Im Zeichen der roten Rose - Sharon Sala - E-Book

Im Zeichen der roten Rose E-Book

Sharon Sala

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Beschreibung

Gabriel Donner’s Leben zerbricht, als seine Eltern bei einem Autounfall sterben. Von da an plagen ihn Albträume, in denen er grausame Morde begeht. Den Opfern legt er dabei jedes Mal eine Rose auf die Brust. Kurze Zeit später liest er in der Zeitung von den Morden und fürchtet, dass er tatsächlich selbst der Täter sein könnte. Die junge Hellseherin Laura Dane will ihm helfen, dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Gabriel lehnt ihre Hilfe zunächst ab, entwickelt jedoch schnell Gefühle für Laura - und ist deshalb schockiert, als er sie ebenfalls in einem Traum sieht: Sie ist das nächste Opfer.

Weitere Romantic-Suspense-Romane von Sharon Sala bei beTHRILLED u.a.: "Eine fast perfekte Lüge", "Blutroter Schnee" und "Der ohne Sünde ist".

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Seitenzahl: 356

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinWeitere Titel der AutorinTitelImpressumPROLOG1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITELEPILOG

Über dieses Buch

Gabriel Donner’s Leben zerbricht, als seine Eltern bei einem Autounfall sterben. Von da an plagen ihn Albträume, in denen er grausame Morde begeht. Den Opfern legt er dabei jedes Mal eine Rose auf die Brust. Kurze Zeit später liest er in der Zeitung von den Morden und fürchtet, dass er tatsächlich selbst der Täter sein könnte. Die junge Hellseherin Laura Dane will ihm helfen, dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Gabriel lehnt ihre Hilfe zunächst ab, entwickelt jedoch schnell Gefühle für Laura – und ist deshalb schockiert, als er sie ebenfalls in einem Traum sieht: Sie ist das nächste Opfer.

Über die Autorin

Sharon Sala veröffentlichte ihr erstes Buch 1991. Die New-York-Times-Bestsellerautorin schreibt sehr erfolgreich in fünf unterschiedlichen Genres und ist besonders bekannt dafür, dass sie in ihren Romanen gekonnt sinnliche Romantik und fesselnde Spannung miteinander verknüpft. Sie wurde unter anderem mit dem Career Achievement Award des Romantic Times Magazine ausgezeichnet. Ihre Fans kennen sie auch unter dem Namen Dinah McCall.

Weitere Titel der Autorin:

Eine fast perfekte Lüge

Blutroter Schnee

Der ohne Sünde ist

Tief unter die Haut

Wie ein stummer Schrei

SHARON SALA

IMZEICHENDER ROTENROSE

Aus dem Amerikanischen von Vera Möbius

beTHRILLED

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1999 by Sharon Sala

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Reunion«

Originalverlag: Mira Books, Toronto

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Harlequin Books S.A.

This is a work of fiction, Names, characters, places and incidents are either the product of the author’s imagination or are used factiously, and any resemblance to actual persons, living or dead, business establishments, events or locales is entirely coincidental.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © der deutschen Übersetzung 2005 by MIRA Taschenbuch

Verlag: Cora Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Yanchous | Jittarat Jintasirikul | MillaF | Realstock

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4224-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

PROLOG

Mit jedem langsamen Atemzug hob und senkte sich Gabriel Donners Brust. Die Frau an seiner Seite unterbrach ihre Tätigkeit und starrte in stummer Faszination auf das winzige Rinnsal, das zwischen kraftvollen Muskeln über seinen Bauch rann. Kurz bevor es das Laken benetzte, beugte sie sich über das Bett und fing die Wassertropfen mit einem Lappen auf.

»Tut mir leid«, sagte sie leise. Dann warf sie das nasse Tuch in eine Schüssel neben dem Bett und schwenkte es darin.

Sie war eine Krankenschwester, die an diesem Tag zwei Schichten hintereinander ableisten musste. Seit vielen langen Stunden arbeitete sie auf der Station, und es sah nicht so aus, als könnte sie bald Feierabend machen.

Geschickt wrang sie das überschüssige Wasser aus dem Lappen, legte ihn auf die Wange des Patienten und folgte den Konturen seines Gesichts, während sie es sorgsam wusch.

Im Augenblick der Berührung zogen sich seine Brauen zusammen, und ein Muskel zuckte in seinem Kinn. Davon abgesehen, zeigte er keine weitere Regung. Manchmal fragte sie sich, ob er je wieder sprechen würde. Mitleid verdunkelte ihre Augen. Welch ein wunderbarer Mann – und so schwer verletzt … Sie hatte seine Krankenkarte gelesen und die Ärzte in den Fluren reden hören. Was die Genesung dieses Patienten betraf, wagten sie keine Prognosen, und das verstand sie nur allzu gut.

Sie kannte Gabriel Donners Geschichte. In ihrem Beruf begegnete sie solchen Schicksalen viel zu oft. Seine Eltern waren ums Leben gekommen, weil jemand betrunken am Steuer eines Autos gesessen hatte.

Mit gerunzelter Stirn wusch sie das eine Bein vorsichtig von oben nach unten, dann das andere von unten nach oben. Der arme Mann – es war so traurig … Verloren in einer Welt irgendwo zwischen Leben und Tod, wusste er nicht einmal, dass er einen Unfall erlitten und ihn überlebt hatte, dass seine Eltern dabei jedoch gestorben waren.

Über zwei Wochen waren verstrichen, seit man ihn ins Krankenhaus eingeliefert hatte, und er lag immer noch im Koma. Doch obwohl er sich nicht bewegte, ging etwas seltsam Lebendiges von ihm aus.

Teilweise hing das mit seiner Größe zusammen. In gewisser Weise wirkte sie wie der Beweis seiner Existenz, allein schon durch den kraftvollen Körperbau. Er lag in einem der längsten Klinikbetten, und das Personal musste seine Beine immer wieder anwinkeln, damit seine Zehen nicht gegen das Fußbrett stießen. Zu seinen breiten Schultern passten die eindrucksvollen Muskeln in Armen und Brust. Seine Beine waren lang und sehnig. Und so dauerte es jeden Tag fünfundzwanzig Minuten, bis die Schwester den ganzen Gabriel Donner gewaschen und abgetrocknet hatte.

Ihr Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück. Über der Stirn lagen kurze schwarze Haarsträhnen. Sie hatte ihn bereits rasiert. Nun ergriff sie den Waschlappen und schob sein Haar nach hinten. Stets tat sie ihr Bestes, um ihn sauber zu halten und für eine gepflegte äußere Erscheinung zu sorgen. Neben seinen langen dichten Wimpern stach vor allem die Nase hervor, die sich ein wenig seitwärts neigte, als wäre sie einmal gebrochen und danach etwas schief zusammengewachsen. Das Kinn wies auf einen ausgeprägten Eigensinn hin, die Lippen – jetzt erschlafft – schienen normalerweise voll und wohlgeformt. Welche Vitalität er ausstrahlen mochte, wenn er erwachen würde, konnte sich die Schwester gut vorstellen.

Nachdem sie seine Toilette beendet hatte, blieb sie neben dem Bett stehen und betrachtete sein Gesicht. Hin und wieder zuckten die Nasenflügel, reagierten auf Reize, die nur er spürte. Mit Hilfe zweier anderer Schwestern drehte sie den scheinbar leblosen Körper zur Seite, um das Bett frisch zu beziehen.

Sie rückte ihre Brille zurecht und inspizierte den Ständer mit den Infusionsgeräten, die Dosis der intravenösen Medikamente und justierte den Tropf. Schließlich packte sie ihre Sachen zusammen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück, als könnte sie ihn allein durch ihre Willenskraft wecken. Doch er lag genauso reglos da wie bei ihrer Ankunft. Da verließ sie den Raum, in der Gewissheit, dass sie sich die größte Mühe gegeben hatte, um es ihm möglichst bequem zu machen. Alles Weitere lag beim Allmächtigen.

Vor der Erkenntnis kamen die Stimmen. Fragmente des Lebens, an das er sich geklammert hatte. Einige waren undeutlich und schwach, wie Gespräche, die sich in Nichts aufgelöst und nur zusammenhanglose Silben zurückgelassen hatten. Andere Stimmen wiederum erschienen ihm nah und herausfordernd und erinnerten ihn daran, wo er gewesen und wie weit der Weg zurück in die Welt der Lebenden war.

Immer wieder drangen ganz bestimmte Klänge in sein Bewusstsein, wie eine Bandaufnahme, die jedes Mal nach dem Zurückspulen an der gleichen Stelle wieder einsetzte. Es war stets dasselbe – ein gellender Ruf, gefolgt von zwei schrillen Schreien. Manchmal überlegte er, ob er selbst gerufen oder geschrien hatte. Die restlichen Laute vermischten sich zu einem unidentifizierbaren Chaos, als hätte jemand ein Gespräch in einen Mixer geworfen und durcheinandergeschüttelt. Wenn die Worte auch nach wie vor existierten, ergaben sie doch keinen Zusammenhang.

Schrecklich … Blut … Fest geklemmt.

Hebt sie hoch … Tot … Bewegt ihn … Wird nicht überleben.

Kopfverletzung.

Hilf mir … Verirrt.

Nichts davon ergab einen Sinn. Wenn es an der Zeit war, würde er das alles klären. Das musste er tun, weil es ihn am Leben erhielt.

Langsam verstrichen die Stunden, Tage. Die Stimmen begleiteten ihn immer noch. Niemals ließen sie ihn allein, niemals gönnten sie ihm Ruhe.

Eine besondere Stimme riss ihn unentwegt aus dem Schlaf, unweigerlich mit derselben beharrlichen Bitte um Hilfe. Genauso hartnäckig bemühte er sich, in die Realität zurückzukehren – vielleicht nur, um den Sprecher aufzufordern, ihn in Ruhe zu lassen, anderswo um Hilfe zu bitten. Vielleicht war es die Wut, aber beinahe hätte Gabriel das Bewusstsein wiedererlangt.

Warum bat ihn diese Person unablässig um Hilfe? Wusste sie denn nicht – konnte sie nicht sehen, dass er unfähig war, irgendjemandem zu helfen? Er selbst brauchte Beistand. Allein schon von dem Ort zurückzukommen, wo er gewesen war, erforderte seine ganze Kraft. Und weiß Gott – es wäre ihm leichter gefallen, dort zu bleiben, das Leben aufzugeben und sich in sein Schicksal zu fügen.

So oft hatte er die Nähe der Eltern gespürt und jedes Mal verzweifelt versucht, mit ihnen zu sprechen, zu fragen, was passiert sei. Doch sie verließen ihn immer wieder, bevor er auch nur ein Wort hervorbrachte.

Das verstand er nicht. Wollten sie ihn nicht mitnehmen? Und wann immer er sich am schwächsten fühlte, hörte er jene beharrliche Stimme, die ihn anflehte, er möge ihren Besitzer aufspüren, die ihn um Hilfe bat und sich weigerte, ihn freizugeben.

Und so wartete er auf ein Zeichen, lauschte auf eine andere Stimme, die stark genug wäre, ihn nach Hause zu führen.

Rosen. Er roch Rosen. Also musste seine Mutter in der Nähe sein. Er bemühte sich, die Augen zu öffnen. Aber da schwebte ein undurchdringlicher schwarzer Schleier, an dem er nicht vorbeikam. Was ist los mit mir? Warum kann ich mich nicht wecken und aufstehen?

Reglos lag er da und konzentrierte sich auf alles, was er zu hören – was er zu empfinden vermochte. Irgendjemand lachte, und das schrille Kichern klang gedämpft, als wäre es in einer Flasche verschlossen gewesen, die man soeben entkorkt hatte. Seltsam – seine Arme und Beine fühlten sich nicht nur kraftlos an, sondern ganz steif. Hatte man ihn gefesselt? Aber auch das ergab keinen Sinn. Zu Gabriel Donners Welt passten keine Fesseln.

Allmählich wurde ihm der Schmerz bewusst, und diese Erkenntnis war alt und vertraut. Das alles erklärt, dachte er, ich wurde verletzt! Jetzt versuchte er, seine Glieder zu bewegen, die Lider zu heben. Obwohl sein Gehirn die Befehle erteilte, geschah nichts – kein Muskel rührte sich. Plötzlich stieg Panik in ihm auf, und er fragte sich, ob dieser Zustand den Tod bedeutete. Eine Wahrnehmung des eigenen Ichs ohne Kontrolle? Bin ich tot? Und dann fiel eine Tür krachend ins Schloss, jemand rief einen Namen. Wo immer er auch sein mochte, hier ging es ziemlich laut zu.

Seine Wimpern flatterten. Offenbar förderte der Reiz des Lärms seine Konzentration. Ein innerer Kampf begann, und er merkte, wie der Weg seiner Gedanken auf einen winzigen Lichtpunkt zustrebte.

Hilf mir. Es war wieder diese penetrante Stimme. Seit Tagen hörte er sie. Er runzelte die Stirn und versuchte zu sprechen. Dieser lästigen Person, die ständig auf ihn einredete, musste er erklären, dass er ihr helfen würde, wenn er könnte. Und sei es auch nur, um endlich zu erreichen, dass sie den Mund hielt.

Und dann verdrängte ein neues Aroma den Rosenduft, und er rümpfte die Nase. Angewidert vom starken, beißenden Geruch eines Desinfektionsmittels.

Hilfe … Angst.

Gabriel schluckte. Angst? Hatte irgendjemand Angst? Er war es, der sich nicht zu bewegen vermochte.

Zu laut … Zu laut. Hilf mir, ich muss mich verstecken.

Gabriels Finger krallten sich in das Laken und schienen ihn in die Richtung des Lichts zu ziehen. Aus allen Poren brach ihm kalter Schweiß aus, immer schneller schlug sein Herz. Muskeln fingen zu zucken an, die Lippen bebten, während er durch den Tunnel seiner Phantasie glitt. O Gott – beinahe erreichte er das Ziel!

Nach all den Wochen im Dunkeln öffnete er die Augen, und eine plötzliche Lichtexplosion blendete ihn. Um sich davor zu schützen, senkte er die Lider. Einige Sekunden später hob er sie wieder, diesmal langsamer, und er gewöhnte sich an die helle Umgebung.

Er sah himmelblaue Wände, ein Fenster mit einer Jalousie. Zu seiner Linken entdeckte er eine Tür, an der Wand über seinem Kopf hing ein Monitor. Entsetzen mischte sich mit plötzlichem Verständnis. Eine Klinik! Er lag in einer Klinik! Verzweifelt versuchte er, sich aufzurichten. Stattdessen rang er nach Luft.

In seinen Armen steckten Nadeln, in seiner Nase Schläuche, und einer führte durch seinen Hals nach unten. Zwischen seinen Brauen pulsierte ein dumpfer, aber beharrlicher Schmerz, wanderte von einer Schläfe zur anderen wie das Pendel einer Uhr. Warum? Wieso? Seine Hand ballte sich zu einer Faust, und er schloss wieder die Augen, um sich zu konzentrieren.

Angela, pass auf!

Stöhnend zuckte er zusammen und erinnerte sich an die schrillen Schreie, die dem Warnruf seines Vaters gefolgt waren. Und dann die Geräusche von klirrendem Metall, der Gestank brennenden Gummis …

Nein … O nein. Als er die Augen wieder aufschlug, füllten sie sich mit Tränen. In diesem Moment erkannte er die Wahrheit. Die musste man ihm nicht beibringen. Er wusste Bescheid, seine Eltern waren tot. In seinem Innern breitete sich eine Leere aus, für die er keine Erklärung fand – bis er spürte, wie weit sich Brents und Angelas Energien von dieser Erde entfernt hatten.

O Gott, hilf mir zu begreifen, warum ich immer noch lebe.

Aber der Allmächtige antwortete nicht. Stattdessen erklang wieder jene klagende Stimme, die seine Ruhe störte.

Hilf mir. Hilf mir.

Er wandte den Kopf zur Seite und erwartete, jemanden in der Tür stehen zu sehen, aber da war niemand. Gabriel runzelte die Stirn. Er schaute zur Rechten. Beinahe setzte sein Herzschlag aus.

Verirrt. Hilf mir. Oh Gott, warum lebe ich noch?

Mit zusammengekniffenen Augen sah Gabriel sich in dem Zimmer um, doch er konnte nur Schatten wahrnehmen. Sein Puls begann wie rasend zu hämmern, als die Stimme immer näher an ihn herandrang, immer intensiver.

Verirrt. Hilf mir. Verirrt.

Schweißgebadet lag er da und verschloss die Augen vor der Wirklichkeit. Von ihm abgesehen, war das Zimmer menschenleer. All diese Tage … Die ganze Zeit … Die Stimme, die er vernommen hatte, ertönte nur in seinem Kopf.

1. KAPITEL

In Laura Danes Haus gab es keine Uhren. Die brauchte sie nicht. Für sie spielte die Zeit keine Rolle. Wenn sie hungrig war, aß sie, und sie schlief, wenn sie sich müde fühlte. Ihr Großvater, der texanische Ölmagnat Wallace Dane, hatte ihr ein gigantisches Vermögen hinterlassen, und sie musste keinen Finger rühren, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

So war es nicht immer gewesen. Früher hatte sie sich bemüht, der realen Welt anzugehören – die eigenartige Kraft in ihrem Innern zu ignorieren, die andere Menschen nicht verstanden.

Sie hatte den komfortablen Landsitz ihrer Familie außerhalb von Santa Fé verlassen und ihr Bestes getan, um ein normales Leben zu führen. Dank ihrer Ausbildung hatte sie einen Job bei einer Bank in Albuquerque bekommen, in der Nähe ein Apartment gemietet und vorgegeben, sie wäre genauso wie alle Leute. Wenn sie einkaufen ging, nutzte sie die Sonderangebote, die in den Zeitungen annonciert wurden. Ebenso wie ihre Kollegen hastete sie durch den Alltag – lebte gleichsam von geliehener Zeit, nach den Regeln, die jemand anderer aufgestellt hatte.

Und dann brachte ein niederträchtiger Bankräuber ihre sorgsam ausbalancierte Welt durcheinander und ins Schleudern. Dagegen konnte sie nichts unternehmen.

Es war an ihrem Arbeitsplatz geschehen – im hellen Tageslicht – an einem schönen, sonnigen Samstagmorgen. In raffinierter Tarnung betrat ein Mann die Bank und ging geradewegs zu Lauras Kassenschalter. Er reichte ihr einen Zettel und stellte eine Tasche auf die Theke, schob sie zu ihr hinüber und steckte seine Hand in die Tasche seines Jacketts.

Als sie den Zettel berührte, stockte ihr Atem. Ohne auch nur ein Wort zu lesen, blickte sie auf. Und nachdem sie die Mitteilung entziffert hatte, glaubte sie noch immer nicht, was ihr widerfuhr. Er wollte Geld. Und er besaß eine Waffe. Völlig verwirrt starrte sie in ein fremdes Gesicht.

Sein langes rotes Haar war unter einer schwarzen Kappe zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der Bart rotblond. Seine Augen verbarg er hinter einer dunklen Brille, die Jeanskleidung sah abgerissen aus.

»Beeilen Sie sich«, flüsterte er und neigte sich zu ihr. »Und spielen Sie nicht die Heldin.«

Laura stand einige Sekunden wie erstarrt da, dann aber gehorchte sie. Mit ruhigen, methodischen Bewegungen legte sie Banknotenbündel in die Tasche und schob sie über die Theke zurück. Spöttisch kräuselte der Mann die Lippen, seine Finger umschlossen die Henkel. Im selben Moment zog er die andere Hand aus der Tasche und sprühte ihr etwas ins Gesicht. Sie rang nach Luft und brach zusammen. Noch ehe sie am Boden landete, verlor sie die Besinnung.

Sein Schreckensschrei genügte ihm, um das Verbrechen zu vertuschen und ungehindert die Flucht zu ergreifen. Während ihr die Leute zu Hilfe eilten, wandte er sich ab und verließ die Bank. Es dauerte eine ganze Weile, bis irgendjemand merkte, was geschehen war. Als Laura zu sich kam, standen Polizisten neben ihr und baten sie, den Täter zu beschreiben. Unglücklicherweise stimmte ihre Beschreibung des Gesichts unter der schwarzen Kappe nicht mit dem Mann überein, den die Überwachungskamera fotografiert hatte und der einigen Bankkunden aufgefallen war.

Und so verwandelte sich ihr schöner Samstag in einen Albtraum. Vom Verdacht einer Komplizenschaft belastet, wurde sie gezwungen, ihr Geheimnis zu verraten: Manchmal erblickte sie Dinge, die nicht existierten, oder sie sah voraus, was sich ereignen würde. Über fünf Minuten lang gab sie Erklärungen ab, ehe sie ihren ganzen Mut zusammennahm und die verhängnisvollen Worte aussprach.

Übersinnliche Fähigkeiten.

Daraufhin hatten die Polizisten die Frage diskutiert, ob sie Laura vorerst in Verwahrung nehmen sollten, weil sie möglicherweise kriminell oder eventuell verrückt war.

Und obwohl der Täter letzten Endes auf Grund ihrer Beschreibung verhaftet wurde, ließ sich der Schaden nicht mehr beheben, den ihre Enthüllung angerichtet hatte. Die Wahrheit über ihre »Gabe« kostete sie ihren Job und mehrere so genannte Freunde. Von der Presse verfolgt, von ihren Mitmenschen gemieden, zog sie aus dem Apartment in Albuquerque aus und übersiedelte wieder ins Haus ihrer Familie außerhalb von Santa Fé, um ihre sprichwörtlichen Wunden zu lecken.

Die fristlose Kündigung und die Heimkehr hatten zweierlei bewirkt. Erstens bot ihr die Langeweile den nötigen Anreiz, um im Konzern ihres verstorbenen Großvaters eine aktive, verantwortungsvolle Rolle zu übernehmen. Und die Behörden von New Mexico mussten letzten Endes die Tatsache anerkennen, dass sie keine Schwindlerin war. Im Lauf der nächsten sieben Jahre klärte die Polizei mit Lauras Hilfe einige weitere Fälle auf. Und so erwarb sie den Ruf einer seriösen Hellseherin.

Mittlerweile hatte sie sich mit ihrer Einsamkeit abgefunden. Sie entschuldigte sich nicht mehr, weil sie anderen Prinzipien folgte als »normale« Menschen. In den Bildern, die Lauras Phantasie erfüllten, lag ihre eigene, besondere Realität. Manchmal erschienen sie still und leise, wie Blätter, die auf die glatte Oberfläche eines Teichs fielen. Oder sie strömten durch ihre Sinne wie Regengüsse, die ein Abflussrohr hinabrauschten. Und hin und wieder, nicht allzu oft, stürzten sich die Visionen auf ihre Seele wie Brecher auf eine zerklüftete Küste. Wann immer das geschah, musste sie ihre ganze innere Kraft aufbieten, um ihr Ich zu retten.

Hätte sie in einem früheren Zeitalter gelebt, wäre sie zweifellos als Hexe gebrandmarkt und auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Stattdessen litt sie an einer anderen Art von gesellschaftlicher Ächtung, die ihr konventionelle zwischenmenschliche Kontakte verwehrte. Sie akzeptierte dieses Schicksal, weil sie ihm nicht entrinnen konnte. Nur gelegentlich wurde ihr die ganze Tragweite ihrer einzigartigen Situation bewusst. In solchen Momenten bekämpfte sie ihre Dämonen und akzeptierte die Isolation. Denn ihr würde niemals ein Mann begegnen, der sie genug liebte, um ihre übersinnlichen Fähigkeiten zu verkraften.

Gabriel Donner schob den Gürtel durch die letzte Schlaufe an seinem Hosenbund und schloss die Schnalle. Er genoss es, endlich wieder richtige Kleidung zu tragen. Die Krankenhaushemden überließen der Phantasie nicht allzu viel, und in seinem Fall sogar noch weniger, was er seiner Größe von über eins neunzig verdankte.

Während er vor dem Spiegel stand, zupfte er den Kragen seines hellblauen Strickhemds zurecht und stopfte es in die Hose, bevor er sich rasch umdrehte. Seit dem Unfall ertrug er sein Spiegelbild nur noch schwer, denn es beschwor das Gefühl eines Verlustes herauf, das nicht mit dem Tod seiner Eltern zusammenhing, sondern mit seiner ausgelöschten Identität. Hatte er jemals in seinem Leben so große Angst empfunden? Wohl kaum … Zumindest erinnerte er sich nicht daran. Aber jetzt ertappte er sich manchmal bei einem seltsamen Zögern, ehe er um die Ecken der Klinikflure bog. Und wenn die Krankenschwestern ihre abendlichen Runden machten und die Lichter löschten, überwältigte ihn beinahe das Bedürfnis, die Lampen danach wieder anzumachen. Wäre Gabriel Donner ein schwächerer Mann, würde ihn die Furcht vielleicht besiegen. Aber er war stark, im Körper und im Geist, und er wehrte sich energisch gegen das unerklärliche Grauen.

Er schlenderte zum Fenster, das auf den Parkplatz des Krankenhauses hinausging, und suchte die vertraute Farbe von Onkel Mikes Auto. Falls es da unten stand, müsste es leicht zu finden sein. Dieses Kanariengelb war unmöglich zu übersehen. Sobald er das Fahrzeug am Ende einer Reihe entdeckte, ließ seine Angst ein wenig nach. Sehr gut! Also hatte Mike das Gebäude bereits betreten. In einer Stunde würde Gabriel zu Hause ankommen.

Und dann hielt er den Atem an. Zu Hause – das würde nie mehr dasselbe sein wie früher. Als er sich vom Fenster abwandte, krampfte sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Unfassbar, dass seine Mutter und sein Vater nicht mehr auf dieser Erde existierten … Ohne sein Wissen waren sie gestorben, in seiner Abwesenheit bestattet worden. Das erschien ihm fast obszön. Seinen einzigen Trost fand er in der Gewissheit, dass Mike Travers – Brents und Angelas bester Freund, den er Onkel nannte – am Grab gestanden hatte.

Nach einem tiefen, zitternden Atemzug strich er mit allen Fingern durch sein Haar und sagte sich, er müsse sich auf die Zukunft konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Doch das fiel ihm unendlich schwer. Die letzte Erinnerung an seine Eltern war der Warnruf des Vaters, gefolgt vom gellenden Geschrei der Mutter. Danach hatte sich alles hinter einem barmherzigen Schleier verborgen, ehe er das Bewusstsein verloren hatte.

Unentwegt plagten ihn die Schuldgefühle. In Gedanken erlebte er immer wieder jenen Augenblick, beobachtete seinen Vater, der darauf bestand, den neuen Wagen seines Sohnes zu dem Restaurant zu chauffieren, wo sie essen wollten, und sich eifrig ans Steuer setzte. Nun wünschte Gabriel inständig, das Dinner hätte daheim stattgefunden. Dann wären sie nicht den Northwest Expressway entlanggefahren. Und der Betrunkene, der den Mittelstreifen überquert hatte, wäre mit jemand anderem zusammengestoßen.

Wütend schmetterte er eine Faust gegen die Wand, ohne zu merken, dass er nicht mehr allein war.

Mike Travers blieb in der Tür stehen. Als er Gabriels Stimmung registrierte, erlosch sein Lächeln. Dieser Mann bedeutete ihm so viel wie der Sohn, der ihm nie vergönnt worden war. Den kleinen Jungen hatte er vergöttert, den erwachsenen Mann geliebt und respektiert. Natürlich würde er in Gabriels Leben niemals Brents Platz einnehmen, aber das wollte er auch gar nicht.

Dennoch musste irgendetwas geschehen, um Gabriels wachsenden Zorn zu mäßigen. Nicht zum ersten Mal in den vergangenen Tagen sah er einen solchen Wutausbruch mit an, und als erfahrener Psychiater wusste Mike nur zu gut, wie sich solche Seelenqualen auf lange Sicht auswirken konnten.

»Gabriel!«

Erstaunt hob Gabriel den Kopf. Bei Mikes Anblick spürte er, wie seine Wut verebbte. Er brachte sogar ein Lächeln zu Stande. Und es beschämte ihn, dass er in einer dieser düsteren Anwandlungen ertappt worden war, die sein Leben neuerdings beherrschten.

Michael Morris Travers war ein kleiner, hagerer Mann, der sich seinem achtundsechzigsten Geburtstag näherte. Er hatte schütteres graues Haar, und seine Kleidung war fast immer zerknittert. Nichts an seiner äußeren Erscheinung verriet den erstklassigen Ruf, den er auf seinem Fachgebiet genoss. Brent und Angela hatten sich stets amüsiert, weil ihr bester Freund eher einem zerstreuten Professor glich als dem hervorragenden, erfolgreichen Psychiater, der er tatsächlich war.

Unsicher runzelte Gabriel die Stirn. »Hör mal, Onkel Mike, ich … also …«

Michael berührte Gabriels Arm und spürte, wie sich die Muskeln unter seinen Fingern verkrampften. »Schon gut, mein Junge. In letzter Zeit habe ich mich oft genug so ähnlich gefühlt.«

Gabriel atmete auf. Seinem Onkel Mike musste er nichts erklären, und das beruhigte ihn ein wenig.

»Bist du bereit, nach Hause zurückzukehren?«, fragte Mike.

Bedrückt zuckte Gabriel die Achseln. »So bereit, wie ich es jemals sein werde.« Er griff zum Telefon und drückte die Nummer des Schwesternzimmerns. In knappen Worten teilte er einer der Pflegerinnen mit, dass er die Klinik auf eigenes Risiko verlassen würde. Dann drehte er sich wieder zu Mike um. »Hast du sie mitgebracht?«

Mike dachte an die Rosen, die auf dem Rücksitz seines Autos lagen, und nickte. »Zwölf Dutzend.«

Diese Bitte hatte Gabriel bei einem früheren Besuch seines Onkels geäußert, und sie beunruhigte Mike immer noch. »Ob dies der richtige Augenblick für einen Besuch auf dem Friedhof ist, weiß ich nicht«, gab er zu bedenken, »so kurz nach deiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Wenn du lieber warten willst – die Blumen bleiben sicher noch ein paar Tage frisch.«

»Nein, ich finde, ich habe schon zu lange gewartet«, erwiderte Gabriel.

Mit seiner ausdruckslosen Miene zerrte er an den Nerven des alten Mannes. Gabriels Übermut war in seiner Kindheit fast ein Ärgernis gewesen. Und später hatte sich der ausgelassene Junge in einen starken, reifen, zuverlässigen Mann verwandelt, allerdings mit einer gewissen Neigung zu albernen Streichen.

Dieser stille Zorn, von dem Gabriel nun erfüllt war, passte nicht zu dem Menschen, den Mike schon so lange kannte. Während der letzten Tage hatte er mehrmals den Eindruck gewonnen, der Gabriel früherer Zeiten wäre zusammen mit seinen Eltern im Autowrack gestorben und der Mann, der ihm jetzt gegenüberstand, ein raffinierter Schwindler.

Seite an Seite verließen sie die Klinik. Eine Stunde später bog Mike vom Highway ab und fuhr durch das Haupttor des Rosemound-Friedhofs. Bereits in dieser ersten Juniwoche war es unerträglich heiß in Oklahoma. Doch das frisch gemähte Gras rings um die Grabsteine leuchtete immer noch in saftigem Grün.

»Da sind wir.« Mike parkte den Wagen im Schatten einer mächtigen Eiche.

Als Gabriel über die Gräberreihen hinwegblickte, fühlte er sich plötzlich seltsam leer. Seine Eltern nie wieder zu sehen – das erschien ihm unvorstellbar. Und dass sie jetzt zwei Meter tief unter der Oklahoma-Erde lagen – diesen Gedanken ertrug er nicht.

Mit einer bebenden Hand wischte er über seine Augen. »Das ist so grauenvoll …«

Verständnisvoll drückte Mike seinen Arm. »Ja, mein Junge, ich weiß. Manchmal ist das Leben unfair.«

Ohne zu antworten, sprang Gabriel aus dem Auto. Nun musste er die Pflicht erfüllen, die ihn hierhergeführt hatte. Er öffnete die Heckklappe und griff nach den Rosen.

»Lass dir helfen.« Auch Mike stieg aus und überreichte ihm drei der eingewickelten Buketts. Sie restlichen drei übernahm er selbst. Dann führte er Mike einen Kiesweg entlang. »Beinahe habe ich die Blumenhandlung leer gekauft. Die Rosen wurden zu Sträußen von je zwei Dutzend gebunden. Ich hoffe, dir ist das recht?«

Der süße Duft der blutroten Blüten drang in Gabriels Nase. Den Kopf gesenkt, atmete er das Aroma ganz langsam ein und entsann sich, wie sehr seine Mutter diese Blumen geliebt hatte. In seinen Augen brannten Tränen. Aber er wehrte sich dagegen, sie zu vergießen. »Ja, sehr gut.«

Ein paar Minuten später blieb Mike stehen.

Es dauerte eine Weile, bis Gabriel hinabzublicken wagte. Was er sah, traf ihn wie ein vernichtender Schlag. Der unwiderlegbare Beweis für den Tod seiner Eltern starrte ihn an. Auf dem hohen marmornen Grabstein las er die beiden Namen und vermochte kaum zu atmen.

»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Mike.

»Nein.«

Aus der einsilbigen Antwort sprach tiefer Schmerz. Mike hätte ihn gern tröstend in den Arm genommen. Aber diesen Moment verzehrender Trauer musste Gabriel allein verarbeiten.

»Ich warte im Auto auf dich, Gabriel. Wenn du mich brauchst, ruf mich einfach, ich behalte dich im Auge.«

Dann legte Mike seine Blumen auf das Grab, ging davon und ließ Gabriel mit seiner Verzweiflung allein.

Als Gabriel auf die Knie sank, schienen ihm warme Sonnenstrahlen ins Gesicht. Aus einem nahen Baum flatterte ein Rotkehlchen, landete ein paar Schritte entfernt im Gras und hüpfte davon. Ein wenig zurückgeneigt, schaute Gabriel ihm zu. Für ein paar Sekunden bildete er sich ein, er würde seiner Mutter bei der Gartenarbeit helfen, statt vor ihrem Grab zu knien. Doch da raschelte eine sanfte Brise im Papier, in das die Rosen gewickelt waren, und erinnerte ihn an den Zweck seines Besuchs.

Schweren Herzens packte er die ersten drei Sträuße aus und legte sie auf das Grab, an die Seite, wo sein Vater bestattet war. Dort verteilte er die Blumen, bis die eine Hälfte des frischen Erdhügels vollständig von den langstieligen Schönheiten bedeckt war.

Als er dann Angela Donners letzte Ruhestätte schmücken wollte und das erste Bukett auswickelte, hielt er einen Moment inne. Kurz darauf kniete er wieder nieder und ergriff eine einzelne Rose. Systematisch brach er die Dornen ab und legte die Blume erst hin, als der Stängel glatt war und keinen Schaden mehr anrichten konnte. Genauso verfuhr er mit allen restlichen Rosen, um eine Gepflogenheit seiner Mutter zu wiederholen.

Obwohl die Rose ihre Lieblingsblume gewesen war, hatte sie oft verkündet, es sei eine merkwürdige Ironie, dass etwas so Schönes manchmal so heftige Schmerzen verursachte. Deshalb hatte sie von all ihren wunderschönen Sträußen stets die Dornen entfernt.

Bei dieser mühsamen Arbeit stach er sich mehrmals in den Finger. Doch das war belanglos, verglichen mit dem Leid, das seine Seele erfüllte. Nachdem er die letzte Rose auf das Grab gelegt hatte, ließ er seinem Kummer freien Lauf. Über seine Wangen rannen heiße Tränen.

»O Gott, warum meine Eltern?«, flüsterte er voller Trauer, voller Wut. »Warum nicht ich?«

Als alles still blieb, strömte trotz der sommerlichen Hitze ein kalter Schauer durch seinen Körper. Erschöpft trat er den Rückweg zum Auto an. In seiner Nähe hörte er jemanden schluchzen und schaute sich überrascht um, konnte jedoch niemanden sehen. Gabriel fasste sich an die Wangen. Doch seine eigenen Tränen waren bereits getrocknet.

Die Stimme. Schon wieder … Wie machtvolle Wellen überkamen ihn böse Ahnungen in. Er strich durch sein Haar, tastete nach der Stelle, wo man ihn rasiert hatte, um die Wunde zu behandeln.

»Lass mich in Ruhe«, flüsterte er. »Ich habe genug eigene Sorgen.«

Seltsamerweise verstummte die Stimme.

2. KAPITEL

Als Gabriel zehn Jahre alt gewesen war, hatte Brent Donner die Straight Arrow Security gegründet. Nach dem College-Studium hatte sein Sohn eine Stellung in der Sicherheitsfirma angetreten. Jetzt gehörte sie ihm allein. Doch er wollte sie nicht.

Nicht, dass er unfähig gewesen wäre, den Job zu übernehmen. Aber seine Position störte ihn. Immer wieder fragte er sich, wie zum Teufel er das Eine-Million-Dollar-Unternehmen leiten sollte, wenn er nicht einmal seine eigenen Gedanken unter Kontrolle hatte.

In den letzten Tagen war er zwei Mal nahe daran gewesen, seinem Onkel Mike von der Stimme zu erzählen. Der Mann war Psychiater. Sicher hatte er von einigen Patienten schon verrücktere Geschichten gehört. Aber die Scham und die Angst, für verrückt gehalten zu werden, hielten ihn zurück. Er redete sich ein, an einer harmlosen Verwirrung zu leiden, die bald von allein verschwinden würde. Je weniger Leute davon erfuhren, desto besser für ihn. Und das sagte er sich so lange, bis er fest daran glaubte.

Trotzdem geriet er beinahe in Panik, als Mike in die gewundene Straße abbog, die zum Donner-Anwesen führte.

Würde er mit den Erinnerungen leben können, ohne den Verstand zu verlieren? Ein Schauer fuhr ihm den Rücken hinab. Vielleicht war es zu spät – vielleicht hatte er die Schwelle zum Wahnsinn bereits überschritten … Entschlossen verdrängte er die negativen Gedanken und konzentrierte sich auf das zweistöckige Haus mit den schimmernden weißen Mauern und den eleganten korinthischen Säulen. Wie vier Wachposten erhoben sie sich bis zum ersten Stockwerk und stützten den Balkon im zweiten, der die ganze Breitseite des Gebäudes einnahm.

Sein Blick schweifte über das Gelände hinweg. Wenn er die schönste Stelle des Parks auch nicht sah, er wusste ganz genau, wo der Rosengarten seiner Mutter lag – im Hintergrund des Anwesens. Sein Herz hämmerte dumpf gegen seinen Brustkorb. Würde er sich hier jemals wieder heimisch fühlen?

Mike parkte den Wagen vor dem Haus und zeigte auf die Eingangsstufen. »Offenbar hat Matty nach uns Ausschau gehalten. Da kommt sie.«

Gabriel schluckte. Es würde ihm nicht leichtfallen, der alten Frau gegenüberzutreten. Für ihn war Matty Sosa eher eine Großmutter als die langjährige Haushälterin der Familie Donner. Bei seinem Anblick verzog sie schmerzlich das Gesicht. Dann nahm sie ihn ganz fest in die Arme.

»Madre de Dios! Wie dünn du geworden bist!«

»Im Krankenhaus habe ich kein so gutes Essen bekommen wie bei dir«, erklärte er und erwiderte die Umarmung. Dabei brachte er irgendwie ein Lächeln zu Stande.

Matty betupfte ihre Augen mit dem Saum ihrer Schürze. Verzweifelt bestrebt, irgendetwas zu tun, griff sie nach Gabriels Reisetasche. »Herein, herein!«, befahl sie und ging voraus. »Jetzt bringe ich das Gepäck in dein Zimmer. Und du, mein Junge, führst deinen Onkel Mike inzwischen auf die Terrasse. Setzt euch! Gleich serviere ich euch kalte Drinks.«

Beflissen eilte sie davon, und Gabriel schaute ihr nach. Wie alt musste er werden, bis sie aufhören würde, ihn »mein Junge« zu nennen? Er wandte sich zu Mike. »Hoffentlich hast du keine anderen Pläne. Matty scheint zu erwarten, du würdest zum Dinner bleiben.« Als er merkte, wie salopp die Einladung klang, fügte er hastig hinzu: »Und ich würde mich natürlich auch über deine Gesellschaft freuen.«

Mike gab vor, Gabriels Melancholie nicht wahrzunehmen. »Kein Problem. Ich bin sogar froh, dass Matty damit rechnet. Nun kann ich’s mir ersparen, um eine ihrer köstlichen Mahlzeiten zu betteln.«

Während sie über belanglose Dinge plauderten, durchquerten sie das weitläufige Gebäude. Dabei wählten sie ein gemächliches Tempo, um Gabriel nicht zu überfordern. Er konnte sich kaum auf Mikes Worte konzentrieren. Alles erinnerte ihn hier an seine Eltern, an das glückliche Leben, das sie geteilt hatten. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, in dieses Haus zurückzukehren.

Als sie dann um eine Ecke des Korridors bogen, hatte Gabriel plötzlich den Eindruck, die Luft würde ihren Sauerstoff verlieren. Bei jedem Atemzug fühlte sich seine Brust schwerer an, die Gesichtshaut begann sich zu straffen. Er wusste, dass das unmöglich war, und dennoch, ihm war, als kröche irgendetwas in sein Gehirn.

Hilf mir.

Gabriel unterdrückte einen Fluch und taumelte zur Wand, verzweifelt bemüht, irgendetwas Reales zu berühren – etwas, das tatsächlich existierte. Als seine Hand die kühle, glatte Fläche spürte, schloss er stöhnend die Augen.

Verstört umfasste Mike seinen Arm. »Alles in Ordnung, Gabriel?«

Mit beiden Händen an die Wand gestützt, erschauerte Gabriel, über seinen Körper rann kalter Schweiß.

Ich kann dich nicht finden.

Im Kampf gegen den unerwünschten Eindringling zwang er sich, stehen zu bleiben, obwohl er am liebsten zu Boden gesunken wäre. Wie er das hasste … Er war kein Schwächling. Doch das schien sein Gehirn zu ignorieren. Dieser ständige Hilfeschrei würde ihn in den Wahnsinn treiben.

Wütend schlug er mit einer Faust gegen die Wand. »Hurensohn!«

Mike wandte sich ab. »Warte, ich rufe einen Arzt …«

Mit glühendem Blick und harten Fingern, die sich in Mikes Schultern gruben, hielt Gabriel ihn zurück. »Lass nur, ich bin okay.«

Mike musterte Gabriels blasses Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein, verdammt, das bist du nicht.«

»Was mich quält, kann ein Arzt nicht aus der Welt schaffen«, murmelte Gabriel und ging davon.

Im Haus herrschte absolute Stille. Die Atmosphäre beim Dinner war angespannt gewesen, aber irgendwie hatten sie es überstanden, ebenso wie Mikes widerstrebenden Aufbruch in sein eigenes Heim. Jetzt wanderte Gabriel durch verlassene Räume und lauschte den Echos glücklicherer Zeiten. Im Flur vor der Küche blieb er stehen, schloss die Augen und erinnerte sich an die melodische Stimme seiner Mutter, das überschwängliche Gelächter des Vaters. Aber als er weiterging, hörte er nur seine eigenen Schritte auf den glänzend polierten Bodenbrettern.

Unbewusst folgte er den allabendlichen Wegen seines Vaters vor dem Ruhestand. Er blieb in der Halle stehen und betrachtete die Schalttafel in der kleinen Nische neben der vorderen Haustür. Darin blinkte ein rotes Licht. Die Alarmanlage war eingeschaltet und gesichert. Nachdem er diesen banalen Aspekt des täglichen Lebens überprüft hatte, ging er zum Fuß der Treppe, hielt inne und spähte nach oben.

Die oberen Etagen schienen ihn zu verhöhnen. Entschlossen betrat er dennoch die erste Stufe. Das war am schwierigsten. Danach musste er einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen.

Eine Stunde später schlief er ein.

Der Mann hob den Kopf und schnüffelte – wie ein Tier fahndete er in der Luft nach Dingen, die nicht hierhergehörten. Zwischen den Bäumen lagen schwarze Schatten, und dahinter erstreckte sich eine Lichtung, die er hastig aufsuchte, um den unsichtbaren Gefahren zu entfliehen.

Unter seinen Füßen knirschte der Kies, als er seine Schritte beschleunigte. Die Tasche, die er bei sich trug, schlug gegen sein Bein. Vor dem marmornen Monument kniete er nieder, dann streckte er sich auf der Rosendecke aus, als wäre sie ein weiches Bett. Die Wangen voller Tränen, vergrub er sein Gesicht im Erdreich. Wie weiche Federn fühlten sich die Blätter auf seiner Haut an, die welken Blüten wie Küsse.

Ein Auto mit kaputtem Auspuff raste die Straße jenseits der Mauer entlang, ratternd bahnte es sich einen Weg in die Nacht. Bei diesem Geräusch krallten sich die Finger des Mannes zusammen und bildeten kraftvolle Fäuste. Er richtete sich auf, schaute suchend in die Finsternis. Weit und breit ließ sich niemand blicken. Die innere Anspannung wich bleierner Müdigkeit. Wie ermattet er war … Völlig erschöpft. Und in seinen Schläfen pochte es schmerzhaft.

»Mutter … Mutter, ich finde dich nicht.«

Zitternd und zusammengekauert sehnte er sich nach der vertrauten Umgebung. Aber irgendwie hatte er sich in dem Dickicht verirrt.

»Hilf mir.«

Niemand antwortete, niemand kam zu ihm. Stundenlang saß er da, bis der Mond hoch am mitternächtlichen Himmel stand. Plötzlich erschien ein Licht hinter dem versperrten Tor am Ende des Kieswegs. Panik erfasste ihn. Sekundenlang erstarrte er. Was sollte er jetzt tun?

Dann erinnerte er sich an einen Tag vor langer Zeit. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, wenn er sich fürchte, solle er sofort zu ihr laufen. Denn sie würde immer für ihn sorgen. Er betrachtete das welke Blütenmeer, in dem er saß. Und weil seine Mutter Rosen liebte, begann er einen Strauß zu sammeln. Nur Stängel ohne Dornen – so, wie sie es mochte …

Während er vor dem Grabstein kniete, flatterte ein Nachtvogel vorbei – er sah ihn nicht, aber er spürte den Luftzug, den der Flügelschlag des Tieres verursachte.

Über seinem Kopf glitt eine Wolkenbank zwischen Himmel und Erde dahin und säumte das silberne Licht des Dreiviertelmonds.

Als das Auto zurückkehrte, war der Mann endgültig verschwunden.

Auf der Schalttafel der Alarmanlage im Donner-Haus blinkte das rote Licht nicht mehr. Die Glastür, die zur Terrasse hinter der Bibliothek führte, stand offen. Draußen frischte der Wind auf und wehte den Geruch eines Sommerregens heran.

Die Straßen waren still. Am frühen Morgen herrschte kein Verkehr in dieser Gegend. Er liebte das Schweigen. Wenn er nichts hörte, fühlte er sich wohl und beschützt. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn an seinen Hunger. Aus einem Gebäude drang Licht. Beim Gedanken an eine Mahlzeit beschleunigte er seine Schritte – bis ihm eine Bewegung auffiel. Eine Frau trat aus den Schatten, und sein Herz schlug schneller. Unsicher blieb er stehen.

»Mutter?«

Leise und heiser lachte die Frau. »Nein, Schätzchen. Sehe ich wie deine Mommy aus?«

Er runzelte die Stirn. Wie seine Mutter sah sie gewiss nicht aus. Seine Mutter hatte kurzes Haar und duftete wundervoll. Aber das Haar dieser Frau war lang und schwarz, und ihr Geruch missfiel ihm. Doch sie lächelte. Und er war so müde und hungrig. Deshalb blieb er stehen.

Langsam strich sie über seinen Arm, dann starrte sie die Blumen und die Tasche an, die er bei sich trug. »Hmmm … Du weißt, was Frauen mögen, nicht wahr, mein Süßer? Komm mit mir nach Hause. Für zwanzig Dollar kriegst du genau das, was du suchst.«

Sie streckte eine Hand aus, und er griff danach. Weil er müde war. Und weil er hungrig war. Sie führte ihn eine steile, schmale Treppe hinauf. Früher hatte ihre Wohnungstür in grellem, feurigem Rot geleuchtet. Das war längst verblasst, und der Anstrich blätterte ab. Aber was die Farbe signalisierte, verstanden die Männer immer noch. Sie sperrte die Tür auf, betrat das Apartment und zog ihn hinter sich her.

Im Zimmer bemerkte er den gleichen Geruch, den auch sie verströmte – nach schmutziger Wäsche und Zigarettenqualm. Angewidert rümpfte er die Nase. »Hier stinkt es.«

Sie hob die Brauen, dann grinste sie ironisch. »Bevor ich mit dir fertig bin, wird’s dich nicht mehr interessieren, was du riechst – nur was Gloria dir geben kann.«

Mit diesen Worten strich sie über die Vorderseite seiner Hose, öffnete den Reißverschluss und schob eine Hand in den Schlitz. Unter der Berührung erhärtete sich sein Glied.

»Ah, Schätzchen, was für ein tolles Ding du da hast! Normalerweise gönne ich meiner eigenen Wenigkeit keine Freude. Aber vielleicht mache ich diesmal eine Ausnahme.«

So etwas hatte er nicht erwartet. Was sie tat, fühlte sich gut an. Er vergaß seinen Hunger und starrte auf ihre Hand in seiner Hose hinab. Aber als sie sich nach unten neigte, trat er hastig zurück. »Nein, nein«, sagte er leise – nicht zu ihr, sondern zu sich selbst.

Erstaunt richtete sie sich auf und musterte ihn mit schmalen Augen. Offenbar ein nervöser Kunde … Aber verdammt nochmal, er sah fabelhaft aus. Solche attraktiven Typen bekam sie nur selten zwischen die Finger.

»Hören wir ein bisschen Musik zu Einstimmung. Und dann kommen wir ins Geschäft. Du schuldest mir zwanzig Dollar, großer Junge.« Bevor sie sich abwandte und davonschlenderte, kniff sie ein letztes Mal in seine Männlichkeit.

Sein Magen fing wieder zu knurren an. Seufzend schaute er sich um und entdeckte nirgends etwas Essbares. Nun, vielleicht würde sie was holen …

Plötzlich zerriss eine dröhnende Mischung aus Hard Rock und Rap die Intimität des Augenblicks.

Die Frau drehte sich um. Lächelnd bewegte sie ihren Körper im wilden Rhythmus und ging zu ihm.

Für ihn war das keine Musik, nur eine Kakophonie aus schrillen Geräuschen, die schmerzhaft in seinen Ohren gellte. Die welken Rosen immer noch in einer Hand, warf er seinen Kopf in den Nacken. Schreiend hielt er sich die Ohren zu und schlug auf seinen Schädel.

Abrupt erstarrte die Frau. »Was zum Teufel ist denn los mit dir?«

Sie stand viel zu dicht vor ihm. Das ertrug er nicht. Blindlings schwang er einen Arm hoch, wollte dem qualvollen Getöse ein Ende bereiten – doch er schlug zu fest zu. Von der Wucht des Fausthiebs an die Wand geschleudert, brach sie sich das Genick, und die Stereoanlage, die sie eben erst eingeschaltet hatte, landete krachend am Boden.

Sobald der Lärm verstummte, hörten die Qualen auf. Reglos stand er in der Stille da und starrte die Frau verwirrt an. Sein Magen knurrte wieder. Aus ihrem Mundwinkel quoll ein Blutstropfen. Er kauerte sich an ihre Seite und wischte ihn mit dem Daumen weg. Verständnislos betrachtete er das schwarze Haar, das ihre Augen verdeckte.

Dann wischte er seine blutbefleckte Hand an seiner Hose ab. Ein paar Mal hatte er sich schon geschnitten, und er entsann sich, dass es wehtat, wenn man blutete. Also musste auch die Frau Schmerzen empfinden. Sein Blick streifte die Rosen, und er hockte sich auf seine Fersen. Ohne Zögern zog er eine langstielige Rose aus dem Strauß und legte sie auf die Brust der Frau.

»So. Jetzt ist’s besser.«

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ er schnell das Zimmer.