Im Wald wirst du schweigen - Unni Lindell - E-Book
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Im Wald wirst du schweigen E-Book

Unni Lindell

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Beschreibung

Die Nummer 1 aus Norwegen.

Kommissarin Marian Dahle aus Oslo wird zu einem besonderen Mordfall gerufen. In der Nähe eines Militärlagers wird auf einer Lichtung die Leiche eines Mannes gefunden. Genau an dieser Stelle wurde Jahre zuvor eine junge Frau auf dieselbe Art und Weise ermordet. Der Täter wurde nie ermittelt. Es scheint keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Morden zu geben – bis Marian herausfindet, dass der Tote ein dunkles Geheimnis hatte ...

Voller Spannung und Atmosphäre – das neue Meisterwerk der erfolgreichsten norwegischen Krimiautorin.

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Über Unni Lindell

Die Norwegerin Unni Lindell, geboren am 3. April 1957, hat zahlreiche Jugendbücher geschrieben, bevor sie ihre Krimiserie um den Osloer Kommissar Cato Isaksen begann. Unni Lindell lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Oslo.

Gabriele Haefs übersetzt aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2008 den Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Sie lebt in Hamburg.

Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er lebt in Berlin.

Informationen zum Buch

Die Nummer 1 aus Norwegen.

Kommissarin Marian Dahle aus Oslo wird zu einem besonderen Mordfall gerufen. In der Nähe eines Militärlagers wird auf einer Lichtung die Leiche eines Mannes gefunden. Genau an dieser Stelle wurde Jahre zuvor eine junge Frau auf dieselbe Art und Weise ermordet. Der Täter wurde nie ermittelt. Es scheint keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Morden zu geben – bis Marian herausfindet, dass der Tote ein dunkles Geheimnis hatte.

Voller Spannung und Atmosphäre – das neue Meisterwerk der erfolgreichsten norwegischen Krimiautorin.

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Unni Lindell

Im Wald wirst du schweigen

Kriminalroman

Aus dem Norwegischenvon Gabriele Haefsund Andreas Brunstermann

Inhaltsübersicht

Über Unni Lindell

Informationen zum Buch

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Vorwort

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Zweiter Teil

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Impressum

Das Militärlager Skar liegt in Maridalen, außerhalb von Oslo, inmitten eines dichten Fichtenwaldes. Die Geschichte des Lagers begann 1861 mit der Übernahme einer dort ansässigen Pulvermühle durch das Militär. Als die Deutschen im Jahr 1940 Norwegen besetzten, übernahmen sie das Lager, entwickelten es weiter und bauten dort mehrere große Gebäude hinzu. Nach dem Krieg übernahmen die Luftstreitkräfte den Ort, und 1985 ließ sich die Kommunikations- und Datenabteilung der norwegischen Streitkräfte dort nieder. 2004 wurde das Lager zwecks Weiterveräußerung der staatlichen Organisation Skifte Eiendom überlassen. Zahlreiche politische Diskussionen wurden in diesem Zusammenhang geführt. Die Gemeinde Oslo kaufte das Gelände 2007, und drei Jahre später übernahmen Hausbesetzer die baufälligen Gebäude. Im Zuge einer umfassenden Polizeiaktion wurden die Besetzer wieder hinausgeworfen. Danach wurden die Gebäude als Schule benutzt. 2013 ging der Besitz in private Hände über und ist heute für das Publikum nicht mehr zugänglich. Ich schreibe nicht über die Wirklichkeit, sondern über etwas, das ihr ähnelt, deshalb stimmen auch nicht alle Jahreszahlen in diesem Buch. Die Gebäude sind zum Teil nach ihrem originalen Vorbild beschrieben, allerdings wurde auch vieles hinzugedichtet. In meinen Geschichten sind Häuser wichtige Kulissen. Marian Dahles Drachenhaus habe ich in der Sophus Lies gate in Frogner verortet. Dieser Umstand hat praktische Bedeutung. Ich brauchte einen großen alten Garten. Dieses Buch ist in erster Linie ein Märchen für Erwachsene. Und danach ein Kriminalroman.

Unni Lindell

Erster Teil

1

Die Drohne überwachte das Gebiet, in dem er sich bewegte. Sie glich einem Facettenauge, zusammengebaut aus vielen tausend Einheiten, durchsichtigen Glasflächen und lichtempfindliche Zellen – sechseckig wie in einem Wespennest. Das hatte er gelesen, so wurde es beschrieben. Jetzt sauste sie mit einem Summton, der einer Pferdebremse würdig gewesen wäre, hinauf in die Luft. Sie war nicht programmiert, er steuerte den kleinen Karbonkörper manuell, mit geschickten Fingern an den Hebeln des Funksenders, wie gewöhnlich. Es war 21.35 am Freitag, dem 16.Juni, siebzehn Grad, und bald ging die Sonne unter. Die Kronen der Fichten leuchteten in den letzten Sonnenstrahlen wie verbrannt, ein scharfer Strich trennte das Orange von dem Schwarzgrünen. Er stand vor dem Backsteingebäude mit den vernagelten Fenstern. Das Lager befand sich in dem eingezäunten Schattenbereich vor der kompakten Wand aus Fichten. Der Wachmann döste im Hauptgebäude gegenüber. Er hätte einmal pro Stunde seinen Rundgang machen müssen, saß aber nur dort drinnen. Die Kamera schickte Landschaftsbilder, die als Film auf dem Bildschirm des iPads erschienen. Er sah sich jetzt von oben. Das Bild wurde größer, es zeigte die Dächer, die glasierten Ziegelsteine des Hauptgebäudes und die Scheune ohne Dach, die nackten Balken, die in den Himmel ragten. Jetzt sah er drei baufällige Schuppen und das Gewächshaus. Die Durchgänge zwischen den Gebäuden ähnelten schwarzen, länglichen Mulden. Die Container waren gerade noch zu erkennen. Erst kam der Parkplatz mit der Skate-Rampe, dann der Wald.

Er hielt den Blick auf den Schirm gerichtet, lenkte die Drohne über die Baumwipfel, dann über den See mit dem schwarzen Wasser, über den Bach und über den Karrenweg, der weit dort unten einem braunen Band ähnelte. Hier und da gab es Wege, aber keine Häuser, nur den Bauernhof auf der Anhöhe und das Kornfeld, das zur Straße hin abfiel. Die schwarzgrüne Dunkelheit des Waldes öffnete sich bei dem Pachthof; der hellgrüne Farbfleck, bevor das Rapsfeld begann.

In der Frühe hatte er das Morgengrauen gefilmt; Pollensamen hatten im weißen Gegenlicht der ersten Sonnenstrahlen geschwebt gleich Dampfwolken über dem Raps. Doch jetzt war Abend, die Kätzchen ließen die Köpfe hängen.

Plötzlich sah er das Zelt. Eine Frau kroch aus der Öffnung, stand auf und ging ein paar Schritte. Ein unfreiwilliger Laut kam über seine Lippen. Sie hatte das Zelt an genau derselben Stelle aufgebaut, an der vor fünf Jahren diese andere Frau zerhackt worden war. Wusste sie das nicht? Er ließ die Drohne absinken, spürte den Wegerich und die Disteln, die an der Grundmauer wuchsen, zwischen Socken und Hose an der nackten Haut kratzen. Die Frau trug einen weißen Rock und eine rote Bluse. Der Entfernungsmesser zeigte, dass sie einen Kilometer von ihm weg war. Sein Herz begann jetzt auf eine andere Art zu schlagen. Die Frau ging mit langsamen, abgehackten Bewegungen weiter, wie es Katzen taten, wenn sie keine Rivalen reizen wollten. Das lag an den verzögerten Signalen. Jetzt legte sie sich auf den Bauch, als betrachte sie etwas im Gras. Er richtete sich auf und fokussierte. Vor einer Woche hatte er ein rothaariges Mädchen einen Scooter an dem großen Stein abstellen sehen, wo der Karrenweg begann, aber das war nicht sie gewesen. Die hier war eine andere Frau, eine erwachsene blonde Frau.

Sie stand wieder auf. Jetzt waren ihre Bewegungen normal. Eine Mücke biss ihn in die Wange, sein Fuß geriet in einen Riss im Asphalt, und er schlug mit dem Schenkel gegen den morschen Holztisch, den er als Landeplatz verwendete. »Verflucht!« Der Schmerz zog sich durch den Hüftknochen und weiter in den Schritt. Er presste die Kiefer zusammen, bis die Zähne knirschten.

Dann senkte er die Drohne noch weiter herab, ließ sie in der Luft über ihr surren. Hatte sie einen Hund? Oder einen Mann? Sie schaute einen Augenblick hoch, hörte sie das Geräusch? Er glaubte nicht, und die Lichter hatte er ausgeschaltet, aber Frauen hatten so ihre Ahnungen. Sie kroch wieder ins Zelt. Graue Dunkelheit kam auf, die Luft wurde schärfer, das Zelt wurde schwarz. Er lenkte die Drohne zurück über das Lager und sah die letzten Sonnenstrahlen wie eine Warnung in einer Öffnung des Fichtenwaldes aufblitzen. Der Lichtbogen traf die zerbrochenen Scheiben des Gewächshauses am hinteren Ende des Grundstücks, wo sich das Loch im Zaun befand. Schließlich sank die Sonne in einer breiten segmentierten Linie und verschwand. Die Vögel zwitscherten nicht mehr, es herrschte nur Stille. Das Herz schlug wie ein Hammer gegen sein Brustbein. Er hatte nie eine Freundin gehabt. Frauen sollten nicht allein zelten, nicht in einsamen Wäldern.

2

Kommissarin Marian Dahle stand an der Arbeitsplatte in ihrer Wohnung in der ersten Etage des Drachenhauses und zerschnitt Hähnchenfleisch mit einem kleinen scharfen Messer. Sie öffnete das Fenster am Ende der Anrichte und blickte hinaus auf die Baumwipfel. Die Sonne war gerade untergegangen. Ein Hauch von süßer, abgasgeschwängerter Sommerluft drang herein. Sie liebte den Geruch und die Geräusche des Verkehrs. Nur eine Straße weiter begann der Dschungel der Stadt. Noch immer stürzten sich Schwalben in weitem Bogen vom Dachfirst in die Tiefe. Sie hatten ihre Nester auf dem Dachboden, es gab große Ritzen entlang der Balken in der Dachkonstruktion. Das Haus war im neunzehnten Jahrhundert erbaut worden. Es lag in einem alten, verwilderten Garten, das Grundstück maß tausendfünfhundert Quadratmeter. Niedrige Steinmauern teilten den ungemähten Rasen in Plateaus auf, und die vermoderten Apfelbäume hatten kleine, trockene Blätter. Die hohen Eichen hingegen waren schlank und gesund. Der Himmel würde bald tiefer sinken, mit einem kräftigeren Schimmer aus Grau über den Bäumen.

Das Holzhaus hatte eine durchgehend asymmetrische Fassade, bei der die einzelnen Bauteile ineinandergriffen. Es gab vier Wohnungen im Haus. Allen gemeinsam war die enorme Deckenhöhe, aber zu Marians Wohnung gehörte der Turm, den sie als Schlafzimmer benutzte, ihr Bett stand ganz dort oben.

Vor etwa anderthalb Jahren hatte sie im Zusammenhang mit einer Verhaftung eine Brandverletzung erlitten, es hatte lange gedauert, darüber hinwegzukommen. Der Unfall war wie eine Actionszene in einem schlechten Kriminalfilm gewesen; sie hatte lange nicht arbeiten können, war abgeschirmt gewesen vom Berichteschreiben, von Mord, Selbstmord und der nicht enden wollenden Lektüre von Dokumenten. Sie öffnete die Kühlschranktür. Dort lagen nur ein paar Tomaten und etwas Aufschnitt. Tomaten durften nicht im Kühlschrank liegen, aber sie beließ sie dort, nahm stattdessen Brötchen aus dem Eisfach und legte sie in den Backofen. Heine würde bald zu einem späten Abendessen vorbeikommen, es war fast zehn. Er war siebenundvierzig und Bildhauer und hatte in seiner Wohnung nebenan ein Atelier. Er lebte teilweise von seiner Kunst, doch um die Rechnungen bezahlen zu können, musste er zusätzlich an einer privaten Kunstschule unterrichten, jetzt allerdings war das Semester vorüber. Vor einem halben Jahr, zu Heiligabend, hatten sie ein Verhältnis angefangen. Er hatte sie und den Hund zu sich eingeladen, als sie nach einem gelösten Fall mit einem verschwundenen kleinen Mädchen völlig am Ende gewesen war. Er hatte Schweinerippchen und Aquavit aufgetischt und den Weihnachtsbaum mit allem möglichen alten Schmuck vollgehängt. Sie hatte ihre Verteidigungsmauern nach und nach eingerissen, und er hatte ihr das Lachen wieder beigebracht.

Ihr Chef, Cato Isaksen, hatte sie im letzten Herbst mehr oder weniger zurück an die Arbeit gezwungen. Hatte ihr ein kleines Kellerbüro ohne Fenster gegeben, hatte darauf bestanden, dass sie sich den Fall mit dem kleinen Mädchen ansah, das fünfzehn Jahre zuvor aus einem Schrebergarten mitten in Oslo verschwunden war. Marian war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz gesund gewesen, fürchtete aber, ihre Arbeit als Ermittlerin zu verlieren, deshalb hatte sie ja gesagt. Die Kripo hatte eine neue Cold-Case-Einheit geschaffen, und der Gewaltabschnitt hatte die Anweisung bekommen, einige Ermittler beizusteuern, woraufhin Cato Marian mit Freuden abgegeben hatte. Später hatten sie darüber gescherzt und waren sich darüber einig, dass Cato die Gelegenheit genutzt hatte, um sie loszuwerden. Sie hatte es geschafft, den Fall zu lösen, einige Wochen vor Weihnachten im letzten Jahr, aber sie war kurz davor gewesen, eine Psychose zu entwickeln. Das wollte sie nicht noch einmal durchmachen. Jetzt aber, vor zwei Wochen, hatte Cato plötzlich vorgeschlagen, dass sie ganz zurückkommen sollte, zum Gewaltabschnitt. Dazu war Marian allerdings noch nicht bereit.

Heine sagte gern, dass ihm ihre Brandnarbe gefalle, dass sie vom Leben tätowiert sei und dass die Narbe sie schön mache. Das stimmte natürlich nicht. Die Narbe erstreckte sich wie eine dicke Hautflechte am Auge vorbei, über die linke Seite des Gesichts und dann weiter über Hals und Schlüsselbein und endete an der kleinen Brust. Marian hasste ihr Aussehen. Das lag nicht nur an der Verletzung. Sie hatte einen schmalen Mund, eine kleine Nase, breite Wangenknochen und schräg stehende Augen; sie stammte aus Korea, war aber als Dreijährige von Norwegern adoptiert worden. Sie war zu einer Familie in einem Hochhausblock im Osloer Osten gekommen, bekam einen schwächlichen, ärmlichen Vater und eine dämonische und kontrollbesessene Mutter. Sie brach den Kontakt zu ihnen ab, als sie erwachsen geworden war. Jetzt war sie neununddreißig.

Sie kochten im Allgemeinen jeden zweiten Tag füreinander, sofern keine anderen Pläne vorlagen. Heine hatte gestern vietnamesisches Essen serviert, zum Dessert hatte es Erdbeeren mit Chili und Salz gegeben. Ihr schwarzer Boxer, Birka, war jetzt bei ihm. Die Hündin war inzwischen dreizehn. Die steilen Stahlstufen zum Schlafturm hinauf waren ein Problem. Wenn sie Birka im Wohnzimmer liegen ließ, stand der Boxer auf, ließ den Kopf hängen und fiepte, weshalb das Tier jetzt meist bei Heine übernachtete. Schlief Heine bei ihr im Turm, blieb die Hündin allein bei ihm in der Wohnung. Seine Wohnung war größer als ihre, hatte aber keinen Turm. Dafür gab es einen Balkon mit Schwebegiebelkonstruktion.

Marian deckte den Tisch. Die Wohnung bestand aus Flur, Bad, einem großen Wohnzimmer mit Küchenecke sowie dem Turm. In den Räumen gab es senkrechte und waagerechte Balken. Sie besaß nur die allernötigsten Möbel, keine Ziergegenstände, dafür aber einen niedrigen Glastisch vor einem beigen Sofa und einen alten, abgebeizten Esstisch mit acht Stühlen. Ein weißer Teppich lag unter dem Tisch, die Kanten zeichneten sich ungleichmäßig auf den Dielenbrettern ab. An den Wänden hingen eingerahmte Plakate – Blumen vor diffusem Hintergrund. Das Zimmer strahlte Ruhe aus. Doch in der Ecke stand der kohlschwarze Ofen, er sah aus wie ein König, mit Zacken wie bei einer Krone. Marian machte nicht gern Feuer in dem Ofen. Wenn die Hitze sie stach, kam ihr alles wieder in Erinnerung.

Das rostige Trockengestell unten im Garten gab plötzlich ein singendes Geräusch von sich. Es war eine dieser sechseckigen Wäschespinnen an einer Stange, und es rief einen scharfen, schmerzhaften Ton hervor, wenn es bewegt wurde. Sie schaute aus dem Fenster. Doch ja, es war dieses nervige Kind, das wieder mit den Händen an den Schnüren hing und mit den Füßen trat, dass der Kies nur so aufwirbelte. Eine junge farbige Frau war mit einem sechs- oder siebenjährigen Jungen in die Wohnung unter Heine gezogen. Und Marian hatte Unruhe verspürt.

Sie nahm eine Schüssel und gab die Hähnchenstücke hinein, wusch sich die Hände und spülte sorgfältig das Messer ab. Die glänzenden Flächen der Oberschränke passten gut zu den dunklen alten Original-Holzwänden. Unterhalb der Schrankreihe hatte sie eine Lichtleiste angebracht, weil das alte Holz Licht schluckte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie die Decke weiß gestrichen hatte in einem unter Denkmalschutz stehenden Haus. Holz konnte achthundert Jahre halten, es versteinerte beinahe, war aber eigentlich selbst regenerierend – hygroskopisch, wie in den Stabkirchen, aber durch den Anstrich hatte sie womöglich die natürlichen Eigenschaften des Holzes zerstört.

3

Er zog die Wellblechtür zur Seite und spähte durch den Schlitz hinüber zum Hauptgebäude, wo die Geschäftsräume der Drohnenfirma Grey Hunt lagen. Wenn die Sonne auf das Blech hinunterbrannte, wurde die Tür so heiß, dass man sich an ihr verbrennen konnte. Es knackte jetzt darin, sie wurde langsam wieder kalt. Die Uhr zeigte zehn. Es musste noch dunkler werden, bevor er zum Wald gehen konnte. Die Konturen der Dächer verschwammen. Er beobachtete den Nachtwächter, der einmal in der Stunde seine Runde drehen sollte, aber immer noch dadrinnen saß. Die Frequenz der Kontrollgänge war sinkend. Das hatte er gehört; Frequenz und sinkend, hatte Kent gesagt. Es ging auf die Ferien zu, und die Urlaubsvertretungen nahmen ihren Job nicht so ernst, wie sie es eigentlich sollten. Da die Fenster des Ziegelgebäudes von außen vernagelt waren, konnte der Wachmann die Glühbirne an der Decke hier drinnen nicht leuchten sehen.

Er nannte sich Drohnenmann, reparierte aber eigentlich die Autos und hielt die Anzahl der Ratten auf niedrigem Niveau. Er war jetzt fünfundvierzig. Von Beruf war er Nachforschungsexperte bei der Post; ein wahrer Fuchs, wenn es um die Nachverfolgung von Postsendungen und um die Deutung interner schriftlicher Bescheide ging. Systeme, Nachverfolgung und interne Bescheide waren Worte, die er kannte, und er hatte verstanden, dass das Savant-Syndrom, das ihm als Teenager attestiert worden war, seinen Teil dazu beitrug, dass er Details wahrnahm. Die Post war zufrieden mit ihm, hier oben war er nur ein freiwilliger Hausmeister ohne Bezahlung, wie er es schon gewesen war, als das Militär hier noch hauste. Kent, der Chef von Grey Hunt, war ebenfalls zufrieden mit ihm, sogar so zufrieden, dass er ihm die Drohne überlassen hatte.

Eigentlich hatte der Arzt nur gesagt, dass er einige Anzeichen für das Syndrom habe, dass er ein praktischer Savant sei und dass die meisten Savants keine normalen Dinge tun könnten, wie etwa ein Haus in Ordnung zu halten. Das bedeutete ja nur, dass er außerordentliche Fähigkeiten besaß. Savant bedeutete gelehrt. In alten Tagen hießen sie gelehrige Idioten, das hatte er nachgeschlagen und gelesen. Aber er war kein Idiot, obwohl Kent ihn einmal timid genannt hatte. Als das Militär hier noch war, hatte Ordnung geherrscht. Als Thorbjørn hier beim Militär war, herrschte Ordnung. Er liebte Ordnung. Erst als er damals die alten Berichte gefunden hatte, war ihm der Zusammenhang klar geworden, und er hatte begriffen, warum Thorbjørn aus der Armee geworfen worden war. Aber was Thorbjørn anging, war er stumm wie ein Fisch.

*

Es knirschte wieder im Kies. Marian lehnte sich aus dem Fenster. Jetzt trug die Frau Kästen von einem Auto zum Haus. Sie hatte lange Beine, wirkte durchtrainiert, trug Jeans und ein kleines Top, das ihren flachen Bauch zeigte. Ein privater Kindergarten hatte hier einziehen wollen, aber daraufhin hatte Heine Beschwerde bei der Gemeinde eingelegt und behauptet, dass er bei seiner Arbeit von Ruhe abhängig sei, obgleich er andererseits oft laute Musik bei sich laufen hatte. Aber das war natürlich etwas anderes als schreiende Kinder im Garten. Sie selbst spürte, dass der Junge dazu beitragen könnte, ihren Gleichgewichtspunkt in etwas Gefährliches hinüberkippen zu lassen. Ihre erste Reaktion war Verzweiflung gewesen, als sei alles zerstört worden. Sie mochte Kinder nicht, betrachtete Schwangere mit Abscheu; die hatten eine von Tag zu Tag größer werdende Geschwulst im Bauch. Kinder waren nichts anderes als Zellen, die mit Krebs verglichen werden konnten, um es krass auszudrücken. Sie musste sich zusammenreißen. Heine durfte nicht herausfinden, wer sie wirklich war. Der Sommer hatte noch nicht angefangen. Bald gab es Ferien. Heine plante für sie beide eine Reise nach Italien, zu einem Ort, wo Alabaster gewonnen wurde.

*

Er schloss die Garagentür. Das hinderte Unbefugte am Betreten seines Territoriums. Er war froh, dass Kent ihm erlaubt hatte zu bleiben. Drinnen bei ihm, im Garagenteil, herrschte Ordnung. Er hatte Regale für die Flaschen mit Lösungsmittel gebaut, und das Werkzeug hing in Reih und Glied. Es gab sowohl Platz für den Micra als auch für den schwarzen Range Rover, der sich nicht reparieren ließ. Etwas später, am Sonntagnachmittag, sollte ein Mann von einer Autowerkstatt kommen und ihn mitnehmen. Ein Sportfreak, der sowieso auf seinen Rollerskiern hier hochkommen wollte, hatte er gesagt, und der daher bereit war, den Wagen an seinem freien Tag abzuholen. Sportfreaks waren Idioten.

Über der Arbeitsbank gab es drei Glühbirnen, die aufgrund der Deckenhöhe an langen Leitungen herunterhingen. Ein Heißwasserboiler war an der Wand daneben angebracht. Dort gab es einen Duschkopf, der direkt aus der Wand ragte. Sein Handtuch hing über dem Hahn. Wenn er aus dem Wald kam und schmutzig war, duschte er hier. Manchmal wurde die Dusche auch von den Angestellten benutzt. In der Ecke stand die Toilette. Das Porzellan war gesprungen. Das Wasser lief die ganze Zeit. Sein Schwingsessel stand jetzt mitten im Raum. Einmal war ihm der Gedanke gekommen, dass es nicht nur für die Frauen im Zelt, sondern auch für ihn selbst gefährlich werden könnte, wenn Thorbjørn erführe, was er von dessen Verbrechen wusste. Also sagte er nie etwas zu Thorbjørn, tat immer so, als wenn nichts wäre. Er hatte ja eigentlich keine Angst vor ihm. Thorbjørn war nicht für die »Operation Cold Night« ausgewählt worden, er wurde aus dem Militär entlassen und im Herbst 2009 nach Norwegen zurückgeschickt, wie im Schlussbericht zu lesen war, weil die Militärführung ihn zweier Ereignisse verdächtigte mit Frauen in einem Zelt im Hochland außerhalb von Kabul.

4

Marian trank zur Zeit weniger, versuchte wirklich, der großen Versuchung zu widerstehen, die in der Betäubung des Schmerzes lag, aber mitunter geschah es dennoch, dass sie ihre Nerven spürte, völlig out of the blue, sie fühlten sich im Körper wie ein System an, kleine spitze Blätter, die sich ausbreiteten. Dann blieb ihr nichts anderes übrig, als ins Badezimmer zu gehen und die unterste Schublade herauszuziehen, die mit den Shampooflaschen und den Sonnencremes, und ein oder zwei Schlucke aus der Wasserflasche mit dem durchsichtigen Inhalt zu nehmen. Heine hatte es nicht kapiert, dass ihr Gehirn Beruhigung brauchte. Dass hohe Aktivität im Netzwerk der Gedankenstränge ein System der Belohnung brauchte. Sie wusste alles über Schäden im orbitofrontalen Stirnlappen: Reizbarkeit, gesenkte Hemmschwelle, mangelnde Einsicht und den ganzen übrigen Scheiß. Immerhin hatte sie sich in Therapie begeben, aber die Zeiten waren vorbei. Sie trank nie, wenn sie fahren musste. Sie wurde ja auch nicht mehr von einem Moment auf den anderen ins Polizeigebäude beordert, wenn irgendwo ein Mord geschah, jedenfalls nicht so wie früher.

Sie ging ins Badezimmer und nahm einen Schluck aus der dort versteckten Flasche. Das Bad war frisch renoviert, mit hellbraunen Mosaikfliesen. Sie spürte, wie wenig doch erforderlich war, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, ein hektisches Kind im Erdgeschoss reichte aus. Heine ahnte nicht, wie zerbrechlich sie war. Das wusste momentan auch Cato nicht. Aus Furcht, den Anforderungen nicht gerecht zu werden, hatte sie ihrem Chef gegenüber eine betont überlegene und souveräne Haltung eingenommen. Etwas von diesem Gefühl verschwand nie. Cato hatte ihre Art als destruktiv bezeichnet. Allerdings zeigte sich, dass sie taktisch besser war als er, weil sie jedwede Atmosphäre in sich aufnehmen konnte und über eine starke Intuition verfügte. Be successful, it drives people crazy hatte ihr Abiturmotto gelautet.

Während der winzige Schluck aus der Schnapsflasche ihren Körper wärmte, betrachtete sie sich in dem eingelassenen Badezimmerspiegel.

Sie schaffte es gerade noch, Messer und Gabeln auf den Tisch zu legen, bevor Heine den Türgriff herumdrehte. Die alte Tür knallte zu, die Drahtglasscheiben erzitterten. Dann stand er da, barfuß, in Jeans und weißem T-Shirt. »Was wird denn hier Schönes serviert?« Und hinter ihm die keuchende Birka.

»Endlich kommst du.« Marian ging zu ihm und umarmte ihn. Noch immer zuckte sie ein wenig zusammen, wenn sie ihn sah, denn obwohl es Monate her war, dass sie zusammengekommen waren, fand sie es weiterhin seltsam, einen Liebsten zu haben. Allein das Wort: Liebster, das Allerliebste. Sie hatte jetzt einen Menschen aus Fleisch und Blut, nicht bloß einen Hund.

Birkas Fell war nicht mehr schwarz und glänzend, sondern stumpf und grau, die Schnauze fast weiß vom Alter. Die steifen Beine. Die traurigen Augen. Marian verspürte eine Art Wut, als sie Futter in die Hundeschale gab und dem Tier kurz den Kopf streichelte.

»Hähnchensalat und Brot«, sagte sie und strich sich das Haar hinters Ohr.

»Super, total ausgehungert«, sagte er.

»Hast du mit ihnen gesprochen, den Neuen unten? Der Junge macht mich verrückt.«

»Der Kleine ist cool«, sagte Heine. Er sah so toll aus mit seinen halblangen welligen Haaren, zwar etwas grau um die Ohren, aber die kräftigen Bizepse verliehen ihm einen Touch von Jugend. Er trainierte regelmäßig, das ließ ihn so jugendlich wirken. »Die Mutter ist noch cooler. Süß, mit langen Beinen und großem Hintern.« Er lachte und setzte sich hin. »Ist schließlich mein Job, Skulpturen von Körpern anzufertigen. Ich muss hingucken. Ich wünsche mir übrigens so gelbe Socken. Hast du seine gelben Socken gesehen?«

»Ich scheiße auf gelbe Socken. Bier oder Wasser?«

»Bier«, sagte er. »Ärger dich nicht so über den Jungen, Marian. Wir wollen doch sowieso nach Italien. Ich bestelle morgen die Tickets. Das wird eine Forschungsreise in Sachen Alabaster, das Wort stammt übrigens aus dem Griechischen. Ein Mineral, dicht und feinkörnig, eine marmorierte Art von Gips.«

Marian setzte sich. »Wo in Italien ist das?«

»Volterra, in der Toskana. Da steht die Ombra-della-sera-Statue, aus der Zeit der Etrusker. Ich freue mich darauf, dir das alles zu zeigen.«

*

Nur ein einziges Mal hatte er einen Blick in die Forschungshalle von Grey Hunt werfen können. Dadrinnen hingen weiße Lichter an der Decke, und es gab Fenster mit Milchglasscheiben. Avancierte Computer auf Tischchen, und überall verstreut lagen Zeichnungen von winzigen Details. Proben von Materialien aus Karbon und verschiedene Metalltypen waren auf einem Arbeitstisch ausgebreitet. Manchmal nahm er seine eigene Drohne auseinander und legte die Einzelteile auf die Arbeitsbank. Die Drohne war nicht so minimalistisch wie die neuesten Ausgaben, eher wie ein kleiner Hubschrauber mit Spinnenbeinen. Er konnte die roten Lämpchen ein- und ausschalten. Mit eingeschaltetem Licht sah die Drohne aus wie ein in der Luft schwebendes Gefahrensignal. Die Teile konnten eine ganze Weile überall verstreut liegen. Dann tat er so, als arbeite er in der Forschungshalle. Er nahm das Waldmesser hervor, das alte, das er von einem Onkel zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte, dem Onkel, der immer damit angab, ganz gewöhnlich zu sein. Auch über ihn selbst ließ sich bestenfalls sagen, dass er gewöhnlich war. Und geschickt. Er hatte eine Weile daran gedacht, dass er das Messer benutzen sollte und nicht nur mit dem Archiv arbeiten. Er war sehr geschickt darin, Archive aufzubauen. Es gefiel ihm, sein eigenes Archiv aufzubauen, mit wichtigen Dokumenten. Drinnen in dem geheimen Raum! Dort hatte er alles. Damals, als das Lager aufgegeben wurde und die Archivpapiere verschwunden waren, hatte es eine Untersuchung gegeben, aber nur eine interne, nichts davon drang an die Presse. Er hatte mitbekommen, als wie strapaziös die oberste Chefetage das Ganze empfand, das Wort strapaziös war verwendet worden, er hatte sie es sagen hören, aber gute Miene zum bösen Spiel gemacht und geäußert, er habe nicht ein einziges dieser Papiere gesehen, dass es aber zu viele gebe, die mit der Räumung des Lagers beschäftigt seien, zu viele Köche und so weiter, hatte er gesagt. Die Militärführung hatte das ganze Gelände inspiziert und konkludiert, dass das Archivmaterial weggeworfen sein musste, das sagten sie: konkludiert und weggeworfen, vielleicht in die Container, die während der Renovierung des Verwaltungsgebäudes mehrmals geleert worden waren, oder vielleicht war es verbrannt worden zusammen mit alten Matratzen und Bettzeug, dem ganzen Zeug, das zu Asche geworden war. Er war beim Verbrennen dabei gewesen, und die Asche hatte hinterher bloß wie Asche ausgesehen, schwer zu sagen, was das einmal gewesen war. Niemand hatte je Verdacht geschöpft, dass er alles zusammen aus den Archivschränken genommen, die Berichte in schwarze Müllsäcke gestopft und sie dann in das geheime Hinterzimmer geschleppt hatte. Die Zeit war auf seiner Seite gewesen, die Suche war eingestellt, und das geheime Material war als verloren eingestuft worden. Er hatte gewonnen. Ein Jahr später hatte er sich auch die drei defekten Archivschränke genommen.

Eigentlich war es kein Gedanke an Rache, dass er jetzt das Messer benutzen wollte, er hatte nichts zu rächen, ganz im Gegenteil, er wollte anfangen zu leben. Als er klein war, hatte er Lars sein wollen, der Jugendfreund vom Bauernhof. Jetzt wollte er Thorbjørn sein, wollte ein Mann sein. Schon bald würde er vielleicht auch ein Verbrecher sein.

5

Heine schlief ein, sobald sie sich geliebt hatten. Jetzt lag er mit seinem rauen Kinn dicht an ihrem Gesicht, sein warmer Atem streifte ihre Wange. Er roch nach Vanille, seine Haut war gleichermaßen zart und fest. Marian löste sich von ihm, stand auf und zog einen weißen Seidenpyjama über den Kopf, im Gegensatz zu ihm schlief sie nicht gern nackt. Sie hatte das hoffnungslos abgetragene Flanellhemd verstecken müssen, das sie früher benutzt hatte und das sie an einen Nuckellappen erinnerte. Heine durfte sie darin nicht sehen. Das Hemd lag gut versteckt ganz hinten im Schlafzimmerschrank, dem niedrigen, lang gestreckten mit fünf Türen, der in den Zwischenraum zwischen Fußboden und schräger Decke eingebaut war. Man konnte die Rückplatte des einen Schrankes abnehmen und auf den Dachboden gelangen, vielleicht war das ein Notausgang für den Fall eines Brands, aber sie mochte nicht das Gefühl, dass es auch möglich war, den anderen Weg zu nehmen, zu ihr hereinzukriechen, von außen. Tatsächlich war das einmal passiert, und das wollte sie am liebsten vergessen. Aber sie wagte nicht, die Luke zu verschließen, sie hatte seit dem Unglück eine Heidenangst vor Feuer, brauchte einen Fluchtweg. Und die Schlösser an der Dachbodentür waren ausgewechselt worden.

*

Die Zeltfrau hatte anscheinend keinen Liebhaber. Weshalb hätte sie auch sonst allein hier hochfahren und sich in ein kleines Zelt legen sollen. Er fuhr mit den Händen über die Hosenbeine, der Cordstoff war an den Knien blank gescheuert. Er kletterte die Leiter zum Zwischenboden hinauf, es gefiel ihm im ersten Stock des Backsteingebäudes. Er hätte das benötigte Material mitnehmen sollen, Dinge, die er viele Male zuvor im Wald benutzt hatte – Militärstiefel, Handschuhe, Mütze. Und den Overall. Das wurde Material genannt. Der Holzfußboden hier oben bestand aus groben, abgenutzten Brettern, dunkelbraun und solide. Trotz seines Gewichts gaben die Bretter nicht nach, obwohl sich der Hängeboden nur durch das halbe Gebäude zog. Wo die Treppe gewesen war, gab es kein Geländer. Aber jetzt stand die Leiter da. Hier oben hatte er Übersicht, er liebte es, dort zu stehen und auf den Raum und den Garagenteil hinunterzublicken. Er hatte hier oben eine Art Nest gebaut, hatte alte Uniformen und eine dünne Schaumgummimatratze hinter das Regal mit abgelegten Uniformen gestopft, mehrere davon lagen auch auf dem Boden, zusammen mit anderem Schrott, einiges davon stammte noch aus dem Krieg. Er mochte den Krieg.

Er schaute aus dem Fenster unter dem Dachfirst, blickte direkt auf die Scheune ohne Dach. Das Fenster stand jetzt halb offen, weil die Rinne zum Container hinunter am Fensterrahmen befestigt war. Er müsste später da hinunterkriechen, um dem Blickwinkel der Überwachungskamera auszuweichen. Sie wussten ja, dass er hier war, behandelten ihn aber wie Luft. Er war niemand. Der Wachmann würde ohnehin nicht mitbekommen, dass er jetzt in den Wald ging. Im Sommer war es gut, dass das Fenster unter dem Dachfirst offen war, es war gut, etwas Luft in das Gebäude zu bekommen; im Winter musste er alte Lumpen hineinstopfen und mit Klebeband abdichten, weil der Rahmen sonst Schimmel ansetzte. Er warf einen Blick in den Container, der voll mit Bauschrott, Spanplatten und Brettern war. Die Räumung des Geländes war vor einigen Jahren eingestellt worden.

Er nahm sich, was er brauchte, warf es hinunter in den Garagenteil und kletterte schnell hinterher. Er musste daran denken, was passieren würde, nachdem sie tot wäre und gefunden würde. Sofern er es schaffte, sie umzubringen. Sein Handy lag zu Hause im Reihenhaus. Er war von Handys nicht allzu begeistert, und nun war es gut, dass er es nicht dabeihatte. Er dachte an die Ortung. Schließlich war er Experte für Nachverfolgung.

Er holte das Rattengift hervor, das im Schrank unter der Arbeitsplatte stand, sowie zwei Hähnchenfilets, die er als Proviant für heute mitgenommen hatte. Die Suchhunde sollten etwas zu fressen bekommen. Er stopfte eine Flasche Aceton in einen Militärrucksack. Aceton diente zur Reinigung und konnte entzündet werden. Bevor er sich umzog, verschloss er die geheime Tür, die in der Ziegelmauer hinter den Jacken an der Garderobenleiste fast unsichtbar war. Die Deutschen hatten Ziegelsteine auf die Tür gemalt, so dass sie dem Rest der Wand haargenau glich. Tarnung hieß das. Niemand bei Grey Hunt wusste von dem Raum. Er zog eine Jacke zur Seite, fasste nach dem runden Griff ganz oben, drehte ihn um, und die Tür ging auf. Sie hatte kein Schloss, den Türgriff würde sowieso niemand entdecken. Aber er könnte eingesperrt werden, falls jemand die Tür von außen zumachte, weshalb er stets eine Jacke in den Türschlitz legte. Der Raum hinter dem Raum war klein, nur anderthalb Meter breit, aber dafür lang, er erstreckte sich von einem Ende des Gebäudes zum anderen. Der Raum war nahezu schalldicht, es gab nur ein kleines Ventil unterhalb der Decke, weshalb die Luft hier drinnen schlecht war. Das Ventil befand sich an der Rückseite des Gebäudes, und da ging niemand vorbei. Hier hatte er die von der Militärführung für unauffindbar erklärten Archivpapiere versteckt, zwei Säcke mit Unterlagen, die zu digitalisieren sie nicht rechtzeitig geschafft hatten. Er hatte Thorbjørn gerettet, hatte dessen Personalakte verschwinden lassen, die daher nicht im System gelandet war. Thorbjørn wirkte total in Ordnung. Seine Akte allerdings hatte ihn erschreckt, als er sie zum ersten Mal gelesen hatte.

6

Vor zwei Abenden hatten Heine und sie über Marina Abramovic´ gesprochen, die Künstlerin, die auf einem Stuhl sitzt und Menschen anstarrt. Sie wolle ein Körpergefühl bei den Menschen hervorrufen, hatte Heine gesagt, und so hatten sie über ihre Berufe geredet, sie, Marian, die mit zerstörten Körpern arbeitete, und er, der neue aufbaute. Bevor sie zusammenkamen, hatte Heine eine Skulptur von ihr angefertigt, in aller Heimlichkeit. Sie versuchte, nicht daran zu denken, er hatte eine Seite, die ihr fremd erschien, etwas, das sie nicht zu analysieren vermochte. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie die Skulptur entdeckt hatte. Sie hatte an die Tür geklopft, um sich über die laute Musik zu beschweren. Als er die Anlage herunterdrehte, blieb sie in der Türöffnung stehen und starrte in den Gang und weiter durch die offene Tür in sein Atelier, wo auf dem Fußboden Lehmklumpen und Gipsreste lagen. Auf einem Regal standen mehrere unfertige Skulpturen. Auf einer Drehscheibe entdeckte sie eine halb fertige Frau in natürlicher Größe. Sie hatte eine hübsche Kopfform mit glattem Haar, das Profil zeigte eine kleine Nase, und der schmale Hals ging in die Schultern über, und dann sah sie die kleinen Brüste und die Narbe. Es war sie. Sie hatte einen Schock bekommen. Woher wusste er, wie sie ohne Kleider aussah? Die Narbe trat deutlich hervor, als sorge erst sie für den künstlerischen Touch, gute Künstler suchten nicht nach Schönheit, sondern nach Echtheit und etwas Groteskem. Es war ihr vorgekommen, als sei der Gips aus Atomen zusammengesetzt, deren Strukturen sie nicht erfasste; Atom bedeutete unteilbar und war daher strukturlos. Ein großes Unbehagen überkam sie. Bis zum heutigen Tag hatten sie nicht über die Skulptur gesprochen. Sie befand sich noch immer bei ihm.

*

Papiere und Berichte lagen übereinander. Er hatte schon zwei Müllsäcke durchwühlt. Einige Papiere waren durch Feuchtigkeit wellig geworden, sie waren mit »Ereignisse« überschrieben. Er wollte mehr aufräumen, war dabei, Ordnung in einem Archiv zu schaffen, hatte einen Teil der Berichte in einen der Archivschränke gelegt. Einen davon brauchte er für die Drohne, denn die war das Schönste, was er besaß. Und dann hatte er die Schlüssel, an einigen Haken an der Wand – für die alten Gebäude auf dem Gelände, nicht die für Grey Hunt. Und er hatte die rostigen Schlüssel für die Luftschutzbunker im Wald.

Er würde sich den Bericht kurz ansehen, bevor er zu der Frau in den Wald ging. Thorbjørn Gabrielsen war Drohnenexperte in Afghanistan gewesen. Der Bericht stammte aus dem Mai 2009. Soldat Nr.0001–514 stand oben. Seine Hand zitterte ein wenig, als er die Seiten umblätterte und den letzten Bogen hochhielt, der die strenge Unterschrift des Vernehmers Arvid Lunde trug. Der Soldat war mehrmals in Afghanistan, stand da. Geboren 1974. Sie hätten ihm nicht gesagt, wie gefährlich es hier unten sei, sagt der Soldat. Er hält daran fest, dass er hier sei, um zu helfen, um etwas für Norwegen zu tun, für die Zivilbevölkerung. Er habe andere Soldaten sterben sehen. Thorbjørn Gabrielsen war bei dem Konvoi gewesen, der von den Aufrührern hinterrücks mit einer raketenbetriebenen Granate beschossen worden war, im August des Vorjahrs. Er war nördlich von Meymaneh an Aktionen gegen lokale Afghanen beteiligt gewesen, danach, ein Jahr später, war er in Bagram. Von Thorbjørns Geheimnis hatte niemand sonst erfahren. Thorbjørn selbst glaubte wohl, er hätte sich unterhalb des Radars bewegt, wie es hieß. Aber ein Nachforschungsexperte erster Güteklasse konnte schließlich zwei und zwei zusammenzählen. Es musste Thorbjørn gewesen sein, der auch diese Evie getötet hatte, im Zelt an der Stelle neben dem Rapsfeld, vor fünf Jahren.

*

Im Holz ertönte ein lautes Knacken. Marian erschrak. Es hatte sich angehört wie ein brechender Ast im Wald. Es lag an der Dachkonstruktion – das Eigengewicht der Querbalken und die Kräfte in den Fasern, die gegen die Schwerkraft kämpften. Ihr Blick wurde automatisch von dem Dachbodenschrank angezogen. Hatte Heine sie etwa ausspioniert? Sie kletterte die Leiter hinunter und ging ins Badezimmer. Sie hatte die Dosis der Vicodin-Tabletten reduziert. Obwohl die Pillen gegen körperliche Schmerzen wirkten, hatten sie Auswirkungen auf die Psyche, alles hing wohl zusammen. Nexium nahm sie nur, wenn sich das Bauchgefühl meldete. Sie nahm jetzt eine, hob die Hand und fuhr damit über die Narbe, die sich spannte. Am ehesten kam es ihr so vor, als hätte sie sich für eine Weile aus der Realität hinausgemogelt, das hier konnte einfach nicht ewig so weitergehen. Heine würde nicht bei ihr bleiben, und manchmal wünschte sie sich bloß, etwas herbeizuführen, das ihn zum Gehen veranlasste. Damit sie es hinter sich bringen und wieder in ihre Einsamkeit zurückgleiten könnte. Heine aber sagte, sie kitzele das Beste aus ihm hervor, weil sie ihre Zeit für sich brauchte und ihn in Ruhe ließ. Seine früheren Beziehungen seien anders gewesen. Sie selbst hatte überhaupt keine längerfristige Beziehung gehabt, sondern hatte sich nur hinter ihrer Arbeit verschanzt. Jetzt arbeitete sie an zwei alten Cold-Case-Geschichten. Einen dieser Fälle würde sie in wenigen Tagen mit einem Antrag auf Wiederaufnahme an den Generalstaatsanwalt schicken.

Marian kletterte zurück in den Turm. Heine schlief fest. Die Aussicht war wunderschön, sie liebte die alten Bäume, die an der unteren Seite des Gartens in Reih und Glied standen. Vom Oslofjord kam eine Decke aus eisengrauen, kompakten Wolken hereingerollt und breitete sich langsam über den Hausdächern aus. Es schien, als warteten sie nur darauf, endlich den Regen freizugeben.

7

Die Wettervorhersage war auf seiner Seite, für die Morgenstunden war Regen angesagt worden. Er zog sich um, runter mit der Hose, kickte die Joggingschuhe weg und zog den Overall an. Den schwarzen Overall, den er von Thorbjørn bekommen hatte und der dermaßen nach Dreck, Ruß und Mottenkugeln müffelte, dass im Wald ein Großteil seines menschlichen Geruchs überlagert werden würde. Er sprayte sich die Füße mit Insektenmittel ein, weg mit dem Gestank, schlüpfte in ein Paar Militärstiefel und zog eine Mütze fest über den Kopf. Dann schob er das Messer in die Scheide und kletterte aus dem Fenster am Dachfirst, glitt die im Container endende Rinne hinunter und kroch in die Scheune, nur zwei Meter entfernt. Der Wachmann durfte ihn nicht sehen. Er wartete einen Augenblick, kauerte sich dann zusammen und lief auf der anderen Seite hinaus, mit dem Sack, der wie ein Tier von seinem Rücken hing. In dem Schuppen nebenan waren alte Schulpulte und Stühle übereinandergestapelt. Er hatte die Zeit, in der es eine Schule im Lager gegeben hatte, nicht leiden können, die Schüler waren einfach viel zu gemein gewesen. Hatten ihm Dinge nachgerufen. Dass er verkrüppelt sei und hinke und solche Sachen. Durch eine dunkle Öffnung kroch er auf allen vieren hinaus, weiter über die festgetretene Erde zum Treibhaus und darum herum, vorbei am Hagebuttenbusch, an dem er sich neulich so heftig gestochen hatte, und hinüber zu der Stelle, wo der Maschendrahtzaun ein Loch hatte, ein Loch, das er mit einer Zange hineingeschnitten hatte. Er kroch hindurch, erhob sich halbwegs und ging mit gesenktem Kopf an dem grauen Maschendrahtzaun entlang. Als ob nichts geschehen sollte.

Er richtete sich auf, lief über den Parkplatz, schaute zur Skate-Rampe hinüber und trottete in den Wald hinein. Die Nacht war als graue Stille über die Kronen der Fichten herabgefallen. Es gab schwach leuchtende Sterne am Himmel, aber schon bald würden Regenwolken sie verdecken und das in ihnen enthaltene Wasser freilassen. Er lief auf dem Karrenweg über das Feld mit den Farnen. Nahm den Sack herunter und verteilte einige Hühnchenbissen zwischen den Gewächsen. Dann ging er weiter bis hinunter zur Hauptstraße und schaute zu dem sanft geneigten Kornfeld hinauf, wo der Hof von Dagmar und Lars lag. Alles war still. Er ging über den Karrenweg zurück. Die Wege führten in verschiedene Richtungen. Er wählte den, der zu der Stelle führte. Er wusste alles über die Natur, wusste, dass der Wald Gerüche absorbierte und sich daran gewöhnte. Er kannte den Wald von früher. Wenn man die Natur frequentierte, würden Waldboden, Bäume, Blätter und Gras den Geruch des Körpers adoptieren und ihn mit ihrem eigenen Duft vermischen: absorbieren, adoptieren, frequentieren. Schöne Wörter. Sogar eine Tannennadel hatte einen eigenen Duft. Oft lief er nachts hier herum, in alten Klamotten, wenn er keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Er war ein Landstreicher, das war ein altmodisches Wort. Er kam zum See. Der Bach floss weiter oben durch die Landschaft, ein Stück unterhalb der Rodungsfläche. Der Bach war klein, es hatte eine Weile nicht geregnet. Der Regen, der bald kam, würde die Natur waschen und den starken, eisenhaltigen Moorgeruch noch stärker hervorbringen. Eine kranke Ratte, die vor einer Woche gestorben war, lag jetzt mit offenem Bauch, von Insekten invadiert, zwischen den runden Steinen am See. Er hasste Ratten, aber die Absonderungen würden die stickige Waldluft noch weiter sättigen – Absonderung, das war ein wichtiges Wort. Spürhunde würden es nicht leicht haben, sich zu ihm hinzuschnüffeln. Spürhunde waren Mist!

Der Wald schloss sich um ihn wie eine graugrüne, erstickende Decke. Er hatte gelesen, dass Wälder erstickende Decken sein konnten. In norwegischen Sommernächten wurde es nie richtig dunkel. Fledermäuse stürzten vom Himmel herab. Sie jagten nach Insekten. Er warf gern kleine Steine in die Luft, um die Fledermäuse zu täuschen. Einmal hatte er einen Kometenstein gefunden. Der war lautlos durch die Leere des Weltalls gesaust, auf einer Umlaufbahn, die ihn um eine ferne Sonne und halbwegs bis zu den Sternen geschickt hatte, auf eine Reise, die viele tausend Jahre dauerte. Jetzt gehörte er ihm. Mithilfe des Steins berechnete er Dinge, die geschehen würden. Das Wort Komet war ein anderes als Kalk, was Kalkstein und Kalkulation bedeuten konnte. Eine Kalkulation war eine Methode, um Einsätze gegen Gewinne abzuwägen. All das strahlte wie ein großes Licht in ihm, wie der Lichtschweif, den man sehen konnte, wenn ein Komet zur Erde fiel. Er hielt sich an diesem Stein fest, auch wenn er ihn jetzt nicht dabeihatte. Die Vögel schliefen. Er mochte das Gezwitscher nicht, Geräusche, die wie Pingpong-Bälle zu ihm hochsprangen. Das Beste an Vögeln war, dass sie Insekten fraßen. Er hatte Vögel mit einer Steinschleuder getötet und sie verwesen lassen, dann hatte er sich um die Schnäbel gekümmert. Er holte seine Taschenlampe hervor. Das Licht zeichnete Kreise auf den Boden. Er ließ den Strahl in einen Ameisenhügel leuchten, die waren jetzt dadrinnen, diese Viecher. Er mochte Pflanzen, aber keine Ameisen in einem Hügel. Er nahm den Rucksack ab und goss Aceton über den Ameisenhügel, dann zündete er ihn an. Der Boden war weich von Feuchtigkeit, der Wald würde also kein Feuer fangen. Jetzt kriegten die Viecher ihr Fett ab! Die Flammen leckten an dem Hügel, er warf zwei Stöcke aus dem Wald als Brennholz darauf.

Dann ging er zu der Stelle. Er sah die Lichtung zwischen den hohen Stämmen. Das Zelt ähnelte in der grauen Dunkelheit einer Skizze. Eine Skizze war eine Zeichnung, etwas, das es in der Wirklichkeit nicht gab, aber dieses Zelt existierte. Er hockte sich hinter einen Busch, saß da, bis die Fasern in seinen Muskeln schmerzten. Der Körper bestand aus Fasern. Allein beim Gedanken an die Hampelpuppe, die dadrinnen schlief, wurde sein Geschlechtsorgan steif. Er zog Handschuhe an. Eine diffuse Helligkeit kam langsam auf. Er musste es jetzt tun. Plötzlich hörte er einen Schuss, drüben auf dem Rapsfeld, einen gedämpften Schuss.

Er erhob sich halbwegs und entdeckte Lars dort draußen. Er blieb still stehen, bis Lars sich das Reh auf die Schultern legte und in Richtung Hof verschwand. Blut tropfte von dem Tier mit dem schlaffen Kopf herunter.

Im Zelt gab es keinerlei Bewegung. Sie schlief fest. Jemand, der freitags ein Zelt aufschlug, würde doch wohl bis Sonntag bleiben? Wenn er Glück hatte, würde sie nicht vor Beginn der nächsten Woche vermisst werden. Als sie noch klein waren, hatte Lars gesagt, er habe Fakten. Und im selben Moment kam er auf den Gedanken, hinterher exakt dieselbe Strecke zu nehmen, in den Blutspuren und Lars’ Fußspuren zum Hof zu gehen. Es würde die Hunde in die falsche Richtung führen, frisches Blut würde die Hunde verwirren, diese abscheulichen Tiere, die sich alles erschnüffelten. Aber was, wenn zwei in dem Zelt wären? Eine hätte schlafen können, als er mit der Drohne gefilmt hatte. Allein das Zelt an derselben Stelle aufzuschlagen, wo die andere vor fünf Jahren erstochen worden war. Die Frau musste dumm sein. Er kroch leise auf das Zelt zu, auf allen vieren, mit den Ellbogen auf dem Boden, ganz dicht heran. Er nahm das Messer aus der Scheide. Und dann zog er langsam den Reißverschluss auf.

8

Die alte Dagmar Enge wollte gerade die Stalltür schließen, als sie einen Mann aus dem Wald kommen und die Hauptstraße weiter unten überqueren sah, es war beinahe wie in einem Kriegsfilm. Das Feld war wie ein grüner schaumiger Fußboden. Die Morgensonne stach weiß und kalt durch die Fichten, blitzte ein paarmal hell zwischen den Stämmen auf, über eine Schulter des Mannes hinweg, dann über die andere. Bald schon würden die Regenwolken alles Licht ausblenden. Der Regen würde die Äcker feucht machen. Es war gerade erst halb fünf. Wer war da so früh unterwegs? Er kam jetzt über das Feld. Im Himbeergebüsch summten die Insekten, ansonsten lag die Landschaft ganz still da. Sie ging ein paar Meter, dorthin, wo dichter Löwenzahn wuchs, verlor in der schlammigen Traktorspur fast das Gleichgewicht, richtete sich aber auf, hob die dünne Hand und hielt sie schützend an die Augen. Die Katze strich mit hoch aufgerichtetem Schwanz durch die Kornreihen. Der Mann kam direkt auf sie zu. Eine Mütze, mitten im Sommer? Er trug irgendwelche Militärsachen, einen etwas zu großen dunklen Overall. Und er hatte ein Bündel Kleider und ein paar Sachen dabei, die sie nicht erkennen konnte, auch ein kleines Tier mit buschigem Schwanz. Er drückte alles an seinen Körper. Sie strengte ihre Augen so gut wie möglich an, glaubte einen Moment lang, ihn zu erkennen, an der Art, in der er sich bewegte.

Und als er sie entdeckte, wusste sie, dass er es war, denn er erstarrte einen Augenblick und blieb stehen, begriff aber, dass es zu spät war, richtete sich wieder auf und kam zielbewusst auf sie zu. Er sah beim Gehen zur Seite, blickte sie nicht direkt an. Das musste ein Ablenkungsmanöver sein. Sie spürte einen Insektenstich im Nacken, war jedoch zu steif in den Gliedern, um sich dahinten kratzen zu können. Die Hirschlausfliege bevorzugte Kopf und Nacken, war flach, mit einem dicken Kopf, und hatte solide Krallen an den Beinen. Unbeholfen drehte Dagmar sich um, stolperte fast in der Traktorspur, die alten Latschen zu tragen war nicht gerade schlau, sie war schon früher im Stall gestürzt, hatte sich einmal sogar den Oberschenkelhals gebrochen. Sie hinkte um die Ecke. Der Insektenstich juckte. Jetzt warf sie einen Blick auf das Haupthaus, das eigentlich kein Haupthaus war, sondern bloß ein gewöhnliches Fertighaus, das das heruntergekommene weiße ersetzt hatte. Es hatte viel Ärger mit der Gemeinde gegeben, weil sie nicht gewusst hatten, dass das Schrotthaus unter Denkmalschutz stand. Ihr Sohn Lars war mal wieder zum Wildern ausgezogen. Vor einer halben Stunde war er zurückgekommen, jetzt schlief er, wie er es immer machte, bis weit in den Tag hinein. Auf dem Fußboden und draußen auf dem Hof waren Blutflecken. Sie würde es nicht ins Haus schaffen.

Sie schlich an der Schneefräse vorbei und wieder hinein in den Stall, schloss die Tür und zog den Stopper herunter, er ähnelte einem Holzkreuz, so dass die Tür von außen nicht geöffnet werden konnte. Lars hatte den angefertigt, damit sie die Schafe auch hier drinnen herumlaufen lassen konnte, wenn es etwas gab, was in den Verschlägen in Ordnung gebracht werden musste, und wenn es nicht reichte, sie im Zwischengatter zu belassen.

Sie stand ganz still und lauschte. Sie waren jetzt unruhig, die beiden kranken Schafe, die sich hier drinnen aufhielten, die anderen waren auf der Wiese. Die Morgensonne drang durch die Ritzen in der Wand. Der Gestank von Tierdreck war intensiv. Sie spürte die Angst in ihren Hals kriechen. Das Holzkreuz, das die Tür zuhielt, war nicht das solideste der Welt. Der Mann blieb im hohen Gras an der Grundmauer stehen. Sie sah seinen Schatten durch die Ritzen zwischen den Brettern.

Sie wich zurück in Richtung Getreidedarre und hockte sich reglos hinter den letzten Verschlag. Ein blauschwarzer Mistkäfer spazierte an der Plastikleiste ganz unten entlang. Mistkäfer gruben dezimeterlange Gänge in zu Erde gewordenen Hinterlassenschaften.

Sie sah auf ihre Hände, zähe Arbeitspranken mit blauen Adern, die sich hier und da ausbuchteten. Jetzt sah sie das Messer, wie eine Zunge durch den dünnen Schlitz, es wippte das Holzkreuz nach oben. Sie erstarrte zu Eis, verkrampfte die Hände um die Schürzenträger und zitterte. Die Tür schlug zurück, und der Mann mit der Mütze kam herein. Die Schafe blökten.

Er blieb ein paar Meter vor ihr stehen. Die Katze war in die Scheune gekommen. Der Mann glotzte sie auf ganz besondere Weise an. Und sie sah, dass das, was sie für ein Tier gehalten hatte, was er an seinen Körper drückte, gar kein Tier war. »Ich habe nichts gesehen«, sagte sie. »Du hast mich gesehen«, sagte er und legte beiseite, was er in den Händen hielt. Dann hob er sie einfach hoch. Sie starrte auf die kalten Augen in dem großen Gesicht, sah, wie durchbohrend sein Blick war, so hatte sie ihn noch nie erlebt, niemals.

9

Er rannte weg vom Enge-Hof. Jedes Mal, wenn seine Stiefel auf den Weg trafen, hörte er ein schwaches Dröhnen, als ob der Boden unter ihm hohl wäre, ehe er schließlich stehen blieb und sich von Overall und Stiefeln befreite und alles in den Sack stopfte, zusammen mit dem anderen Kleinzeug, das er bei sich trug. Dann sprühte er sich wieder mit Insektenmittel ein, zog Shorts und Joggingschuhe an und ging weiter. Die beiden Schafe im Stall hatten geblökt wie Vögel. Der Wald ähnelte jetzt einem offenen Schlund. Weil er so schnell atmete, erkannte er ihn nicht wieder. Das Herz hämmerte wie ein Boxhandschuh in der Brust. Er hatte ein Hühnchenstück mit Rattengift an der Mauer hinter der Hausecke hinterlassen, das die Spürhunde bestimmt fanden, wenn sie kamen – und an der Vergiftung starben. Er war jetzt wie Thorbjørn, er war ein Mörder. Die Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Er hatte Defekte in der linken Hirnhälfte, kompensierte die aber mit der rechten. Dagmar war gar nicht das Schlimmste. Was er im Zelt gesehen hatte, war viel schlimmer. Er hatte einen Schock bekommen. Zwangsvorstellungen können vorkommen. Fokus auf Details. Arithmetischer Kalkulus. Der Begriff, den er eigentlich nicht verstand. Es handelte sich um eine Art Analyse, eine Grundbedingung dabei war, kleine Steine zu verwenden. Eine Kalkulation, ein Berechnungsprozess. Sein magischer Kometenstein, der ihn zu dem Zelt geführt hatte, der Stein und die Berichte über Thorbjørn. Aber der Stein lag zu Hause im Reihenhaus. Er hatte ein paar blutverschmierte Kleidungsstücke und einige Remedien aus dem Zelt mitgenommen, bevor er losrannte. Remedien waren Dinge. Wenn man starb, befand man sich nicht mehr in sich selbst, und indem man die Kleider wegnahm, wurde der Mensch zu etwas völlig anderem.

Als er zum Lager zurückkehrte, war der Wachmann nirgendwo zu sehen. Die Wachleute wussten wohl nicht, dass er sich manchmal nachts hier aufhielt, weil niemand irgendetwas mit ihm zu tun hatte. Er war keiner, den sie sahen. Er war nur da. Jetzt versteckte er die blutbefleckten Sachen in dem Raum hinter dem Raum. Dann kroch er die Leiter hoch und legte sich wie ein Embryo in sein Nest, zog eine schmutzige Decke über den Körper. Und dann stöhnte er ein bisschen, als sei er ein kleines Kind, das getröstet werden wollte. Dagmar hatte ihn mit diesem schrecklichen Blick angesehen. Er hatte geglaubt, sie könne in ihn hineinsehen, also musste er sie töten. Er würde die Drohne losschicken, nachdem er etwas geschlafen hätte, würde den Hof im Auge behalten, schauen, was sich da oben abspielte.

Dann schlief er. Und als er aufwachte, regnete es. Die Drohne vertrug keinen Regen. Die Plingplong-Geräusche auf dem Dach beruhigten ihn. Der Regen würde die Erde matschig machen, die Ameisen würden sich in das Verbrannte in dem Hügel zurückziehen, die ekligen Viecher. Ein kalter Zug lag in der Luft, der war durch das Fenster gekommen. Die Wolken hingen so tief, dass ihn ein Gefühl von Wasser überkam, hier oben auf dem Hängeboden. Das Wetter kam vom Oslofjord, nicht von Norden. Wetter war etwas, das war, das über der Landschaft lag. Aber das Wetter kam nie ins Haus herein, drinnen war nur drinnen. Jetzt hörte er ein Jagdflugzeug, das hoch oben am Himmel in hohem Tempo vorbeizog. Als er klein war, wollte er Pilot werden. Jetzt hatte er seine eigene Drohne, und Dagmar war tot. Obwohl es Samstag war, würde nachher ein Leichenwagen oder Krankenwagen kommen und sie abholen. Wenn Lars sie gefunden hatte.

10

Es war Sonntag, der 18.Juni. Die Uhr zeigte 15.45. Das Handy lag auf der Anrichte. Cato Isaksens Name leuchtete wie ein Warnlicht auf dem Display. Marian ging ran.

»Marian, hier ist Cato, Schluss mit der sonntäglichen Ruhe. Du musst herkommen.«

»Jetzt?« Sie presste das Telefon ans Ohr und starrte auf den Balken mit den Verzierungen, die sie an Spitzenbesatz erinnerten. Im selben Moment kam Heine herein.

»Kann ich erst mal ’ne Kleinigkeit essen?«

»Nein, du musst sofort kommen.« Es war nicht üblich, dass leitende Polizisten zu einem Tatort hinausfuhren, aber Cato war eben Cato. Er fuhr fort: »Ein Wanderer hat eine tote Person in einem Zelt gefunden, malträtiert, in Stücke gehauen, im Zentrum von Maridalen, gleich neben dem stillgelegten Militärlager in Skar. Eine Mannschaft ist rausgefahren und hat sich das angesehen. Nur einer von der Patrouille ist mit zum Tatort gegangen. Um keine Spuren zu zerstören. Soll alles ziemlich schrecklich aussehen.«

Heine blickte sie an und strich sein blondes Struwwelhaar nach hinten.

»In Skar, aha, aber ich arbeite doch nicht mehr an …«

»Nein, du arbeitest nicht mehr an neuen Fällen, Marian, aber der hier hat Ähnlichkeit mit einer alten ungelösten Sache. Der Mord an Evie Thorn, in diesem Zelt im Sommer 2012, erinnerst du dich? Blond und hübsch, Anfang zwanzig.«

»Die Medizinstudentin, ja.« Birka kam zu ihr und versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln, aber die Bewegungen verursachten dem alten Hundekörper anscheinend Schmerzen. Marian beugte sich hinunter und streichelte sie.

»Du hast doch an dem Fall Thorn gearbeitet«, fuhr Cato Isaksen fort, ohne die Antwort abzuwarten. »Ich gehe in fünf Minuten in die Garage unter dem Präsidium. Wir sehen uns da.« Dann legte er auf.

Heine sah sie an.

»Vor fünf Jahren, im Spätsommer«, sagte sie ins Leere und legte das Handy beiseite. »In einem Zelt. Vergewaltigt und ermordet. Jetzt ist es wieder passiert. Steht möglicherweise in Verbindung mit einem alten Fall.«

»Ich hab’s vorhin im Internet gesehen«, sagte er. »Oben in Maridalen, im Wald.«

Sie nickte, nahm eine kleine Plastikschale aus dem Unterschrank und füllte sie mit ein paar Löffeln Nudelsalat. »Am Tatort hat es damals ausgesehen wie in einem Schlachthaus. Der Mord wurde von einem zornigen Mann begangen, so viel kann ich dir sagen, aber wir haben den Täter nie gefasst. Sein DNA-Profil taucht in den Registern nicht auf.« Sie spülte ihre Hände ab. »Bis später. Ich esse im Auto.«

»Jepp«, sagte er und zog sie schnell in seine Arme.

Im Gang schnappte sie sich die Schnur mit ihrer ID-Karte und legte sie sich um den Hals, zog die Lederjacke an und griff nach den Autoschlüsseln. Auf dem kleinen Tisch unter dem alten Spiegel lag immer alles bereit. Sie öffnete die Tür und ging schnell die Treppe hinunter.

*

Das Polizeigebäude, das Hauptbüro des Osloer Polizeidistrikts, lag auf einer Anhöhe im Osten der Stadt und hatte die Grønland-Kirche und mehrere baufällige Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft. Das Kreisgefängnis lag ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt. Die Bäume auf dem Gehweg zum Gebäude mit den Glasfassaden waren leuchtend grün, so wie das Gras, frisch und dicht nach dem Regenfall. Marian wischte sich einen Krümel vom Essen aus dem Mundwinkel. Die feuchte Luft drang durch einen Spalt des geöffneten Autofensters.

Der Asphalt war nass und glänzend, die Reifen verursachten ein klebriges Geräusch. Es herrschte reger Verkehr. Menschen, die von ihrem sonntäglichen Treiben nach Hause zurückkehrten. Der Cold-Case-Bereich gefiel ihr gut. Handverlesene Kollegen, alle mit verschiedenem Erfahrungshorizont. Die Größe der Gruppen variierte. Sie und ein alter Polizeipsychiater, Karsten Tønnessen, bildeten eine Einheit. Sie hatte ein eigenes Büro, zwar klein und im Keller gelegen, aber immerhin. Tønnessen arbeitete von zu Hause aus. Er wohnte in Nordberg. Ihre ehemaligen Kollegen vermisste sie nicht. Genau das war ihr Problem, sie vermisste nie jemanden, obwohl sie in letzter Zeit tatsächlich Cato vermisst hatte.

Marian bog in die Tiefgarage ein und stellte den Wagen ab. Obwohl die Luftanlage dröhnte, war es stickig und schwül. Alles war so heruntergekommen. Es hatte Auflagen zur Modernisierung des ganzen Hauses gegeben, aber nichts war in Gang gesetzt worden. Sie ging hinüber zu Cato Isaksens Zivilfahrzeug und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Hallo«, sagte er kurz und drehte den Zündschlüssel. Er hatte das Blaulicht auf dem Dach befestigt und fuhr nun zügig über die Rampe auf die Straße und bog nach rechts ab.

»Ist das Opfer identifiziert?«, fragte sie und merkte plötzlich, dass sie dieses ekstatische Gefühl vermisst hatte, Schnittpunkte anzupeilen, nach dem Schuldigen zu suchen, den Gedankengängen des Verbrechers zu folgen, dorthin, wo das Böse war.

»Nein, aber der Modus ist der gleiche wie beim letzten Mal, ermordet mit Messerstichen im Hals- und Brustbereich.«

Sie wollte den Fremden finden, den, der sich versteckte. Das hatte sie früher so gut gekonnt.

»Thorn hat ja ein paar Tage da gelegen, bevor sie gefunden wurde«, sagte sie. »Die Leiche war von Insekten übersät, erinnere ich mich, Fliegen und Mücken und Larven.«

Er reichte ihr das iPad, das er auf dem Schoß liegen hatte. »Mach dich mit der Geschichte vertraut.«

Er hatte sich ins Polizeisystem eingeloggt. »Wir haben den Täter ja nie gefunden«, seufzte er, »bloß diese blutige Sauerei in dem Zelt. Die Hunde haben die Fährte an einem Bach verloren. Er muss da hindurchgestapft sein und sich gewaschen und die Kleider gewechselt haben. Gott weiß. Das Lager ist inzwischen für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.«

Marian warf einen schnellen Blick auf die Dokumente und wischte ein paar Reste des Nudelsalats von der Lederjacke. Sie merkte, dass sie in sich hineinlächelte. Sie passierten Grefsen und fuhren in Richtung Technisches Museum. Dahinter fingen die Wälder an.

Die Straße war schmal, allerding voller Radfahrer, ein Mann in einem orangenen T-Shirt trainierte auf Rollerskiern. »Irritating people«, sagte Cato und schaltete das Blaulicht ein.

Marian las laut: »Das Militärlager war bereits aufgegeben, befand sich aber immer noch im Besitz der Streitkräfte, als es von Jugendlichen besetzt wurde, die dort ein Ökokollektiv errichteten. Die Besetzer übernahmen sechs Häuser und waren gerade dabei, Feuermelder zu installieren.« Sie lächelte kurz. »Feueralarm wollten sie also, tja.«

11