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Gadwin's Hallow, Indiana, 1927: In den Wäldern wird die grausam zugerichtete Leiche des kleinen Daniel gefunden. Die Tragödie bleibt kein Einzelfall. Über Jahrzehnte kommen weitere Kinder zu Tode oder verschwinden spurlos. Zwischen den Fällen scheint es keine Verbindung zu geben. Doch 1989 erkennt die Journalistin Maggie Morgan das haarsträubende Muster. Kurz darauf wird ihr Auto samt ihrer Leiche am Abhang neben einer Straße geborgen. Laut Behörden ein Unfall. Maggies Bruder Paul, Ex-Polizist und Vormund ihrer Kinder Jesse und Jill, stößt jedoch auf eine Spur, die andere Schlüsse zulässt. Fieberhaft beginnt er zu ermitteln. Indes stolpert Jesse über die Nachforschungen seiner Mutter. Eine Entdeckung mit Folgen. Bald kann er nicht mehr leugnen, was er schon immer gespürt hat: Etwas Teuflisches lauert im Schatten der Stadt. Da verschwindet das nächste Kind ...
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Seitenzahl: 792
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Sebastian
Inhaltswarnung:
Das Buch beinhaltet wiederholt Beschreibungen von Tod, Gewalt, Blut, Bränden, Alkoholmissbrauch, Kindesentführung, Suizid, Selbstverletzung, Mobbing, Erpressung und Autounfällen. Bitte entscheide selbst, ob du das Buch lesen kannst und möchtest.
EINLEITUNG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
TEIL EINS : DIE SPUR
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
TEIL ZWEI : DAS MUSTER
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
TEIL DREI : DER NAME DER FINSTERNIS
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
EPILOG
19. September 1927
Gadwin’s Hallow, Indiana
Etwas steht in Flammen. Da ist sich Daniel Gadwin, als er am Nachmittag aus der Bibliothek tritt, sicher. Eine andere Erklärung kann es für den brenzligen Geruch, den der Nordostwind heranträgt, nicht geben. Rührt daher auch die für die Tageszeit ungewöhnliche Düsternis? Ist sie das Ergebnis dichter Rauchschwaden?
Daniel sieht zum Himmel hinauf, wo sich dicke, schwarze Regenwolken ballen, deren pralle Bäuche sich gen Erdboden wölben. In der Ferne grollt Donner.
Wahrscheinlich hat irgendwo ein Blitz eingeschlagen, einen Baum oder ein Gebäude erwischt. Hoffentlich kein Wohnhaus!
Er läuft die Stufen der Bibliothek hinunter und macht sich auf den Heimweg. Sicherlich ist seine Mom schon krank vor Sorge, weil er hier draußen bei drohendem Unwetter herumläuft. Er hingegen genießt die elektrisierende Atmosphäre, die innere Unruhe vor dem Sturm.
Er passiert das Rathaus, die Turmuhr schlägt drei, der Brandgeruch gewinnt an Intensität. Daniel stoppt mitten auf dem Gehweg und dreht sich um. Hinter ihm säumen beide Häuserzeilen die schnurgerade Straße, rasch wandert sein Blick daran entlang. An ihrem Ende im Nordosten ragt hoch die Bibliothek auf; irgendwo dahinter muss es brennen. Doch nirgends ist der orangerote Schimmer eines Feuers zu sehen. Dafür Leute, die ebenfalls stehen bleiben oder beim Laufen nach der Quelle des unheilvollen Geruchs Ausschau halten. Darunter eine junge Frau, die vier rot-weiße Dosen an ihre Brust drückt, wahrscheinlich Campell’s. Sie hat es eilig, trotzdem reckt sie immer wieder den Hals. Es ist kaum mit anzusehen. Bestimmt stolpert sie gleich. Da liegt sie auch schon! Ein älterer Mann hilft ihr auf und ein Mädchen sammelt drei der Dosen ein, die über den Gehweg kullern. Die vierte rollt unter ein Auto und wird vergessen. Die drei unterhalten sich kurz, dann wenden sie sich gleichzeitig in Richtung Bibliothek. Daniel wartet auf eine Reaktion. Auf einen Fingerzeig, einen Aufschrei, Hysterie … doch nichts.
»Siehst du was?«, fragt ein kleiner Junge seine Mutter. Er greift nach ihrer Hand, drückt sich an ihr Bein und zieht den Kopf wie eine Schnecke ein.
Seine Mutter blickt nach Nordosten. Ihr langer, schwarzer Mantel bläht sich im Wind wie ein Ballon, ihre roten Haare fliegen nach hinten, lodernd wie das Feuer, das irgendwo im Verborgenen brennt.
Daniel wartet gespannt auf ihre Antwort. Sie ist viel größer als er. Vielleicht sieht sie etwas; Rauch, Funken, die Spitzen züngelnder Flammen …
»Nichts, mein Schatz.«
Enttäuscht wendet sich Daniel ab und folgt weiter der Straße, die von der Bibliothek weg und dabei leicht und stetig bergauf führt. Wenn er erst den höchsten Punkt erreicht hat, wird er mehr sehen. Und mehr wissen als alle anderen, die nach und nach in Seitenstraßen abtauchen, in Geschäfte oder Wohnhäuser abbiegen, ihrem Alltag nachgehen, als wäre nichts.
Als läge nichts in der Luft.
Bald ist Daniel allein unterwegs. Irgendwo hinter ihm zuckt ein Blitz, kurz darauf erschüttert ein Donnerschlag die Grundmauern der Stadt. Die Luft vibriert, der Boden unter seinen Füßen erzittert. Es wird dunkler und dunkler; die Nacht scheint hereinzubrechen. Gleichzeitig wird der Wind stärker, legt sich wie eine große Hand an seinen Rücken und schiebt ihn die Straße hinauf, als wollte er ihm etwas Wichtiges zeigen. Und so stolpert er bergauf, sein Ziel – der höchste Punkt – vor Augen.
Schließlich erreicht er es. Inzwischen hat sich der Brandgeruch verflüchtigt; er denkt kaum mehr daran und vergisst ihn ganz, als Erin und Donnie Winslow vor ihm in sein Blickfeld geraten. Sie jagen ihren Zeitungen hinterher und versuchen, sie vor dem nahenden Unwetter zu retten. Der Verkaufsstand muss heute wohl nach drinnen verlegt werden. Böen ohrfeigen Erin, reißen an ihr, schubsen sie erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ihr Mann hingegen, ein echtes Schwergewicht, bewegt sich mit der Unerschütterlichkeit eines Frachtschiffs durch den Sturm, langsam und behäbig, so als wehte nicht ein Lüftchen. Indes prallt Böe um Böe, Welle um Welle einfach an ihm ab.
Plötzlich hält Donnie in seinem Tun inne und wendet sich nach Daniel um. Dieser hebt die Hand zum Gruß, doch Donnies Blick geht glatt durch ihn hindurch, über ihn hinweg – Richtung Nordosten.
»Heilige Scheiße!«, dröhnt Donnie.
»Du sollst nicht fluchen, Donnie Winslow!«, keift Erin, fährt zu ihm herum, bemerkt Daniel und lächelt ihm zu. »Vor allem nicht vor dem Pfarrersjungen und … O Gott!«
Donnie Winslow ignoriert sie oder hört sie nicht – einerlei.
»Heilige Scheiße!«, wiederholt er nur. »Sie brennt! Die verdammte Kirche brennt!«
Daniel wirbelt herum, wendet sich der kleinen Stadt zu, die vor ihm ausgebreitet liegt, und dem dichten Wald, der sich dahinter an ihre Grenze schmiegt. Das Entsetzen packt ihn.
Er ist nicht zu übersehen, der brennende Kirchturm. Sonst ragt er schneeweiß aus dem Wald auf. Nun verhüllt ihn ein Vorhang aus schwarzem Rauch. Windböen lüften diesen gelegentlich und die Flammen, die den Turm verzehren, kommen zum Vorschein. Um das Gotteshaus wogen die Bäume hin und her. Der Kirchturm – der brennende Mast eines sinkenden Schiffes in unruhiger See.
Daniels Gedanken jagen. Ist sein Vater in der Kirche? Zusammen mit anderen Leuten? Und was soll er tun? Wohin soll er gehen? Zur Kirche? Seinen Vater suchen? Nach Hause? Seiner Mutter Bescheid geben? Letzteres wird er tun. Denn was könnte er, ein Junge von zwölf Jahren, schon gegen ein Feuer ausrichten?
Kaum hat Daniel seine Wahl getroffen, setzt ein sintflutartiger Regen ein. Innerhalb von Sekunden ist er bis auf die Haut durchnässt. Egal! Er muss sich beeilen!
Halb blind sprintet er durch die Straßen. Die Sturzflut droht, die Stadt zu ertränken. Als er sein Elternhaus erreicht, zittern seine Hände dermaßen, dass er seinen Schlüssel in der Tasche lässt. Er hebt die Faust und pocht gegen die Haustür. Zu seiner Überraschung schwingt sie auf.
Daniel stolpert über die Schwelle und verharrt dann reglos im halbdunklen Flur. Lautlos wie eine Saloontür schwingt die Haustür hinter ihm heran; einen Spaltbreit bleibt sie offen, durch den gedämpft das Prasseln des Regens dringt. Wassertropfen fallen von seiner Jacke auf den makellosen Holzboden. Die Stille ist erdrückend. Aus der Küche dringt Licht und der Mantel seiner Mom hängt am Ständer neben ihm. Er könnte nach ihr rufen, doch er wagt es nicht.
Daniels Herz klopft schnell und schwer in seiner Brust. Nicht nur vom Sprint. Zögerlich setzt er einen Fuß vor den anderen. Je näher er der Küche kommt, desto heller wird das Licht, desto weicher werden seine Knie. Auf halbem Weg hält er inne. Ein Geruch liegt in der Luft. Kein Rauch, sondern etwas anderes. Stechend, metallisch, Übelkeit erregend …
»Daniel! Daniel, wach auf!«, beschwor ihn eine vertraute Stimme; jemand rüttelte sanft an seiner Schulter.
Daniel erschrak, riss seine Augen auf und blinzelte. Die tiefstehende Abendsonne blendete ihn, ihre rotgoldenen Strahlen fielen durch die Lücken zwischen den Bäumen. Schwer atmend schirmte er seine Augen mit einer Hand ab und setzte sich auf. Unter ihm knisterte vertrocknetes Laub. Was machte er nur hier draußen? Da fiel es ihm wieder ein: Irgendwann am Nachmittag hatte er sich am Fuße eines Baumes ins Gras plumpsen lassen und sich träge an dessen Stamm gelehnt. Die Luft war angenehm warm und alles um ihn herum still gewesen. Er musste eingeschlafen sein. Kein Wunder! Er war furchtbar müde gewesen. Irgendeiner der anderen Jungen im Schlafsaal, vermutlich Sammy, hatte die halbe Nacht geheult, dabei geräuschvoll geschluchzt und geschnieft.
Auch Daniel war im Moment nach Heulen zumute – den brennenden Kirchturm kristallklar vor Augen, den Geruch nach Blut in der Nase –, doch er nahm sich zusammen. Schließlich war er nicht allein. Sein Blick glitt zu Ernest, dessen Stimme ihn geweckt hatte. Er ging neben Daniel in die Hocke und musterte ihn eindringlich.
Ernest war ein schlanker, hochgewachsener Mann in den Zwanzigern, dessen dunkles Haar schon ins Grau spielte, so wie die Blätter einiger Laubbäume bereits Ende August begannen, sich zu verfärben. Seine Gesichtszüge waren warm und weich, und selbst wenn seine Stimmlage verriet, dass er zornig war, wollten sich seine Züge nicht erhärten. Vor knapp einem Jahr war Daniel ihm das erste Mal begegnet, vor der geöffneten Tür des Waisenhauses im Gegenlicht des schweren Kronleuchters in der Eingangshalle – es hatte ausgesehen, als hätte ihn ein Glorienschein umgeben.
»Hattest du wieder den Traum?«, fragte Ernest leise, vertraulich.
Daniel nickte schwach, doch im Stillen korrigierte er ihn: nicht der Traum, sondern die Erinnerung – in Form eines wiederkehrenden Albtraums.
Ernest sah besorgt drein und legte eine Hand halb auf Daniels Scheitel, halb auf seine Stirn, so als wollte er unauffällig prüfen, ob er fieberte. Währenddessen versank die Sonne hinter dem Horizont, ihr Licht verflüchtigte sich, die warmen Herbstfarben ergrauten. Wie aufs Stichwort kroch eine Eiseskälte in Daniels starre Glieder und ließ ihn erzittern.
»Lass uns reingehen, Daniel.« Ernest drückte ihm liebevoll die Schulter. Dann erhob er sich aus seiner kauernden Haltung und fügte hinzu: »Ich muss was mit dir besprechen.«
Daniel stand auf und sah ihm hinterher, ohne sich zu rühren. Schließlich folgte er ihm auf wackligen Beinen und mit flauem Magen ins Waisenhaus.
Ernest führte Daniel in sein Büro. Es duftete nach Büchern, die nach Verfassern sortiert in den Regalen schlummerten. Auf ihren dunklen Buchrücken prangten goldene Lettern, die im Licht einer Schreibtischlampe schimmerten.
Ernest wies Daniel an, auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und sich kurz zu gedulden – er sei gleich zurück.
Daniel mochte Ernest sehr gern. Zeitgleich als Daniel ins Waisenhaus gezogen war, vor etwa einem Jahr kurz nach dem Kirchenbrand, hatte er angefangen, hier zu arbeiten und die Leitung der Jungenabteilung übernommen. Ernest war so anders als sein Vater, Nathaniel Gadwin, es gewesen war! Von Lori Delavan, die in der Mädchenabteilung arbeitete, aber manchmal in der Jungenabteilung aushalf, hätte Daniel das nicht sagen können. Sie erinnerte ihn so stark an seine Mutter Joanna, dass er ihre Nähe kaum ertragen konnte. Wenn Miss Delavan ihn ansprach – was nur noch selten geschah –, sagte er kein einziges Wort, und wenn sie ihm näherkam, wich er zurück, aus Furcht, sie könnte ihn auf dieselbe Weise berühren, wie seine Mutter es getan hatte. Beiläufig und mit den Fingerspitzen. Zugleich sehnte er sich nach Miss Delavans Nähe und nach ihrer Berührung. Er verstand seine eigenen Gefühle nicht. Seine Brust zog sich schon allein beim Gedanken daran schmerzlich zusammen.
Als Ernest zurück war, stellte er zwei dampfende Teetassen auf seinem Schreibtisch ab und ließ sich Daniel gegenüber nieder. Er musterte ihn eine Weile.
»Es hat mir nie gefallen, dass du hier bist, Daniel.«
Der Satz schmerzte wie ein Schlag.
Plötzlich langte Ernest über den Tisch und ergriff seine Hand. Reflexartig wollte Daniel sie ihm entziehen, doch seit dem Tod seiner Eltern waren wohlmeinende Berührungen so rar geworden, dass er es nicht über sich brachte, obwohl er tief verletzt war.
»Du hast mich falsch verstanden«, erklärte Ernest. »Ich meinte hier in diesem Haus, Daniel. Das muss schrecklich für dich sein.«
Daniel begriff, fühlte Erleichterung – und gab ihm recht. Es war schrecklich, es war ungerecht, es war die Hölle. Denn das Waisenhaus war ursprünglich sein Elternhaus gewesen. Vor vier Jahren hatte sein Vater – Pfarrer und Wohltäter – befunden, dass das Anwesen viel zu groß für eine dreiköpfige Familie sei. Ja, der vorhandene Platz sei an sie verschwendet. Also hatte er ein Waisenhaus darin gegründet und zusammen mit seiner Familie ein kleineres Haus am Stadtrand bezogen.
Es war eigenartig. Früher war Daniel das Anwesen riesig vorgekommen, mit seinen drei Etagen, den hohen Zimmerdecken, der großen Eingangshalle und den langen Korridoren. Doch nun, da er wieder hier war, kam ihm das Gebäude winzig und beengt vor. Ja, er passte nicht länger hinein; es erdrückte ihn regelrecht.
Daniel starrte in die Dampfschwaden, die seiner Teetasse entstiegen wie Rauch einem Vulkankegel. Ernest zog seine Hand zurück und atmete bedeutungsvoll aus.
»Du brauchst Veränderung, Daniel. Ein stabiles, neues Umfeld.«
Worauf wollte Ernest hinaus? Daniel wagte nicht, zu fragen. Um seine Unsicherheit zu verbergen, griff er nach der Teetasse und nahm einen Schluck. Das Getränk war angenehm warm und süß – Ernest fügte immer einen Löffel Zucker hinzu –, hatte aber einen eigenartigen Beigeschmack, der ihn schaudern ließ. Vermutlich eine neue Teesorte. Kamille, Salbei oder irgendetwas anderes, das wie Arznei schmeckte. Er dachte jedoch nicht im Traum daran, sich zu beschweren. Brav trank er aus und bedankte sich.
Ernest lächelte.
»Wir haben eine Pflegefamilie für dich gefunden, Daniel. Ein nettes Paar, das dich adoptieren will. Holden und Judith Pendergast. Ich denke, es wird dir bei ihnen gefallen.«
Daniel sagte nichts dazu, also fuhr Ernest fort: »Die beiden leben in Seattle. Sehr weit von hier weg, ich weiß. Aber ich glaube, dass dir der Abstand guttun wird.«
Daniel sagte immer noch nichts. Wie betäubt blickte er in seine leere Tasse. Sollte er sich nicht eigentlich über Ernests Nachricht freuen? Zumindest ein bisschen? Stattdessen wollte er plötzlich nichts sehnlicher, als hierbleiben, obwohl er es als Tortur empfand.
Veränderung sollte er also brauchen? Doch was war, wenn er keine wollte?
Daniel hält vor der angelehnten Küchentür inne. Er zittert unkontrolliert, atmet flach, kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Schließlich überwindet er sich und betritt den Raum. Ihm entfährt ein heftiges Schluchzen.
Seine Mutter liegt auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, ihr Kopf leicht nach links verdreht. Sie muss gebacken haben. Auf ihrer dunkelgrünen Schürze sind weiße Handabdrücke zu erkennen. In Daniels Augen die Handabdrücke eines bösen Geistes, der nach ihrer entweichenden Seele gegriffen hat.
Er wankt wie ein Untoter auf sie zu, dabei brennt sich ihr Anblick in sein Gedächtnis ein, so wie es der bedeutungsschwere Brandgeruch getan hat, der unwiderruflich mit diesem Abend verknüpft ist.
Unmittelbar neben ihr geben seine Beine nach und er knickt ein. Heftige Schluchzer erschüttern ihn, doch er will ihr nahe sein. Er kauert sich neben sie, trotz der rostroten Blutlache, in der ihr Kopf ruht.
Ihre weit geöffneten Augen, nichts weiter als zwei matte Scheiben, blicken starr zu ihm empor. Doch sie sieht ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch, hinein in eine Welt, die nicht seine Welt ist, in eine Anderswelt, die nur ihr offensteht.
Dieser Albtraum fühlt sich realer an als je zuvor, so sehr deckt er sich mit seiner Erinnerung an jenen Novemberabend. Doch plötzlich bringt jemand diese Überzeugung ins Wanken: eine vertraute Gestalt, die lautlos wie eine Katze im Türrahmen aufgetaucht ist und ihn beobachtet.
Daniel fährt hoch. Sogleich will er sich dem Mann nähern, der seinem heißgeliebten Vater bis aufs letzte Haar gleicht. Doch das lange, schimmernde Messer in seiner Hand und das puppenhafte Grinsen, das sein Gesicht entstellt, halten ihn davon ab. Der Mann kommt näher. Daniel will fliehen, aber seine Mutter schlingt eine kalte Hand um seinen Fußknöchel und hält ihn fest gepackt. Hilflos muss er mit ansehen, wie der andere auf ihn zukommt, wie er das Messer hebt, um es ihm in die Körpermitte zu treiben …
Daniel erwachte mit stechenden Schmerzen im Magen und tastete panisch seinen Bauch ab. Doch da war nichts. Kein Messer, nur diese grauenhaften Schmerzen, die ihm ein gequältes Stöhnen entlockten.
Vielleicht würde es besser, wenn er ganz ruhig liegenbliebe. Er wartete, hoffte. Minuten verstrichen, die Schmerzen rollten in Wellen über ihn hinweg und türmten sich auf. Es wurde schlimmer – er brauchte Hilfe.
Er krächzte nach einem der anderen Jungen, doch seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Also quälte er sich aus seinem Bett. Kaum stand er aufrecht, wurde ihm schwarz vor Augen und seine Beine gaben nach. Auf dem Boden krümmte er sich wie eine Made zusammen, ergab sich den Schmerzen, fror und zitterte. Zugleich stand ihm der Schweiß auf der Stirn.
Eine Ewigkeit verging. Dann drangen Stimmen zu ihm durch. Jemand hob ihn hoch, trug ihn fort. Die Welt um ihn herum drehte sich und jedes Mal, wenn er blinzelte, stieg unerträgliche Übelkeit in ihm hoch. Also presste er die Augen fest zusammen. Erst nachdem er auf einer Matratze abgelegt worden war und sich eine kalte Hand auf seine glühend heiße Stirn legte, wagte er es, sie wieder zu öffnen. Er atmete erleichtert aus – die Welt war wieder zum Stillstand gekommen.
»Wo bin ich?«, fragte er matt.
»Unten im Krankenzimmer«, sagte Ernest.
Also im alten Nähzimmer meiner Mutter. Daniel sah sich mit trübem Blick um. Dieses Zimmer hatte nichts mehr mit dem heimeligen Rückzugsort seiner Mutter gemein, so kahl, trist und kalt wie es war. Vier Metallbetten standen darin – die anderen drei unbelegt –, ein klobiger Schrank und ein Schreibtisch, auf dem eine Lampe brannte. An einer der weißen Wände hing die Kinderzeichnung einer Fee, die dem Zimmer etwas Leben einhauchen sollte, die bedrückende Leere aber nur unterstrich.
Ausgehöhlt. Man hatte das Zimmer ausgehöhlt. Tagsüber, wenn das Sonnenlicht durch das Fenster fiel, mochte es hier vielleicht besser zu ertragen sein.
In der nächsten Sekunde krampften Daniels Eingeweide erneut. Er hielt den Atem an, rollte sich zusammen, rührte sich nicht.
»Es tut so weh!«
»Ich weiß«, sagte Ernest und etwas in seiner Stimme sorgte dafür, dass sich Daniel weder verstanden noch besser fühlte. Immerhin lockerte sich der eiserne Griff in seinem Inneren wieder und er sog gierig die Luft ein.
Ernest setzte sich auf seine Bettkante und half ihm dabei, sich aufzurichten. Daraufhin hielt er ihm ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit hin.
»Trink das. Dann geht’s dir besser.«
Daniel tat, wie ihm geheißen. Anschließend sank er zurück in sein Kissen. Ein paar Minuten vergingen. Ernest blieb neben ihm sitzen, sagte nichts.
Nicht ein Wort.
Unbehagen machte sich in Daniel breit – zum ersten Mal in Ernests Nähe. Nicht lang und es wich einer unsäglichen Müdigkeit. Seine Glieder wurden schwer, seine Lider bleiern. Ihm war, als verwandelte er sich in Stein. Unterdessen stand Ernest auf, ging zum Fenster und öffnete es sperrangelweit. Dann vollführte er eine eigenartige Bewegung mit der Hand. Fast so, als gäbe er jemandem ein Zeichen. Doch wem sollte es schon gelten? Wer sollte dort sein?
Da draußen.
Im Dunkeln.
Ein Schaudern durchlief Daniels Körper vom Scheitel bis in die Zehenspitzen.
Ernest wandte sich vom Fenster ab, sagte, er sei gleich zurück, und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Warten Sie«, nuschelte Daniel; er war so müde, dass ihm das Sprechen äußerste Mühe bereitete. Lippen, Kiefer, Zunge, alles war wie gelähmt. »Können Sie das Fenster wieder schließen, bitte?«
Kommentarlos zog Ernest die Tür hinter sich zu. Dann ertönte ein Klicken. Seltsam. Hatte er die Tür verriegelt? Doch warum sollte er das tun? Es ergab keinen Sinn. Wahrscheinlich schlief er schon halb, vermischte Traum mit Wirklichkeit. Das Klicken? Einbildung. Mehr nicht. Ja, mehr nicht. Alles war gut, alles war …
Etwas knirschte. Daniels Blick huschte zum geöffneten Fenster, hin zu dieser pechschwarzen Leinwand, eingefasst in einen weißen Rahmen.
War dieses Geräusch auch nur Einbildung gewesen? Auch nur Teil eines Traums? Und mehr nicht?
Unverwandt hielt er seinen Blick auf das Fenster gerichtet. Die Leinwand blieb schwarz und so ergab er sich seiner Mattigkeit und versank langsam in der Dämmerung. Immer tiefer zog es ihn. Dann riss es ihn wieder hoch. Das Knirschen!
Es war ein wenig lauter diesmal, so als hätte sich etwas genähert, zugleich verstohlen, wie der vorsichtig gesetzte Schritt eines Raubtiers.
Plötzlich füllte etwas den Fensterrahmen. Eine in Schwarz gehüllte menschliche Gestalt, ihr Gesicht hinter einer Pestmaske verborgen, deren scharfer Schnabel in den Raum hineinragte. Nur die Augen starrten aus runden Öffnungen, taxierten Daniel, dem die Tränen kamen. Verbissen versuchte er, sich zu rühren, um Hilfe zu rufen, zu schreien. Doch kein Laut drang über seine versiegelten Lippen. Obwohl er sich so krampfhaft bemühte, dass er glaubte, seine Lunge müsste bersten.
Kurz verharrte die unheimliche Schöpfung vor dem schwarzen Grund. Dann kletterte sie behände wie eine Spinne ins Innere des Zimmers, näherte sich Daniel, packte ihn und entschwand mit ihm in die Nacht.
13. Oktober 1947
Gadwin’s Hallow, Indiana
Russel Lovecraft zitterte so heftig, dass seine Zähne unkontrolliert aufeinanderschlugen. Wahrscheinlich biss er sich jeden Moment auf seine Zunge. Schon breitete sich der Übelkeit erregende Geschmack von Eisen in seinem Mund aus.
Er war ja so nervös! Die klirrende Kälte und der Herbstwind machten es nicht besser. Im dunklen Wald zu seiner Rechten ächzten und stöhnten die Bäume.
Jetzt kommt doch endlich! Russel ließ seinen Blick den buckligen Feldweg entlangwandern, den er zum Waldrand genommen hatte. Doch der Weg – im silbrigen Licht des Vollmonds gut sichtbar – lag so verlassen da wie ein Bahnsteig im Nirgendwo. Das einzige Lebewesen, das ihm Gesellschaft leistete, war ein magerer Fuchs, der ein paar Meter entfernt aus dem Wald trottete. Bei Russels Anblick erschrak das Tier und stahl sich mit einem Satz zurück ins Unterholz. Seine jähe Flucht war natürlich, aber unbegründet. Russel hatte nicht die Absicht, ihm etwas anzutun. Tatsächlich war ihm das Tier vollkommen gleich. Er war ein kleiner, blasser Junge von vierzehn Jahren, der zum Kränkeln neigte und nur an diesen gottverlassenen Ort gekommen war, um allen zu beweisen, dass er Mumm in den Knochen hatte. Ja, dass er mehr war. Mehr als ein Geist auf der letzten Bankreihe seines Klassenzimmers, dem keiner je Beachtung schenkte und dessen Namen niemandem im Gedächtnis bleiben wollte. Nicht einmal seinen Lehrern!
Zu Hause war es nicht besser. Seine Eltern vergaßen zwar nicht Russels Namen, aber gelegentlich entfiel ihnen, dass er ein fühlendes Wesen war. Russel war der jüngste von fünf Söhnen, ein »Versehen«, wie seine Mutter ihn einmal im Jahr mehr ernsthaft als scherzhaft nannte, und eine »bittere Enttäuschung«, wie sein Vater ihn mehr als einmal im Jahr erinnerte. Dann gab es da noch Liv D'Anastasio, ein gnadenloses Raubtier, das sich einen Spaß daraus machte, ihn zu schikanieren, zu beleidigen und zu verprügeln, wenn ihr der Sinn danach stand. Schließlich war Russel ein gefundenes Fressen.
Vielleicht würde ihm Liv in Zukunft mehr Respekt zollen. Vielleicht würde sie ihn sogar in Frieden lassen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht … Nein, ganz sicher! Heute Nacht würde sich sein Blatt wenden! Das Angebot drei seiner Mitschüler war eine einmalige Gelegenheit für ihn. Ihre Worte von heute Morgen auf dem Schulweg hallten nach wie ein Echo: Du willst dazugehören? Dann triff dich mit uns. Eine halbe Stunde vor Mitternacht oben am Waldrand. Dort, wo der Feldweg endet. Sei pünktlich und erzähl niemandem davon, verstanden?
Zweifel nagte in Russels Brust, trotzdem hatte er sich darauf eingelassen. Sicher – es war riskant, ihnen zu vertrauen. Vielleicht war es sogar ein gewaltiger Fehler. Aber was hatte er schon zu verlieren?
Fünf weitere Minuten verflossen. Fünf grässliche Minuten, in denen sich niemand blicken ließ. Um nicht auszukühlen, trat er auf der Stelle, doch der schneidend kalte Wind, der ungebremst über das abgeerntete Maisfeld peitschte, machte seine Versuche zunichte.
Schließlich erfasste ihn bittere Enttäuschung. Sie würden nicht kommen. Er hätte es besser wissen müssen! Ja, er würde alles, was ihm lieb und teuer war – und das war nicht viel – darauf verwetten, dass die drei jetzt zu Hause im Warmen saßen und sich über die Vorstellung totlachten, wie er frierend am Waldrand stand und vergeblich auf sie wartete.
Verräter! Miese, elende Verräter!
Wütend trat er gegen einen Baumstumpf. »Autsch!« Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er sich beschämt auf den glatten Stumpf sinken, um seinen schmerzenden Fuß zu entlasten. In diesem Moment trug der Wind Stimmen und leises Gelächter zu ihm heran.
Russel sprang auf und lauschte angestrengt; sein Schmerz war vergessen. Kurz darauf erspähte er drei Gestalten auf dem Feldweg. Sie waren mit Taschenlampen ausgestattet und schlenderten in seine Richtung. Bei ihm angekommen, starrten sie ihn so überrascht an, dass es an Beleidigung grenzte.
»Respekt, Russel!«, dröhnte Aaron Hanson. »Hätte nicht gedacht, dass du hier aufkreuzen würdest.«
Nachdem er Russel anerkennend auf die Schulter geklopft hatte, fischte er ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche und ließ es geistesabwesend auf- und zuschnappen. Ein Tick, der Russel nervös machte.
»Wir haben ’ne Wette abgeschlossen, ob du kommst oder nicht«, fügte Vincent Young hinzu, feixte über beide Ohren und entblößte dabei eine Zahnlücke – das Ergebnis einer Schulhofprügelei, die Russel aus der Ferne beobachtet hatte.
»Apropos Wette«, säuselte Dilton Newman, der Kopf der Gruppe, verschwörerisch. »Du schuldest mir ’nen halben Dollar, Vince.«
Einen halben Dollar – so viel bist du ihnen immerhin wert!
»Ja, ja, ja …«, murrte Vincent, kramte das Geld aus seiner Hosentasche und drückte es Dilton in die Hand. »Kauf dir was Schönes.«
Russel musterte Dilton verstohlen. Der blonde, bebrillte Junge war ruhiger als seine beiden Kumpane – das machte ihn sympathischer, aber auch unberechenbar.
»Tut mir leid, dass du warten musstest«, sagte Dilton.
»Schon okay«, zeigte Russel sich nachsichtig und schluckte den letzten Rest Ärger über ihre Verspätung hinunter.
»Du willst bestimmt wissen, worum’s hier geht, oder?«, hakte Dilton nach.
Russel nickte.
»Um eine Mutprobe. Aaron, König Großmaul hier« – »Ey!«, krakelte Vincent – »und ich haben sie schon bestanden. Jetzt bist du dran. Also, wie sieht’s aus? Stehst du auf Nervenkitzel?«
»Äh … klar doch«, log Russel und schluckte schwer.
Eigentlich stand er auf harmlose Bücher, Schach und anderen Kram, mit dem man sich auf möglichst unspektakuläre Weise die Zeit vertreiben konnte. Selbst klassische Schauergeschichten wie Mary Shelley’s Frankenstein und Bram Stoker’s Dracula waren ihm so unheimlich gewesen, dass er die Lektüre nach wenigen Seiten zurück ins Bücherregal seiner Mutter gestellt und nie wieder angerührt hatte. Zweifellos: Nervenkitzel rangierte auf der Liste der Dinge, die er mochte, ganz weit unten.
»Das klang ja nicht besonders überzeugend«, bemerkte Aaron in einem Tonfall, der ätzte wie Säure.
»Hab doch gleich gesagt, dass er kneifen wird«, meinte Vincent und gähnte demonstrativ. »Was für ’ne Zeitverschwendung!«
Russel unterdrückte ein nervöses Händeringen und blickte entschlossen von einem zum anderen. Er musste jetzt überzeugen oder seine Chance war vertan.
»Ich bin doch hier, oder etwa nicht? Also, sagt halt einfach, was ich machen soll!« Es kostete ihn Mühe, den Mutigen zu spielen und einen fordernden Ton anzuschlagen, aber der Sprung über seinen Schatten zahlte sich aus.
»Hab euch doch gesagt, dass er der Richtige ist«, triumphierte Dilton und schenkte Russel ein anerkennendes Lächeln. »Hast du schon mal von Uriah Black gehört?«
»Uriah Black? War das nicht der komische Kauz, dem die Hütte im Wald gehört hat?«
»Genau der. Und weißt du auch, wie er gestorben ist?«
»Keinen Schimmer.«
»Er hat sich mit ’ner Abgesägten das Hirn in seiner Hütte weggepustet. Gleich nachdem er seine Frau mit ’ner Axt in kleine Stücke zerlegt und ihre Einzelteile draußen verscharrt hat.«
»Ist ja übel! Warum hat er das gemacht?«
»Weil ihn seine Frau betrogen hat. Sonderlich bemüht, das Ganze geheim zu halten, hatte sie sich nicht. Die ganze Stadt, ja die ganze County wusste, was für ein falsches Biest sie war. Irgendwann kriegte selbst ihr Hinterwäldler-Ehemann spitz, was sie hinter seinem Rücken trieb. Es heißt, dass er sie daraufhin in seiner Hütte erwartete. Mit ’ner weißen Rose in der einen Hand und seiner frisch geschliffenen Axt – versteck hinter seinem Rücken – in der anderen …«
»Scheiße, was für ’n eiskalter Hund! Sah bestimmt aus wie im Schlachthaus da drin«, gluckste Vincent.
Aaron wurde grün im Gesicht.
»Das wusste ich nicht«, gab Russel zu und schüttelte sich angewidert. »Aber was hat das mit der Mutprobe zu tun?«
Die drei rückten näher an ihn heran. Im Wald hinter ihnen knarzten die Bäume und schwankten wie trunken im Wind. Der Takt, in dem Aaron sein Feuerzeug auf- und zuschnappen ließ, steigerte sich, als würde er zunehmend nervös. Selbst Vincent war sein freches Dauergrinsen vergangen.
»Glaubst du an übernatürliche Phänomene, Russel?«, fragte Dilton und machte so große Augen, dass sie aus ihren Höhlen traten.
»Ich weiß nicht so recht.«
Meinte Dilton die Frage ernst? Und wäre es klug, sie ehrlich zu beantworten? Tatsächlich glaubte und fürchtete er sich vor dem Übernatürlichen seit seiner Kindheit. Nicht ohne Grund. Eines Abends hatte ihn sein Vater zu Bett gebracht. Russel wollte noch nicht schlafen und quengelte. Da warnte ihn sein Vater vor einem Monster in Gestalt eines menschengroßen Raben mit schwarzen Augen, zerzaustem Gefieder und einem langen, krummen Schnabel. Nachts treibe das geflügelte Untier sein Unwesen, angelockt vom Geräusch weinender Kinder, die sich weigerten zu schlafen. Zum Fenster komme es herein, packe seine Opfer mit seinen rauen, schuppigen Krallen und entschwinde mit ihnen in die pechschwarze Nacht, um sie an seinen gefräßigen Nachwuchs zu verfüttern.
Nach dieser Gutenachtgeschichte quengelte Russel nie wieder – und weinte sich wochenlang in den Schlaf. Stets darauf bedacht, die hemmungslosen Schluchzer im tränennassen Kissenbezug zu ersticken, damit ihn die scheußliche Kreatur nicht hören konnte oder gar holen kam. Jedes Mal hatte er sich seine Decke bis zum Kinn gezogen, stocksteif dagelegen und zum geöffneten Fenster gespäht, in der grässlichen Erwartung, einen Schatten draußen entlanggleiten zu sehen oder das Schlagen starker Flügel zu hören. Noch immer war ihm mulmig zumute, wenn er abends zu Bett ging.
»Du weißt nicht so recht? Entweder man glaubt an Übernatürliches oder eben nicht«, stellte Dilton klar.
»Dann glaub ich wohl daran.« Russel verkrampfte sich, weil er nichts anderes als Gelächter erwartete. Überraschenderweise blieben sie ernst.
»Dann glaubst du also auch an Geister?«
»Schätze schon. Warum?«
»Weil wir einen Geist gesehen haben«, sagte Aaron.
»Wie jetzt? Ihr habt einen richtigen Geist gesehen?«
»Den Geist von Uriah Black! Und zwar in seiner alten Hütte«, ergänzte Vincent und drehte sich nervös in Richtung des Waldes, als fühlte er, dass zwischen den dicht gedrängten Baumstämmen etwas lauerte.
»Ihr verkohlt mich doch«, sagte Russel, trotzdem breitete sich eine intensive Gänsehaut über seinen Körper aus.
»Wenn wir’s dir doch sagen!«, beteuerte Vincent und nickte heftig mit dem Kopf. »In der Black-Hütte spukt’s!«
»Du musst aber keine Angst haben«, beruhigte Dilton ihn. »Der Geist wird dir nichts tun.«
»Wie, er wird mir nichts tun? Ihr erwartet doch nicht von mir, dass ich zu ihm gehe?«
»Aber darin besteht nun mal die Mutprobe.«
»Oh …«
»Na, hör mal! Wenn ich dir sage, dass dir der Geist nichts tut, dann tut er dir auch nichts«, stellte Dilton klar. »Du musst auch gar nicht viel machen. Du gehst zur Hütte, direkt in das Zimmer, in dem Black seine Frau ermordet hat – zweite Tür rechts, wenn du von vorn reinkommst – und sagst dort Punkt Mitternacht dreimal seinen Namen. Sobald du das gemacht hast, erscheint er und überlässt dir was …«
»Und das wäre?«
»Einen Knochen.«
»Was denn für einen Knochen?«
Die drei tauschten vielsagende Blicke.
»Wir vermuten, dass es Knochen seiner Frau sind, die nicht gefunden wurden«, erklärte Dilton.
»Ihr nehmt mich doch auf den Arm, oder?«
Wie auf Kommando wühlten die drei in ihren Jackentaschen und zogen etwas hervor.
Russel blieb der Mund offen stehen.
Dilton hatte nicht gelogen. In ihren Handflächen schimmerten kleine, bleiche Knochen. Beinahe liebevoll fuhr Vincent mit dem Finger über die glatte Oberfläche.
»Abgefahren, oder?«, fragte er mit unverhohlener Begeisterung, die Russel abstoßend fand.
Von allen dreien war ihm Vincent am unheimlichsten – weshalb ihm nicht danach war, ihm zu widersprechen.
»Echt abgefahren«, bestätigte er und grinste gezwungenen.
»Also, was ist jetzt? Bist du bereit, dir deine Sporen zu verdienen und dem alten Black einen Besuch abzustatten?«, hakte Dilton nach und zog eine Augenbraue nach oben.
»Ich weiß nicht so recht.«
Vincent stöhnte entnervt.
»Komm schon, Russel! Gib dir ’nen Ruck!«, forderte Aaron und klopfte ihm auf die schmale Schulter.
»Wenn du dich traust, gehörst du zu uns. Wir könnten Freunde sein«, stellte Dilton ihm in Aussicht. »Wir würden dich sogar vor Liv beschützen. Ehrenwort!«
Russel ließ sich das Angebot auf der Zunge zergehen und er musste zugeben: Es schmeckte köstlich. Nur ein paar Minuten mutig sein und er müsste nie wieder Angst davor haben, in die Schule zu gehen. Die Vorstellung beflügelte ihn, ließ ihn höher steigen denn je. Seine Zweifel wurden kleiner, verblassten am Erdboden, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
»Okay, bin dabei. Ich mach’s.«
Zu spät. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er würde es durchziehen müssen. Panik packte ihn. Er fiel, doch Dilton fing ihn auf: »Ich wusste, dass du zu uns passt!«
Russel wurde so warm ums Herz wie nie zuvor; die Glut stieg ihm in die Wangen.
»Du weißt, was du zu tun hast?«, hakte Dilton nach.
»Zur Hütte gehen, dann in das Zimmer, wo Black seine Frau ermordet hat, und Punkt Mitternacht dreimal laut seinen Namen sagen.«
»Ganz genau. Und sobald du den Knochen hast, kommst du zu uns zurück.«
»I-ihr kommt nicht mit zur Hütte?«
»Es wär wohl kaum ’ne Mutprobe, wenn wir dir dein zartes Händchen halten, du Genie!«, schnarrte Vincent.
»Klar«, sagte Russel und ärgerte sich über seine Frage.
»Wir warten hier auf dich«, versprach Dilton und händigte ihm seine Taschenlampe aus. »Die wirst du brauchen.«
»Und wie finde ich die Hütte?«
»Folg einfach dem Waldweg hier. Es geht immer geradeaus. Vielleicht zehn Minuten und du bist da.«
»Okay, dann bis gleich«, sagte Russel und ließ die drei hinter sich zurück. Hastig stolperte er den Waldweg entlang und blickte stur geradeaus. Nicht nach links. Nicht nach rechts. Aus Angst, dass das Dunkel zu beiden Seiten Schlimmeres barg als den Geist Uriah Blacks.
Einmal sah er zum Vollmond hoch und erschrak über eine geflügelte Silhouette, die lautlos davor entlangglitt. Eine Eule? Oder der große, pechschwarze Vogel, der nachts die Kinder aus ihren Betten stahl? Zitternd hielt er inne. Ihm sank der Mut – schon wieder! Sollte er zurückgehen? Nein! Er musste das jetzt hinter sich bringen. Du schaffst das!
Er lief schneller. Je eher er die Mutprobe hinter sich brachte, desto besser! Danach würde er diesen Wald nie wieder betreten. Nicht einmal, wenn es taghell und das Dickicht lichtdurchflutet wäre.
Nach zehn Minuten erreichte er die alte Hütte. Er ließ den Strahl der Taschenlampe über die bemoosten Holzwände, die demolierten Fenster und die Tür gleiten, die einen Spaltbreit offen stand. Russels Magen stülpte sich um. Am liebsten hätte er seiner Angst nachgegeben, auf dem Absatz kehrtgemacht und Uriah Blacks Hütte weit hinter sich gelassen. Stattdessen marschierte er zielstrebig auf die Tür zu, umfasste den Knauf und zog sie auf.
Dahinter herrschte nichts als gähnende Dunkelheit, die er mit der Taschenlampe zurückdrängte. Wie gut, dass Dilton sie ihm überlassen hatte! Weil Vollmond war, hatte er seine eigene zu Hause gelassen.
Als er einen Fuß in den Flur setzte, knirschte Glas unter seinen Schuhsohlen. Neben den Splittern, die den Boden übersäten, entdeckte Russel einen kleinen Haufen vertrocknetes Laub – unter den eine fiepende Maus huschte – und ein paar faustgroße Steine. Ideale Geschosse zum Werfen. Die herrenlose Hütte hatte offensichtlich schon andere angelockt, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, dem fortschreitenden Verfall unter die Arme zu greifen.
Diltons Beschreibung folgend, schlich Russel in das zweite Zimmer, das auf der rechten Seite des Flurs lag – hier hatte Black seine Frau ermordet. Die Mitte des kleinen Raums nahm ein schartiger Tisch ein, auf dem ein halb voller Aschenbecher stand. An den Wänden hing eine stattliche Anzahl Jagdtrophäen, überwiegend Hirschgeweihe, mit dichten Spinnweben behangen. Vor der Längsseite des Tisches stand ein schimmeliges Sofa, dessen Polster mit dunkelbraunen Flecken gesprenkelt waren. Sicherlich war der beige Stoff durch Blut ruiniert worden; Russel spürte starken Brechreiz aufwallen.
Angeekelt wandte er sich ab. Wider Willen sah er den grobschlächtigen Uriah Black hier auf seine Liebste warten, die Axt hinter seinem Rücken verborgen, damit seine todgeweihte Ehefrau keinerlei Verdacht schöpfte. Und seinen Geist – den Geist eines rachsüchtigen, skrupellosen Mörders – wollte er rufen? Jetzt? Hierher? Ganz allein und im Dunkeln?
Er musste lebensmüde sein!
Aber was hatte Dilton gesagt? Ich wusste, dass du zu uns passt!
Beweis es ihnen!
Aller Zweifel zum Trotz harrte Russel also auf seinem Posten aus. Er klammerte sich an den Gedanken, dass er die Hütte nicht nur mit einem Knochen verlassen würde, sondern auch mit dem Wissen, Freunde gewonnen zu haben. Eine Aussicht, die seinen Tatendrang befeuerte. Entschlossen lenkte er den Strahl der Taschenlampe über das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Punkt Mitternacht.
»Uriah Black«, flüsterte er und verkrampfte sich.
»Uriah Black«, wiederholte er lauter.
Ein letztes angstbedingtes Zögern, dann: »Uriah Black.«
Kaum hatte er den Namen ein drittes Mal gesagt, frischte der Wind auf. Mit einem lauten Heulen fuhr er durch die Löcher, Spalten und Ritzen in der Hütte – ein Geräusch, als würden dutzende Gespenster durch Blacks ehemalige Behausung spuken und miteinander um ihre Besetzung konkurrieren. Doch so laut das Heulen auch war – das scharfe Knirschen der Glasscherben aus dem Flur war lauter.
Russel wirbelte herum, presste sich die Hand auf den Mund.
Noch ein Knirschen, Stille gefolgt von einem Knarren. Russel hielt den Atem an, verkrampfte vollkommen.
Er war nicht länger allein in der Hütte. Aus seiner Muskelstarre wurde ein Zittern. Seine Gedanken rasten. Hatte sich ein Tier in die Hütte hinein verirrt? Waren es Dilton, Aaron und Vincent? Oder war es tatsächlich der Geist Uriah Blacks, der seinem Ruf gefolgt war, um ihm einen Knochen zu geben? Aber bewegten sich Geister nicht lautlos? Körperlos?
Ein großer Schatten füllte den Türrahmen aus und Russels Überlegungen fielen in sich zusammen.
Es war nicht Dilton. Nicht Aaron. Nicht Vincent. Auch nicht Uriah Black. Kein Mensch und kein Geist. Nichts dergleichen. Es war der pechschwarze Albtraum seiner Kindertage, der dort im Halbdunkel harrte und ihm den Weg abschnitt. Es war das große geflügelte Untier, dessen langer, scharfer Schnabel in den Raum hineinragte. Nach all den Jahren war es gekommen, um ihn zu holen und seine Jungen mit ihm zu füttern, seine hässlichen, nackten Jungen, die irgendwo nach frischer Nahrung kreischten.
Das Ungeheuer pirschte sich an. Russel schrie und weinte so laut wie nie zuvor.
Sonntag, 5. November 1989
Gadwin’s Hallow, Indiana
Jesse Morgan saß mit seiner kleinen Schwester Jill in der Küche ihres Onkels Paul. Eine Schirmlampe hing über dem runden Tisch und tauchte den Raum samt seiner geblümten, gelben Tapete in ein trübes Licht. Von draußen drückte die Dunkelheit des Novemberabends gegen das Fenster und auf die ohnehin schon schlechte Stimmung.
Jesse beobachtete seinen Onkel, der an der Spüle stand und geistesabwesend sein Spiegelbild in der Fensterscheibe betrachtete. Als das Wasserglas überlief, das er unter den aufgedrehten Hahn hielt, löste er sich aus seiner Starre. Er seufzte, drehte das Wasser ab, trocknete sich die tropfende Hand am Pullover und gesellte sich zu ihnen. Jesse hatte seinen Teller von sich geschoben. Sein Hunger war nicht groß, der Appetit erst recht nicht. Nur auf Wunsch seines Onkels hatten sie sich zusammengesetzt und lustlos an ein paar trockenen Sandwiches genagt, die noch vom Vorabend übrig waren. Nach der langen Zeit im Kühlschrank schmeckten sie fade.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Jesse, wie Jill rastlos an ihren Nägeln kaute. Paul legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Nicht. Deine Finger sehen schon schlimm genug aus.«
Jill fügte sich gehorsam und ließ von ihren zerkauten Nägeln ab.
Jesse schielte zu ihr hinüber. Sollte er sie in die Seite knuffen oder ihren Arm berühren, um sie aus sich herauszuholen? Er hob seine Hand, dann ließ er sie wieder sinken. Der leere Platz zwischen ihnen schien ihm ein unüberwindbares Hindernis. Im Normalfall säße seine Mutter auf dem Stuhl neben ihm. So wie immer, wenn sie Paul besuchten. Doch seit Kurzem herrschte kein Normalfall mehr und Besuche dieser Art würde es auch nie wieder geben.
Paul räusperte sich vernehmlich. Das tat er neuerdings ständig, denn das drückende Schweigen beim Abendessen war so zur Norm geworden, dass er offensichtlich meinte, ihn und Jill vorwarnen zu müssen, wenn er etwas sagen wollte.
»Hört mal, ich weiß, dass ihr morgen wieder zur Schule geht und dass sie euch Druck machen werden, weil ihr so viel Stoff nachzuholen habt, aber wenn ihr noch Zeit braucht, dann rede ich mit Dr. Simmons und …«
»Schon okay«, sagte Jill, die seit September auf die örtliche Junior High ging. »Ich schaff das.«
Sie war sich ihrer Sache sicher, aber Jesse ließ sich das Angebot kurz durch den Kopf gehen. Schließlich fällte er eine Entscheidung.
»Ich auch.«
Was würde es ihm nützen, noch länger zu Hause zu bleiben? Wenn er ehrlich war, drehte er hier langsam durch. Etwas Abstand von Paul könnte er gut gebrauchen. Sogar dringend gebrauchen. Wieder zum Unterricht zu gehen und eine Aufgabe zu haben, würde sich außerdem anfühlen wie ein Hauch Normalität, eine Brise Alltag im seit Wochen andauernden Ausnahmezustand. Seine Freunde, Dean und Sasha, würde er auch wiedersehen – das erste Mal seit der Beerdigung. Wie sehr sie ihm fehlten! Insbesondere Sasha. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen und sein Entschluss erhärtete sich. Es musste bergauf gehen, er konnte sich nicht länger verkriechen.
»Ganz wie ihr wollt«, sagte Paul.
Dann schien das ja geklärt. Jesse stand auf, doch sein Onkel hielt ihn zurück.
»Nicht so schnell, ja? Das war noch nicht alles. Ich finde, es wird Zeit, dass wir klären, wann wir den Rest eurer Sachen aus dem Haus eurer Mutter …«
»Müssen wir unbedingt jetzt darüber reden?«, fiel Jesse ihm ins Wort.
»So kommst du mir jedes Mal, wenn ich das Thema anschneide. Bisher hab ich Rücksicht genommen, aber wir müssen darüber reden. Und zwar jetzt. Also bitte – setz dich wieder hin.«
Widerwillig ließ sich Jesse zurück auf den Stuhl sinken, den Blick starr auf die gepunktete Wachstischdecke gerichtet, auf der noch die Krümel vom Vorabend lagen.
»Ich will, dass wir den Rest von euren und Maggies Sachen schon am Dienstagnachmittag holen. Da haben wir unsere Ruhe. Am Mittwoch kommen Phil und seine Jungs, um noch ein paar Möbel auszuräumen.«
»Nur ein paar? Warum nicht alle?«, fragte Jesse, doch Paul ignorierte ihn.
»Ich hab Platz in meiner Garage geschaffen. Das Auto kann ich erstmal in der Einfahrt parken. Ich denke, da kriegen wir einiges unter. Zur Not kommt der Rest in den Keller oder ich miete irgendwo eine Garage.«
»Guter Plan.« Jesses Worte sollten beiläufig und gelassen klingen, doch sein Sarkasmus hallte nach wie ein Echo.
Paul seufzte schwer.
»Darf ich dich daran erinnern, dass du zugestimmt hast, das Haus zum Verkauf zu stellen?«
Jesse senkte den Kopf. Ja, das hatte er. Warum hatte er das nur getan? Warum hatte er kein Veto eingelegt? Ja, warum nicht? Weil er nicht schwächer als seine kleine Schwester hatte wirken wollen, die Pauls Vorschlag vor zwei Wochen wider Erwarten zugestimmt hatte. Ihre Antwort hatte ihn verblüfft. Mehr noch, wie sicher sie sich gewesen war – im Gegensatz zu ihm – und wie leicht es ihr fiel, schnell Entscheidungen zu treffen. Schwierige obendrein! War sie etwa schon erwachsen? Unmöglich. Sie war jünger als er. Sie war noch ein Kind! Vielleicht war das die Lösung des Rätsels. Kinder dachten noch nicht so viel nach. Kinder entschieden aus dem Bauch heraus, spontan und ohne nachzudenken. Doch je älter man wurde, desto stärker mischte der Verstand bei der Entscheidungsfindung mit. Für und Wider mussten abgewogen und Konsequenzen berücksichtigt werden. Eine Entscheidung mit dem Verstand zu treffen, dauerte einfach seine Zeit.
Es war okay, dass sie das Haus verkaufen würden. Sicher täte es ihm nicht gut, würden sie dort wohnen bleiben. Denn wenn ihn die Erinnerung an seine Mutter schon hier auf Schritt und Tritt verfolgte, was würde sie dann dort machen? Sie würde ihn heimsuchen.
»Jesse?«, hakte Paul nach.
»Was?«
»Du erinnerst dich doch daran, dass du zugestimmt hast, das Haus zu verkaufen, oder?«
»Ja, doch«, entgegnete dieser tonlos und versuchte, sich ums Verderben nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn zerriss, wie stark ihn allein der Gedanke quälte, dass bald jemand anderes in ihrem Haus leben und kostbare Erinnerungen sammeln würde. Ihr altes Leben verborgen unter frischer Tapete, restaurierten Böden und neuen Möbelstücken. Ihr ganzes Haus – ein großes Palimpsest. In seinem Hals bildete sich ein Kloß von so immenser Größe, dass ihm das Schlucken stechende Schmerzen bereitete.
Jesse spürte Pauls Blick auf sich ruhen.
»Warum holen wir die Sachen nicht morgen?«, fragte Jill.
Daraufhin wandte Paul sich – endlich! – von ihm ab.
»Weil ihr morgen euren ersten Schultag habt, seit …« Er sprach nicht weiter. Stattdessen langte er abwesend nach dem Salzstreuer und kippte ihn langsam, sodass sein Inhalt herauszurieseln drohte.
Na los. Sprich es aus, sprich es einfach aus! Tu uns den Gefallen!
»Na ja, ihr wisst schon«, umschiffte sein Onkel den Eisberg und knallte den Streuer zurück auf den Tisch. »Ich denke, der Tag wird euch beide genug fordern. Machen wir ihn nicht noch komplizierter.«
Da sagte er was! Jesses Magen zog sich zusammen. Sicher durfte er sich wieder den ganzen Tag lang abgedroschene Beileidsbekundungen anhören. Von denen hatte er in letzter Zeit genug gehabt; sie hatten kaum mehr eine Bedeutung. Es tut mir leid, dass das passieren musste. Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl. Ich bin in Gedanken bei euch. Bla, bla, bla … Es war nicht fair, so zu denken, denn was sollten die Leute sonst sagen? Trotzdem: Er hatte die Sprüche satt. Mehr noch die Blicke. Und die Schulterklopfer.
Paul erhob sich und schickte sich an, den Tisch abzuräumen. Jesse beobachtete ihn.
»Und was ist mit dir?«
Paul hielt überrascht in der Bewegung inne.
»Was soll mit mir sein?«
»Du hast morgen auch deinen ersten Arbeitstag – seit sie tot ist, meine ich.«
Paul zuckte zusammen.
»Und?«
»Dich wird der Tag wohl nicht fordern, oder was?«
»Ich komm schon irgendwie klar.«
»Was sonst.«
Die Enttäuschung brannte wie Feuer in Jesses Brust. Na klar, Paul war nicht nur auf der Arbeit Polizist, sondern auch privat. Bloß nichts anmerken lassen, ja distanziert bleiben und die Fassade wahren. Die einzigen Hinweise dafür, dass sie ab und an bröckelte, waren … Jesse führte den Gedanken nicht zu Ende. Andernfalls hätte er nur wieder einen Streit mit seinem Onkel vom Zaun gebrochen, der schon irgendwie klarkam.
***
Spät in der Nacht lag Jesse in seinem Bett und starrte an seine schräg abfallende Zimmerdecke. Er konnte nicht schlafen. Was nicht etwa daran lag, dass ein Zweig im unregelmäßigen Takt der Windböen gegen seine Scheibe schlug, sondern weil sich Nervosität wie eine Schlange in seinen Eingeweiden wand und seine Gedanken unaufhörlich kreisten.
Unruhig wälzte er sich auf die Seite, um einen Blick auf das Ziffernblatt seines Weckers zu werfen, das geradeso zu erkennen war. Gleich zwei Uhr morgens. Er raufte sich das Haar und stieß die Luft aus. Er hätte nicht nachsehen sollen! Je weiter die Zeiger vorrückten, desto rastloser und ungeduldiger wurde er. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um Schlaf zu finden …
Klopf, klopf. Jesse erschrak. Das war nicht der Zweig vor seinem Fenster gewesen. Automatisch wanderte sein Blick in Richtung seiner Zimmertür, die geöffnet worden war.
»Bist du wach?«
Jesse setzte sich auf und kniff die Augen zusammen. Das Halbdunkel verlieh Jills Gesicht eine geisterhafte Blässe.
»Bin ich. Was ist denn?«
»Ich kann nicht schlafen. Kann ich mich zu dir legen?«
»Klar.« Jesse rutschte ein Stück zur Seite und schlug die Decke zurück.
Leise wie eine Maus huschte Jill durchs Zimmer und machte es sich neben ihm bequem. Schweigend lagen sie nebeneinander und starrten durchs Fenster nach draußen, wo der Wind bleiche Wolkenfetzen über den mit Sternen gesprenkelten Himmel peitschte.
Schon als kleines Kind war Jill zu ihm ins Bett gekrochen, wenn sie nicht hatte schlafen können. Inzwischen tat sie es nur noch selten – sie wurde älter.
Es genügte ihr völlig, still neben ihm zu liegen. Sie erwartete nichts. Keine tröstenden Worte, kein beruhigendes Schlaflied und auch keine Gutenachtgeschichte mit Happy End. Das erleichterte ihn, denn obwohl Jesse Geschichten schreiben konnte, war er furchtbar schlecht darin, sie zu erzählen.
»Paul ist noch wach«, sagte Jill nach einer Weile. »Seine Schlafzimmertür steht offen und draußen in der Garage brennt Licht. Ich hab’s vom Fenster aus gesehen. Was er wohl macht?«
»Ich schätze …«, setzte Jesse an und dehnte den Satz, um sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. »Ich schätze, er schafft noch etwas Platz, damit wir mehr Möbel unterkriegen.«
»Um zwei Uhr nachts?«
»Wahrscheinlich kann er auch nicht schlafen – so wie wir – und vertreibt sich die Zeit.«
»Dann könnten wir ihm ja helfen.«
Jesse unterdrückte ein Stöhnen. Wieder überlegte er fieberhaft.
»Ich glaube nicht, dass du das willst.«
»Warum nicht?«
Ja, warum nicht? In der nächsten Sekunde kam ihm eine Idee.
»Nachts wimmelt es in der Garage nur so vor Spinnen.«
»Igitt! Ich hasse Spinnen!«
»Ich weiß.«
»Die haben sooo viele Beine!«
»Acht Stück, sagt man«
»Versteh ich nicht. Man kann locker mit zweien laufen. Warum haben Spinnen acht?«
»Keinen Schimmer, Jill.« Er kicherte. Anspannung wich aus seinen verkrampften Schultern. Ein Augenblick Normalität! Er und Jill, zwei Geschwister, die heimlich lange wachblieben und herumalberten, während ihre Eltern schliefen.
Lüge. Du hast keine Eltern. Nur einen Onkel mit Dämonen. »Und? Willst du Paul immer noch helfen?«, fragte Jesse.
Drückende Stille – »Er schafft das schon.«
»Dann schlaf jetzt.«
»Ist gut.«
Bald ging die Atmung seiner Schwester leise und gleichmäßig neben ihm. Im Normalfall hätte ihn der sanfte Rhythmus, so beruhigend wie das Ticken eines Metronoms, in den Schlaf gewogen. Nicht jedoch in dieser Nacht. Irgendwann glitt er endlich in einen erlösenden Halbschlaf. Kurz darauf ließ ihn das Geräusch schwerer, unkoordinierter Schritte aus dem Flur wieder hochschrecken.
Montag, 6. November 1989
Am Morgen riss Jesse nicht das schrille Klingeln seines Weckers aus dem Schlaf, sondern das Klappern von Geschirr und Jills glockenhelle Stimme, die aus dem Erdgeschoss zu ihm nach oben drang. An die hellhörigen Wände würde er sich gewöhnen müssen. Ihr altes Zuhause war groß und darüber hinaus so verwinkelt gewesen, dass er weder seine Mutter noch seine Schwester gehört hatte. Sein Onkel bewohnte hingegen ein einfach geschnittenes Haus mit spartanischer Einrichtung und einem furchtbar verwilderten Garten, der nach hinten an den Wald grenzte.
Sein Keller war kein verzweigtes Labyrinth, sondern bestand aus einem einzigen Raum, der so mit Werkzeug und Baumaterialien vollgestopft war, dass man sich bestenfalls einmal im Kreis drehen konnte. Es würde interessant werden, all die klobigen Möbelstücke seiner Mutter dort unterzubringen. Aber sicher wusste Paul, was er tat. So wie immer natürlich.
Ansonsten dominierte im Haus der Minimalismus. Das war nicht immer so gewesen. Bis vor wenigen Monaten hatte Paul zusammen mit seiner Freundin Dina hier gewohnt. Zwei Kinderzimmer zeugten noch von ihren rosigen Zukunftsplänen. Doch Dina war weg und alles, was von ihr übrig blieb, war ein zartrosa Parfümflakon im Badezimmer. Ein Andenken, von dem Paul sich wohl nicht trennen konnte.
Jesse quälte sich aus seinem Bett, tappte ins Badezimmer und warf einen Blick in den Spiegel.
»Oje.«
Er sah aus, als würde er seit Langem gegen eine Krankheit kämpfen, die langsam die Oberhand gewann. Seine länglichen, schwarzen Haare, bar jeden Glanzes, hingen so kraftlos herunter wie die Zweige einer Trauerweide. Seine Haut war blass, regelrecht wächsern, und bildete einen starken Kontrast zu den dunklen Ringen, die gleich zwei halbmondförmigen Hämatomen unter seinen rot geäderten Augen verliefen. Nur die Iriden strahlten klar und blau wie eh und je. Zwei Saphire eingelassen in eine Kalksteinwand. Ordentlich Gewicht hatte er im Laufe der letzten Wochen auch eingebüßt.
Ehe er in die absurde Versuchung kam, seine Rippen zu zählen, streifte er sich seinen schwarzen Pullover über. Er war mit dem Wappen der St. Claire Academy verziert, deren Abschlussjahrgang er besuchte. Mit den Fingern fuhr er über den Aufnäher – ein goldener Löwe auf blauem Grund –, dann band er sich seine weinrote Krawatte um.
Jesse trottete nach unten in die Küche. Paul versteckte sich hinter einer aufgefalteten Zeitung am Frühstückstisch. Jill brütete neben ihm über einem Buch und löffelte aufgeweichte Cornflakes aus einer Keramikschüssel mit Sprung.
»Morgen«, nuschelte Jesse.
Himmel, wie gerädert er nach der kurzen Nacht war! Und als wäre die Müdigkeit nicht schlimm genug, war er auch noch nervös – eine fürchterliche Mischung. Obwohl er wusste, dass er es damit kein Stück besser machte, fügte er ihr eine weitere Zutat hinzu: eine große Tasse schwarzen Kaffees.
Sein Onkel faltete die Zeitung zusammen. Statt seiner Polizeiuniform trug er noch immer Jeans und ein schlichtes, marineblaues Hemd. Jesse wunderte sich darüber, sagte jedoch nichts dazu.
»Willst du gar nichts essen?«, fragte Paul ihn.
»Nein.«
»Mir wär’s lieber, du würdest was essen. Wird ein langer Tag.«
»Hab keinen Hunger.«
Paul sah ihn eindringlich an.
»Versprich mir, dass du in der Schule was isst.«
Wie wär’s mit einem Deal? Ich esse was, und du hörst auf, dich jede Nacht …
»Du sollst es mir versprechen«, beharrte Paul.
»O Mann …«
»Spar dir dein ›O Mann‹ und …«
»Schon gut.« Jesse hob beschwichtigend die Hände. »Versprochen.«
Pauls Gesichtszüge entspannten sich.
»Ich fahr Jill mit dem Auto zur Schule. Soll ich dich auch mitnehmen?«
Sein Angebot war nicht einmal eine Überlegung wert.
»Ich fahr mit dem Rad.«
»Zieh dich warm an. Es ist kalt.«
»Klar.«
***
Verflucht, war das kalt! Jesse stemmte sich mit seinem Rad gegen den starken Wind. Dabei trieben ihm peitschende Böen Tränen in die Augen. Hin und wieder brachen schwache Sonnenstrahlen durch die löchrige Wolkendecke. Gegen die bittere Kälte vermochten sie jedoch nicht viel auszurichten. Jesse knirschte mit den Zähnen. Hätte er nur seinen Mantel angezogen!
Nach zehn Minuten erreichte er die St. Claire Academy, ein dreistöckiges, stuckverziertes Gebäude, das auf beiden Seiten von hohen Kiefern umgeben war, deren Zapfen überall verstreut lagen.
Jesse hielt vor dem Fahrradständer und schloss sein klappriges Rad neben einer auf Hochglanz polierten, silbernen Schönheit mit Gangschaltung an.
Er hätte sich ein neues Rad leisten können und bis vor ein paar Wochen hatte er des Öfteren vorm Fahrradladen gestanden und nach Modellen Ausschau gehalten. Doch das dunkelgrüne Rad, über das er sich seit Monaten beschwerte, war ein Geschenk seiner Mutter gewesen. Seit ihrem Tod nahm er seine Mängel nicht mehr als solche wahr. Stattdessen verliehen sie ihm nun Charakter.
Nachdem das Schloss eingerastet war, drehte sich Jesse in Richtung Parkplatz und hielt nach Deans Van Ausschau. Schnell hatte er das rotweiße Gefährt im Visier, doch Dean, der gern noch eine Weile in seinem Wagen saß und Musik hörte, war nicht zu sehen. Überhaupt herrschte verdächtig wenig Betrieb auf dem Vorplatz der St. Claire.
Alarmiert zog Jesse seine Armbanduhr zurate – es war nicht mehr viel Zeit. Schnellen Schrittes lief er in Richtung Haupteingang, seinen Blick fest auf ein Fenster im Stock darüber gerichtet. War das Sasha? Tatsächlich! Sie winkte ihm. Von ihr abgelenkt, stieß er plötzlich mit jemandem zusammen. Schon fand er sich auf dem Asphalt wieder, umgeben von losen Blättern – anscheinend Aufsätze –, die der Wind fortzuwehen drohte.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht!«, sagte Jesse und langte nach denen in seiner Reichweite.
»Keine Entschuldigung nötig«, lautete die Antwort. »Was trag ich die Dinger bei dem Wetter auch so mit mir rum. Hast du dir was getan?«
»Nein, alles okay.«
Jesse entriss einer Böe einen weiteren Aufsatz und wandte sich einem hochgewachsenen Mann zu. Dieser langte seinerseits nach einem Blatt und hielt ihm dann seine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Er hatte mittellanges, dunkelbraunes Haar, einen Dreitagebart und intelligente, haselnussbraune Augen, die hinter einer schwarzgerahmten Rundbrille hervorblitzten und von Lachfältchen betont wurden.
Dankbar ergriff Jesse seine Hand und ließ sich aufhelfen.
»Du solltest besser gehen, sonst kommst du zu spät zum Unterricht.«
»Und was ist damit?« Jesse deutete auf eine kleine Windhose, die verschrumpeltes Laub und zwei Aufsätze mit sich gerissen hatte.
»Die erwisch ich schon«, sagte der Mann, anscheinend ein neuer Lehrer, und zwinkerte. Er sprach mit einem wohlklingenden Dialekt, den Jesse schon einmal gehört hatte. Vermutlich Südstaaten.
»Tut mir wirklich leid«, wiederholte Jesse noch einmal.
Die Schulglocke schrillte. Nun war Eile geboten. Dennoch blickte Jesse erneut hoch zum Fenster im zweiten Stock. Doch Sasha war fort. Daraufhin spurtete Jesse ins Gebäude und die Treppe in den ersten Stock hinauf. Derweil stellte er sich darauf ein, dass er zu spät zu Mastersons Matheunterricht erscheinen würde. Eine fatale Entwicklung, die ihm Bauchschmerzen bereitete. Atemlos hetzte er durch die Korridore, die von Alleen aus stahlgrauen Schließfächern gesäumt wurden. Randvoll mit Adrenalin stoppte er schließlich vor der Tür des Zimmers, in dem der Unterricht stattfand. Er legte ein Ohr an und lauschte dem gedämpften Monolog des Lehrers.
Jesse schluckte. Masterson war nicht gerade für Verständnis, Nachsicht oder Milde bekannt. Oder für andere gute Eigenschaften. Er war ein sadistischer, hinterhältiger, mieser … Die Liste unvorteilhafter Attribute ließe sich ins Unendliche fortsetzen. Und vielleicht würde Jesse an ihrer Verlängerung arbeiten, sobald Masterson ihn vor dem Kurs demütigte – was jedem schwante, der zu spät erschien.
»Komm schon«, motivierte er sich.
Sachte klopfte er an die Tür und öffnete sie vorsichtig, als könnte er so unbemerkt bleiben. Dann betrat er den Raum. Prompt starrten ihn alle an. Ihre Blicke schienen sich zu einem Scheinwerfer zu bündeln, der sengende Hitze ausstrahlte. Augenblicklich geriet er ins Schwitzen.
»Mr. Morgan«, sagte Masterson abschätzig. »Sie beehren uns also doch mit Ihrer Anwesenheit. Ich bin entzückt.«
Ich bin entzückt. Mastersons Lieblingssatz. Soweit Jesse wusste, hatte er ihn noch nie ernst gemeint, sondern stets ironisch. Weshalb ihm dieser Satz – sowie sein Sprecher – dermaßen verhasst war, dass er regelmäßig in seinen Träumen davon heimgesucht wurde. Dabei war Masterson in der ersten Stunde des neuen Schuljahrs so freundlich gewesen! Hin und wieder hatte er sogar einen Witz gerissen (und zwar noch nicht auf ihre Kosten).
Außerdem machte ihn sein Alter nahbar. Masterson war noch nicht mal Mitte zwanzig. Er war kaum älter als sie! Würde er eine Uniform der St. Claire tragen, anstatt seines viel zu engsitzenden Anzugs, würde er seiner jungenhaften Statur und seines kindlichen Gesichts wegen glatt als einer von ihnen durchgehen.
Er war drauf und dran gewesen, zu ihrem Lieblingslehrer erkoren zu werden. Stattdessen wurde er zur Witzfigur. Unglücklicherweise wohnte er noch bei seiner Mutter, die ihn eines Nachmittags nach Unterrichtsschluss abholte und hingebungsvoll betüddelte. Fremdschämen pur!
Leider konnte sich Jesses Mom ihren sarkastischen Kommentar damals nicht verkneifen. Allgemeines Gelächter war die Folge sowie respektlose Sprüche, die Mastersons Autorität in den nachfolgenden Wochen zunehmend untergruben.
Daraufhin gestaltete er das soziale Gefälle, das immer weiter abzuflachen drohte, abschüssiger. Inzwischen erntete er das Maß an Respekt, das einer Lehrkraft gebührte, und sogar noch mehr als das. Jesse hatte er jedoch besonders auf dem Kieker.
Danke, Mom.
Jesse entschuldigte sich für die Verspätung. Die Blicke seiner Mitschüler folgten ihm aufmerksam, während er sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte und sich auf einen verwaisten Platz in der vorletzten Reihe fallen ließ. Na bitte! Das war geschafft!
»Mr. Morgan«, säuselte Masterson unheilvoll und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer zu spät kommt, hat keine freie Platzwahl, schon vergessen?«
Jesse stöhnte innerlich auf. Die Regel war ihm glatt entfallen! Einem Zuspätkommer war der Platz in der ersten Reihe unmittelbar vor dem Lehrertisch vorbehalten, denn eigenartigerweise blieb jener stets unbesetzt.
Jesse erhob sich wieder und trottete kommentarlos nach vorn, dabei standen seine Wangen in Flammen. Auf dem Weg passierte er Masterson, dessen bleiche Hand sich wie eine Ranke um seinen Oberarm wand. Leise, aber deutlich sagte er: »Ich bin mit dem Grund Ihrer dreiwöchigen Abwesenheit vertraut. Ihr Verlust tut mir leid. Trotzdem werden Sie von mir keine Sonderbehandlung erfahren.«
Weil du dir das nicht leisten kannst.