später.

Robyn stöhnte leise.

Reiß dich zusammen! Die eigene Stimme in ihrem Kopf klang nicht überzeugend, aber sie sagte es sich wieder und wieder. Sie musste an das Jetzt denken, sich sammeln, um dem Später entgegentreten zu können.

Sie bemerkte einen Eimer und sah sich unsicher um. Niemand war in der Nähe, wenigstens das blieb ihr erspart. Fast schien sie allein auf dem Schiff. Auch als sie wenig später die Kleidung anzog und ihr Haar mit einer Lederschnur zusammenband, störte sie niemand. Beruhigt lehnte sie sich an die Reling, zog die Decken wieder enger um sich und versuchte ihren hämmernden Kopf zu vergessen.

»Nixe, schlag die Augen für einen Moment auf.«

Robyn hörte die leisen Worte kaum, leistete ihnen aber Folge. Sie wollte diesen Männern keinen Grund geben, ihre Freundlichkeit zu bedauern. Sie schienen nicht glücklich über ihr Hiersein. Auch ohne sie lange Zeit in Augenschein genommen zu haben, konnte sie es fühlen. Trotzdem schenkten sie ihr genug Aufmerksamkeit, mehr als ihre ertrunkenen Entführer, die sie wie ein Warenstück zu den anderen Gütern abgelegt hatten. Hernach hatte wahrscheinlich nur der aufziehende Sturm verhindert, dass sie sogleich über sie hergefallen waren. Der Sturm war ihr ein Wunder, ein Gottesgeschenk, ein Zeichen gewesen.

Einer der Nordmänner kniete neben ihr, hielt einen dampfenden Becher in der Hand. Es roch wundervoll nach Wacholderbeeren.

»Trink das«, sagte er, »morgen früh gibt es etwas Suppe, mehr solltest du noch nicht zu dir nehmen. Wenn wir morgen Nachmittag an Land gehen, wirst du bald etwas Richtiges essen können.«

Robyns Blick wanderte von dem Becher kurz zum Gesicht des Nordmannes.

»Trink langsam, Nixe«, zog er sie auf, »es ist kein Salzwasser.«

Sie nahm den Becher und er ging ohne ein weiteres Wort. In der Dunkelheit verhalten seine Schritte schnell. Robyn sog den Geruch des dampfenden Weines tief ein. Es dauerte nicht lange und die langsamen Schlucke betäubten den Schmerz. Dankbar ließ sie sich zurück auf die Decken sinken.

6.

Schläft sie noch?« Wulf blickte Sigurd entgegen, der auf seine Anweisung hin Wein zu ihr gebracht hatte. »Sie wird es bald wieder.« Sigurd legte seine Arme auf die Reling wie Wulf. Sie starrten hinaus auf die schwarzgraue See.

»Sie war angezogen, lehnte am Bootsrand und döste, schien dem Wein aber nicht abgeneigt ...Glaubst du, sie versteht uns?«, fragte er dann.

»Jedes Wort«, antwortete Wulf, ohne zu überlegen.

»Wie kannst du so sicher sein?«

»Beobachte nur ihre Augen«, erklärte Wulf. »Dass sie so langsam handelt, rührt einzig von einer Verletzung, die sie uns nicht preisgeben will, aber ansonsten versteht sie jedes Wort.«

»Glaubst du, die vom Westdorf haben sie weiter südlich geraubt?« Sigurds Überlegung war auch Wulfs.

»Sehr wahrscheinlich. Doch statt wie blind Beute hinterherzujagen, hätten sie besser daran getan, das Wetter zu beobachten.«

Sigurd verkniff sich seine Antwort. Er verfluchte jene Nordmänner vom Westdorf innerlich. Jedweder Gedanke an eine Vereinigung mit dem Westdorf sollte ausgelöscht sein, allein durch einen solchen Akt. Sie beide wussten das. Und doch hoffte Wulf immer noch, dass es eines Tages wieder nur einen König geben würde, nicht zwei Königreiche und ein weiteres Reich, das sich weigerte, auch nur einen der beiden anzuerkennen.

»Ich bezweifele, dass jemand sie zu sich nehmen wird«, sann Sigurd. »Es wird schwer für sie sein. Es wird ihr ewig anhaften, dass wir sie aus dem Meer gefischt haben. Die Alten werden es für kein gutes Omen halten, einer solchen Frau Schutz zu gewähren.«

Wulf sah ihn von der Seite an, wartete bis Sigurd seinen Blick kreuzte.

»Vielleicht gerade deshalb. Indem wir ihr Schutz gewähren, werden uns die Götter womöglich dankbar sein und unserem Volk etwas Zuwendung zeigen.«

»Ja, eine solche Zuwendung wäre allerdings dringend nötig. Trotzdem befürchte ich, dass der König nicht begeistert sein wird, dass wir sie mitbringen.«

»Das soll eure Sorge nicht sein«, beruhigte ihn Wulf. »Ich werde die Verantwortung übernehmen und ihm erklären, wie wir zu ihr kamen.«

»Nach fünfzehn Jahren kehren wir heim. Fünfzehn Jahre«, wiederholte Sigurd. »Endlich kann ich daheim bei Weib und Kind sein, muss sie nicht nur für einige Wochen besuchen, um dann wieder zu gehen. Ich werde bleiben. Diesmal werde ich bleiben.«

Wulf dachte kurz an sein eigenes Zuhause, im Wald verborgen. Dort wartete niemand mehr auf ihn. Und er war froh darüber.

7.

Robyn hatte nie wirklich an eine Flucht gedacht, doch nun war sie sicher, dass sie es nie geschafft hätte, diese in die Tat umzusetzen.

Es war früher Abend, als sie endlich anlegten. Das Wetter hatte sich stetig verschlechtert. Kein wirklicher Nebel lag auf dem Wald, der sie traurig begrüßte, nur ein nasser Dunst stieg vom Schnee auf. Scheinbar hatte der Sturm den Winter für kurze Zeit abgelöst und ließ es etwas wärmer werden, doch nicht für lang. Sie hatte einige Gesprächsfetzen der Nordmänner aufgefangen. Am steinigen Strand begrüßten sie einige Nordmänner und Nordfrauen mit Packpferden für die Ladung. Geduldig warteten sie, während ihr Retter und die anderen Männer anlegten und eine Rampe aufstellten. Sie bemerkte auch die unsicheren Handbewegungen zu ihr selbst hin. Obwohl sich Robyn so weit wie möglich an Bord zurückgezogen hatte, um das Anlegen und ihre Fluchtmöglichkeiten abzuschätzen, blieb sie nicht lang verborgen.

Sie verkrampfte innerlich, schalt sich, da ihr Kopf daraufhin wieder mehr schmerzte.

Wie würden sie damit umgehen, dass die Heimkehrenden eine Fremde mitbrachten? Aus dem Meer gefischt. Keine der ihren, wie sie bald feststellen würden, sondern eine Angelsächsin. Sie würde sich nicht mehr lang in Schweigen hüllen können. Bis jetzt hatte sie es umgangen zu sprechen, da sie befürchtete, dass sich ihr Kiefer ausrenkte. Wenn der Schmerz nachgelassen hatte, würde sie wieder sprechen müssen, um zu sehen, welchen Schaden der Sprung ins Wasser tatsächlich angerichtet hatte. Noch immer konnte sie nur schwer hören, manchmal verschwamm ihre Umgebung etwas, als könne sie zu schnellen Bewegungen nicht folgen. So wie jetzt als einer der Nordmänner auf sie zukam und sie kurzerhand auf seine Arme nahm, um sie die steile Rampe herunterzutragen. Sie schloss umgehend die Augen und hielt sie geschlossen, solange bis er sie absetzte. Als sie sie wieder öffnete, drehte sich alles. Unsicher ergriff sie das nächstliegende, die Mähne eines Packpferdes. Doch es scheute nicht, blieb ruhig stehen, bis sie sich selbst beruhigte. Sie ließ los, atmete tief ein und aus, bemerkte erst jetzt, dass ihr der Nordmann zudem eine Decke umgelegt hatte.

»Wirst du das Stück laufen können, Nixe?«

Robyn blickte nicht auf, erkannte trotzdem die Stimme ihres Retters. Sie nickte. Ein leichter Luftzug strich über sie hinweg.

»Halte dich am Pferd fest. Der Fußmarsch dauert nicht lang. Wenn wir in der großen Halle ankommen, wird man über deinen Verbleib entscheiden.«

Wulf musste nicht in ihre Augen blicken, um zu sehen, dass sie begriff. Und dass sie klug genug war, sich nicht zu wehren oder eine Flucht zu wagen. Für den Moment ergab sie sich ihrem Schicksal und ließ die Dinge geschehen. Sie handelte weise, denn in ihrer Zurückhaltung gab sie den anderen Nordmännern nicht noch mehr Gründe, sie nicht zu mögen. Ihre Schweigsamkeit würde sich auch in der Halle auszahlen, wenn sie sie beibehielt. Und das würde sie.

Als er sich abwandte, bemerkte Robyn, wie sich das Packpferd in Bewegung setzte. Es trottete den anderen hinterher, ohne geführt zu werden. Es fiel ihr nicht schwer, dem Pferd zu folgen. Es machte kurze, langsame Schritte, dem weichen Unterboden misstrauend. Robyn zog die Decke enger um sich, als sie den Wald betraten, und schaute vorsichtig um sich. Noch immer dampfte der Schnee um sie, die Tannen verloren unter dem leichten Wind Teile ihres weißen Kleides. Das Pferd erschreckte nicht einmal, als etwas davon auf seine Kruppe fiel. Der Tross zählte etwa fünfzehn Pferde, schwer beladen mit Kisten, Säcken, Körben und anderen unhandlichen Gegenständen. Die Nordmenschen gingen neben den Pferden, einige Frauen saßen auf den schweren Pferden der Heimkehrer, die in einiger Entfernung parallel zu ihnen den Wald durchritten. Die Pferde hatten keine Mühe, die doppelte Last zu tragen. Zu Robyns Erstaunen tauschten die Männer und die Frauen Vertraulichkeiten aus, flüsterten, lachten sogar leise.

Dies waren keine Konkubinen. Keine Frauen für ein kurzes Vergnügen. Es waren Ehefrauen. Ehefrauen, die auf die Rückkehr ihrer Männer gewartet hatten. Sehnlichst gewartet hatten.

Dann hörte sie das leise Tuscheln. Ihr rechtes Ohr fing es vor ihr auf. Unsichere Blicke gingen von den Nordmenschen zu ihr hin. Sie versuchte sie zu ignorieren, doch es fiel ihr schwer. Zudem fröstelte sie mehr als zuvor. Der Stoff um ihre Beine begann durchzunässen, der Wind nahm zu, je lichter der Wald wurde. Der Blick auf das Dorf der Nordmänner wurde frei. Einige Leute kamen ihnen aus dem Dorf entgegengelaufen, ältere Leute, für die der Weg zum Strand zu beschwerlich gewesen war.

Um sich abzulenken, konzentrierte sich Robyn auf alle Einzelheiten der Menschen und ihres Dorfes. Die offensichtlichen Verteidigungsanlagen, Wälle, ein Graben mit Pfählen. Holz war das bevorzugte Baumaterial, der Wald gab ihnen genug davon. Ihre Häuser schienen stabiler als manch angelsächsisches Haus. Robyn hatte von der Kunstfertigkeit der Nordmänner gehört. Handwerker, Waffenschmiede, Schiffsbauer, nichts, was sie nicht herstellen konnten. Schmuck, eine Seltenheit unter angelsächsischen Frauen, den höhergestellten vorbehalten, trug hier nahezu jede Frau. Ketten, Armreifen, kunstvolle Fibeln, Haarschmuck. Robyn hatte, obwohl Ath ihr jeden Wunsch erfüllt hätte, nie viel davon gehalten. Gleichwohl beeindruckten sie die Kostbarkeiten.

Der Weg zum Dorf führte eine kleine Erhebung hinauf. Wie weit das Dorf hinter dem Hügel fortlief, vermochte Robyn nicht zu sagen, nur dass es sich zu ihrer Linken im Wald fortsetzte.

Die große, lang gestreckte Halle auf dem Bergkamm war nicht die erste dieser Art, die Robyn erblickte. Sie hatte ihren Vater stets auf seinen Reisen begleitet, sich im Hintergrund gehalten wie es sich für eine gute Tochter ziemte, seine Briefe und Rechungen und andere Papiere bearbeitet, seine Waren aufgelistet, ihrem Vater die Verhandlungen überlassen. Und sie hatte beobachtet und gelernt, Menschen einzuschätzen, ihre Sprachen zu sprechen, ihre Taktiken zu durchschauen, ihre Gepflogenheiten, ihren Glauben, ihre Medizin, ihre Bauweise, ihre Waffen, die sichtbaren und die unsichtbaren, mit denen man zuweilen mehr Schaden anrichten konnte als mit Schwertern und Äxten. Nordmänner beherrschten diese Waffe besonders gut. Respekt, Ehre, Wahrheit. Ihnen galten diese Wörter noch etwas. Wer sich nicht daran hielt, fiel in Ungnade und wurde bestraft mit Nichtachtung, Zorn und Zynismus. Ath hatte nie Probleme mit ihnen gehabt, umso freier hatten er und Robyn sich unter ihnen bewegen können. Sie hatten vorzügliche Geschäfte in Hedeby abgeschlossen. Und Robyn hatte ihre Hallen bewundern können, das ausgesuchte Holz, die Mächtigkeit dieser Bauten, ihre Ewigkeit, die geschickten Schnitzereien, innen und außen.

So wie jene, vor der sie jetzt hielten. Während die Nordmenschen die Packpferde abluden, stand Robyn teilnahmslos daneben und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Die große Tür der Halle ließ etwas Licht ins Halbdunkel nach draußen fallen. Der Geräuschpegel der Menschen um sie war gesunken, fast wortlos arbeiteten sie, brachten die Güter ins Innere der Halle. Der Dunst vermischte sich mit ihrem Atem, nur vereinzeltes Flüstern war noch zu hören. Vor allem die Frauen beäugten sie nach wie vor misstrauisch. Robyn trat unauffällig von einem Fuß auf den anderen. Der Stoff war inzwischen vollkommen durchnässt, aber sie musste noch aushalten, musste erfahren, was mit ihr passieren würde, musste stark sein.

Für einen Moment dachte sie an ihren Vater. Was mochte er gerade tun? Ob er sie suchen lassen würde?

Nach all den Jahren hatten sich ihre Wege wieder getrennt. So abrupt wie sie einander begegnet waren, einander geliebt und geachtet hatten, so jäh waren sie wieder auseinandergerissen worden. Und nichts konnte sie wieder zusammenbringen. Robyn war sich während der Fahrt darüber klar geworden. Es gab kein Zurück. Wenn im Frühjahr wieder an eine Flucht zu denken war, würde man sie nicht mehr gehen lassen. Wenngleich sie keine Sklavin sein würde, sollte der Nordmann sein Wort halten, hatten die Nordmenschen hier Macht über sie. Einer Macht, der sie ausgeliefert war, jetzt und im Frühjahr.

Ath, geliebter Vater.

Robyn stieß leise den Atem aus.

Ich werde dich nicht enttäuschen. Der Kreis schließt sich. Ich werde immer deine Tochter sein, aber vielleicht hat mich diese Reise dorthin geführt, wo ich wirklich herstamme.

Einer der Nordmänner schob sie unsanft in die Halle. Robyn holte tief Atem, sie wusste, was sie drinnen erwarten würde. Abgestandene, von Rauch erfüllte Luft. Das Feuer in der Mitte der Halle brannte lichterloh und sie war dankbar für die Rauch durchzogene, warme Luft. Der Nordmann ließ irgendwann ihren Arm los. Sie stand inmitten der mitgebrachten Kisten, Körbe und Säcke. Die anderen Nordmenschen saßen auf Bänken oder standen um das große Feuer, hinter dem sich ein Thron und drei weitere aus feinstem Holz geschnitzte Sitzgelegenheiten befanden. Den Thron und die zwei Stühle daneben nahmen der König und seine beiden Söhne ein. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, beide Söhne hatten das rote Haar des Königs, wenngleich es bei letzterem von grauen Fäden durchzogen ein derbes, wettergegerbtes Gesicht umrahmte. Robyn starrte ihn augenblicklang an, fing seinen Blick kurz auf, als er über seine Untergebenen und die Ladung des Schiffes hinwegsah. Sie schlug den Blick sofort nieder. Ihre Gänsehaut rührte nicht mehr nur von der Kälte. Sie mochte den König nicht, ohne ihn zu kennen, ohne ihn sprechen gehört zu haben.

Wulf hatte ihre Reaktion beobachtet, während er seine Männer zum Thron führte und dort für einen Moment zähneknirschend ein Knie den Boden berühren ließ, während er den Kopf vor seinem König senkte.

»Seit unserem letzten Wiedersehen sind keine Männer gefallen«, sagte er, als sie sich wieder erhoben hatten. »So kann ich dir die Leibgarde des Kaisers von Byzanz vollzählig übergeben, auf dass sie nun endgültig in deinen Diensten steht. Der Kaiser entsendet seine Grüße und dankt dir für den Schutz seiner Person, der durch deine Männer gewährleistet wurde. In diesem Moment sind wir entbunden von unserer Pflicht, einem fremden Herrscher zu dienen und kehren heim. Der Kaiser schickt dir diese Geschenke.« Wulf wies auf die Ladung. »Stoffe, Gewürze, Seide, Wein, Silber und erlesene Juwelen. Du sollst dich daran erfreuen und deinen alten Freund nicht vergessen. Er wird dich immer willkommen heißen.«

Robyn schaute verstohlen auf die Männer, die vor dem König standen. Schaute auf ihren Retter. Die Leibgarde eines Kaisers. Durch ihr unbekannte Umstände an eine Pflicht gebunden, fern der Heimat zu dienen. Diese Männer hatten sie gerettet. Ihr Kommandant hatte sie gerettet. Sie musste den Blick erneut niederschlagen. In ihrem Kopf begann das quälende Hämmern, ihre Gedanken zu stören. Sie kniff die Augen zusammen, presste ihre Lippen aufeinander. Ihre Fäuste ballten sich unter der Decke, die Anspannung musste ihr helfen, sie musste dies hier durchstehen. Ohne sich innerlich zu lösen, lauschte sie den Worten des Königs.

»Hab dank für deine Worte. Wir erwarteten euch bereits vor zwei Tagen. Die Jahre in Byzanz haben euer Seefahrerblut nicht verdünnen können, ich sehe, ihr habt den Sturm gut überstanden ...«

Seine Stimme war quälend. Robyn verkrampfte sich noch mehr unter der Decke. Wärme, wo war die Wärme in seiner Stimme für jene Männer, die für ihn lange Zeit in fremden Diensten gestanden hatten? Er sprach über die Geschenke, dankte den Männern, brachte seine Erleichterung zum Ausdruck, dass sie wohlauf zurückgekehrt waren, fragte jeden nach seinem Befinden, hörte ihnen zu. Eine Ewigkeit verging. Robyn bemerkte die Zurückhaltung ihres Retters. Der König richtete kaum das Wort an ihn. Eine spürbare Kälte herrschte zwischen den beiden.

Nach einer Weile wurden die Gespräche der anderen Nordmenschen lauter. Scheinbar freuten sie sich auf die bevorstehende Feier zu Ehren der Heimkehrer. Robyn hörte ihre Stimmen zuweilen in Erregung anschwellen, einige hielten bereits Hörner mit Met in ihren riesigen Händen, Männer als auch Frauen.

Wulf wartete geduldig, während sich der König noch immer mit einigen seiner Männer unterhielt. Ihn störte der einschmeichelnde Ton in der vom Alkohol rau gewordenen Stimme. Sie konnte ihm nicht verbergen, was er sonst auf dem Weg zur Halle in den Gesichtern der Menschen gelesen hatte. Unschlüssigkeit, Unsicherheit, Unbehagen. Ein Fest konnte davon ablenken, aber wie lange? Morgen früh würden die Probleme dieselben sein. Und nur ein König konnte dies ändern. Aber er ignorierte es, so gut es ihm möglich war. Ignorierte, dass seine Leute darunter litten, uneins zu sein, getrennt zu sein von den anderen beiden Herrschaftsgebieten, auf die Eilaf rechtmäßig jedoch keinen Anspruch hatte. Weil er nicht der wirkliche König war. Jener würde in seiner Halle sitzen und den Tod vieler seiner Männer zu beklagen haben. Männer, die noch immer mit Sklaven handelten, diesmal jedoch selbst zu Sklaven geworden waren. Sklaven der Wassergeister, die ihre Seelen in Besitz genommen haben würden.

»Wulf.«

Niemand hätte jene düsteren Gedanken vermutet, als der Angesprochene seinen Blick dem König entgegen hob. Seine linke Hand lag ruhig auf dem Schwertgriff, der Mantel verdeckte die rechte zusammengekrampfte, die er in Gedanken schon hatte das Schwert nehmen lassen, nicht um zu töten, nur um seinen König aufzuwecken.

»Sprich, Wulf, welch seltsames Geschenk überbringt ihr noch vom Kaiser. Ein Mädchen in Männerkleidern ... hübsch? Nun das vermag ich nicht zu sagen ...« Einige der Nordmenschen lachten gedämpft. »Doch wohl mit ansehnlichem hellem braunen Haar und ein paar Augen, die das Feuer wie Gold funkeln lässt. Also, was hat es auf sich mit ihr?«

»Ein Fisch, der uns vor zwei Tagen ins Netz ging.«

»Ihr habt sie aus dem Wasser gezogen.« Eilafs Missbilligung war unüberhörbar. Einige der Frauen stießen Verwünschungen aus, andere begannen wieder zu flüstern.

»Ganz richtig«, war alles, was Wulf sagte.

»Ruhe«, schnauzte Eilaf seine Leute an. Augenblicklich verstummten die Stimmen. »Und was denkst du, soll mit ihr passieren?«

»Das werde ich ganz dir überlassen.« Wulf beobachtete Eilafs Unbehagen.

»Du weißt so gut wie ich, dass ihr das nicht hättet tun sollen. Sie war dem Wasser übergeben. Die Wassergeister könnten es uns bei unserer nächsten Überfahrt heimzahlen.«

»Olaf Tryggvason würden deine Worte nicht gefallen«, forderte Wulf den König heraus. »Er würde aus uns viel lieber gute Christen machen. Wassergeister, Aberglauben ...«

»Schweig«, rief Eilaf ungehalten. Wulf bereute seine Worte nicht, er hatte in den letzten Jahren zu selten die Gelegenheit gehabt, Eilaf zu reizen und ihn zu erinnern, was ihnen bevorstand, wenn sie Olaf Tryggvason nicht einig gegenübertraten.

»Ist sie von einem Schiff über Bord gegangen?« Eilafs Blick ging von ihr zurück zu Wulf.

»Vermutlich«, entgegnete Wulf ruhig. »Wir fanden Wrackteile. Ein Schiff vom Westdorf. Sie werden sie als Sklavin geraubt haben. Wo, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht weiter südlich.«

Eilaf blickte über seine Leute.

»Ist jemand bereit, sie zur Frau zu nehmen?«

Die Frauen flüsterten von neuem, diesmal hörte Robyn auch Männerstimmen. Sie glaubte Nixe zu hören, wieder Wassergeister, böses Omen, Untote.

Eilaf wurde ungeduldig.

»Also, wer will sie? Du, Hroar ... Eadgar, nein? Hrethel? Oluff?«

Wulf starrte einen Moment zu ihr hinüber. Sie hielt sich gut. Er hatte erwartet, dass sie niemand als Frau begehren würde. Nun musste Eilaf sie zumindest auf einem Hof unterbringen, als Magd oder Hirtin oder Näherin.

»Wer hat sie aus dem Wasser geholt? Sie zuerst berührt?«

Wulfs Blick schnellte zurück. Er glaubte nicht, was Eilaf im Begriff war zu tun. Und er selbst war machtlos.

»Ich.« Wulfs Stimme gab auch diesmal nichts von seinen wahren Gedanken preis.