Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr - Sabine Mayr - E-Book

Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr E-Book

Sabine Mayr

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Beschreibung

Ich stelle mir vor: Am Ende schaut man auf sein Leben wie auf ein Röntgenbild. Die Stellen, wo die radioaktiven Strahlen nicht von etwas Wesentlichem absorbiert werden, erscheinen schwarz. Wann ist es zu spät, die schwarzen Löcher zu füllen? Das Leben endet für Sonja und Ronja unerwartet früh. Die Diagnose "Krebs" trifft beide wie ein Schlag und führt dazu, dass sie zurückblicken auf das Erlebte, das Erreichte, das Verpasste. Sonja gibt ihre Karriere als Architektin auf, um in ihrer Rolle als Mutter die Familie zusammenzuhalten. Ronja dagegen geht für ihre Karriere als erfolgreiche Architektin sozusagen über Leichen. Kann man sein Leben überhaupt falsch leben? Eine spannende Frage, die jeder Leser für sich selbst entscheiden kann. Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr ...

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-366-4

ISBN e-book: 978-3-99130-367-1

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfoto: Whitestep | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Prolog

Ich stelle mir vor: Am Ende schaut man auf sein Leben wie auf ein Röntgenbild. Die Stellen, wo die radioaktiven Strahlen nicht von etwas Wesentlichem, Dichtem absorbiert werden, erscheinen auf dem Filmabzug schwarz.

Ich glaube, die Frage ist letztendlich nicht: Was habe ich erreicht?, sondern eher: Was habe ich mich nicht getraut?

Und: Wann ist es zu spät, die schwarzen Löcher zu füllen?

Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr …

Einblick

Hellgrelles Blenden wie die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos, vor dem es kein Ausweichen mehr gibt. Schneidend wie ein Messer feuert mir das gleißende Photonenbombardement mitten ins Auge, sodass ich es beinahe reflexartig instinktiv schließe zum Schutz.

Stattdessen zwinge ich mich gehorsam, den Anweisungen des Arztes zu folgen: „Bitte nach oben schauen, nach rechts oben, nach rechts, rechts unten, links unten …“

Zum Abschied dann wieder dieser bekannte schlaffe Händedruck, der in mir schier körperliche Schmerzen hervorruft, dem ich diesmal aber keinen Gegendruck mehr entgegensetzen kann.

Alle Ärzte, die ich kenne, scheinen diesen kraftlosen Händedruck, oft auch noch feuchten zu haben. Ist es vielleicht eine Berufskrankheit? So quasi wie eine Art Lähmung, eine Ohnmacht aufgrund dessen, was sie beim Einblick in unsere Körper sehen müssen?

Draußen vor der Praxistür setzt wieder akut stechende Blindheit ein. Diesmal aufgrund des ungebremsten Eindringens der herzlosen Sonnenstrahlen in meine weitgetropften Pupillen. Kleopatra tropfte sich angeblich Tollkirschenextrakt in die Augen, um einen betörenden tiefschwarzen Blick durch die weitdilatierten Pupillen zu erzielen.

Ich taumele zurück. Als würde es mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Halte mich eine Sekunde am metallkalten Türgriff der Augenarztpraxis fest. Die Leute um mich herum müssen denken, ich sei betrunken.

Ich schleiche verunsichert, vorsichtig mit der Fußspitze über das Pflaster tastend, wohin ich meine Schritte setzen soll, langsam durch die dichten Straßen der lauten, pulsierenden Münchener Innenstadt. Es ist noch ein weiter Weg bis zu Hause, aber den U-Bahn-Plan kann ich unter dem Einfluss der Atropin-Augentropfen eh nicht entziffern.

Ich gehe zu Fuß. Allein. Unter lauter Menschen.

Der dröhnende Motorenlärm der vielen Autos und Busse, das forsche Klingeln der Straßenbahnen, die zielstrebigen Schritte und das sinnlose Reden der Menschenmasse um mich herum beginnen immer mehr zu einem Rauschen zu werden und zu verblassen.

So ähnlich wie bei einem Tinnitus oder unter Drogeneinwirkung ertönt leise anschwellend in meinem Kopf aus dem Nichts, ohne dass ich es will, die bekannte Melodie von „Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk to you again“ …

Es heißt, Blinde lernen, ihre anderen restlichen Sinne zu schärfen.

Mich hat auf einen Schlag die visuelle Kontrolle der Welt um mich herum verlassen, und ich bin darauf zurückgeworfen, in mich allein hineinzublicken.

Dort sehe ich nur noch Angst.

Rückblick I

Mama mit den langen, seidenglatten blonden Haaren, dem jugendfeinen Gesicht wie Porzellan, einem leisen Lächeln um die Lippen, vorne aufgeknöpfter Jeansjacke, darunter die zarten Brustansätze in der Mitte, nackt unter der geöffneten Jacke. Im Hintergrund tiefblaugrün der Ammersee, im Wasser spiegelt sich der goldrote Sonnenuntergang, der sie von hinten erstrahlen lässt wie Botticellis Venus. Ist es nur die Erinnerung an das Polaroidfoto, das Papa von ihr macht, oder die wahre eigene Erinnerung an diesen gemeinsamen Urlaubsabend?

Mein eigenes kindliches Losheulen: „Hört auf! Mama, mach die Jacke zu, zieh dich an, ich will das nicht!“ Das Lachen meines Vaters, der nicht aufhört, weiter mit der Polaroidkamera Bilder von seiner Frau zu schießen, die Tochter und ihr Weinen ignorierend.

Bis die Mama sich mit schamvollem Blick auf mich die enge Jacke über der Brust zuknöpft, sich zu mir herunterkniet, mich in den Arm nehmen will und verlegen lacht. „Aber das sieht doch niemand außer dir und Papa.“

Aber ich winde mich trotzig aus ihrer Umarmung, die mir plötzlich zu intim ist, fremd, nicht meine Mama. Eine Fremde, Frau, Liebesobjekt, beschämend, bedrohlich, beeindruckend … beneidet?

Eifersucht. Mama und Papa ein Paar. Eine Liebe, die nichts mit mir zu tun hat. Brüste, von denen ich nie trank, die er aber küsste.

Sporttag

Vergeblich stelle ich mich in die allerhinterste Reihe, hoffe, sie sind dann bereits weg, wenn ich drankomme. Aber nein, falsch gehofft, ich muss an den Start und gefühlt recken noch mehr Jungs am Rand der 100-Meter-Laufbahn ihre Hälse, um besser glotzen zu können.

Niederknien, Füße in die Startblöcke, Hände auf den roten Aschboden.

Frau H. kommandiert: „Drei, zwei, eins“, die Startpistole knallt.

Zeitlupe, zäh, honigschwer. Die Rücken und Sohlen der anderen vor mir. Die Glieder, schwer, scheinen zu kleben am Boden, ich versuche verzweifelt, sie abzustoßen und vorwärtszukommen. Noch schwerer wiegen die Brüste, die wackeln bei jedem Schritt, im billigen BH, deutlich sichtbar unter dem billigen Baumwoll-T-Shirt. Sie wippen auf und ab, hin und her, synchron zu meinem Schnaufen.

13,9 Sekunden. Allerletzte nicht nur in meiner Startreihe, sondern wie immer insgesamt von der ganzen weiblichen Hälfte der Klasse. Die männliche Hälfte steht pfeifend am Laufbahnrand, laut grinsend, und lässt sich nur langsam und zögerlich von Herrn S. zurückrufen in ihre Weitsprung-Sandgrube. Dabei dreht man sich noch mehrmals nach mir um, ständig unverschämt lachend zurückstarrend.

Mein Kopf feuerrot, vor Scham und Anstrengung. Scham mehr noch als alles andere, der Busen, die Blicke, die Langsamkeit.

„Sonja, hast du Kaugummi an den Füßen, du trampelst wie ein Elefant, du musst vorwärtsrennen und nicht Löcher in den Boden stampfen. Eine Vier!“

Meine schlechteste Note, immer.

Schmerz I

Fibrozystische Mastopathie. Auf gut Deutsch heißt das: regelmäßig vor der Periode immer für mindestens zwei bis manchmal sogar drei Wochen im Monat dicke, heiß geschwollene Busen, schlimmer als der schlimmste Milchstau. Den hatte ich vor Jahren, so viel Milch, dass Florence nicht damit fertigwurde. Sie spritzte ihr so schnell und viel in den Mund, dass sie sich verschluckte. Mein mütterlicher Milcheinschuss-Reflex funktionierte im Übermaß.

Die neugierigen Blicke der südländischen Großfamilie. Täglicher fürsorglicher Besuch meiner Bettnachbarin auf der Wochenbettstation. Wie damals zur Schulzeit im verhassten Sport und Schwimmunterricht. Da half auch der von der Pflegefachfrau halbherzig vorgezogene Paravent-Vorhang vor mein Wöchnerinnenbett nichts. Ich kam mir vor wie eine fette Kuh im Kuhstall, die der Bauer vergessen hatte zu melken, mit überprallen, fast platzenden Eutern, die Haut darüber mit dick schlängelnden Venen bläulich übersät.

Die Hebamme versuchte erst Salbeitee, lächerlich, noch mehr Flüssigkeit. Dann erst eine halbe Tablette Dostinex, danach eine ganze, auch ohne Effekt. Sie meinte, ich dürfe maximal zwei nehmen, damit es nicht ganz abstillt. Am Ende beschaffte ich mir zu Hause noch mal eine Packung mit acht Tabletten, die ich einfach auf einmal schluckte, so satt hatte ich den Zirkus. Dann endlich wurde es besser.

Die Milch reichte am Ende problemlos und vollständig für ihr Gedeihen, bis Florence ganze 14 Monate alt war. Dann musste ich sie endgültig in der Krippe abgeben, weil ich endlich mal wieder arbeiten und nicht mehr nur den ganzen Tag stillen wollte. Erst ab diesem Zeitpunkt akzeptierte sie eine alternative Ernährungsform und stieg von einem Tag auf den anderen von Muttermilch und sonst nichts anderem direkt auf Pasta mit Parmesan um. Sie, die vorher keinen Löffel Joghurt und nicht mal abgepumpte Muttermilch aus der Flasche, von Egon offeriert, tolerierte.

Innsbruck

„Es wäredieChance für mich, unter Alois Zielbauer zu forschen. Und du kannst in Innsbruck doch auch als Architektin arbeiten.“

Was wir damals noch nicht wissen konnten: dass Egon Jahre später Professor Zielbauer per Telefon zur Verleihung des Physik-Nobelpreises gratulieren würde.

Aus dem Vorhaben, in Innsbruck als Architektin eine Stelle zu finden, wird dann aber nichts. In Wahrheit suche ich gar nicht wirklich.

Meine Ausrede: Florence, zehn Jahre, will nicht umziehen. Sie spielt in München an der Schule die Hauptrolle beim Musical „Der kleine Tag“, der darum kämpft, in der ersten Reihe der wichtigen und großen Tage platziert zu werden.

Meine Rolle: die Familie zusammenhalten. Ich rede mir ein, aus diesem Grund erst mal zu Hause bleiben zu müssen.

Florence lernt dann als Einzige von uns dreien schnell den österreichischen Dialekt, übersetzt mir, wenn ich im Kaufladen um die Ecke oder am Telefon jemanden nicht verstehe. Sie findet an der neuen Schule auch eine Musicalgruppe und überhaupt rasch neue Freundinnen.

Ich freunde mich vor allem mit der österreichischen Küche an. Folge den Rezepten für Topfenpalatschinken, Kaiserschmarrn, Apfelstrudel, Kaspressknödel, Schlutzkrapfen … nur das Wiener Schnitzel sei in der Unikantine besser, als ich es zu Hause hinbringe, meint Egon.

Neben dem Kochen melde ich mich für einen Französischkurs an, auffrischen, was seit der Schulzeit einrostete. Einmal sollen wir in der Stunde das Aussehen von Personen beschreiben: „J’ai les cheveux longs.“

Mir fällt auf, ich hatte schon mein ganzes Leben lang lange Haare, wie meine Mutter, wie Florence.

Der Verlust der Haare wäre mir untröstliches Unglück. Eine komplette Brustentfernung hingegen beschließe ich, sei kein Problem bei Bedarf …

Großmütter

Meine Omas. Eine dick mit riesigem Busen, auf den sie jeden Mittag ihr Essen tropfte. Die andere hager wie meine Mama, mit vielleicht nur wegen dieser Hagerkeit, oder wegen der Erlebnisse während des Weltkriegs und danach, mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

Während meine Mama im Hutladen als Verkäuferin arbeitete, war ich bei der dicken Oma. Meine jüngste Tante bei meiner Geburt erst sieben, mein jüngster Onkel nur fünf Jahre älter als ich. Von ihr durfte ich Bücher ausleihen. Mit ihm baute ich Lego.

Dort war ich kein Einzelkind.

Wenn ich einmal bei der dünnen Oma war, durfte ich immer ihren geblümten Friseur-Schulterumhang mit dem hübschen Spitzensaum zum Spielen haben. Er wurde mein Rock, mein Prinzessinnenkleid, mein Hochzeitsschleier.

Unter dem kleinen Küchentisch mit der lang herunterhängenden Tischdecke war mein Haus, mein Schloss. Warten auf den Märchenprinzen auf weißem Ross.

Auch gab es bei ihr regelmäßig trockenhart alte Semmeln oder Weißbrot in süß-gezuckertem Milchkaffee aufgeweicht. Ich löffelte diese Brotsuppe gern. Mit sechs.

Der Koffeingehalt war sicher nicht so schlimm hoch – wenn es überhaupt echter Kaffee und nicht Muckefuck, also Kaffee-Ersatz aus Malz, war –, als dass es meiner Hirnentwicklung zu viel geschadet haben könnte.

Immerhin schaffte ich das Gymnasium. Als Erster in der Familie.

Die dünne Oma kaufte Sonntag immer hässliche Sahnetorte mit Dekorkirschen beim Konditor im Dorf, denn ihr selbst gebackener Apfelkuchen mit den Äpfeln aus dem Garten sei „doch nichts Gescheites“. Der alte Apfelkuchen war mir aber viel lieber, meine Mama musste die Sahnetorte allein essen.

Jeden Sonntagnachmittag spazierten wir die zwei Kilometer zur Oma ins Nachbardorf zum Kaffee.

„Mama, wie lang noch? Ich mag nicht mehr.“

„An der Kurve bekommst du einen Kaugummi am Automaten.“

Damals gab es noch solche Plastikautomaten mit Glasfenster vorne, damit man den Inhalt sehen konnte. Es gab welche mit Kaugummi darin und welche mit kleinen Hüpfgummibällen zum Spielen, die hießen Flummis. Wollte man den Inhalt kaufen, musste man in einen Schlitz Münzen einwerfen, je nachdem zehn oder fünfzig Pfennig, und dann konnte man den Metallhebel drehen. Wenn man Glück hatte, kam dann unten hinter der Metallklappe ein runder, bunter, mehr oder weniger alter Kaugummi heraus. Das Alter und die Genießbarkeit konnte man einschätzen, wenn man sah, wie verlaufen die blaue, rote oder gelbe Farbschicht des Kaugummis aussah.

Zurück zum Sonntagnachmittag. Ein paar Schritte weiter.

„Mama, erzähl mir eine Geschichte, mir ist so langweilig.“

„Es war einmal eine Mama, die hatte eine Tochter, die sagte, Mama mir ist langweilig, erzähl mir eine Geschichte, also begann die Mama: Es war einmal eine Mama, die hatte eine Tochter, die sagte: ‚Mama, mir ist langweilig, erzähl mir eine Geschichte.‘ Also begann die Mama …“

„Sto-opp! Blöde Geschichte, immer dasselbe ist ja langweilig.“

Wie passend doch, immer dasselbe, von Mutter zu Tochter, zu Mutter, zu Tochter …

Die dicke Oma hatte im wahrsten Sinne eine große Brust, acht Kinder und mich Enkelkuckuckskind dazu und einen großen gepflegten Garten. Sie war Herrin über die ganze Großfamilie, Haus und Heim, wie in der Fernsehserie „Die Waltons“. Deren Versorgung war ihr ganzer Lebenssinn. Nur den armen Opa, der Diabetes hatte und bald nichts mehr sehen konnte, schikanierte sie von früh bis spät.

Er war mein Lieblingsopa. Sanft und lieb. Nie ein böses Wort zu mir oder seiner Frau. Wir spielten zusammen Karten. Wenn er nicht in dem Buchhalterbüro der einzigen Firma im Dorf arbeitete.

Frühmorgens vor der Schule hörte ich durch die offene Badezimmertür seinen Rasierapparat surren und roch sein Tabac-Original, 1959 (Eau de Cologne). Dann duftete der frisch geröstete Toast, auf den er mir dick Butter strich, sodass diese darauf schmolz, und dann selbst gemachte Erdbeermarmelade meiner Oma mit Erdbeeren aus dem Garten.

Die durfte ich mich nicht erwischen lassen zu pflücken und naschen. Alles Obst und Gemüse durfte ich unter Aufsicht zu ernten helfen, aber nicht allein einfach so vom Beet in den Mund. Die Erbsen pulen mit Opa liebte ich über alles. Manchmal, wenn niemand schaute, stopfte ich mir blitzschnell eine in den Mund. Roh viel besser. Gekochte Karotten kann ich heute noch nicht ausstehen.

Wehe mir, ich pflückte einen Apfel vom Baum zum Reinbeißen. Die Äpfel mussten erst auf den Boden fallen, und dann ging es los mit dem Anhänger voll zum Saften mit den beuligen, verwurmten. Der rohe Saft ließ mich noch vor Ort hinter dem Gebüsch verschwinden, denn ein Klo gab es dort keins.

Mama mochte den Saft nicht, sie wollte ihrer Zeit voraus schon vegan sein, und ihr graute vor den zerquetschten Würmern. Sie mochte auch keinen Käse, nur Marmeladensemmel. Und Kaffee. Und Marlboro. Damit sie schlank blieb.

Mit 40 wurde sie plötzlich so dünn, dass ich sagte: „Mama geh zum Arzt, ich hab Angst, du hast Brustkrebs.“ Es war dann bei ihr Colitis ulcerosa.

Nackt

In den Rückspiegel betrachtet kann man sagen, dass ich als Kind eher etwas frühreif entwickelt war. „Altklug“ nannte man mich.

Ich malte, solange ich zurückdenken kann, immer gern und angeblich schon früh sehr gut. Menschen, Tiere, Häuser, alles Mögliche.

Ich muss so in der ersten Klasse gewesen sein, da malte ich eines schönen Nachmittags, während Oma den Abwasch erledigte, ohne jeglichen schlechten Gedanken eine Frau. Und zwar diesmal aus irgendeinem Grund ohne das Tutu-spitzengesäumte Prinzessinnenkleid. Splitterfasernackt. Wie Eva aus der Bibel, aber ohne Blätterbedeckung. Mit zwei nackten runden Brüsten mit braunen Warzen und dicker schwarzer Schambehaarung im Bereich der Vulva.

Meine Eltern waren ganz im 70er-Jahre-ABBA-und-Santana-Stil offen in ihrer Erziehung und fanden es ganz natürlich, wenn ich sie im Badezimmer nackt sehen konnte. Somit kannte ich mich aus mit der äußeren Anatomie.

Meine Oma war dem Thema gegenüber jedoch leider nicht so offen eingestellt. Ich erinnere mich, als wäre es gestern. Sie zieht die klappernden Holzringe des Vorhangs zur engen Küchennische auf, der den Kochbereich von der Essküche trennt. Sie will die Teller in die holzwurmige Glaskommode aufräumen. Ein flüchtiger Blick im Vorbeigehen auf mein neuestes Kunstwerk. Es reißt sie förmlich zurück. Schriller Aufschrei. Fast lässt sie das Meissener Porzellan auf den Boden fallen. Gerade noch stellt sie den Stapel scheppernd auf dem Esstisch knapp neben meinem Blatt und den Holzfarben ab. Reißt mir das Blatt unter dem Stift weg. Einer fällt dabei zu Boden. Aber da werden die doch Stückelblei.

„Was fällt dir ein? So etwas Schmutziges zu malen. Schäm dich!“

Das Bild wird zerrissen.

Das Thema nicht mehr angesprochen.

Die Scham tief in mir vergraben.

Ich bin heute sicher, wenn ich damals schon die Kommunion gehabt hätte, hätte sie mich stante pede in die Kirche und den nächsten Beichtstuhl gezerrt.

Und die Moral von der Geschicht’: Das weibliche Geschlecht gehört sich nicht.

Schmerz II

Der Scheißbusen tut nicht nur bei jeder Bewegung weh, darum trage ich nur noch Sport-BHs. Sogar in Ruhe ohne jede Bewegung brennt er siedend heiß und die dünne Haut knistert vor Irritation wie bei einem elektrischen Schlag durch die leichteste Berührung nur schon vom Stoff der Kleidung darüber. Er scheint zu platzen, auch wenn man im Spiegel kaum eine Schwellung sieht.

Im Ultraschall bei der Gynäkologin erkennt man viele kleine und größere Zysten, zum Glück keine mit verdächtigem solidem Anteil.

Ständig Schmerzen und unterschwellig Angst, die immer wieder hochquillt.

Die Angst vor den Knoten. Die Vermeidung, sich abzutasten, dies nur an den wenigen schmerzfreien Tagen überhaupt möglich.

Telefonat mit Mama, die betroffen versucht zu trösten, bei den Frauen in der Familie weder Mastopathie noch Brustkrebs bisher …

Ursachenforschung erfolglos: mein Prolaktin-Blutspiegel im nicht schwangeren und nicht nachgeburtlichen Normbereich, also keine Notwendigkeit, in meinem Kopf nach einem Prolaktinom zu suchen.

Tipps und Therapieversuche, die ich über die Jahre alle ausprobierte: weniger Kaffee, weniger Salz, Progesteron-Gel zum Auftragen (welches ich im Kühlschrank aufbewahrte, so wenigstens kühlender Effekt), Hormontabletten, Östrogene, Gestagene, Kombination von beiden, pflanzliche Wirkstoffe. Kein Erfolg.

Voltaren brachte immer nur kurzzeitige Erleichterung. Ich kann doch nicht jahrelang Schmerzmittel schlucken, steigen da nicht irgendwann meine Nieren aus? Der einzige Effekt, den ich mir einbildete: dass es immer dann besser wurde, wenn ich ein bis zwei Kilo weniger auf den Rippen hatte.

Jahrelanger Begleiter.

Was war schlimmer: die chronischen Schmerzen oder die Angst davor, dass diese chronische Entzündung doch das Brustkrebsrisiko erhöhen könnte …?

Startschuss

Der Knoten. Er sitzt irgendwie auch im Hals. Jahrelang immer wieder die vielen Zysten, die sich wie Knoten anfühlen und dann aber wieder verschwinden.

Der eine verschwand nicht.

Termin in acht Wochen.

Vielleicht ist er dann ja weg.

Erst tastet die Gynäkologin beide Brüste ab. Angenehm kalt sind ihre Hände.

Dann folgt ein spezieller hochauflösender Ultraschall, der besser das Gewebe beurteilen können soll. Schmatz, das kühle Gel auf dem Busen ist auch willkommen. Aber schon der leichte Druck der Schallsonde unangenehm.

Von der Seite sehe ich den Ultraschallbildschirm. Ich bin weder dumm noch blind. Schwarz bedeutet flüssigkeitsgefüllte Zyste. Weiß bedeutet dichtes Gewebe. Je heller, dichter, umso verdächtiger.

Vielleicht ist der helle Fleck, etwa so groß wie eine Euromünze, nur stark entzündetes Drüsengewebe …

Warum die Mammografie dann noch gemacht werden muss, die scheußlich wehtut, weil die Brust so zwischen zwei Plexiglasscheiben zusammengequetscht wird wie Apfeltrester beim Saften, ist mir unklar.

Man sähe Verkalkungen genauer.

Was hilft mir das, wenn am Ende eh eine Biopsie gemacht werden muss?

Es hilft den Ärzten wohl, Geld zu verdienen.

Jetzt bin ich unfair, sorry. Ich verstehe zu wenig.

Die Biopsie findet acht Wochen später statt. Der Befund kommt nach drei Tagen.

„Positiver Nachweis eines invasiv duktalen Karzinoms“.

Werde ich verarscht?

Bei einem Schwangerschaftstest kann das „positiv“ ja wirklich so interpretiert werden.

Ich kann mir nicht vorstellen, was daran positiv sein soll, dass die Zellen meiner Milchgänge zu Krebs entartet sind.

Ob das Präparat verwechselt wurde? Soll ja vorkommen …

Nein, das kann nicht sein.

Ich wach sicher gleich auf.

Doch in meinem Innersten weiß ich, dass ich Brustkrebs habe.

Wie lange es dauert, bis ich es laut einsehe und aufhöre, mich selbst zu belügen?

Genau erinnere ich mich nicht.

Marathon I

Die junge Ärztin rückt ihre Brille zurecht. Der wuchtige Mahagonischreibtisch als Barriere zwischen uns. Sie wirkt so klein und hilflos in ihrem Leder-Chefsessel. Blickt immer wieder nervös auf den Bildschirm vor sich, damit sie nicht in unsere Augen schauen muss. Egon bestand darauf, mitzukommen. Nahm sich extra den Halbtag frei im Institut.

„Also, Sie müssen wissen, die Chemotherapie erfolgt bei optimalem Verlauf über mindestens 24 Wochen. Danach haben Sie aufgrund Ihrer günstigen Rezeptorkonstellation die Möglichkeit, sich weiter mit Tamoxifen behandeln zu lassen, um das Rückfallrisiko zu verringern, am besten für mindestens weitere 10 Jahre.“

Dann wäre ich 55. Am Ende. Wenn alles passt. Gut geht. Wie sagt man …?

Die Nebenwirkungen der Chemotherapie seien ja bekannt. Das Tamoxifen verursache Beschwerden vergleichbar mit den Wechseljahren.

„Die Behandlung bei Brustkrebs ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, die Ärztin fügt ein bedeutsames Nicken ihren Worten hinzu.

„Marathons ist meine Frau gewöhnt“, Egon legt seine Hand auf meine Schulter und schaut mich tapfer an. Seine Hand lastet felsenschwer auf mir. Ich widerstehe dem Impuls, ihr auszuweichen.