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Eine brennende Stadt. Ein junger Mann auf der Flucht vor seinen Verfolgern. Ein Plan zu einem wertvollen Fund. Eine neugierige Wissenschaftsjournalistin. Eine Archäologin, die keine Gefahr und kein Abenteuer scheut. Moskau, 1812. Während die Stadt brennt, sucht Heinrich Kalditz, Soldat in Napoleons Grande Armée, seinen Bruder. Als er Thomas tot auffindet, hat dieser eine Karte bei sich, die den Weg zu einem Versteck aufzeichnet. Gemeinsam mit einer jungen Frau macht er sich auf die Suche und ahnt nicht, dass der Kaiser der Franzosen bereits seine Hände nach dem Fund ausgestreckt hat … Zweihundert Jahre später findet die Wissenschaftsjournalistin Karla Urban in einem alten Buch einige Seiten von Heinrich Kalditz' Tagebuch und wird daraufhin verfolgt und beraubt. Zusammen mit ihrer Freundin Isis Just begibt sie sich auf die Suche nach weiteren Tagebuchaufzeichnungen und versucht herauszufinden, was Heinrich Kalditz während Napoleons Russlandzug in Moskau gefunden hat. Beide ahnen nicht, dass ihre Verfolger ihnen dicht auf den Fersen sind und vor nichts zurückschrecken. Um jeden Preis wollen sie vor Isis und Karla das Versteck finden. Wird es Isis Just gelingen, dieses Vorhaben zu vereiteln? Kann sie ihre Verfolger verwirren und auf eine falsche Spur lenken? Wird sie das Rätsel lösen?
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Prolog
1
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5
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Epilog
Impressum
Verschiedenes
Fressbeutel und alte Socke
im Schicksal vereint
Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit.
Napoleon Bonaparte
Moskau, 1583
Wo befand er sich? Hatte er sich in den Sümpfen verlaufen? Wie war er hierhergekommen?
Verzweifelt sah er sich um, versuchte einen Anhaltspunkt zu finden, wo er sich befand. Es war dunkel. Stockdunkel. Er sah die Hand vor Augen nicht. Eben waren die anderen noch da gewesen, jetzt war er völlig auf sich allein gestellt. Wo hatte er sie verloren? Wie waren sie ihm entwischt?
Er versuchte nach ihnen zu rufen, doch kein einziger Ton verließ seinen Mund. Als habe er verlernt zu sprechen. Sein Mund... Er konnte die Lippen nicht voneinander lösen. So oft er es versuchte, sie blieben aufeinander haften, bewegten sich nicht. Was war geschehen, dass er seinen Mund nicht mehr öffnen konnte? Langsam führte er eine Hand an seine Lippen, um das Geheimnis ihrer Unbeweglichkeit zu ergründen. Voller Schrecken senkte er den Arm. Das war unmöglich! Wer konnte so etwas Schreckliches tun, ohne dass er davon etwas gemerkt hatte? Jemand hatte seine Lippen zugenäht. Kein einziges Sandkörnchen konnte noch hindurch. Es war so stramm zugenäht, das nirgendwo etwas eindringen oder entweichen konnte. Er würde verhungern, elendig verhungern und verdursten, weil jemand Gefallen daran gefunden hatte, ihm die Lippen zuzunähen. Wer war so irre, dass er sich so etwas leisten würde? Den einen oder anderen Feind hatte auch er, aber von denen wäre niemand so grausam, um sich auf diese Art an ihm zu rächen. Das machte keinen Sinn.
Wollte jemand an ihm testen, wie lange ein Mensch ohne Essen und Trinken überlebte? Nur warum konnte er sich frei bewegen und war in einem waldähnlichen Gelände, wo er jederzeit auf einen anderen Menschen treffen konnte? Ihn überkam ein Zittern, das von seinen Händen ausging und schließlich seinen ganzen Körper erfasste. Er hatte keine Ahnung, wer ihm das angetan hatte und warum. Eben war er noch mit seinen Kameraden unterwegs gewesen und nun irrte er allein durch eine ihm unbekannte Landschaft. Er konnte nicht sehen, wohin er trat, weil es so dunkel geworden war. Wenn er nun über eine Baumwurzel stolperte und stürzte? Bewusstlos am Boden liegend, wäre er eine leichte Beute für wilde Tiere. Oder er trat auf die Tatze eines dösenden Bären. Tödlich wäre das eine wie das andere.
Vorsichtig lief er weiter. Auf einmal begann der Boden unter seinen Füßen zu schmatzen und nur mit Mühe gelang es ihm, seine Stiefel aus dem Morast zu befreien. Mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer und irgendwann gelang es ihm gar nicht mehr, seine Füße anzuheben. Er versuchte es mit den Händen, doch er glitt immer tiefer in den Morast. Mit einem Mal spürte er, wie Wasser in seine Stiefel drang. Nun wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, wohin er hineingeraten war. Er war mitten in ein Sumpfgebiet gelaufen. Wieso war ihm das nicht früher aufgefallen? Das Haften seiner Stiefel auf dem weichen Untergrund hätte ihm sagen müssen, wo er sich befand.
Er sank tiefer, immer tiefer. Inzwischen war er bis zu den Knien im Sumpf.
Panik erfasste ihn. Der morastige Boden würde ihn verschlingen. Nichts mehr würde von ihm übrig bleiben, sondern er würde verschwinden, als habe er nie existiert. Seine Lippen, er konnte seine Lippen wieder öffnen, sie waren nicht mehr zugenäht.
Er begann zu schreien. Seine Stimme hallte ungehört in den Wald. Niemand kam, um ihn zu retten. Er war verloren!
Verzweifelt versuchte er sich zu bewegen, um sich doch noch befreien zu können. Anstelle dessen wurde er nur noch schneller in die Tiefe gezogen. Bis zum Hals befand er sich im Sumpf und er wusste, dass es keine Rettung mehr für ihn geben würde. Er sparte sich das Schreien, das sowieso niemand hörte und ergab sich in sein Schicksal.
Nur warum hatte es gerade ihn dazu erwählt, so einen grausamen Tod sterben zu müssen? Hätte er nicht in einer Schlacht oder einem Duell sterben können? Gift hätte auch einen schnelleren Tod bedeutet als in einem Sumpf zu versinken. Jämmerlich ersticken würde er. Dabei wollte er noch nicht sterben. Er wollte leben!
Das brackige Wasser hatte seinen Mund erreicht. Er legte seinen Kopf in den Nacken, sah über sich nur Dunkelheit. Kein Stern stand am Himmel. Schwärze wohin er blickte. Das war also das letzte Bild, was er im Diesseits zu sehen bekam.
Die unsichtbaren Hände griffen nach ihm, zogen seinen Körper tiefer und tiefer hinab. Sein Kopf wurde von der Masse verschlungen. Er hielt die Luft an, doch irgendwann ging es nicht mehr und er öffnete den Mund. Schlamm, Erde oder was immer es war, drang in seine Kehle, in seinen Hals, in seine Lunge. Er wollte husten, wollte atmen, alles gleichzeitig, doch da war keine Luft. Außer Morast war da nichts mehr. Voller Panik öffnete er den Mund zu einem Schrei, noch mehr faule Erde drang in seinen Mund, ließ ihn würgen. Er wollte schreien, nur schreien...
Mit einem Ruck wachte er auf.
Sein Herz pochte heftig, sein Atem ging schnell. Gott sei Dank, es war nur ein Traum gewesen.
Hatte er geschrien? War er von seinem eigenen Schrei wach geworden? Wo war er überhaupt? Alles war schwarz um ihn herum. Lag er überhaupt in seinem eigenen Bett? Vorsichtig tastete er mit den Händen um sich, spürte nichts als feuchten, kalten Boden.
Angst umschloss sein Herz mit festem Griff. War das alles gar kein Traum gewesen und er war tatsächlich in dem Wald gewesen und im Sumpf untergegangen? War er nun im Himmel oder in der Hölle gelandet? Befand sich unter dem Sumpf ein unterirdisches Tunnelsystem? War er gerettet und gleichzeitig gefangen?
Er fuhr herum, als er leises Stöhnen hörte. Was war das? War er nicht der einzige, der im Sumpf untergegangen war? Waren dort noch andere gewesen, die er in seiner Panik nicht bemerkt hatte?
"Wo bin ich?", hörte er eine Stimme sagen.
Das war Nikolai. Mit einem Schlag erinnerte er sich, was geschehen war. Sie hatten zu viert einige sehr schwere Kisten tragen müssen. Ihnen war nicht gesagt worden, was sich darin befand und warum sie gerade hierhin transportiert werden mussten. Sie hatten den Befehl ausgeführt, wie immer ohne zu fragen. Sie hatten zu gehorchen, sonst würde es ihnen schlecht ergehen. Seitdem Grosny nach Moskau zurückgekehrt war, hatte sich sein Geisteszustand erheblich verschlechtert. Er wandelte durch den Palast, als sei er ein Geist. Der Tod seines Sohnes hatte ihn schwer mitgenommen. Wie konnte man sich auch noch im Spiegel betrachten, wenn man mit der Schuld leben musste, den eigenen Sohn auf dem Gewissen zu haben? Grosny war früher schon unberechenbar gewesen, aber seit einiger Zeit war es schlimm mit ihm geworden. Er schien den Verstand verloren zu haben, nicht erst seit dem Tod seines Sohnes, sondern schon vorher. Aber nun wurde er immer wunderlicher. Sah überall Verschwörer, die seinen Tod wünschten, die sein Vermögen an sich raffen wollten. Niemandem traute er mehr, besonders nicht, seitdem er den Tag seines Todes erfahren hatte. Man hatte es ihm vorenthalten wollen, aber am Ende war es herausgekommen und es hatte Tote gegeben. Tote pflasterten Grosnys Weg. Seitdem er allein herrschte, hatte er sich unerbittlich gegeben, eine eigene Terrormiliz hatte für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung gesorgt.
Es hatte sich gebessert bis er seinen Sohn getötet hatte. Seitdem war er nur noch ein Schatten seiner selbst, verfiel zusehends.
Die stärksten unter seinen Wachen hatte er ausgesucht, damit diese Kisten transportiert werden konnte. Was hatte er sich geehrt gefühlt, sich unter Grosnys Auserwählten zu befinden. Inzwischen fragte er sich, ob es tatsächlich eine Ehre gewesen war, diesen Auftrag auszuführen.
"Mein Kopf", hörte er Nikolai stöhnen. "Das war doch nur ein halber Becher, davon kann es mir nicht so schlecht gehen."
Es schien, als wolle Nikolai noch mehr sagen, doch die Schmerzen überwältigten ihn. Sein Kopf tat höllisch weh und das Atmen fiel ihm schwer.
So langsam wurden die Erinnerungen klarer. Sie hatten die Kisten an diesen unwirklichen Ort getragen. Unheimlich hatte das alles gewirkt, doch man hatte nichts gesagt. Zum Dank für ihre Dienste und um sich von den Strapazen zu erholen, hatte man ihnen etwas zu trinken angeboten. Wann bekam man schon Wein angeboten, noch dazu vom Herrscher persönlich? Das Angebot hatten sie alle nicht abschlagen können. Wie es aussah, war es ein Fehler gewesen. In dem Wein musste irgendetwas gewesen sein, dass sie bewusstlos hatte werden lassen. Deshalb hatte er diesen schrecklichen Alptraum gehabt, er würde jämmerlich im Sumpf versinken. Aber wieso hatte man ihnen einen Schlaftrunk gereicht? Was hatten sie verbrochen? Sie hatten nur diese Kisten geschleppt. Die Kisten...
Was war in den verdammten Kisten? Er rappelte sich auf, konnte in der Dunkelheit, aber nicht viel mehr ausmachen als schwarze Punkte, die vor seinen Augen tanzten. Irgendwo hatten sie eine Laterne gehabt, wenn er die finden und anmachen könnte.
Tastend stolperte er durch die Dunkelheit. Immer wieder drang Nikolais Stöhnen an sein Ohr. Offensichtlich ging es ihm wieder schlechter. Was war bloß in dem Wein gewesen?
Mit dem Fuß stieß er gegen etwas Weiches. Langsam bückte er sich und ertastete Stoff. Mit einer bösen Vorahnung fuhren seine Finger weiter über den Stoff, glitten über einen Gürtel mit Metallschlaufe. Hoffentlich war es nicht das, was er vermutete. Nun spürte er kalte Haut unter den Fingern, so kalt, dass er sich schütteln musste. Das war ein Hals, dann folgte das Gesicht. Ein Bart, Mund, Nase, Augen, Haare.
"Nein!", schrie er verzweifelt auf. Wieder berührte er das Gesicht und obwohl er wusste, dass Konstantin tot war, konnte und wollte er es nicht glauben.
Ein Gurgeln riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Nikolai.
"Sterbe...", hörte er ihn sagen. "Hilf, - Alexe..."
Es kam nichts mehr. Das Röcheln war erstorben. Für ihn bestand kein Zweifel, dass Nikolai genauso tot war wie Konstantin. Da er von Pawel nichts hörte, war dieser wahrscheinlich genauso tot wie die anderen beiden. Nur er war noch am Leben.
Wie lange noch?, ging es ihm durch den Kopf. Jeder Atemzug schmerzte ihn, als hätte er etwas Scharfkantiges verschluckt, das nun in seinen Eingeweiden herumschnitt.
Es musste doch einen Weg aus diesem Raum geben. Sie waren hineingegangen, dann musste man auch hinausgehen können.
Langsam, auf allen Vieren, kroch er über den Boden, stieß immer wieder an die Kisten, die sie transportiert hatten. Schließlich erreichte er eine Wand. Welche es war, konnte er nicht sagen. In der Dunkelheit hatte er jede Orientierung verloren. Vorsichtig tastete er sie ab, ging Meter um Meter vorwärts, doch so sehr er suchte, fand er keinen Weg nach draußen. Da waren nichts als Steine. Halt, an einer Stelle hatte er nasse Finger bekommen. Drang von oben her Wasser in den Raum? Er stand auf, seine Fingerspitzen ertasteten wieder feuchte Stellen. Aber nicht die ganzen Steine waren feucht, sondern nur vereinzelte Stellen. Mehrmals strich er über eine Stelle bis er sicher war, woran es lag. Das war Putz. Da hatte jemand Steine aufgeschichtet und diese verputzt.
Schweiß brach ihm aus, als er erkannte, was geschehen war. Man hatte ihnen Wein zu trinken gegeben, der mit Gift versetzt gewesen war. Nur bei ihm hatte es nicht gewirkt, nur bewusstlos gemacht, sodass er noch lebte. Man hatte ihnen vergifteten Wein gegeben, der mit einem Schlafmittel versetzt worden sein musste, damit sie im Schlaf starben. Als sie nicht mehr bei Bewusstsein gewesen waren, hatte man sie einfach eingemauert. Alles wegen dieser verdammten Kisten! Er konnte es nicht fassen. Diese Kisten verfluchten bedeuteten seinen Tod.
Angst überkam ihn, er würde jämmerlich verhungern und verdursten, eines qualvollen Todes sterben. Seine Kameraden hatten ein besseres Los gezogen als er. Sie waren tot und mussten nicht jämmerlich dahinvegetieren.
Er wollte nicht sterben, wollte leben! Verzweifelt versuchte er die Steine aus der Wand zu drücken. So sehr er sich dagegen stemmte, kein einziger Ziegel bewegte sich von der Stelle. Dafür bemerkte er, wie ihm immer wieder die Augen zufielen und er gegen eine bleierne Müdigkeit ankämpfen musste. Es fiel ihm schwer, weiter Luft zu holen. Als wäre alle Luft in diesem Raum verbraucht und kaum noch etwas da. Die Kopfschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Es pochte so heftig gegen seinen Schädel, als würde jemand mit dem Hammer auf seinen Kopf einschlagen. Er krümmte sich zusammen, wollte sich nicht dem Schmerz ergeben, der ihn nicht mehr klar denken ließ. Noch einmal stemmte er sich gegen die hochgezogene Wand, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Schwerfällig sackte er zusammen. Sein Körper schrie nach Luft.
Ich muss hier raus, war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor und langsam in ein anderes Leben hinüberdämmerte. Hatte sein Traum sich am Ende als Wirklichkeit erwiesen. Nur war er in keinem Sumpf in die Tiefe gezogen worden, sondern in einen Raum eingemauert worden. Es hatte kein Entkommen für ihn gegeben.
Leipzig, März 2013
Er sah sich noch einmal die Signatur auf seinem Notizzettel an, obwohl er sie bereits auswendig konnte. Dort war das Regal. Gleich würde er das Buch in Händen halten. Seine Finger zitterten vor Aufregung, als er mit ihnen die Signaturen durchging. Er stockte. Da war kein Buch mit der entsprechenden Nummer. Hatte er es übersehen? Noch einmal ging er Buch für Buch durch und konnte es nicht finden. Es war nicht da.
Das konnte, das durfte nicht sein. Wo war das Buch nur? War es falsch eingestellt worden? Rasch ging er die anderen Regalreihen durch, wurde auch dort nicht fündig. Wo mochte sich das Buch nur befinden? Durch das Rascheln von Seiten wurde er auf den anderen Besucher aufmerksam, den er nur kurz beim Eintreten registriert hatte. Er fuhr herum und sah auf dessen Tisch verschiedene Bücher liegen. Eines davon war möglicherweise das, was er suchte. Ob er hingehen und fragen sollte? Nein, das durfte er nicht riskieren. Er musste unerkannt bleiben. Aber was konnte er tun?
Nachdem er längere Zeit über das Problem nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Er würde warten müssen bis die Bibliothek schloss. Danach würde er sich das Buch ansehen können. Für ihn war es kein größeres Problem, nach Ende der Besuchszeiten in den Bibliotheksräumen umherzustreifen. Als Angestellter war es ihm möglich. Nur wie erklärte er den Kollegen, dass er noch weit nach Arbeitsschluss da war? Natürlich könnte er warten bis er für die Nachmittags- und Abendstunden eingeteilt war, aber laut seinem Arbeitsplan war das erst nächste Woche und so lange konnte er nicht warten. Er musste heute noch an dieses Buch kommen, um es aus dem Verkehr zu ziehen, falls es tatsächlich das beinhaltete, was er vermutete.
Es war nicht leicht gewesen, den ganzen Buchbestand seines Vorfahren zu rekonstruieren. Glücklicherweise waren in irgendeiner alten Kiste Rechnungen aufgetaucht, die den Verkauf der Bücher belegten. Danach war es erheblich leichter geworden, sie aufzufinden. Bisher waren sie in zwei Büchern fündig geworden. Leider hatten sie dort nicht gefunden, was sie vermutet hatten, sodass sie die Suche auf die restlichen Bücher ausdehnen mussten. Als Angestellter der Universitätsbibliothek war es Dirk Lesser ein Leichtes, die Kataloge zu durchsuchen. Einige Bestände seines Vorfahren waren tatsächlich hier in der Bibliothek gelandet. Die ersten Exemplare hatten sich allesamt als Nieten erwiesen, doch bei dem jetzigen Buch hoffte er mehr Glück zu haben. Und dann schien es jemand anderes für irgendeine Arbeit zu benutzen. Das konnte einfach nicht sein. So nah stand er vor seinem Ziel und dann so etwas. Dem würde er heute Abend nach Ende der Öffnungszeiten einen Riegel vorschieben. Das Buch bliebe so lange in seinem Besitz bis er sicher sein konnte, dass es enthielt, was er suchte, oder es ein weiterer Fehlgriff war. Er würde es in die Restaurierungswerkstatt bringen. Dort war es erst einmal sicher vor dem Zugriff von Fremden.
Bis zum Abend blieben ihm noch ein paar Stunden. Widmete er sich eben seinen fortlaufenden Arbeiten, falls er es schaffte, sich darauf zu konzentrieren. Das Buch würde ihm nicht weglaufen, aber er hätte bereits jetzt zu gerne gewusst, ob es tatsächlich enthielt, was er suchte.
Während er ging, warf er dem Besucher, der eifrig ein Werk durchblätterte, einen bösen Blick zu. Nur weil dieser Idiot es genommen hatte, konnte er es nicht einfach an sich nehmen. Er ballte die Hände zu Fäusten, als er merkte, wie die Wut ihn überkam. Jetzt nur nicht durchdrehen. Das Buch würde am Abend seines sein. Es gelang ihm, sich zu beruhigen. Er musste endlich lernen sich zu beherrschen und sich in Geduld zu üben. Geduld war etwas, das er einfach nicht besaß. Er wollte alles und zwar sofort. Verzögerungen kosteten ihn nur Nerven.
Nach Feierabend hatte er die Bibliothek für einige Stunden verlassen und war kurz vor Ende der Öffnungszeiten zurückgekehrt. Vollkommen unbehelligt war er in den Raum mit den alten Folianten zurückgekehrt. Ein leiser Zweifel überkam ihn kurz, als er die Regalreihe betrat, ob das Buch tatsächlich an seinem vorgeschriebenen Platz sein würde. Mit Erleichterung stellte er fest, dass es dort stand, wo es sein sollte.
Vorsichtig zog Dirk Lesser es aus dem Regal, kontrollierte noch einmal den Titel. Es handelte sich um die Bibel, die einmal der Familie seines Vorfahren gehört und die dieser veräußert hatte. Er schlug das Buch auf, betrachtete den Einband, tastete mit den Fingern das geleimte Papier ab. Er konnte auf dem vorderen Einband nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht hatte er beim hinteren mehr Glück.
Er legte das Buch auf dem Regal ab und öffnete es von hinten. Hier brauchte er nicht einmal mit den Fingern entlangfahren, da er das Ergebnis bereits mit bloßem Auge erkennen konnte. Für einen Laien sah es aus, als wäre beim Verleimen des Bandes mit dem Umschlag unsauber gearbeitet und Luft beim Verkleben eingeschlossen worden. Doch bei diesem Luftwiderstand handelte es sich um dünne Papiere, die zwischen Umschlag und Einband versteckt worden waren.
Er konnte einfach nicht anders und begann vorsichtig das Papier vom Umschlag zu lösen. Weit kam er nicht, denn die Arbeit war damals sorgfältig ausgeführt worden. Wenn er das Papier nicht einreißen wollte, musste er sich in Geduld üben und warten bis er an anderer Stelle die Möglichkeit hatte, das Papier professionell ohne Schaden zu lösen.
Das Buch würde er in die Restaurierungswerkstatt bringen, damit diese es entsäuern konnten. Der Zustand des Buches war nicht schlimm, auch wenn die Seiten leicht gewellt waren. Aber mit der Begründung, dass es entsäuert werden müsste, konnte er es problemlos aus dem Bestand nehmen, ohne dass es weiter auffiel. Glücklicherweise kannte er eine der Restauratorinnen. Wenn er ihr den Hinweis gab, dass der Einband sich löste und er wissen wollte, wie man so etwas vorsichtig vollständig löste, ohne irgendwelche Schäden anzurichten, würde sie ihm die Frage sicherlich beantworten. Was sollte sie hinter dieser harmlosen Frage auch vermuten?
Er würde das Buch mitnehmen und in seinem Büro einschließen, damit er es morgen früh gleich wegbringen konnte. Wahrscheinlich würde es noch einige Tage dauern bis er dann an die Papiere gelangte, aber so lange mussten die anderen sich eben gedulden. Er zerstörte keine alten Folianten, nur weil sie ein Geheimnis bargen. Wenn es gar nicht anders ginge, würde er nicht so zimperlich sein. Aber so gab es noch andere Möglichkeiten, die er nutzen würde. Glücklicherweise wusste niemand außer ihm und seinen Gesinnungsgenossen von diesen Tagebuchseiten, die ihnen den Weg zu etwas Wertvollem ebnen würden. Deshalb konnte er so langsam arbeiten, wie er wollte. Denn es gab keine Konkurrenz, die ihm etwas streitig machen würde.
Hamburg, März 2013
Da saß sie nun und wusste nicht, was sie tun sollte. Es würde ihr erster großer Artikel werden. Eigentlich sollte sie sich freuen, doch gelang es ihr nicht. Denn im Grunde genommen war sie nur der Ersatz, der es richten musste. Dennoch würde es ihre Bewährungsprobe sein. Wenn sie scheiterte, war es vorbei, dann war der Traum Wissenschaftsjournalistin ausgeträumt.
Nein, scheitern durfte sie keinesfalls. Dazu musste sie alles richtig machen, sich vorbereiten, Empfehlungsschreiben vorweisen, um schnellstens einen Termin zu bekommen. Denn der Artikel sollte ins nächste Heft. Das kam zwar erst in drei Monaten heraus, aber der Redaktionsschluss war bereits in zwei Monaten. Sie würde sich schon zu helfen wissen, wozu hatte man berühmte Freunde?
***
Das Laufwerk summte leise, las die Daten auf der SD-Karte aus und ein Programm übertrug die Bilder auf die Festplatte des Computers.
Ein soeben erstellter Ordner wurde angeklickt und danach erschienen viele kleine Bildchen auf dem Bildschirm. Alle zeigten ein und dasselbe Motiv: Einen Elefanten, der fröhlich in die Kamera sah. - Tausendschön.
Die Bilder mit der fröhlichen Dickhäuterin wurden nicht beachtet, sondern hinuntergescrollt bis einige wenige Dateien kamen, auf denen die Elefantin kaum anders aussah als auf den Fotos zuvor. Doch gerade diese erregten die Aufmerksamkeit der Betrachterin. Eines der Fotos erschien auf dem Bildschirm und füllte diesen aus. Nun ließ sich erkennen, dass die Elefantenkuh in sich gekehrt, traurig wirkte.
Dieses Bild und einige weitere waren aufgenommen worden, als die Dickhäuterin sich unbeobachtet fühlte.
Es zerriss der Betrachterin das Herz, ihre Elefantin so zu sehen.
"Ach, Socke, ich wünschte, dass ich dir helfen könnte. Leider habe nicht die Macht dazu, wenn auch das nötige Geld. Bloß deine Patin kann ich sein."
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre laut ausgesprochenen Gedanken.
"Stör ich?", fragte Karla zaghaft.
"Nein, komm rein", antwortete Isis, blinzelte aufgestiegene Tränen weg und rief eine Datei auf, die sie für ihr Seminar vorbereiten musste.
"Hast du dir wieder Fotos von Tausendschön angesehen?"
Karla war die gequälte, leidende Miene ihrer Freundin aufgefallen, die Isis nur zeigte, wenn sie an ihren Lieblingselefanten dachte oder sie sich Bilder von der Dickhäuterin ansah. Am Wochenende war Isis wieder in Belgien gewesen, was ihr Verhalten erklären würde. Zwar hatte der Zoo offiziell für die Besucher noch geschlossen, aber das galt nicht für Isis Just, Tausendschöns Patin. Diese konnte jederzeit ihre Elefantin besuchen. Ein Privileg, dass nicht jedem gewährt wurde.
"Mmh", murmelte Isis undeutlich und fügte barsch hinzu: "Was willst du?"
Erleichtert wagte sich Karla in den Raum vor. Wenn ihre Freundin diesen Ton an sich hatte, war die Welt wieder in Ordnung.
"Ich soll einen Artikel über alte Bücher schreiben", platzte sie heraus.
"Schön für dich, auch wenn mich wundert, dass sie gerade dir so was aufs Auge gedrückt haben. Du und dein Ebook-Reader seid kaum noch zu trennen." Misstrauisch beäugte Isis ihre Mitbewohnerin. Wer weiß, was sie mit alten Büchern meinte. Den Verdacht galt es erst einmal auszuräumen. "Willst du etwa über die Schriftrollen berichten oder über das Tagebuch des spanischen Priesters?"
"Nein, nein!", abwehrend hob Karla die Hände. "Den Ruhm kannst du gerne behalten, hast es schließlich gefunden. Ich wollte dich nur um etwas bitten. Du bist inzwischen so was wie eine Kapazität unter den Historikern, und da wollte ich dich fragen, ob du mir ein Empfehlungsschreiben ausstellen kannst." Nervös knetete die angehende Wissenschaftsjournalistin ihre Hände. Sie hatte ihre Bitte vorgetragen, was ihr nicht leicht gefallen war. Nun müsste ihr Gegenüber entscheiden.
Sprachlos sah Isis ihre Freundin an. Mit allem hatte sie gerechnet, nur damit nicht.
"Weißt du, ich soll mir alte Werke in der Leipziger Bibliothek ansehen, wie auch einen Blick in die Restaurierungswerkstatt werfen. Jedenfalls macht es sich besser, wenn ich so ein Empfehlungsschreiben vorweisen kann. Dann wirke ich wichtiger und werde auf einer unsichtbaren Warteliste nicht auf den vorletzten Platz gesetzt."
"Und wieso kommst du da zu mir?", wollte Isis wissen und warf nochmals einen misstrauischen Blick auf Karla. "Als studierte Ägyptologin und Archäologin habe ich mit mittelalterlichen Büchern nichts am Hut, auch wenn ich einige Seminare bei den Historikern belegt habe. Kann dir dein Praktikumskollege nicht helfen? Der war doch Historiker, wenn ich mich recht entsinne."
"Das geht nicht. Der Artikel war eigentlich Arnes Auftrag, aber dieser Idiot hat es vorgezogen, eine Stelle an der Uni Thüringen anzunehmen."
"In Erfurt?"
Bei Karla musste man immer noch einmal nachfragen, weil sie öfters Namen, Städte und Flüsse durcheinander brachte.
"Nein, die Uni Thüringen ist irgendwo in Süddeutschland. Hab mich selbst gewundert, dass dort eine Universität nach einem weit entfernten Bundesland benannt ist." Der angehenden Wissenschaftsjournalistin fiel noch etwas ein, was Arne ihr stolz erzählt hatte. "Da soll auch der zurückgetretene Papst gelehrt haben."
Der letzte Hinweis bestätigte die Vermutung der Ägyptologin. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen schüttelte sie leicht den Kopf. Ihre Freundin war immer für eine Überraschung gut.
"Tübingen meinst du. Na, da würde ich auch alles stehen und liegen lassen, wenn ich von dort ein Stellenangebot bekommen würde. Der Ruf dieser Uni geht weit über Deutschlands Grenzen hinaus."
"Siehst du, genau das hat sich dieser Blödmann auch gesagt. Und jetzt hänge ich da mit diesem Artikel - ohne Empfehlungsschreiben, ohne alles."
"Wieso rufst du diesen Arne nicht an und bittest ihn um diesen Wisch, wenn es dir so wichtig ist."
"Hab ich doch!", jammerte Karla und verengte im nächsten Augenblick ihre Augen zu schmalen Schlitzen. "Aber das Arschloch sagt, er hätte keine Zeit."
"Ach", Isis tat überrascht, "ich dachte, der würde dir aus der Hand fressen. Oder wie war das noch einmal?" Die junge Ägyptologin fixierte ihre Freundin, deren Gesichtszüge sich verhärteten. "Hast du nicht vor einiger Zeit so von ihm geschwärmt, dass du ihm jede Aufgabe aufs Auge drücken könntest und er würde es widerspruchslos ausführen? Ich glaube, mich an solch ähnliche Worte zu erinnern. Vielleicht trügt mich auch mein Gedächtnis."
Verärgert winkte Karla ab.
"Hör auf! Arne hat sich nicht so entwickelt, wie ich dachte."
"Weil er nicht auf dich angesprungen ist, verstehe."
Karla war überzeugt, Männer bezirzen zu können. Meist stimmte es, aber im Fall ihres ehemaligen Kollegen anscheinend nicht. Etwas Privates anfangen wollte sie mit den meisten nicht. Dazu passten sie einfach zu wenig zu ihr. Kurz ließen sie sich ertragen, mehr auch nicht.
"Quatsch! Für was hältst du mich? Für einen männermordenden Vampir?"
"Jedenfalls passte dein Ex-Praktikantenkollege in dein Beuteschema. Ein wenig langsam im Denken, nimmt dir niedere Arbeit ab, dazu noch höflich und zuvorkommend. Also der ideale Mann."
"Zum langweilen", fauchte Karla. "Aber nimm du ihn dir. Falls es mit Oliver nicht mehr klappen sollte, kannst du auf diesen Blödmann zurückgreifen. Seinen Namen kannst du dir leicht merken: Gibt nicht so viele, die Arne Kramm heißen."
Wütend starrte die angehende Wissenschaftsjournalistin ihre Freundin an. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und wartete nur auf ein weiteres Wort, das sie reizen würde. Isis allerdings erkannte die Gefahr, die sie selbst heraufbeschworen hatte.
"Gut, vielleicht bin ich zu weit gegangen", ruderte sie zurück. "Falls dem so ist, tut es mir leid. Ich war nur verwundert, weil nach deinen vorherigen Schilderungen das Verhalten deines Ex-Kollegen einfach nicht zu ihm passen wollte."
"Vergiss es." Isis merkte oft gar nicht, wie sie ihr Gegenüber mit Worten reizte oder verletzte. Das war etwas, was man bei ihr übersehen musste, auch wenn es einem nicht leicht fiel. Aber Karla war nicht gekommen, um über Arne Kramm zu reden, sondern weil sie ein wichtiges Anliegen hatte. Darauf musste sie sich konzentrieren. "Schreibst du mir jetzt ein Empfehlungsschreiben?"
"Schreib mir einen Text und ich unterschreibe. Bleibt allerdings eine Ausnahme. Wieso eine Chemikerin bei einer historischen Zeitschrift landet, ist mir wirklich ein Rätsel, noch dazu, wenn sie keine Ahnung von Geschichte und das Fach in der Oberstufe abgewählt hat."
"Da kann man sich reinlesen. Außerdem ist der ehemalige Grabungsleiter von Troja ebenfalls Chemiker."
"Schon gut, ist eben jeder Beruf für alles zu gebrauchen."
Kopfschüttelnd wandte die junge Ägyptologin sich wieder ihrem Computer zu. Sie hätte durchaus was anderes machen können, als in die Wissenschaft und Lehre zu gehen. Bloß hatte sie weder in die Familienfirma eintreten noch für irgendeine Zeitschrift Artikel schreiben oder in irgendeinem Museum versauern wollen. Sie brauchte das Spannende, das Abenteuer. Und dazu eignete sich nun einmal ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Theiding an der Freien Universität.
Karla wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie sah, wie Isis wieder die Fotos mit ihrem Lieblingselefanten betrachtete. Ihre Körpersprache, die hängenden Schultern, sagten alles. Sie trauerte wieder.
Kurz überlegte Karla, ob sie ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter legen und sie zu trösten versuchen sollte. Aber sie kannte Isis gut genug, um zu wissen, dass diese weder Mitleid noch Mitgefühl wollte. Sie machte immer alles unter sich aus. Aber wie lange würde ihr das noch gelingen? Man musste ein Auge auf die Ägyptologin haben, dass sie in ihrer Trauer nicht völlig versank. Oliver war keine große Hilfe, denn er mochte Tausendschön nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte.
"Nimm dir das mit Tausendschön nicht so zu Herzen. Sieh das Positive. Wenn du bei ihr bist, ist sie glücklich und wenn du gehst, freut sie sich darauf, dass du bald wiederkommst."
"Sie wird dort eingehen", erwiderte Isis leise, kaum hörbar. "Jeder, der Mala gut kannte, erkennt sofort, dass sie nicht mehr die ist, die sie einmal war. Sie versucht es zu vertuschen, wie es ihre Art ist, wenn sie genügend Aufmerksamkeit bekommt, aber mich kann sie nicht täuschen. Sieh dir ihre Augen an." Karla folgte der Aufforderung ihrer Freundin. Zwar wusste sie nicht, was es bringen sollte, denn Elefanten waren ihr fremd. Dennoch betrachtete sie das Bild und konnte seltsamerweise tatsächlich etwas erkennen. Die Augen der Dickhäuterin wirkten nicht mehr so fröhlich. Man konnte ihr ansehen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. "Tausendschöns Augen haben ihren Glanz verloren. Wenn die alte Socke dort weiter bleibt, wird sie nie die Sechzig erreichen, dann ist sie in wenigen Jahren tot. Ich weiß es und das fürchte ich."
Isis' Stimme hatte zu zittern begonnen. Auch wenn Karla das Gesicht ihrer Freundin nicht sehen konnte, war sie davon überzeugt, dass diese kurz davor stand zu weinen. Nun legte sie doch eine Hand auf die Schulter der jungen Ägyptologin, die sich sogleich versteifte. Sie wollte einfach nicht getröstet werden.
"Dann hol sie nach Hause, wenn du wirklich davon überzeugt bist. Schließe dich mit anderen einflussreichen Leuten zusammen und begründe deine Meinung mit den richtigen Argumenten, die jeder versteht. Nur so wirst du Tausendschön zurückholen können."
"Klar, am besten schreibe ich alle prominenten Twitter-User an, dass die alte Socke ihre Unterstützung braucht. Was denkst du, wie viele würden mir helfen?"
Schon an den Worten der Ägyptologin erkannte Karla, dass ihr Vorschlag nicht ernst genommen wurde. Aber gab es eine andere Lösung? Nein, sonst hätte Isis schon irgendetwas unternommen.
"Dann mach halt was anderes. Musst darauf aufmerksam machen, dass es ihr dort schlecht geht. Irgendwann wird man dir Glauben schenken."
"Vielleicht, aber nun lass mich allein und schreib mir ein Empfehlungsschreiben."
Damit du weiter in aller Ruhe trauern kannst, ging es Karla durch den Kopf, als sie ihre Freundin allein ließ.
Damals, als Isis die Neuigkeit erfahren hatte, dass die Dickhäuterin nach Belgien umgezogen war, die junge Ägyptologin benutzte nur das Wort abschieben, war sie in einen derartigen Weinkrampf verfallen, dass Mona und Karla fürchteten, sie würde daran ersticken. Isis hatte in ihre Bettdecke gebissen, am ganzen Körper gezittert und sich so allein und hilflos gefühlt. Niemand hatte es vermocht, sie zu trösten. Niemand hatte ihr den Schmerz und das Leid nehmen können.
Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte die Ägyptologin so geweint. Weder beim Tod ihres Bruder, bei der Scheidung ihrer Eltern noch beim Tod ihres Großvaters.
Die Tränen waren gekommen und wieder versiegt. Doch als Mala Tausendschön gegangen worden war, hatte sie nicht mehr aufhören können. Ihr Herz war gebrochen. Das liebste Wesen auf Erden, das ihr näher stand als jeder Mensch, hatte sie verlassen. Seitdem konnte Isis nachvollziehen, was in ihrem Urgroßonkel Pascal vorgegangen war, wie er sich gefühlt haben musste, als Bertha ihn für immer verließ, um in den USA ihr weiteres Leben als Zirkuselefant zu verbringen.
Die Ägyptologin war lange über den Punkt hinaus, an dem man trauerte. Die einen brauchten länger für die Verarbeitung als der Durchschnitt. Sie gehörte zu denen, die lange Zeit dafür brauchten.
Das Leben musste weitergehen; mit oder ohne Mala Tausendschön. Karla musste schließlich auch weiter arbeiten, obwohl ihr Schlattenschammes nicht mehr anwesend war. - Was für ein Vergleich!
Moskau, 15. September 1812
Was taten sie hier? Warum waren sie überhaupt in Russland? Freiwillig war es nicht geschehen. Wer wollte ein Leben als Soldat führen? Als kleiner Junge gab es nichts Schöneres als Krieg und einen tapferen Soldaten zu spielen, der alle Bedrängten aus ihrer misslichen Lage befreite und wegen großer Tapferkeit geehrt wurde. Aber wenn man tatsächlich ein Leben als Soldat führte, wurde man schnell eines Besseren belehrt. Die Illusionen, die man noch als Kind gehabt hatte, waren mit einem Atemzug verschwunden.
Es gab nichts Heroisches. Man versuchte den nächsten Tag zu erleben und nicht in irgendeiner Schlacht, einem unendlich langen Marsch unter schwersten Bedingungen oder bei einer Streiterei umzukommen. Es gab keine Stadt, die vor Eindringlingen geschützt und verteidigt werden musste. Sie selbst waren die Eindringlinge. Sie töteten und zerstörten. Vor ihnen musste man sich in Acht nehmen, wenn man sein Leben nicht frühzeitig beenden wollte.
Die Zeiten waren lange vorbei, als er als kleiner Junge Soldat gespielt hatte. Es kam ihm so vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Wie hatte er es damals nur freiwillig spielen können? Jedem Jungen sollte er verbieten, Soldat zu spielen oder sich zu wünschen, es einmal werden zu wollen, wenn er groß war. Sie alle wussten nicht wie entbehrungsreich das Leben ist, wenn man lebendes Futter für den Feind war. Sie wussten nichts davon, wie man stank, weil man wochenlang in seinen Kleidern ausharren musste und vor Dreck, Flöhen und Läusen starrte, bevor man sich endlich wieder einmal waschen konnte. Genauso wenig ahnten sie, wie man hungerte, fror und die anderen verfluchte. Nie war man allein, immer war jemand um einen. Einen Namen hatte man nicht, nur einen Rang. Man hatte zu gehorchen, Befehle auszuführen, ob man wollte oder nicht. Was war daran heldenhaft? Man versuchte bei einer Schlacht zu überleben, verlor irgendwann das Gefühl der Scham dafür einen Menschen töten zu müssen. Man kämpfte ums nackte Überleben, konnte es sich nicht leisten, vorher sein Gewissen zu befragen, ob es recht sei, was man tat. Entweder tötete man oder man war es selbst, der auf dem Feld zurückblieb und ein Ziel der Plünderer und Krähen wurde.
Das alles hatte er nie gewollt und dennoch war er jetzt hier. Nach einem monatelangen Marsch, den Feind immer in Sichtweite, so als trieben sie diesen vor sich her, waren sie endlich dort angekommen, wo dieser Despot hingewollt hatte. Sie hatten die Stadt erreicht, die zu seinem größten Triumph werden sollte. Nur bisher ließ dieser noch auf sich warten. Zum ersten Mal war etwas nicht so eingetreten, wie er es sich erhofft hatte.
Anstatt das der Korse, dessen Muttersprache nicht einmal Französisch war, seine Niederlage eingestand, harrte er hier aus, ließ wertvolle Zeit verstreichen, die sie längst noch tiefer ins Land hätten marschieren oder zum Rückzug hätten nutzen können.
Heute Morgen war er unter den Klängen der Marseillaise in der Stadt eingetroffen und hatte mit seiner Leibgarde den Kreml bezogen. Dort wartete er auf eine Botschaft des Zaren - bisher vergeblich.
Er glaubte nicht daran, dass Napoleon noch eine Nachricht geschickt würde. Bereits gestern Abend hätte ein Bote erscheinen müssen, als sie selbst vor den Toren der Stadt gestanden hatten und warteten, dass der Nachzug der russischen Armee endlich aus Moskau verschwand.
Der Korse war gescheitert, er wusste es nur noch nicht.
Dabei hatte der Korse schon wie der Sieger ausgesehen. Nachdem er die russische Armee immer tiefer ins Landesinnere zurückgedrängt hatte, hatten sich die Russen endlich der Schlacht gestellt. Bei Borodino kam es zu den blutigsten Kämpfen, die Napoleon je erlebt hatte. Besonders die deutschen Regimenter hatten hohe Verluste erlitten, vor allem die Kavallerie wurde bis auf einen kleinen Teil völlig vernichtet, sodass überlebende Reitersoldaten eine Kavallerie zu Fuß bilden mussten, weil es zu wenig Pferde gab. Man stelle sich das mal vor! Eine Kavallerie ohne Pferde! Unter diesen Korsen schien alles möglich zu sein.
Obwohl Napoleon klar gesiegt hatte, verkündete der Feldmarschall Kutusow einen russischen Sieg. Der Russe musste sich gedacht haben, niemand würde nachprüfen, was sich wirklich in der Pampa zugetragen habe? Es war gut für die Moral der russischen Truppen. Man kämpfte viel selbstbewusster, wenn man einen Sieg vorweisen konnte.
Mit großen Erwartungen waren Napoleons Truppen weiter gen Moskau vorgerückt. Aufgrund der Verkündung des Sieges von Borodino hatte man in Moskau keine Vorkehrungen getroffen, um die Stadt zu verlassen. Man fühlte sich sicher.
Doch als Nachricht kam, dass Napoleon sich der Stadt nähere, flohen die ersten Einwohner und brachten sich in Sicherheit. Sie wurden noch als Verräter und Feiglinge beschimpft, weil man zu dem Zeitpunkt annahm, dass die siegreiche russische Armee Moskau vor dem Antichristen, wie die russisch-orthodoxe Kirche Napoleon bezeichnete, verteidigen werde.
Moskau wurde aufgegeben. Dies geschah so spät, dass am nächsten Tag die französische Vorhut bereits in die Stadt einrücken wollte, während Moskau noch nicht vollständig geräumt war. Nach mehreren Verhandlungen, die Murat nicht persönlich führte, wurde entschieden, dass die französische Vorhut erst zwei Stunden, nachdem die russische Nachhut die Stadt verlassen hatte, in der Stadt einmarschieren würde.
Die russische Nachhut hatte sich nicht in Moskau befunden, sondern war erst kurz zuvor in die Stadt eingezogen. Am Horizont tauchte bereits die französische Kavallerie auf, was zu weiteren Verhandlungen führte. In der Zeit hatten sich beide Seiten tatenlos gegenüber gestanden.
Er hatte beobachten können, wie es bereits zu dem Zeitpunkt zu vereinzelten Bränden gekommen war. Heute Morgen hatte man diese unter Kontrolle gehabt. Wenn der Kaiser der Franzosen in Moskau einzog, durfte es keine Makel geben.
Gestern Abend hatten sie endlich in Moskau einmarschieren dürfen. Unter den vielen Soldaten hatten sich sein Bruder Thomas und er befunden. Sie kamen aus Sachsen und hatten bei Borodino mehr Glück gehabt als viele ihrer Kameraden. Im Gegensatz zu denen waren sie mit heiler Haut davongekommen und hatten nicht einmal einen Kratzer davongetragen.
Nun waren sie endlich in der Stadt, doch Moskau bot einen jämmerlichen Anblick. Fast wirkte die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner waren geflohen, hatten ein paar Bedienstete zurückgelassen, die auf die Häuser aufpassen sollten. Eine nutzlose Aufgabe, wie er fand. Denn früher oder später würde es zu Plünderungen kommen, obwohl es ihnen verboten worden war. Seine Kameraden würden schon irgendwelche Gründe finden, um einer Strafe zu entgehen. Und sie hatten eine Möglichkeit gefunden - das Feuer.
Bis jetzt hatte er nicht geglaubt, dass sie tatsächlich friedlich in Moskau einziehen würden. Sie hatten den gegnerischen Truppen direkt ins Gesicht sehen können, so nah waren sie ihnen gewesen. Schmähworte waren gefallen, auf beiden Seiten, aber kein einziger Schuss.
Er verstand immer noch nicht, warum Moskau nicht viel eher geräumt worden war. Es schien, als habe niemand damit gerechnet, dass Napoleon auf die Stadt des Zaren zuhalte. Die Russen hatten die Schlacht von Borodino unter erheblichen Verlusten verloren. Wie konnten sie annehmen, der Korse würde sich damit zufriedengeben? Napoleon würde erst von Russland ablassen, wenn er es sich einverleibt hatte, wie er es mit großen Teilen Europas getan hatte. Ob Zar Alexander I. da mitspielen würde und der Korse sich an dem großen Stück nicht verschluckte?
Die russische Armee war fort, aber ihre Verletzten hatten sie zurückgelassen. Wer den Rückzug behinderte, wurde zurückgelassen, um das eigene Leben zu retten. So war es in jeder Armee und selbst die einfachen Menschen oder die Tiere hielten sich daran. Wer sie aufhielt und dadurch ihr eigenes Leben gefährdete, wurde einfach zurückgelassen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Er wich vor einen Feuer zurück, das mitten auf der Straße loderte. Obwohl alle gestrigen Brände gelöscht sein sollten, brannte es immer noch an einigen Stellen in der Stadt. Entweder waren nicht alle gelöscht worden oder seine sogenannten Kameraden hatten neue Feuer entfacht. Diesem ungehobelten Haufen konnte man alles zutrauen, besonders den Franzosen unter ihnen, die glaubten, sie könnten sich alles erlauben, weil sie zur siegreichen Nation gehörten und die anderen alle Verlierer waren, die man zwangsrekrutiert hatte.
Sie sollten sich in Moskau nicht allzu lange aufhalten. Am besten wäre der Rückzug. Der groß angekündigte russische Winter würde bald vor der Tür stehen. Aber dieses Ungeheuer schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen. Harrte einfach nur aus und wartete darauf, dass der Zar sich bequemte, ihn sprechen zu wollen. Da könnte er bis zum Sankt Nimmerleinstag warten, aber Alexander würde nie kommen. Warum gab er nicht einfach zu, dass er zu viel gewollt hatte und gescheitert war? Eine Niederlage einzugestehen, kam für den Bezwinger Europas natürlich nicht in Betracht. Es würde Schwäche bedeuten und das konnte er sich nicht leisten.
So wie er keine Schwäche zeigte, verlangte er es auch von seinen Soldaten, selbst wenn diese überhaupt nicht gewillt waren für ihn zu kämpfen. Was hatte er mit diesem Ungeheuer zu tun?
Er hatte nicht einmal für ihn kämpfen wollen, aber hatte das Napoleon oder irgendjemand anderen interessiert? Wer im richtigen Alter war, wurde rekrutiert, ob er nun wollte oder nicht. Jeder hatte in der Grande Armée zu kämpfen, denn diese brauchte ständig Nachschub, um ihre Verluste aufzufüllen. Frankreich gab das nicht alles her, irgendwann wären dort die Ressourcen erschöpft gewesen, deshalb bediente man sich der jungen Männer in den Dörfern, Orten, Städten der Länder, die erobert worden waren. Gefragt wurde niemand, sondern einfach in eine Uniform gesteckt. Wer sich wehrte, gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrte, der musste mit strenger Bestrafung rechnen. Sobald man irgendwie erfasst war, konnte man nichts mehr tun, war einer unter vielen und konnte nur hoffen, dass man die nächste Stunde, den nächsten Tag oder die nächste Woche überlebte.
Jetzt waren sie hier in Moskau, hatten den Marsch durch Russland überlebt, um sich anschließend zu Tode zu langweilen. Einige konnten es nicht lassen, machten sich auf in die Stadt und gingen plündernd durch die Häuser. Davon hatte er sich immer ferngehalten, denn was brachte es, andere Menschen auszurauben? Sie hatten ihm genauso wenig getan wie er ihnen, also sollten sie unbehelligt bleiben und weiter ihren Tätigkeiten nachgehen. Was sollte er mit den ganzen Bildern oder sperrigen Gegenständen, die seine Zwangskameraden von ihren Touren mitbrachten? Das alles musste auf dem Rückweg transportiert werden. Dafür gab es kaum genügend Transportmittel und wenn der Winter anbrach, würden sie es überhaupt nicht mehr transportieren können. Er hatte gehört, dass der russische Winter die harten Wege aufweichen und zu einer schlammigen Masse werden ließ. Hoffentlich würde sich dieses Ungeheuer rechtzeitig zum Rückzug entscheiden, damit sie diesem Wetter entgingen. Aber je mehr Zeit verstrich und je näher der Herbst kam, desto mehr war er davon überzeugt, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden.
Er ging auch in die Stadt, aber nicht um zu plündern, sondern um sich die Zeit zu vertreiben. Dabei hatte er auch ein junges Mädchen gerettet, das von einem dieser widerlichen Franzosen geschändet werden sollte. Er hatte nicht lange nachgedacht, sondern sich auf den älteren und viel kräftigeren gestürzt. Nur dank seiner Schnelligkeit war es ihm gelungen, den anderen zu besiegen. Dieser war fluchend verschwunden, mit dem Wissen, dass er sich nicht über ihn beschweren konnte, weil auf Übergriffe auf die noch vorhandene Bevölkerung schwere Strafen standen. Die Moskauer sollten sie nicht als Feinde sehen, sondern als Freunde. Das war schwer, denn nicht alle hielten sich an die Regeln, eigentlich niemand. Jeder tat das, was er für richtig hielt. Einige wurden bestraft, aber die meisten kamen ungeschoren davon. Insgeheim war es wahrscheinlich auch so gewollt.
Das junge Mädchen war gleich geflohen, nachdem sie von ihrem Angreifer befreit war. Er hatte sich nicht einmal für das Verhalten seines so genannten Kameraden entschuldigen können.
Den Vorfall längst vergessen, streifte er einen Tag später wieder durch Moskau. Leider begegnete er dem Franzosen, der ihn sofort wieder erkannte. Das wäre alles kein Problem für ihn gewesen, wenn dieser, wie beim letzten Mal, allein gewesen wäre. Leider hatte er vier Kameraden dabei und alle fünf hatten dem Alkohol ordentlich zugesprochen. Wo sie den auch immer gefunden haben mochten. Sollten sie von einem ihrer Vorgesetzten betrunken angetroffen werden, würde das eine Strafe nach sich ziehen. Aber das schien die fünf nicht zu stören. Die waren noch schlimmer als alle anderen, hielten sich für was Besseres, weil sie Landsmänner des Korsen waren, als würde das ihre Schlechtigkeit wettmachen.
"Dich kenne ich doch", sagte der Franzose in seiner Muttersprache.
Er hatte keine Probleme ihn zu verstehen. Sie waren lange genug von Frankreich besetzt, dass die Sprache wie eine zweite Haut auf ihn übergegangen war. Er war damit aufgewachsen, hatte es in der Schule lernen müssen.
Der betrunkene Franzose ließ nicht locker, obwohl er so tat, als würde er ihn nicht kennen und achtlos an ihm vorüberging.
"Verdammt! Jetzt bleib endlich stehen! Du bist doch der, dem ich es zu verdanken habe, dass ich nicht zum Zuge gekommen bin. Hattest es wohl selbst auf die kleine Hure abgesehen und wolltest nicht teilen. Na, warte Bürschchen, dir werde ich zeigen, was du davon hast."
Er nahm die Worte nur noch verschwommen wahr, in seinen Ohren begann es zu rauschen. Was nun kommen würde, konnte er sich denken. Der Franzose und seine versoffenen Kumpane würden versuchen, ihn zu verprügeln. Dazu mussten sie ihn allerdings erst einmal erwischen.
Ohne darüber nachzudenken, was er tat und wohin er laufen sollte, begann er zu rennen. Die Franzosen fluchten laut und er hörte schwere Schritte hinter sich. Sie hatten die Verfolgung aufgenommen. Er bog um die nächste Ecke, lief die Straße hinunter, um dann rechts abzubiegen. Noch immer hörte er die Franzosen hinter sich, wie sie ihm Schmähworte zuriefen und ihm drohten. Davon ließ er sich nicht beirren, sondern rannte weiter, bog immer bei der nächsten Möglichkeit ab. Irgendwann musste er sie doch abgehängt haben. Schließlich kam er in ein Gebiet der Stadt, wo er noch nicht gewesen war und sich nicht auskannte. Er bog auf eine Straße ein, lief ein paar Meter, bevor er stoppte und seinen Fehler erkannte. Er war in einer Sackgasse gelandet. Gerade als er sich umdrehte, sah er seine Verfolger. Natürlich hatte er sie nicht abhängen können. Es wäre zu schön gewesen, wenn es ihm gelungen wäre. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um, wo er sich verstecken konnte. Aber es war zu spät, sie hatten ihn entdeckt. Lachend näherten sie sich ihm, während er langsam rückwärts ging. Irgendwann würde er die Mauer im Rücken haben, dann hätten sie ihn. Natürlich konnte er versuchen, gegen sie zu kämpfen. Aber fünf gegen einen war nahezu unmöglich. Sie würden ihn windelweich prügeln. Wenn er Glück hatte, waren seine Knochen am Ende nicht alle gebrochen. Warum hatte er nur nicht besser aufgepasst und war einfach zurück ins Lager gelaufen? Dort hätten sie ihm nichts antun können. Er hätte zu seinem Bruder laufen sollen. Der hätte gewusst, was zu tun war, um diesen Abschaum von sich fernzuhalten. Stattdessen war er immer tiefer in die Stadt hineingelaufen und war schließlich in dieser Sackgasse gelandet. Er hatte es nicht besser verdient. Nur hier sein Leben aushauchen? Er hatte nicht in Schlachten gekämpft, diesen elenden Marsch überlebt, eine verheerende Schlacht mit vielen tausend Toten geschlagen, um letztendlich in einem Kampf zwischen Kameraden zu sterben. So hatte er sich seinen Tod nicht vorgestellt.
Eigentlich war er viel zu jung, um sich überhaupt Gedanken übers Sterben zu machen, aber wer Napoleon als Soldat dienen musste, der machte sich zwangsläufig mit dem Gedanken vertraut, sterben zu müssen.
"Na, jetzt haben wir dich. Du wirst eine Lektion erteilt bekommen, die du nie wieder vergessen wirst", sagte einer der Freunde des Franzosen, der mit ihm eine Rechnung offen hatte.
Starr vor Schreck sah er, wie ein anderer ein Messer aus seiner Hose zog. Nun machte er sich keine Illusionen mehr darüber, was geschehen würde. Er würde hier sterben, wenn nicht ein Wunder geschah.
Im Stillen betete er, während seine Gegner immer näher kamen. Er selbst konnte nicht mehr zurückweichen, die Mauer hinderte ihn daran.
"Pst!", hörte er eine leise Stimme neben sich.
Seine Augen wanderten umher, aber er konnte nichts entdecken.
Wieder dieses Geräusch, aber jetzt erkannte er, woher es gekommen war. Links von ihm war eine Luke vor dem Haus angebracht, die ein kleines Stück geöffnet war. Dahinter verbarg sich jemand, der ihm anscheinend helfen wollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, wer sich hinter der Luke verbergen mochte, stürzte er dort hin, öffnete sie und verschwand in dem Loch. Er landete auf festgestampfter Erde, hörte das Grölen der fünf Franzosen leiser werden, als die Luke über ihm geschlossen wurde. Dunkelheit umfing ihn. Er sah nichts als Schwärze.
"Komm mit!", forderte ihn eine energische Stimme auf, die einer Frau gehörte. "Wir müssen weiter, sie werden gleich hier drin sein, dann müssen wir den Gang verschlossen haben."
Er spürte, wie eine warme Hand mit Schwielen an den Fingern nach ihm fasste. Als sie seinen Arm hatte, lief sie los und zog ihn mit sich. Anscheinend kannte sie sich hier unten aus, denn sie hatte keine Laterne dabei und lief dennoch sicher in der Dunkelheit, ohne einmal die Geschwindigkeit zu verringern.
Ein schwacher Lichtschein tauchte am Ende des Tunnels auf, als sie im Gang um eine Ecke gebogen waren. Sie näherten sich dem Licht. Als sie es erreicht hatten, waren sie in einem anderen Raum angekommen. Die Fackel brannte so hell, dass ihm die Augen schmerzten. Mit dem Arm schirmte er den hellen Glanz der Fackel ab. Danach ließ sich das Licht ertragen und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit.
Staunend sah er zu, wie die Frau, nein, es war ein Mädchen... Das junge Mädchen, das er vor dem Franzosen gerettet hatte. Wie hatte sie ihn gefunden? Woher wusste sie, dass er in Schwierigkeiten war? Wie konnte sie ihn vor seinen Verfolgern retten?
Sie schloss die Tür, die den Gang mit diesem Raum verband. Anschließend wuchtete sie drei schwere Holzfässer vor die Tür. Es schien sie keinerlei Anstrengung zu kosten.
"Hilf mir!", forderte sie ihn auf und deutete auf weitere Fässer in der anderen Ecke des Raumes. "Wir müssen sie alle dicht zusammenstellen, dann können sie die Tür nicht aufbrechen."
Noch während sie ihm erklärte, warum er das tun sollte, machte er sich mit seinem ersten Fass auf den Weg. Wie leicht das bei ihr ausgesehen hatte. Ihm machte schon dieses Probleme, dabei war es gerade mal sein erstes.
"Schneller!", rief sie und er versuchte ihren Befehl zu befolgen. Stolpernd brachte er das Holzfass auf seine richtige Position.
Während sie zügig ihre Arbeit verrichteten, polterte etwas gegen die Tür. Er schreckte auf, doch sie forderte ihn mit stummen Gesten auf, dass er weitermachen sollte.
Er hörte, wie sich jemand gegen die Tür warf, aber die Holzfässer hielten der Wucht der Masse aus. Stumm machten sie mit ihrer Arbeit weiter bis alle Fässer so vor der Tür aufgereiht waren, dass diese nur noch durch eine Axt geöffnet werden konnte.
“Komm weiter", sagte das russische Mädchen und zog ihn mit sich. Sie hatte die Fackel aus der Halterung genommen und leuchtete ihnen den Weg.
Es ging wieder durch einen Gang, der genauso lang wie der erste schien. Dieses Mal rannten sie nicht, sondern gingen schnellen Schrittes, sodass er die Möglichkeit hatte, den Gang genauer in Augenschein zu nehmen. Es roch feucht, wie es ihm vorhin schon aufgefallen war. Die Gänge waren aus Feldsteinen gemauert, der Boden nur gestampft. Waren das Kellergänge, die von Häusern als Lagerräume genutzt wurden? Aber wieso waren sie alle miteinander verbunden? War das damals beim Bau beabsichtigt worden? Welchem Zweck es auch immer dienen sollte. Jetzt rettete ihm diese Konstruktion das Leben.
"Hier rauf", sagte das Mädchen und deutete auf die Treppe. Sie war breit, wirkte aber steil. Wie man dort Dinge hinuntertragen sollte, ohne dass man sich verletzte, blieb ihm verborgen.
Langsam folgte er ihr nach oben. Sie kamen in einem kleinen Vorraum an, der düster und schmucklos war. Aber wo es einen Keller gab, musste ein größeres Haus drüberstehen. Wo war er hier? Fragend sah er sich um, konnte aber nichts entdecken, was Rückschlüsse auf die Besitzer schließen ließ.
"Hier sind wir sicher", sagte das Mädchen und führte ihn aus dem Raum in eine große Küche. Töpfe und Teller lagen verstreut herum, dass man den Eindruck gewinnen konnte, hier würde niemand mehr arbeiten. Doch der Herd bullerte und ein Topf stand auf einer Platte. Trotz des ganzen Chaos ging alles seinen gewohnten Gang.
"Wir sind nicht geplündert worden", stellte sie klar, als sie seinen fragenden Blick sah. "Das haben wir gemacht, falls Franzosen bei uns eindringen. Wenn sie sehen, dass bereits alles geplündert wurde, werden sie wahrscheinlich von diesem Haus ablassen. Bisher hat es funktioniert. Nur auf der Straße sollte man sich tagsüber nicht aufhalten."
"Nicht alle sind so wie dieser Kerl", erwiderte er. "Viele besitzen noch ein Gewissen, während die anderen durch die Schlachten bereits abgestumpft sind, dass sie nur noch an ihren eigenen Vorteil denken. Es tut mir leid, dass du es am eigenen Leib erleben musstest."
"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler", sagte das Mädchen schnell. "Ich habe um das Risiko gewusst, dem ich mich aussetze, wenn ich tagsüber auf die Straße gehe. Aber ich musste nach einer Bekannten sehen. Sie war krank und niemand konnte sich um sie kümmern. Ich habe losgemusst."
Tränen schimmerten in ihren Augen, doch sie riss sich zusammen, weinte nicht.
"Schon gut, ist nicht schlimm", sagte er beruhigend und zog sie zaghaft an sich.
Im ersten Augenblick verkrampfte sie sich, doch dann entspannte sie sich und ließ ihn gewähren, dass er sie an sich gezogen hatte und ihr über den Rücken strich. Bevor er sich daran gewöhnen konnte, sie in den Armen zu halten, löste sie sich wieder von ihm. Sie wirkte wieder gefasst.
"Ich habe mich nicht bei dir bedankt. Du hast selbstlos gehandelt, obwohl der grobe Kerl viel stärker war als du. Er hätte dir etwas antun können."
"Er mag größer und kräftiger sein, aber er ist dumm. Ich hätte ihn nicht besiegen können, wenn er nicht so sehr von sich überzeugt gewesen wäre."
"Aber er ist gefährlich, deshalb habe ich dich weiter beobachtet, nachdem ich dir entwischt war. Ich wusste, dass er sich bei dir rächen würde, wenn sich ihm die Gelegenheit böte."
"Allein hätte er gegen mich nie etwas unternommen, außerdem war er genauso betrunken wie seine widerlichen Kameraden."
"Das hat ihnen die Angst und den Skrupel genommen. Sie hätten dich getötet."
"Ich weiß", sagte er nur und war überrascht, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er eher schockiert als gleichgültig hätte reagieren müssen. "Woher kannst du so gut deutsch?", wollte er schließlich wissen.
"Mein Großvater war ein bedeutender Gelehrter und hat sich in St. Petersburg mit seiner Familie angesiedelt. Es gab noch andere deutsche Familien, die alle hauptsächlich in St. Petersburg zu finden sind. Meine Eltern haben ihr Glück hier in Moskau gemacht. Das ist ihr Haus, wo wir sind. Ich bin nicht mit ihnen gegangen, als sie geflüchtet sind, sondern habe mich versteckt. Das ist mein Zuhause und das lasse ich mir von niemandem nehmen."
Ihre letzten Worte klangen beinahe trotzig.
"Dann danke ich dir dafür, dass du mich vor den anderen gerettet hast."
"Ich würde es immer wieder tun, selbst wenn es die andere Szene nicht gegeben hätte. Du hast ein gutes Herz, bist nicht wie all die anderen, die sich nur selbst bereichern wollen, die in jedem Fremden einen Feind sehen, die denken, dass sie sich einfach nehmen könnten, was sie haben wollen. Du hast noch ein Gewissen. Bewahre es dir."
"Ich habe nie in Napoleons Armee dienen wollen, aber sie haben mich geholt, bevor ich mich rechtzeitig aus dem Staub machen konnte. Ich hasse dieses Leben, muss gegen Menschen kämpfen, die mir nichts getan haben, denen ich nichts getan habe und dennoch versuchen wir uns gegenseitig umzubringen. Was ist das für eine Welt, wo ich gegen meine eigenen Freunde kämpfen muss, weil sie in einer anderen Armee dienen? Ich habe das alles nicht gewollt."
"Und dennoch bist du hier", sagte das Mädchen. "Das muss einen höheren Sinn haben."
"Was will Gott mir damit sagen? Dass Napoleon am Ende ist? Der Zar wird nicht kommen und mit ihm verhandeln. Wir stehen auf verlorenem Posten. Doch anstand umzukehren, harrt dieses Ungeheuer aus und sieht nicht ein, dass alles vergebens war. Lange können wir nicht mehr bleiben. Was gibt es hier denn? Nein, er muss endlich einsehen, dass er verloren hat und die Armee den Rückzug antreten muss."
Er hatte sich in Rage geredet, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er hatte genug davon ein Spielball des Franzosenkaisers zu sein, dem das Leben seiner Soldaten egal war. Hauptsache seiner Armee ging der Nachschub an jungen Männern nicht aus, dass er weiterhin an seiner Eroberungspolitik festhalten konnte.
Das Mädchen war vor ihm zurückgewichen. Ihr machte sein Gesichtsausdruck Angst, auch wenn diese Wut nicht ihr gegolten hatte. Als er sich dessen gewahr wurde, beruhigte er sich.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Nur wenn ich daran denke, dass ich jemandem dienen muss, der den Ernst der Lage verkennt, werde ich wütend. Napoleon ist nicht bei Sinnen. Er muss doch erkannt haben, dass er hier nichts mehr gewinnen kann. Warum bläst er nicht endlich zum Rückzug?"
"Du verdammst ihn, weil er nicht endlich einsieht, dass er nichts mehr ausrichten kann. Aber denk doch mal nach: Wenn er unverrichteter Dinge aus Russland verschwindet, ohne dass er dem Zaren klar gemacht hat, wer der starke Mann in Europa ist, kann er sich bei seinen Verbündeten nicht mehr sehen lassen. Man wird ihn auslachen. Diese Niederlage wird ihm auf ewig nachhängen. Er ist nicht mehr unbesiegbar."
"Du verteidigst ihn auch noch?", fragte er entrüstet.
Er rückte von ihr ab. Wie konnte sie so etwas tun?
"Nein! Nein, das tue ich nicht. Ich versuche dir nur zu erklären, warum du mit der Armee hier noch festhängst und nicht längst auf dem Weg nach Hause bist. Viel Zeit habt ihr nicht mehr. Der Winter rückt näher."
Das wusste er bereits und dennoch erschreckte es ihn aufs Neue, weil er es dieses Mal aus dem Mund von jemand anderem hörte als aus seinem eigenen.
"Du weißt es, ich sehe es dir an. Aber du kannst dir nicht einmal vorstellen, was der Winter anrichten wird. Anfangs werden die Wege kaum passierbar sein. Ich sehe schon, wie deine Kameraden ihr Raubgut zurücklassen müssen, weil die Karren sich im Dreck festfahren. Da haben sie sich überall bereichert, wo es ihnen möglich war, und dann können sie es nicht einmal mit in die Heimat nehmen. Wirklich schade. Zu Fuß wird es ein anstrengender Marsch werden, aber du bist kräftig, damit dürfte es dir keine Probleme bereiten."
Er sah durch ein Fenster und bemerkte, dass es draußen zu dämmern begonnen hatte. Wie spät war es? Er musste zurück ins Lager.
"Ich muss gehen", sagte er und wandte sich zu dem Raum, wo er die Haustür vermutete.
"Warte, ich werde nachsehen, ob die Straße frei ist. Zwar werden sich deine netten Kameraden sicherlich nicht hierher verirrt haben auf der Suche nach dir, aber wir sollten kein Risiko eingehen. Ich habe dich nicht vor ihnen gerettet, damit du nun vor meiner Haustür in ihre Finger gerätst."
Sie machte ihm ein Zeichen, dass er warten solle, durchquerte den Raum bis sie zur Haustür kam, öffnete diese einen Spalt breit und blickte nach draußen. Es war niemand zu sehen. Eine geradezu trügerische Ruhe herrschte. Davon ließ sie sich nicht täuschen und sah die Straße auf und ab, beobachtete jede Ecke aufmerksam, ob sich dahinter nicht jemand verbergen konnte. Als sie überzeugt war, dass niemand sich in der Nähe des Hauses aufhielt oder sich irgendwo versteckte, schloss sie die Tür wieder und holte ihn.
Ohne ein Wort des Abschieds schob sie ihn durch die Tür.
"Können wir uns wiedersehen?", wollte er noch von ihr wissen.
"Ich werde weiter ein Auge auf dich haben", erwiderte sie nur.
Er spürte einen leichten Hauch der Enttäuschung, dass sie so ausweichend geantwortet hatte. Über ihre weitere Gesellschaft würde er sich freuen. Neben seinem Bruder war sie der einzige Mensch in dieser Stadt, mit dem er vernünftig reden konnte.