Im toten Winkel - Jochen Rausch - E-Book
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Im toten Winkel E-Book

Jochen Rausch

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Beschreibung

Die Ermittlerin Marta Milutinovic sucht einen Neuanfang. Alles, woran sie glaubte, hatte plötzlich in Trümmern gelegen: ihre Familie, die Liebe, die Geltung von Recht und Gesetz, ihre Zukunft. In der fränkischen Provinz übernimmt sie die Leitung einer Polizeidienststelle, um zur Ruhe zu kommen, doch ihre Ermittlungen in einem Cold Case sorgen für Unruhe und Widerstand. Der lang zurückliegende ungeklärte Tod eines Abiturienten rührt an ihre eigene Vergangenheit. Und Marta Milutinovic spürt, dass sie einem großen Geheimnis auf der Spur ist. Psychologische Spannung vom Feinsten! »Rausch schreibt Gänsehautgeschichten.« Westdeutsche Zeitung

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung: plainpicture / Ingrid Michel; DutchScenery / iStock; Elena Elisseeva / shutterstock

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

KAPITEL 1

01

02

03

04

05

06

07

08

KAPITEL 2

09

10

11

12

KAPITEL 3

13

14

15

16

17

KAPITEL 4

18

19

20

21

22

KAPITEL 5

23

24

25

26

27

28

KAPITEL 6

29

30

31

32

33

KAPITEL 7

34

35

36

37

38

39

KAPITEL 8

40

41

42

43

44

45

46

47

48

KAPITEL 9

49

50

51

52

53

54

55

56

57

KAPITEL 11

69

70

71

72

73

74

KAPITEL 12

75

76

77

78

79

80

KAPITEL 13

81

82

83

84

85

KAPITEL 14

86

87

88

89

KAPITEL 15

90

91

92

93

94

95

96

97

KAPITEL 16

98

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für die Familie

Wir suchen die Mörder doch nicht für die Toten.

Wir suchen die Mörder für die, die um ihre Toten weinen.

KAPITEL 1

Ich wollte nach Hause. Aber dann sind wir uns begegnet, und meine Familie hat mich nie wiedergesehen. Es ist unverzeihlich. #JensF

01

Es soll aufhören. Endlich aufhören. Die Lügen. Die Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Wer schuld war? Wer denn? War Charlotte schuld? Weil sie jung war? Siebzehn. Jung und hübsch? Weil sie Kopfhörer trug und Musik hörte? Und ihr Pferdeschwanz? War der schuld?

Er soll still sein. Sei still.

Nein, er ist nicht still. Ist taub und blind für den Schmerz der anderen. Spürt nur seinen eigenen Schmerz. Mami, Mami, es tut so weh.

Sein Vater hatte sich am Bahnhof bei den Albanern eine Knarre besorgt. Eine Beretta. Hatte sich die Beretta in den Mund geschoben und abgedrückt. War der schuld?

Kein Witz, Frau Richter. Mein Vater hat in der Schraubenfabrik Schrauben gezählt. Soll ein Junge einen Schraubenzähler bewundern, wenn die Väter von den anderen Jungs Bulldozerfahrer sind oder bei der Feuerwehr?

Schraubenzähler, Schraubenzähler, haben die gerufen.

Sei doch endlich still. Sag nichts mehr. Nichts. Kein Wort. Charlotte, Liebling. Ich liebe dich. Und ich vermisse dich. Keinen Menschen vermisse ich so sehr wie dich.

Seine Mutter ist also auch schuld. Auch wenn die keine Albaner gekannt hatte. Seine Mutter nahm Schlaftabletten. Sie sammelte die Pillen wie Eichhörnchen Nüsse sammeln.

Eichhörnchen sind meine Lieblingstiere, Frau Richter. Ehrlich wahr.

Im Zuschauerraum wird gehustet. Um Gottes willen darf nicht gelacht werden. Die Richterin schaut streng in den Saal. Wer lacht, den bringt der Justizwachtmeister auf den Flur.

Frau Richter, mit elf Jahren war ich im Waisenhaus. Ich war der Einzige, dem seine Eltern sich umgebracht haben. Die konnten ihren eigenen Sohn nicht leiden. Darum haben die sich umgebracht. Damit sie mich nicht mehr sehen müssen.

Jetzt lacht doch einer im Zuschauerraum. Ein junger Mann. Wer bei Gericht zuschaut, weiß, dass das wahre Leben schlimmer ist als alles, was im Fernsehen gezeigt wird. Im Film sind die Toten Schauspieler, die sich nach dem Dreh die Schminke und das Theaterblut aus dem Gesicht wischen und sich auf die Schultern klopfen, weil sie so gute Leichen waren.

Er hockt auf der Anklagebank wie der arme Sünder. Arm und unschuldig. Und blass wie die Wand. Vielleicht sollten Sie versuchen, ihm zu vergeben, Marta, hatte der Seelsorger gesagt. Vielleicht bringt es Ihnen den Frieden.

Nein, hatte sie gesagt. Einen solchen Frieden will ich nicht.

Mit den Eltern muss man Mitleid haben. Wie kann man nur ein unschuldiges Mädchen von siebzehn Jahren totmachen? Der Vater hat gesagt, seine Charlotte wäre zu jedem Menschen freundlich gewesen. Selbst zu den unfreundlichen. Und ausgerechnet ein solches Mädel gerät an einen Perversen wie den. Er wollte sie nur mal küssen, hat er gesagt. Und sie hätte so gut gerochen und der Pferdeschwanz – der hätte ihn verrückt gemacht. Wenn man so etwas hört, da kann einem doch schlecht werden. Was der mit dem armen Mädchen gemacht hat, das müsste man mit dem machen. Ihm langsam die Luft abdrehen und fertig. Das wäre gerecht. Das ist meine Meinung, ist mir egal, wenn sie den Kopf schütteln. Die Eltern von der Charlotte, die tun mir leid. Der Vater Ingenieur und die Mutter bei der Polizei. Ausgerechnet einer Kommissarin passiert so was Schreckliches mit dem eigenen Kind.

Du musst misstrauischer werden, Charlotte. Nicht jeder ist dein Freund, Liebling, hatte sie gesagt.

Mama, du bist bei der Polizei, und deshalb siehst du überall Gespenster.

Deine Mutter hat recht, Charlotte.

Ihr seid voll süß. Ihr seid mega Eltern. Ich habe euch voll lieb.

Eigentlich wollte ich Pilot werden, Frau Richter. Aber als der Sohn von einem Schraubenzähler wird man ja wohl nicht Pilot. Wissen Sie, was meine Mutter erzählt hat? Dass die Hebamme gesagt hat, was haben wir denn da für einen hässlichen Balg auf die Welt gebracht? Das sagt man doch nicht. Oder sind Sie anderer Meinung, Frau Richter? Im Knast kann mich auch keiner leiden. Einem Kinderficker wie mir müsste man einen Lötkolben in den Arsch schieben, sagen die. Oder gleich den Schwanz wegflexen.

Wenn noch mal jemand lacht, schließe ich die gesamte Zuhörerschaft vom Prozess aus, sagt die Richterin ins Mikrofon.

Angeklagter, haben Sie eigentlich nicht das leiseste Mitgefühl?

Was soll ich haben, Herr Staatsanwalt?

Mitgefühl. Schauen Sie sich doch mal Charlottes Eltern an. Wie sollen die das ertragen, wenn Sie hier so daherreden.

Wie rede ich denn daher?

Sie jammern und heulen wie ein Kind. Dabei sind Sie ein erwachsener Mensch, Herr Angeklagter. Nein, einen Menschen will ich Sie nicht nennen. Für mich sind Sie ein Monster.

Einspruch, Euer Ehren. Ich sehe in der Einlassung des Herrn Staatsanwalts eine unzulässige Beeinflussung des Gerichts und der Geschworenen.

Einspruch stattgegeben, Herr Verteidiger.

Okay, dann sperren Sie das Monster weg, Frau Richter. Lebenslänglich am besten und danach in die Klapse. Dass ich euch Heiligen bloß nicht mehr unter die Augen komme. Ich bin ja nur Dreck, Dreck, Dreck, Dreck.

Die polizeilichen Ermittlungen haben ergeben, dass das Zusammentreffen von Opfer und Täter zufällig war, sagt der Kommissar. Der Angeklagte lungerte wie jeden Tag an dem stillgelegten Bahnhof herum. Er bemerkte Charlotte erst, als sie beinahe schon vorbeigelaufen war.

Ja, das stimmt. Ich hab da einfach so gesessen. Da liefen ja immer hübsche Mädchen lang. Mit super Figuren. Aber mir hat keine so gut gefallen wie die mit dem Pferdeschwanz.

Er soll aufhören. Endlich aufhören.

Mit welcher Absicht haben Sie das Mädchen verfolgt, Angeklagter?

Welche Absicht? Das hat mir die Stimme gesagt.

Welche Stimme, Angeklagter?

Die Stimme ist bei mir im Kopf einprogrammiert. Wie ein Navi im Auto. An der Kreuzung links abbiegen, verstehen Sie, Frau Richter?

Und die Stimme hat gesagt, Sie sollen die Joggerin verfolgen?

Genau das hat die Stimme gesagt: Lauf hinter dem Mädchen mit dem Pferdeschwanz her. Der Pferdeschwanz hat mich hypnotisiert. Sonst wär das doch alles gar nicht passiert.

Die Zuschauer halten jetzt die Luft an. Sie wollen wissen, wie er es gemacht hat. Wie er Charlotte …

… die trug Kopfhörer. Die hat Musik gehört. Das war ihr Fehler, würde ich sagen. Die konnte ja bestimmt schneller rennen als ich. Die hat mich aber nicht gehört. Und der Pferdeschwanz ging immer hin und her. Das hat mich verrückt gemacht. Und dann hat die Stimme zu mir gesagt, ich soll den Pferdeschwanz festhalten.

Aus psychiatrischer Sicht ist dem Angeklagten in diesem Augenblick alles durcheinandergeraten, sagt der Gutachter. Als hätte er fünf Filme auf einmal gesehen, so müssen Sie sich das vorstellen, Euer Ehren.

Nee, das stimmt nicht, Herr Psychiater. So war das nicht. Ich hab nur einen Film gesehen. Und nicht fünf Filme.

Und was haben Sie gesehen, Angeklagter?

Marta muss raus. Sie kann nicht mehr da sein, kann es nicht mehr hören, nicht mehr sehen, nicht mehr ertragen.

Auf dem Flur sitzt eine Frau auf einer Bank und raucht. Wo sind die Zigaretten? Haben Sie mal eine Zigarette für mich? Vielen Dank.

Ein Wachtmeister schiebt ein Wägelchen mit Akten. Die Räder quietschen. Hat denn nicht mal jemand einen Tropfen Öl für die Räder?

Auf die Toilette, die Zigarette im Waschbecken ausdrücken. Und alles auskotzen. Alles. Nur nicht die Erinnerungen. Die lassen sich nicht auskotzen. Die Bilder. All diese Bilder. Wie Charlotte lächelte. Wie Charlotte sprach. Wie sie schaute. Wie sie roch.

Mama?

Charlotte?

Mama, so wach doch auf. Mama!

02

Es ist noch nicht Morgen, auch nicht mehr Nacht. Es ist irgendwann dazwischen. Marta lehnt am Geländer, zwischen den leeren Blumenkästen. Der Himmel ist ein flächiges, silbriges Schimmern. Wie eine Verheißung. Der Horizont ist ein Faden Licht. Im Appartementhaus gegenüber brennt die Neonleuchte in einer Küche. Sonst sind alle Fenster dunkel. In der Küche sitzt ein Mann im Unterhemd. Vermutlich ein Frühaufsteher. Der Mann streicht die Zeitung glatt und greift blind nach der Kaffeetasse.

Die Stadt schläft noch, gibt sich unschuldig. Vielleicht ist Schwarzbach ja unschuldig. Im Polizeibericht waren gestern nur vier Einträge. Eine Rangelei zwischen einem Ehepaar in einem Supermarkt; eine Unfallflucht im Parkhaus; ein Einbruch in eine leere Lagerhalle, und eine Schülerin wollte mit einer Kreditkarte, die sie auf der Straße gefunden hatte, im Drogeriemarkt einen Lippenstift kaufen.

Mama, nicht rauchen.

Marta nimmt einen tiefen Zug und lässt den Rauch über die Brüstung des Balkons ins Halbdunkel schweben. Der Mann stellt sich ans Fenster, er ist nackt, und Marta schaut weg.

Geht es immer so harmlos zu in Schwarzbach?, hat sie gestern bei der Besprechung gefragt.

Hartmann hat gelacht und ihr die Akte gebracht. Der letzte Mord geschah vor neun Jahren. Ein Motorradfahrer hatte die Küsterin der Maria-Hilf-Kirche in ihrem Auto gefunden, es stand an der Landstraße nach Tschechien. Die Frau lag auf dem Rücksitz, der Mörder hatte ihr die Füße in die Halteschlaufen geschoben. Und ihr dabei die Hüftknochen ausgerenkt. In der Frau hatte die Ratsche des Wagenhebers gesteckt.

Widerlich.

Die Kollegen hatten eine Ringfahndung ausgelöst, und währenddessen war ein Lieferwagen eines Paketservice an der Polizeiwache vorgefahren. Der Fahrer hatte eine Weihnachtsmannmütze mit blinkenden Lichtern getragen, so stand es in der Akte.

Der Nikolaus ist da, habe der Diensthabende noch gerufen, und alle hätten gelacht, erzählte Hartmann. Woher hätten sie denn wissen sollen, dass der Mann mit der blinkenden Mütze nicht der Nikolaus gewesen wäre? Sondern der Mörder.

Ich wollte mal eine Frau kaputtmachen, hatte er bei der Vernehmung gesagt.

Und warum?, fragte Hartmann.

Wenn ich das wüsste.

Eine Kirchturmglocke schlägt. Wenn in den Nächten die Träume kommen, wenn sie Charlotte sieht und die Stimmen aus dem Gericht hört, dann kommt der Moment, in dem Marta sich selber aus dem Schlaf reißt. Und jedes Mal erleichtert ist, in ihrem Bett zu liegen und nicht bei Gericht auf der Bank der Nebenkläger zu sitzen. Wo sie sich selber wie eine Angeklagte gefühlt hatte.

Angeklagt, ihr Kind nicht beschützt zu haben.

Sie hatte es Charlotte doch versprochen, als sie das Baby zum ersten Mal in den Armen hielt. Ihr Baby. Sie hatte es geküsst und geflüstert, sie werde immer für sie da sein, immer, immer, immer, und sie vor allem und jedem beschützen.

Und dann war sie doch zu weit weg gewesen. Viel zu weit weg, und er hatte sie gepackt und …

Mama.

Die Erleichterung, es nur geträumt zu haben, weicht der Ernüchterung, dass sich alles so zutrug, wie sie es immer wieder aufs Neue träumt. Marta wird Charlotte nie wiedersehen, sie wird nie wieder ihre Stimme hören, wird ihr Baby nie wieder riechen und umarmen und küssen und über seine Hände streicheln. Nie wieder.

Als Marta vor einigen Tagen aufgebrochen war, weg aus München, hatte sie die Hoffnung gehabt, die Albträume in der Stadt zurückzulassen. Da in dem schicken Viertel, in der schönen Wohnung. In der Tom und sie in den vier Jahren, nachdem es geschehen war, nichts verändert hatten. Nicht mal die Möbel oder eine Vase hatten sie an einen anderen Platz gerückt. Falls sie doch noch zurückkäme, sollte Charlotte alles so vorfinden, wie sie es verlassen hatte.

Aber natürlich war Charlotte nicht zurückgekommen. Kommt nicht zurück. Wird nicht zurückkommen. Charlotte ist tot. Wurde eingeäschert, wurde zu Asche in einer Urne.

Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Ohne ein Wort hatten die Kollegen ihr Charlottes Sachen gebracht. Was sollten sie auch sagen? Sneaker, Jogginghose, Shirt, Anorak, Unterwäsche, Handy, Kopfhörer, Armbanduhr, der Ring, den Toms Eltern ihr zum Fünfzehnten geschenkt hatten, und die Ohrstecker von Papa, die sie nie trug, weil sie ihr zu kitschig gewesen waren. Selbst das Gummi, mit dem Charlotte sich den Zopf gebunden hatte, brachten sie ihr.

Der Pferdeschwanz hat mich …

Und dann war Marta ein letztes Mal die Treppe heruntergegangen. Wie oft hatte sie Charlotte nach oben oder unten getragen? Bis das Kind selber gelaufen war. Stolz lachend und jede Stufe einzeln nehmend. Charlotte war ein aufgewecktes Mädchen gewesen, begeistert von dem, was im Kindergarten geschehen war. Sie hatte die Lieder gesungen und die Geschichten nacherzählt und von einem Jungen mit schwarzen Locken geschwärmt. Tim.

Der hübsche schwarze Locken hatte wie der Papa.

Später, als Schulkind, war Charlotte dann mit stampfenden Schritten auf ihre Etage hinaufgestiegen, und noch einige Jahre später das vorsichtige Staksen, als sie schon eine junge Frau gewesen war und zum ersten Mal hohe Absätze getragen hatte. Zum Tanzen, Feiern, Trinken und Knutschen. Und am letzten Tag von allen war Charlotte leichtfüßig und arglos die Stufen heruntergehüpft, in ihren schicken neuen Laufschuhen, die Stufen kaum berührend, im Sportzeug. In ihren Ohren hatten schon die Bluetooth-Kopfhörer gesteckt, und der Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt.

Schade, dass Sie ausziehen, Marta. Sie waren mir immer die Liebste im Haus, hatte Lemke gesagt. Der Hausmeister.

Das ist nett von Ihnen, Herr Lemke.

Aber ich kann’s verstehen, wenn einen alles an alles erinnert.

Vielleicht bekomme ich ja da, wo ich hingehe, mein Leben zurück, hatte Marta gesagt. Auch wenn sie nicht daran geglaubt hatte.

Das wünsche ich Ihnen, hatte Lemke gesagt und gewunken, und Marta hatte die Chipkarte an die Schranke gehalten und war, von Tränen blind, Dutzende Kilometer in die falsche Richtung gefahren, nach Süden und nicht nach Norden.

Es war ihr erst aufgefallen, als sie die Gipfel der Alpen sah.

Tom wird die Möbel und die Wohnung verkaufen. Vielleicht zieht er zu der anderen oder auch nicht. Kurz vor Schwarzbach hatte Marta an einem Möbelhaus gehalten und die Musterwohnung gekauft. Die Monteure hatten gegrinst, als sie die Möbel in ihrer Wohnung so aufbauten, wie sie in der Ausstellung gestellt waren.

Der Nackte im Haus gegenüber ist wieder in der Küche und löscht das Licht, er geht in den nächsten Raum, wo das Licht aufscheint und er sich ins Bett legt.

Dann ist er wohl doch kein Frühaufsteher.

Die Dinge sind oft anders, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Das weißt du doch, Marta, hatte Christoph gesagt, als es passiert war. Und er hatte recht gehabt. Natürlich. Ein einziger Schuss und ihr allergrößter Fehler.

Können Sie auch nicht schlafen?

Marta erschrickt, sie hat niemanden bemerkt da draußen. Jetzt erkennt sie eine Silhouette auf dem Balkon nebenan, der Stimme nach eine ältere Frau.

Ich hab was Blödes geträumt, sagt Marta.

Bei mir ist es die Schlaflosigkeit. Nachts kann ich nicht schlafen und tagsüber auch nicht, sagt die Frau und lacht.

Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich eine Zigarette rauche, sagt Marta.

Mein Mann hat auch geraucht. Das konnte er einfach nicht lassen. Mein Klaus ist schon drei Jahre tot. Wie die Zeit vergeht. Zum Glück habe ich ja noch den Phosphor.

Das tut mir sehr leid mit Ihrem Mann, sagt Marta. Und wer ist Phosphor?

Das ist mein Kater, sagt die Frau.

Phosphor ist ein recht ungewöhnlicher Name für einen Kater, sagt Marta.

Ich weiß, sagt die Nachbarin. Es war die Idee meines Mannes. Aber fragen Sie mich nicht, wie er darauf gekommen ist.

Mir wird kalt, sagt Marta und drückt die Zigarette in dem Blumenkübel aus.

Um diese Zeit höre ich oft die Vögel singen, sagt die Nachbarin.

Für eine Weile sind sie still und lauschen in die Dämmerung. Da ist ein feines Rauschen in der Luft, und einmal fährt ein Auto. Aber Vögel hört Marta nicht.

Vielleicht schlafen die auch noch, sagt die Frau und lacht.

Martas Bett hat noch einen Rest Wärme. Das mag sie, unter die warme Decke zu kriechen, die Arme und Beine anzuziehen und sich in die Kissen zu drehen. Wie sich eine Raupe in einen Kokon dreht.

Marta schließt die Augen, und jetzt, da sie ruhig daliegt, kann sie doch noch die Vögel hören.

03

Der Ort erscheint ihr unwirklich an diesem Morgen, Schwarzbach erinnert Marta an die Modelleisenbahn unter der Plastikhaube am Hauptbahnhof in München. Wo Papa immer eine Münze einwarf, wenn sie auf den Zug gewartet hatten. Damals besaßen sie kein Auto. Papa war Lokführer gewesen, er hatte eine Freifahrkarte und konnte umsonst mit der Eisenbahn fahren, ganz gleich, wohin. Von Papas Münze ist die Stadt unter der Plastikhaube zum Leben erwacht. Die Busse fuhren, die Leuchtreklamen strahlten, die Züge glitten über die Schienen, Schranken gingen auf und zu, und am Sägewerk hatte ein Holzfäller unaufhörlich die Axt in den Baumstamm geschlagen.

Der Silberstreif im Morgengrauen hat einen sonnigen Tag versprochen. Vielleicht wird es später so sein, noch aber leuchten die Laternen im Dunst unscharf, wie hinter Seidenpapier. In den meisten Häusern brennt jetzt Licht. Die Busse und Autos und Mopeds fahren mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Über dem Ort hängt ein düsterer grauer und schwerer Himmel, der jeden Augenblick herunterzufallen scheint.

Unwirklich auch, dass sich die Passanten, Radfahrer und Autos wie in Zeitlupe zu bewegen scheinen. Selbst der Rauch aus den Schornsteinen schwebt geisterhaft langsam an den Himmel, und wie von sich selbst gelangweilt schiebt der Screen am Busbahnhof die Reklame für Möbel, Sportwagen oder den Jackpot weiter.

Mach Dich glücklich, Baby! Hol Dir die 27 Millionen.

Vor Ronnys Backstube ist eine Parkbucht frei. Eine junge Frau schiebt einen Kinderwagen über den Gehsteig, sie telefoniert, und ihr Lachen klingt froh. In der Bäckerei steht warme Kaffeeluft, aus der Küche dudelt Schlagermusik, irgendwo brodelt auch ein Eierkocher. Wie unter Stromstößen zucken die Zierfische im Aquarium. Charlotte hatte auch mal Fische gehabt. Die eines Morgens aus irgendeinem Grund an der Oberfläche trieben. Tom spülte die Fische in der Toilette runter, und Charlotte hatte geweint. Die Verkäuferin trägt ein Tattoo am Hals, ein gekreuztes Schwert, eine Blume, sie lächelt Marta freundlich entgegen.

So wie gestern?

Sehr gerne, sagt Marta. Mit einem großen schwarzen Kaffee dazu.

Dann haben Ihnen unsere Eierbrötchen also geschmeckt, sagt die Verkäuferin in einem Dialekt, der nicht in diese Gegend passt.

An dem Tisch neben der Küche sitzen drei ältere Damen, genauso wie gestern. Die Frau mit den bläulich gefärbten Haaren trägt sogar dieselbe Bluse.

Sie sind neu zugezogen nach Schwarzbach, was?, sagt die Verkäuferin.

Ja, sagt Marta. Das bin ich.

Und wie gefällt es Ihnen hier?

Es ist mir alles noch ein wenig fremd, sagt Marta, und würde lieber nichts sagen.

Das bleibt auch so, sagt die Verkäuferin und lacht. Ich bin jetzt seit zwanzig Jahren hier, aber die Einheimischen lassen keinen an sich ran. Die behandeln mich immer noch wie eine Aussätzige. Na ja, wenigstens haben Sie die Backstube mit den besten Eierbrötchen gefunden.

Die Verkäuferin lacht. Ihr fehlt ein Zahn im Unterkiefer. Die drei Frauen schweigen und schauen, als suchten sie nach Worten. Eine junge Frau stößt die Ladentür so auf, dass das Glockenspiel darüber rasselt. Die Frau zerrt an einem Kind, ein hübsches pausbäckiges Mädchen von zwei Jahren vielleicht, das kurze spitze Schreie ausstößt.

Die Lotta flippt mal wieder aus, ruft die Frau. Ich brauche sofort was Süßes.

Als hätte sie nur auf ihren Einsatz gewartet, reicht die Verkäuferin mit der Gabel ein Schokobrötchen über die Theke. Das Kind beißt gierig in das Gebäck, hört auf zu weinen, lächelt mit vollen Backen, und alle lachen.

Ronnys Backstube befindet sich am hübschesten Platz der Stadt. Eine Sehenswürdigkeit aus der Gründerzeit. Ein Rechteck, eingefasst von wuchtigen, viergeschossigen Häusern, die fast alle in freundlichen Farben gestrichen sind. Rosa, Hellblau, Gelb, Lindgrün. Im Erdgeschoss fast aller Gebäude befinden sich Ladenlokale, Boutiquen, eine Buchhandlung, Cafés, Restaurants mit Terrassen. An der Stirnseite erhebt sich die Kirche mit einer großzügig breiten Freitreppe. Und in der Mitte des Platzes wurde ein Garten angelegt, mit einem Dutzend oder noch mehr Platanen, wo eine junge Frau einen Terrier hinter sich herzieht.

Marta setzt sich hinters Lenkrad ihres Wagens und schaltet das Radio ein. Ein hübscher Song, ein Sommerlied. Der Kaffee ist heiß, Marta trinkt behutsam, beißt von dem Brötchen ab. Da wird gehupt. Gleich hinter Martas Auto. Sie fährt einen amerikanischen Pick-up, die Reifen reichen ihr bis an die Hüften. Das Auto kaufte sie einige Monate, nachdem es mit Charlotte passiert war.

Wofür braucht eine zarte Frau wie Sie denn einen solchen Panzer?, hatte der Verkäufer gesagt und gegrinst, und Tom hatte wütend in den Himmel geschaut.

Der da hupt, ist ein Lieferwagen, Marta sieht es im Rückspiegel. Fleischwaren Münzner. Der Fahrer setzt den Blinker, sie soll den Parkplatz frei machen. Marta lässt das Fenster herunter, lächelt bedauernd und schüttelt den Kopf. Der Fahrer ist ein Mann um die fünfzig. Dick, mit rosiger Haut und Glatze. Aus seinem Mund schimpft irgendwas heraus, was sie wegen der Musik aus dem Radio nicht versteht. Er streckt auch den Finger nach ihr aus.

Marta Milutinovic ist so lange schon bei der Polizei. Fast zwanzig Jahre. Und trotzdem erstaunt es sie immer wieder, wie schnell aus dem Nichts das Böse herausbrechen kann. Nein, sie lässt sich nicht provozieren, sie wird nicht reagieren. Marta nippt an dem Kaffee, beißt von dem Brötchen ab, und wieder ist da die Hupe des Lieferwagens. Der Fahrer hupt und hupt und hupt. Und reckt und reckt den Mittelfinger.

Marta schaltet das Radio aus, und jetzt erst hört sie seine Stimme.

Verschwind, du dämliche Fotze.

Vermutlich wäre Marta ohne dieses Wort einfach sitzen geblieben. Was soll ihr denn da passieren in ihrem Panzer? Sie wäre sitzen geblieben, bis er es aufgegeben hätte und weitergefahren wäre. So aber stellt Marta den Becher in die Halterung und steigt dann aus. Schneller, als es der Fahrer erwarten konnte, reißt sie die Tür des Lieferwagens auf. Der Mann sitzt da mit seinem dicken Bauch, angeschnallt und eingeklemmt hinterm Lenkrad.

Haben Sie mich gerufen?, sagt Marta.

Du sollst endlich verschwinden, sagt der Mann.

Doch. Sie haben mich gerufen, sagt Marta. Ich habe es ganz genau gehört.

Der Fahrer schaut sie an jetzt. Von oben nach unten und dann wieder nach oben. Sie will nicht, hat aber die Hand unter der Jacke, an der Waffe, die in dem Holster steckt. Der Mann schaut sie an und weiß nicht, was geschehen wird.

Jetzt schleich dich endlich, sagt er, dreht sich weg und beugt sich über den Beifahrersitz.

Keine Bewegung. Hände hoch. Polizei, sagt Marta.

Sie sagt es schnell, laut, aber ruhig. Der Fahrer erstarrt. Als hätte jemand das Bild angehalten. Mit beiden Händen hält Marta die Pistole in den Wagen. Zielt auf seinen Schädel. Der Mann hat ein Muttermal auf der Glatze und einen fleischigen Nacken. Sie riecht seinen Schweiß, und dann erst hebt er langsam die Arme.

Die Hände hinter den Kopf, sagt Marta.

Der Fahrer macht es, legt die Hände um seinen Schädel und verschränkt die Finger.

Und jetzt umdrehen, sagt sie.

Ihr Herz wummert. Natürlich ist sie angespannt. Sie hätte sich nicht provozieren lassen dürfen. Die Augen des Mannes sind weit offen und zeigen Marta seine Angst.

Ich dachte, Sie wollten da wegfahren aus der Parklücke, sagt er.

Das wollte ich ja auch irgendwann, sagt Marta. Aber Sie haben was gerufen.

Was soll ich denn gerufen haben?, sagt er.

Sagen Sie es mir.

Was soll das?

Sagen Sie mir, was Sie gerufen haben.

Habe ich vergessen, sagt er, und Marta schüttelt den Kopf.

Nein, das haben Sie nicht. Sagen Sie es mir ins Gesicht.

Es tut mir leid, sagt er. War nicht so gemeint.

Ich will es noch mal hören, sagt Marta. Nicht dass ich Sie zu Unrecht beschuldige.

Der Mann hat glasige Schweißperlen auf der Stirn, er schaut zu ihr, schaut in die Mündung der Pistole.

Fotze habe ich gesagt, sagt er leise.

Nein, sagt Marta. Sie haben dämliche Fotze gesagt.

Kann auch sein, sagt er mit einer Stimme, die kaum Kraft hat.

Was ist denn hier los, Hansi?

Marta sieht den anderen Mann aus den Augenwinkeln, sieht, dass er größer ist als sie, mindestens um einen Kopf größer.

Das ist ein Polizeieinsatz, sagt Marta. Fahren Sie bitte weiter.

Das geht nicht, sagt der Mann. Ihr versperrt ja die Straße.

Marta nimmt die Waffe runter. Schiebt sie ins Holster. Schaut den Mann an. Er hat ein schmales Gesicht, blaue Augen, dunkelblondes, volles Haar. Sein Alter ist schwer zu schätzen, aber vermutlich ist er einige Jahre älter als sie. Er lächelt, als hätte er vor nichts Angst. Der Mann fährt einen blauen Kombi, der mit blinkenden Leuchten auf der Straße steht. Ein japanisches Auto, ein Toyota, der schon einige Jahre hinter sich hat. Über den Radkappen klebt Dreck, und auf dem Beifahrersitz sitzt ein Mädchen im Teenageralter.

Und Sie verschwinden jetzt, sagt Marta zu dem Fahrer des Lieferwagens. Der Mann nickt, schaut zu dem anderen und grinst, legt die Hände aufs Lenkrad und gibt Gas.

Sind Sie immer so schnell mit der Pistole?, sagt der Mann aus dem Toyota.

Nur wenn es unbedingt nötig ist, sagt Marta.

War’s denn nötig?, sagt er. Der Hansi ist doch ein ganz Harmloser. Für den braucht es doch keine Pistole.

Weiter hinten, wo sich die Autos hinter dem Toyota stauen, wird gehupt.

Sie sollten jetzt die Fahrbahn frei machen, sagt Marta.

Sie sind die neue Kommissarin, oder?, sagt er. Schön, Sie kennenzulernen.

Machen Sie jetzt bitte die Straße frei, sagt Marta noch einmal.

Ich heiße Fritsche, sagt er. Ich hab den Gasthof oben an der Grenze.

Welche Grenze?

Die da früher mal war, sagt Fritsche und lächelt, schaut ihr in die Augen, will sich vergewissern, dass sein Lächeln sie beeindruckt.

Wenn Sie wollen, können Sie meinen Parkplatz haben, sagt sie.

Dann habe ich anscheinend mehr Glück bei Ihnen als der Hansi, sagt Fritsche und lacht.

Wieder wird gehupt, und Marta steigt in den Pick-up, laut und dröhnend springt der Motor an, sie setzt zurück und sieht im Rückspiegel das Lachen des Fremden.

Natürlich war es nicht nötig. Die Pistole zu ziehen. Ihr erster Auftritt in Schwarzbach und dann gleich so etwas.

Seit du bei der Polizei bist, siehst du in allem nur das Schlechte, hatte Tom einmal zu ihr gesagt, Marta hat es bis heute nicht vergessen.

Sie fährt die Hauptstraße herunter, im Radio wird jetzt ein dummes Lied gespielt. Sie schaltet es weg, und an der Ampel isst sie den Rest von dem Brötchen.

Auf ihre Hände muss Marta nicht schauen, sie weiß auch so, dass ihre Finger zittern.

04

Vor der Polizeistation von Schwarzbach sind alle Parkplätze belegt. Auch der des Dienststellenleiters. Marta fährt ans andere Ende des Platzes und stellt den Wagen ab. Als sie den Schlüssel herauszieht, blinkt die Anzeige für den Ölstand.

Die Polizeistation hat Marta sich anders vorgestellt. Kleiner und vielleicht in einem hübschen Altbau. Tatsächlich ist die Polizei von Schwarzbach in einem trostlosen Zweckbau an einer trostlosen Hauptstraße untergebracht. Vielleicht das hässlichste Gebäude der Stadt. Aus dem Flachdach wuchern Antennen wie Tannenbäume ohne Nadeln. Das Z bei der Leuchtschrift POLIZEI hat kein Licht.

Als klar war, dass sie weggeht aus München, weggehen muss, schon wegen dieses verdammten Schusses, hatte Marta sich einen Job irgendwo in den Bergen vorgestellt, in einer idyllischen Landschaft mit Wäldern, Naturseen und Wasserfällen, wo sie wandern, Skifahren, schwimmen oder mit dem Mountainbike fahren könnte.

Warst du mal in Schwarzbach?, hatte Christoph dann gefragt.

Wo soll das sein?

Im ehemaligen Zonenrandgebiet. Nahe an der Grenze zu Tschechien.

Das klingt sehr verlockend, hatte Marta gesagt und gehofft, Christoph meinte es nicht ernst.

Aber so war es nicht gewesen, er hatte es ernst gemeint.

Das ist eine kleine Stadt mit viel Wald drum herum. Sie haben einen schönen See und eine hübsche Altstadt. Wenig Kriminalität. Es wäre ja nicht für immer, Marta. Du gehst für zwei, drei Jahre hin, und dann kommst du zu uns zurück.

Und was soll ich da tun?

Du leitest die Polizeistation. Der bisherige Leiter hatte einen Herzinfarkt und ist gestorben. Das Innenministerium möchte auf dem Job gerne eine Frau sehen.

Soll ich etwa dahin, weil ich eine Frau bin?

Natürlich nicht, Marta. Ich habe ihnen gesagt, ich wüsste eine Frau, die besser als alle Männer und Frauen ist, die je bei mir gearbeitet haben, hatte Christoph gesagt.

Du meinst, bis auf den verdammten Schuss, oder?

Marta hatte zum Siebten Dezernat gehört. Christoph Pohlmanns Truppe. Sie waren zuständig gewesen für schwere Gewalttaten, für Erpressungen und Clan-Kriminalität. Die ganz großen und die sehr bösen Sachen. Christoph ist der beste Kriminalist, den Marta kennt. Er unterrichtet auch an der Polizeischule und holte sie von dort in sein Team.

Als es mit Charlotte passiert war, hatte Tom gesagt, sie solle sich einen anderen Job suchen. In dem sie nichts mehr mit Mord und Vergewaltigung und Totschlag zu tun hätte. Aber sie hatte den Kopf geschüttelt und war einen Monat nach der Beerdigung wieder zur Arbeit gegangen.

Hatte gesagt, das Leben müsse ja trotzdem weitergehen.

Geglaubt hatte ihr das niemand. Tom nicht und Christoph auch nicht. Aber irgendwie hatte sie es geschafft, die Psychologin zu überzeugen. Dass es für die Polizei und Marta Milutinovic das Beste sei, wenn sie wieder in ihren Job zurückkehrte. Und so war es ja auch. Ausgerechnet in dem Jahr hatte das Siebte Dezernat die höchste Aufklärungsquote aller Zeiten.

Und dann dieser verdammte Schuss.

Marta war mit Hermes wegen einer angeblichen Messerstecherei im Bahnhofsviertel unterwegs gewesen. Ein Fehlalarm. Als sie zum Wagen zurückgingen, bemerkte Marta in der Toreinfahrt neben der Pizzeria Napoli dieses Paar, das eingeklemmt zwischen den Mülltonnen und dem Pizzataxi stand. Es war dunkel, Marta sah die beiden nur schemenhaft. Die Frau war klein und zierlich und der Mann groß und kräftig. Er stand hinter der Frau und hielt ihren Zopf. Der Mann zerrte so an dem Zopf, dass die Frau in den Himmel schauen musste, wo die Sterne blinkten und der Mond schimmerte. Die Frau stöhnte wie von Schmerzen und flüsterte immer wieder:

Lass mich los, du Schwein. Lass mich los. Lass mich los …

Der Mann ließ nicht los. Hat nur gelacht und die Frau noch brutaler an den Haaren gezogen, hat sie von hinten immer wieder gegen das Pizzataxi gestoßen.

Warte, Marta, hat Hermes gesagt. Warte noch.

Aber sie hat nicht gewartet, hat die Pistole aus dem Holster gezogen und ist in die Toreinfahrt gelaufen.

Polizei! Lassen Sie die Frau los.

Der Mann hat die Frau losgelassen. Sofort. Aber er hat nicht aufgehört zu lachen. Er schlug der Frau auf den nackten Hintern, dass es klatschte. Dann plötzlich drehte er sich weg und wollte ins Dunkle verschwinden.

Stehen bleiben! Hände über den Kopf, oder ich schieße!

Nein, der Mann ist nicht stehen geblieben. Ist auf eine Mülltonne gesprungen und von dort auf die Mauer. Marta hat einen Warnschuss abgeben wollen, aber sie und Hermes sind in dieser verdammten Einfahrt gewesen, und deshalb konnte sie nicht in die Luft schießen. Und so hat sie den Mann an der Schulter getroffen, sodass er kopfüber von der Mauer fiel und auf den Asphalt gestürzt ist.

Dass alles ganz anders gewesen ist, als Marta angenommen hatte, ist ihr erst klar geworden, als die Frau angefangen hat hysterisch zu schreien.

Nein, Giuseppe, nein.

Die Frau hat sich über den Mann gebeugt wie eine Liebende. Der Hintern des Mannes hat im Licht des Mondes bleich geschimmert. Die junge Frau war auch nicht mehr jung, sie war schon über dreißig. Die beiden waren ein heimliches Paar und hatten ein Spiel gespielt. Vergewaltigung. Die Frau war Kellnerin in der Pizzeria Napoli, und der Mann war der Pizzabäcker und der Schwiegersohn des Inhabers. Giuseppe di Natale, vierunddreißig Jahre alt, verheiratet. Er hat mit der Tochter des Inhabers drei kleine Kinder, keines ist schon zur Schule gegangen. Di Natale hatte verschwinden wollen, damit sein Schwiegervater nicht erfuhr, dass der Mann seiner Tochter lieber mit der Kellnerin Vergewaltigung spielte, als nach der Arbeit heimzufahren und sich um seine Familie zu kümmern.

Wochenlang hat Giuseppe di Natale im Koma gelegen. Er wird für immer in einem Rollstuhl sitzen. Und vielleicht auch nie wieder einen klaren Gedanken fassen oder einen ganzen Satz sprechen können.

Ein einziger verdammter Schuss.

Es hat eine Untersuchung gegeben. Hermes sagte aus, er habe das Geschehen auch für eine Vergewaltigung gehalten. Der mutmaßliche Vergewaltiger sei trotz Warnung und Aufforderung der Kommissarin, sich zu ergeben, geflüchtet. Dass ihn der Schuss traf, sei ein Unfall gewesen, hatte Hermes gesagt, da sei kein Himmel über ihnen gewesen, in den man einen Warnschuss hätte abgeben können.

Die Kommissarin wollte an dem Mann vorbeischießen. Aber dann ist der plötzlich auf die Mauer gesprungen.

Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren dann eingestellt. Es hat noch einen kritischen Bericht in einer Zeitung gegeben, aber sonst ist es still geblieben.

Nach der Gerichtsverhandlung hat di Natales Vater plötzlich auf dem Flur vor Marta gestanden. Und hat sie angeschaut. Und dabei immer nur den Kopf geschüttelt.

Bestia.

Er sagte nur dieses eine Wort, nichts weiter. Und dazu das Kopfschütteln. Und einige Tage nach der Verhandlung hat Christoph sie zu einem Spaziergang abgeholt. Sie gingen über den alten Friedhof an der Thalkirchner Straße. Natürlich hat Christoph durchschaut, was wirklich geschehen ist in der Toreinfahrt hinter der Pizzeria Napoli.

Es war der Zopf, hat Christoph gesagt. Es hat dich daran erinnert, was deinem Kind passierte. Deshalb hast du geschossen. Stimmt es, Marta?

Sie sind dann noch einige Schritte gegangen. Unter ihren Schuhen hat das Laub geraschelt, ihr sind die Tränen gekommen, und ihr ist klar geworden, dass es sinnlos ist, Christoph etwas vormachen zu wollen.

Ja, hat sie gesagt. So war es.

Christoph hat sie in die Arme genommen und gehalten, minutenlang, bis sie zu Ende geweint hat.

05

Die größte Attraktion Schwarzbachs ist die Zonengrenze. Die es nur nicht mehr gibt. Die Grenzanlagen wurden so gründlich demontiert, als sei da nie eine Grenze gewesen. Alles wurde aus dem Boden gerissen und weggeschafft, Zäune, Mauern, Selbstschussapparate, Panzersperren, Wachtürme, Hundelaufanlagen, Minen.

Gestrüpp und Gesträuch überwuchern die Landschaft, und wo die Grenze war, verläuft jetzt ein Wanderweg.

Hier waren Deutschland und Europa bis zum 12. November 1989 um 14 Uhr 30 geteilt, heißt es auf den Tafeln am Wegesrand.

Als Marta sich im Rathaus vorstellte, hat die Bürgermeisterin, eine lebenslustige, zupackende Frau um die fünfzig, Marta Bilder der verschwundenen Grenze gezeigt. Die Zäune und Stacheldrähte, die Wachhunde in den Hundelaufanlagen, die Grenzsoldaten, die Maschinengewehre hielten oder durch Ferngläser spähten.

Schwarzbach hatte Fremdenverkehr wegen der Grenze, hat die Bürgermeisterin gesagt. Es kamen sogar Touristen aus den USA oder aus Kanada. Mein Vater erzählte immer, dass einmal der Bundeskanzler hier gewesen sei und gesagt habe, die Mauer müsse alsbald verschwinden. Und sich dann gewundert hat, dass die Einheimischen nicht applaudierten. Aber die Schwarzbacher lebten ja vor und nicht hinter dem Zaun.

In der Polizeistation steht der Geruch eines scharfen Desinfektionsmittels. Oehlert, der heute Dienst hat, ist ein freundlicher junger Mann und springt auf, als Marta reinkommt.

Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen, Frau Kommissarin.

Guten Morgen, Herr Oehlert. Wissen Sie zufällig, wem der Wagen auf dem Parkplatz des Dienststellenleiters gehört? Ein roter Honda Civic.

Oehlert zieht die Schultern hoch, er grinst und wird gleichzeitig rot.

Der Honda ist meiner, sagt Hartmann.

Jürgen Hartmann ist der Dienstälteste der Polizei von Schwarzbach. Alles, was von ihm außer der dunkelblauen Uniform zu sehen ist, ist hellrot: seine Haare, der Bart, seine Haut.

Tut mir sehr leid, Frau Kommissarin. Das ist wohl die Macht der Gewohnheit. Ihr Vorgänger kam ja zu Fuß zum Dienst. Der wohnte hier ganz in der Nähe.

Wenn ich mich in Schwarzbach besser auskenne, werde ich wohl häufiger mit dem Rad kommen, sagt Marta.

Hartmann lächelt und nickt, sein Hemd spannt über dem Bauch. Das Aftershave kommt Marta bekannt vor, es könnte dasselbe sein, das ihr Vater benutzt.

Wenn Sie mir Ihren Wagenschlüssel anvertrauen, parke ich die Autos um, sagt Hartmann. Wir haben ja noch die Tiefgarage. Ist nur etwas umständlich, da reinzufahren. Deshalb parken die Kollegen lieber auf dem Parkplatz.

Das wäre aber nicht nötig, Herr Hartmann.

Ich mach’s gerne, sagt er und schaut sie freundlich an.

Dann vielen Dank, sagt Marta und gibt ihm den Schlüssel.