Immortal Beloved (Band 2) - Ersehnt - Cate Tiernan - E-Book

Immortal Beloved (Band 2) - Ersehnt E-Book

Cate Tiernan

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Beschreibung

Seit ihrem ersten Tag auf River's Edge fühlt sich die unsterbliche Nastasja zu Reyn hingezogen. Doch ihre Liebe wird durch Nastasjas tragische Vergangenheit auf eine harte Probe gestellt: Sie erfährt, dass ihre Eltern blutrünstige Mörder waren. Nastasja fragt sich, ob sie überhaupt eine Chance hat, jemals die Dunkelheit in ihrem Wesen zu überwinden. Ihre größten Ängste scheinen wahr zu werden, als auf River's Edge plötzlich einige Dinge aus dem Ruder laufen. Nastasja ist überzeugt, dass sie es ist, die alles verursacht. Kann sie gegen ihr mächtiges und dunkles Erbe ankämpfen? Und hat ihre Liebe zu Reyn eine Zukunft? Die Immortal Beloved-Trilogie überzeugt mit einer fantastischen Geschichte, zeitlosen Charakteren und einer unsterblichen Liebe. Ein Muss für alle, die gerne Romantasy lesen! "Ersehnt" ist der zweite Band der Immortal Beloved-Trilogie. Der Titel des ersten Bandes lautet "Entflammt".

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1

Ich will dich.« Reyns tiefe, eindringliche Stimme schien von allen Seiten zu kommen. Was kein Wunder war, weil er mir ungemütlich dicht auf den Pelz rückte, als ich gerade dabei war, ein großes Glasgefäß mit Basmatireis aus dem Halbzentnersack nachzufüllen, den wir in der Vorratskammer aufbewahren.

Ist das zu fassen: »Wir.« Ich rede jetzt dauernd von »wir«, als würde ich wirklich nach River’s Edge gehören, in dieses Rehazentrum für gestrauchelte Unsterbliche. So eine Art Zwölfstufenprogramm. Nur dass es bei mir eher hundertelfundelfzig Stufen sein dürften. Ich war jetzt zwei Monate hier und hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, gut vierhundertfünzig Jahre schlechten Benehmens auszumerzen. Bestimmt noch ein paar Wochen. Wahrscheinlich so sieben oder acht Jahre. Oder länger. O Graus.

Ich drückte mich dichter an die große Platte des Küchentischs und hoffte nur, dass ich den Reis nicht überall hinschütten würde, denn Gott weiß, was für eine Schweinearbeit es ist, diesen Kleinviehmist wieder aufzusammeln.

»Du willst mich auch.« Ich konnte beinahe hören, wie er immer wieder die Fäuste ballte.

»Will ich nicht. Geh weg.« Willkommen bei der Freakshow, die sich Nastasjas Liebesleben schimpft. Es ist nichts für Leute, die zartbesaitet sind. Oder einen schwachen Magen haben.

Nastasja: C’est moi. Die nette Unsterbliche von nebenan. Allerdings ohne den netten Teil. Das muss ich ehrlich zugeben. Vor ein paar Monaten musste ich leider feststellen, dass ich mir mit meinem Partyleben das Gehirn so weichgespült hatte, dass von mir nur noch ein kläglicher, gefühlloser Rest übrig geblieben war, und da habe ich Hilfe bei River gesucht, einer Unsterblichen, die ich 1929 kennengelernt hatte. Und jetzt hockte ich hier im ländlichen Massachusetts und lernte, eins zu sein mit der Natur, der Magie, dem Frieden, der Liebe, der Harmonie und was nicht noch allem. Oder zumindest lernte ich, dem Drang zu widerstehen, mich kopfüber in einen Häcksler zu stürzen.

Es gab hier noch mehr Unsterbliche: vier Lehrer und zurzeit acht Schüler. Wie mich. Und Reyn, den Wikinger-Wunderknaben. Zum Beispiel.

Reyn: der Dorn in meinem Fleisch, der Albtraum meiner Vergangenheit, Mörder meiner Familie, ständiges Ärgernis meiner Gegenwart und – oh, ja – der heißeste, heißeste, wundervollste, umwerfendste Typ, den ich in den letzten vierhundertfünfzig Jahren getroffen hatte. Der, dessen Anblick mich heimsuchte, wenn ich zitternd in meinem kalten, schmalen Bett lag. Der, dessen glühende Küsse ich in Gedanken immer wieder durchlebte, wenn ich mich erschöpft und schlaflos herumwälzte.

Ach so, welche glühenden Küsse? Nun, vor ungefähr zehn Tagen war uns beiden quasi die Sicherung durchgebrannt und wir hatten der unerklärlichen Anziehungskraft nachgegeben, die sich seit meiner Ankunft zwischen uns aufgebaut hatte. Darauf folgte dann die ernüchternde Erkenntnis, dass seine Familie all meine Angehörigen ermordet und meine Familie wiederum einen Haufen von seinen Leuten auf dem Gewissen hat. Das ist unser gemeinsames Erbe. Und wir sind verrückt nach einander. Witzig, was? Ich meine, wenn man hört, dass sich andere Paare streiten, weil sie verschiedenen Religionen angehören oder einer der beiden Veganer ist oder so, kann ich nur sagen, Leute, stellt euch nicht so an, es gibt Schlimmeres.

Auf jeden Fall verfolgte mich Reyn seit unserer Knutschaktion/schrecklichen Erkenntnis mit der Ausdauer und Erbarmungslosigkeit eines Winterkriegers. Und doch hatte er sich nicht dazu durchringen können, abends an meine Tür zu klopfen – und das, obwohl er in seinem Leben schon Hunderte Türen eingetreten, aufgebrochen oder in Brand gesteckt hatte.

Nicht, dass ich das wollte oder wüsste, was ich tun sollte, wenn er es tatsächlich täte.

So in meine Welt geschleudert zu werden, ist ein bisschen viel auf einmal? Nun, so geht es mir jeden Morgen, wenn ich die Augen aufmache und feststelle, dass ich immer noch ich bin – und immer noch putzmunter auf Erden.

Draußen war das Spät-Dezemberlicht, so dünn und grau wie Abwaschwasser, bereits einer Dunkelheit gewichen, wie man sie nur noch auf dem Lande sieht. Wo ich mich befinde.

»Warum weichst du mir aus?« Normalerweise hielt Reyn seine Emotionen unter Verschluss. Aber ich wusste, wie er sein konnte – die ersten hundert Jahre meines Lebens hatten Reyn und sein Clan meine Heimat Island und den ganzen Norden Skandinaviens terrorisiert. Bekannt wurde er als der Winterschlächter. Damals wusste ich natürlich nicht, dass er es war. Nur, dass die Eindringlinge blutrünstige Wilde waren, die plünderten, raubten, vergewaltigten und Dutzende Dörfer niederbrannten.

Und jetzt schlief der Winter-Arsch zwei Zimmer neben meinem! Er arbeitete auf der Farm und deckte den Tisch fürs Abendessen und solche normalen Dinge. Das war echt gruselig. Und natürlich zum Dahinschmelzen. Aber ich hatte so meine Zweifel, ob seine derzeitige »zivilisierte« Seite wirklich echt war oder sich nicht womöglich auflöste wie billiges Make-up im Regen. Und dann würde der Berserker zum Vorschein kommen, von dem ich wusste, dass er irgendwo unter der Fassade tobte.

Ich füllte das Glas, stellte den Sack vorsichtig zurück auf den Tisch und schraubte den Deckel auf das Gefäß. Ich hatte schon einen ganzen Haufen schnippischer Bemerkungen auf den Lippen und noch vor zwei Monaten hätte ich sie auf ihn losgelassen, wie James Bonds Auto Nägel verschießt. Aber ich versuchte, erwachsen zu werden. Mich zu verändern. So klischeehaft das jetzt klingt und ungeheuer anstrengend ist es zu allem Überfluss auch – noch hatte ich nicht das Weite gesucht. Und solange ich hier war, musste ich mich bemühen.

»Ich weiche den Dingen gern aus«, sagte ich daher ehrlich.

»Du kannst nicht allem ausweichen. Du kannst nicht mir ausweichen.«

Er war mir so nah, dass ich durch das Flanellhemd seine Körperwärme spüren konnte. Ich wusste, dass unter dem Hemd seine harte, glatte, gebräunte Haut lag, Haut, die ich berührt und geküsst hatte. Ich verspürte ein fast unbezähmbares Verlangen, mein Gesicht an seine Brust zu pressen und mit den Fingern über die Brandnarbe zu fahren, von der ich wusste, dass er sie hatte. Die Narbe, die perfekt zu der Verbrennung auf meinem Nacken passte. Jene, die ich mehr als vier Jahrhunderte lang versteckt hatte.

»Das könnte ich, wenn du mich in Ruhe lassen würdest«, erwiderte ich gereizt.

Einen Moment lang war er still und ich spürte, wie er mich mit seinen goldenen Augen musterte. »Ich werde dich nicht in Ruhe lassen.« Versprechen? Drohung? Keine Ahnung.

Stimmen, die sich der Küche näherten, retteten mich davor, mir einen besseren Spruch ausdenken zu müssen.

Das Haus, River’s Edge, war früher ein Versammlungshaus der Quäker gewesen. Im Erdgeschoss gab es ein paar Büros, einen kleinen Arbeitsraum, ein Wohnzimmer, ein großes, schlichtes Esszimmer und diese etwas unzureichende Küche, die anscheinend in den 1930er-Jahren zum letzten Mal renoviert worden war. Bevor ich herkam, hatte ich in einer teuren, sehr angesagten Wohnung in London gelebt, von der aus man einen irren Blick auf Big Ben und die Themse hatte. Ich hatte einen Portier, einen Zimmermädchenservice und eine Catering-Küche direkt im Haus gehabt. Dennoch war mein Leben in River’s Edge irgendwie … besser.

Wie schon gesagt sind hier alle unsterblich und ein lustiger Haufen noch dazu. Na ja, nicht wirklich. Wenn man bedenkt, dass wir alle hier sind, weil unser Leben irgendwann total aus dem Ruder gelaufen ist. Es gibt übrigens wirklich eine River in River’s Edge. Sie ist die älteste Person, die ich je getroffen habe – geboren 718 in Genua, in einer Zeit, in der es dort noch einen eigenen König gab. Selbst unter Unsterblichen ist das – wow. Ihr gehört das Haus. Sie macht das Rehaprogramm mit den Unsterblichen, die mit ihren dunklen Seiten zu kämpfen haben, und sie ist so ziemlich der einzige Mensch auf Erden, dem ich halbwegs vertraue.

Ich bin übrigens vierhundertneunundfünfzig Jahre alt, auch wenn ich aussehe wie eine Siebzehnjährige (und anscheinend auch ihre Reife besitze). Reyn ist vierhundertsiebzig und sieht aus wie ein heißer Zwanzigjähriger.

Die Schwingtür wurde aufgestoßen und Anne, eine der Lehrerinnen, Brynne, Schülerin wie ich, und River kamen herein, lachten und redeten und hatten von der Kälte draußen ganz rote Wangen. Sie hatten Einkaufstüten dabei, die sie auf den verschiedenen Arbeitsplatten abstellten. Eigentlich produzieren wir einen Großteil unserer Nahrung selbst, aber einiges kauft River doch bei Pitson’s, dem Lebensmittelladen im Ort.

»Und ich habe sie gefragt, ob das ein Damenbart ist«, sagte Anne und die anderen lachten sich halb tot. »Wenn Blicke töten könnten, hätte sie mich erledigt.« River lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und wischte sich die Lachtränen aus den Augen.

Reyn murmelte etwas und verschwand durch die Küchentür nach draußen in die dunkle, eiskalte Nacht. Ohne Jacke. Nicht, dass mich das interessierte. Kein bisschen.

»Gott, so habe ich nicht mehr gelacht, seit –« River verstummte, als versuchte sie, sich zu erinnern. Ich nahm an, dass sie dachte, seit Nell (eine andere Schülerin hier) übergeschnappt ist. Sie hatte versucht, mich umzubringen, und musste schließlich mit magischen Beruhigungspillen versehen weggeschafft werden. Jedenfalls vermutete ich das.

»Ist er okay?«, fragte Brynne und deutete zur Tür. »Haben wir euch bei etwas gestört?« Plötzlich weiteten sich ihre braunen Augen neugierig. In der Nacht, in der Nell ausgeflippt war, hatte sie herumgekreischt, dass sie Reyn und mich dabei erwischt hätte, wie wir uns küssten. Ich hatte gehofft, dass die anderen es als irres Geschwafel einer Bekloppten abtun würden, aber ich hatte seitdem so viele bedeutsame Blicke kassiert, dass ich mir nicht einmal mehr selbst etwas vorlügen konnte.

»Nein«, antwortete ich mürrisch. Ich schleppte den Jutesack zurück in die Vorratskammer und stellte das Glas ins Regal.

»Es gibt große Neuigkeiten«, sagte Anne, die anscheinend nicht länger auf der Reyn-Geschichte herumreiten wollte. »Meine Schwester kommt zu Besuch!«

»Du hast eine Schwester?« Aus irgendeinem Grund verblüffte es mich immer, wenn ich Unsterbliche traf, die Geschwister hatten. Ich meine, natürlich gibt es viele, die welche haben. Aber allgemein dachte ich immer, Unsterbliche wären eher Einzelgänger – nach siebzig, achtzig Jahren hängt doch jedem seine Familie zum Hals raus, auch wenn sie noch so nett ist. Anne sah mit ihrem dunklen Pagenschnitt und den runden blauen Augen aus wie zwanzig, aber ich wusste, dass sie dreihundertvier war. Dreihundert Jahre waren eine lange Zeit, um den Kontakt zur Familie aufrechtzuerhalten.

»Mehrere. Und zwei Brüder«, sagte Anne. »Aber Amy ist mir altersmäßig am nächsten. Ich habe sie nun schon fast drei Jahre nicht mehr gesehen.«

Unsterbliche Schwestern, die sich nahestanden. Davon hatte ich noch nicht viele gesehen. Allmählich kam es mir vor, als hätte ich die letzten vierhundert Jahre eine Art Tunnelblick gehabt, ein vielseitiges, aber enges Leben geführt und bewusst entschieden, nicht genau hinzusehen und vieles nicht zu wissen.

Schließlich gingen Anne und Brynne nach nebenan, um den Tisch fürs Abendessen zu decken. River packte die Einkäufe aus und reichte mir die Sachen, die in den Kühlschrank sollten.

»Ist alles okay?«, fragte sie.

»Bedeutet ›okay‹ in diesem Zusammenhang dasselbe wie gequält, verwirrt, schlaflos und voller Angst?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Wenn ja, geht es mir prima.«

River lächelte mich an. Sie hat tausend Jahre Zeit gehabt, die Geduld zu entwickeln, die man für Leute wie mich braucht.

»Bin ich die schlimmste Person, die du jemals hier hattest?« Ich wusste nicht, was mich dazu bewogen hatte, diese Frage zu stellen. Es war nur – in vierhundertfünfzig Jahren kann man viele falsche Entscheidungen treffen. Sehr viele.

River sah überrascht aus. »Die Schlimmste in welcher Hinsicht?« Dann schüttelte sie den Kopf. »Ist egal. Wie immer du ›die Schlimmste‹ definierst, du bist es nicht. Bei Weitem nicht.«

Ich konnte mich kaum bezähmen und hätte zu gern gefragt, wer denn die schlimmste Person gewesen war und wieso, aber das würde sie mir ohnehin nicht sagen. Dann wurde mir klar, dass zum Beispiel Reyn viel abscheulicher war als ich, vermutlich sogar schlimmer als jeder andere Unsterbliche, der hier Heilung gesucht hatte. Reyn hatte ganze Dorfbevölkerungen abgeschlachtet, unzählige Leute versklavt, geplündert, geraubt und vergewaltigt. In vieler Hinsicht bin ich zwar der totale Loser, aber zumindest kann mir so was keiner anhängen.

Und doch war Reyn der, den ich wollte. Mehr als jeden anderen. Wenn es das Karma doch nur besser mit mir gemeint und mich nicht einfach mit einem Tritt in das unendliche Universum der Ironie befördert hätte.

»Anne hat also eine Schwester?«, fragte ich in dem peinlichen Bemühen, das Thema zu wechseln.

»Ja. Sie ist sehr nett, du wirst sie mögen.«

»Ich weiß, wieso ich keine Geschwister habe«, sagte ich und schlug schnell einen Haken um diesen Gedanken, »aber es kommt mir vor, als hätte ich bisher keine Unsterblichen getroffen, die Brüder oder Schwestern haben.« Ich erlaubte mir keine Prognose, ob ich Annes Schwester mögen würde oder nicht. Die meisten Leute mag ich nicht. Ich kann sie ganz gut ertragen, aber sie mögen? Das ist entschieden schwerer.

»Ich denke, du wirst feststellen, dass Unsterbliche, die unter vierhundert Jahre alt sind, eher Geschwister haben«, sagte River und wusch sich die Hände im Ausguss. »Die, die älter sind als vierhundert, haben meistens keine.«

»Wieso?«, fragte ich. »Du hast doch Brüder, oder?«

»Ja, vier«, sagte River. Sie sah mich an und ihr nahezu faltenfreies Gesicht wirkte nachdenklich. Sie strich sich eine silberne Haarsträhne aus der Stirn und zuckte mit den Schultern. »Für jemanden in meinem Alter ist das ungewöhnlich.«

»Wieso?«, fragte ich noch einmal. War das irgendein merkwürdiges Unsterblichen-Genetik-Ding?

»In früheren Zeiten«, sagte sie langsam, »hatten Unsterbliche die Angewohnheit, andere Unsterbliche umzubringen, um an ihre Kraft zu kommen.«

Meine Augen wurden groß. »Was?«

»Du weißt doch, dass wir hier Tähti-Magie betreiben, Magie, die nichts anderes zerstört«, sagte sie. Ich nickte. »Und du weißt, wie man Terävä-Magie macht, bei der man nicht seine eigene Kraft kanalisiert, sondern sich die von etwas anderem nimmt und es dabei zerstört.«

Ich nickte wieder. Diese ganze Gut-gegen-Böse-Geschichte. Alles klar. Das versuchte ich gerade zu lernen.

»Man kann diese Kraft von Pflanzen, Tieren, Kristallen … und Menschen nehmen.« Ihre Lippen waren fest zusammengepresst. »Du kannst die Kraft einem anderen entziehen und sie für dich selbst nutzen. Aber es bringt den anderen natürlich um. Oder Schlimmeres.«

Ich hätte wissen müssen, dass so etwas möglich war. Es kam mir blöd und irgendwie naiv vor, dass ich nicht von selbst darauf gekommen war. Aber das war ich ehrlich nicht.

River bemerkte mein verblüfftes Gesicht. »Du weißt, dass man uns töten kann«, sagte sie sanft.

Ein Schmerz durchfuhr mich, ein Schmerz, den ich gut kannte, der schon so lange zu mir gehörte, dass es mir ganz natürlich vorkam, ihn bei jedem Atemzug zu spüren. Ja, ich wusste es. Meine Eltern waren vor meinen Augen getötet worden. Ich hatte mit angesehen, wie meine zwei Brüder und zwei Schwestern geköpft wurden. Ich war über den Teppich gegangen, der mit ihrem Blut vollgesogen gewesen war. Also keine Geschwister. Ich versuchte zu schlucken, aber ich hatte einen Klumpen im Hals.

»Wenn ein Unsterblicher einen anderen tötet, kann er die Lebensenergie dieser Person nehmen und sie seiner eigenen hinzufügen«, fuhr River fort. »Und außerdem ist dann eine Person weniger da, die ihn womöglich zu töten versucht.«

Mein Atem kam jetzt in flachen Stößen und mein kurzer Abstecher in die Familiengeschichte schien alles zu dämpfen, was sie sagte. »Verstehe«, sagte ich und meine Stimme klang ganz dünn. »Das hat Reyns Vater also versucht, als er meine Familie umgebracht hat. Während Reyn auf dem Gang Wache gehalten hat.«

River war sehr ernst und strich mir über die Wange. »Ja.«

2

Ich glaube, River hat dieses Anwesen mit den verschiedenen Gebäuden und ungefähr fünfundzwanzig Hektar Land um 1904 gekauft. Wie die meisten Unsterblichen hatte sie sich unter einem bestimmten Namen niedergelassen, dann so getan, als würde sie sterben, und war als ihre eigene lange verschollene Tochter wieder aufgetaucht, um ihr Erbe zu beanspruchen. Alle Unsterblichen haben einen Haufen verschiedener Identitäten, Vergangenheiten, Pässe und so weiter. Wir haben ein Netzwerk hervorragender Fälscher und natürlich hat jeder seinen Favoriten, wie andere Leute ihren Lieblingsdesigner oder -friseur haben. Aber ich vermisse die Zeiten, in denen es noch keine Passfotos und Sozialversicherungsnummern gab. Heutzutage ist es echt schwierig, von einem Land zum anderen zu ziehen und sich immer wieder neu zu erfinden.

Mein Zimmer befand sich wie alle anderen im ersten Stock. Die Räume waren ziemlich spartanisch eingerichtet, nur ein Bett, ein Waschbecken und ein paar andere Dinge. Ich hatte gerade ein paar frisch gewaschene Sachen in meinen kleinen Schrank gestopft, als ich die Glocke fürs Abendessen hörte. Wie Tiere zur Futterzeit verließen wir alle unsere Zimmer und strömten nach unten. Auf dem Flur begrüßte ich meine Mitschülerin Rachel, die ursprünglich aus Mexiko kam und ungefähr dreihundertzwanzig Jahre alt war, und den Japaner Daisuke, der zweihundertfünfundfünfzig war. Jess, der erst hundertdreiundsiebzig Jahre auf dem Buckel hatte, aber viel älter aussah, nickte Reyn steif zu, als der gerade seine Zimmertür zuzog. Ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie Reyn dort schlief, dort in seinem Bett lag …

In dem großen, schlichten Esszimmer war der Tisch für zwölf Personen gedeckt. Auf der Anrichte aus Eichenholz standen die dampfenden Schüsseln, die auch in dem großen vergoldeten Spiegel an der anderen Wand zu sehen waren. Als ich mich hinter Charles, einem weiteren Schüler, einreihte, erhaschte ich im Spiegel einen Blick auf mich. Bevor ich herkam, hatte ich mich gestylt wie ein Goth aus den 90er-Jahren, mit stachligen schwarzen Haaren, dickem Augen-Make-up und so leichenblass wie ein Junkie. Total ironisch fand ich, dass ich jetzt ganz anders aussah als die letzten dreihundert Jahre – weil ich aussah wie ich selbst. Meine Haare waren von Natur aus weißblond, wie es bei meinem isländischen Clan üblich war. Mein ausgezehrtes Gesicht und mein dürrer Körper hatten etwas an Rundungen zugelegt und sahen jetzt gesünder aus. Ohne die farbigen Kontaktlinsen hatten meine Augen ihre dunkle, fast schwarze Originalfarbe. Ob ich jemals nicht mehr überrascht sein würde, wenn ich mich selbst sah?

Ich nahm einen Teller und stellte mich in die Schlange. Eine weitere Veränderung war meine Ernährung. Anfangs hatte ich bei dem einfachen Essen, das überwiegend aus unseren eigenen Gärten kam, das Gefühl gehabt, ich würde daran ersticken. Kein Mensch kann unbegrenzt Ballaststoffe in sich reinstopfen. Aber jetzt hatte ich mich daran gewöhnt – daran gewöhnt, das Grünzeug zu pflücken, auszugraben, zuzubereiten und zu essen, wann immer ich damit an der Reihe war, eines dieser Dinge zu tun. Natürlich hätte ich immer noch alles für eine Flasche Champagner und einen schön weichen Schokoladenkuchen gegeben, aber zumindest kreischte ich nicht mehr innerlich, wenn sie mir Grünkohl vorsetzten.

»Hallo allerseits«, sagte jemand und Solis (Lehrer) kam aus der Küche. Ich hatte gehört, dass er ursprünglich aus England stammte, aber wie die meisten von uns hatte er keinen erkennbaren Akzent. Brynne hatte mir erzählt, dass er ungefähr vierhundertdreizehn war, aber er sah aus wie Mitte oder Ende zwanzig. Asher, der am Ende des Tisches saß, war der vierte Lehrer und Rivers Partner – verheiratet waren sie aber wohl nicht. Er war ursprünglich Grieche und gehörte zu den Älteren, was bedeutete, dass er mit seinen sechshundertsechsunddreißig Jahren aussah wie Anfang dreißig. Die drei und River gaben ihr Bestes, uns alles über Kräuter und Kristalle, Öle und Essenzen, Zauberei und Magie, Sterne, Runen, Verwünschungen, Metalle, Pflanzen, Tiere und so weiter beizubringen. Im Grunde also über jedes verdammte Ding auf der Erde. Denn es war alles miteinander verbunden – mit uns, der Magie, der Kraft. Ich nahm erst seit fünf Wochen Unterricht und mein Kopf stand jetzt schon kurz vor dem Explodieren. Und das, obwohl ich – was mein Lernlevel betraf – sozusagen noch mit Bauklötzen im Kindergarten spielte.

»Solis!«, sagte Brynne und schwenkte zur Begrüßung ihre Gabel. Wie gewöhnlich trug sie eine farbenfrohe Kombination aus Kopftuch, Schal, Pullover, Overall und Arbeitsstiefeln. Ihrer großen, schlanken Modelfigur stand das Outfit perfekt. Sie war zweihundertvier und die Tochter (eines von elf Kindern!) eines amerikanischen Ex-Sklavenhalters und einer Ex-Sklavin.

Ich stieg vorsichtig über die lange Bank am Esstisch, um Lorenz nicht mit meinen knöchelhohen Chucks ins Kreuz zu treten. Ich hasste diese Bänke. Stühle. Was sprach denn gegen Stühle? River hatte irgendwo einen Kasten für »Ideen« aufgestellt, damit wir nützliche Vorschläge machen konnten. Ich hätte da so einige Ideen.

»Du bist wieder da!«, sagte Anne und küsste Solis erst auf die eine und dann auf die andere Wange.

Solis lächelte, was ihn mehr denn je aussehen ließ wie einen kalifornischen Surfertypen. Das dunkelblonde Haar umlockte seinen Kopf wie ein unordentlicher Heiligenschein und irgendwie hatten seine Bartstoppeln immer genau die richtige Länge – nie zu kurz oder zu lang.

Es folgte ein Chor aus Willkommensgrüßen und auch River küsste ihn zur Begrüßung.

Ich hielt den Kopf gesenkt und mampfte mich durch … Himmel, was war das? Kürbisauflauf? Wer dachte sich denn so was aus? Und wieso?

»Nastasja?« Solis’ Stimme ließ mich aufschauen, den Mund voll Mus, das ich einfach nicht schlucken konnte, weil ich fürchtete, dass mein Magen mich dann ewig hassen und zukünftig sogar gutes Essen verweigern würde.

»Mmh«, machte ich und würgte den Brei mit Mühe runter. Tut mir leid, Magen. »Hi.«

»Wie geht’s dir?«

Puh, was für eine Frage. Als er mich das letzte Mal gesehen hatte, hatte Nell gerade herumgekreischt, dass sie mich und Reyn beim Rummachen erwischt hätte.

Nell hatte Reyn geliebt. Jahrelang. Verzweifelt. Und er, der gefühllose Klotz, hatte es nicht gemerkt. Und dann waren Reyn und ich gewissermaßen – explodiert. Und das hatte Nell verrückt gemacht. Oder verrückter. Ich musste mir einreden, dass sie schon mit einem Arm in der Zwangsjacke gesteckt hatte, bevor ich nach River’s Edge kam.

Auf jeden Fall hatte Solis Nell zu einer Art Irrenanstalt für Unsterbliche begleitet. Doch jetzt war er wieder da und das brachte diesen ganzen grauenvollen und total peinlichen Zwischenfall wieder an die Oberfläche.

»Mir geht’s gut«, murmelte ich und trank etwas Wasser. Verstand ich schon genug von Zauberei, um es in Wein zu verwandeln? Oder noch besser in Gin? Vermutlich nicht.

»Freut mich«, sagte er und schüttelte seine Serviette auf.

»Solis«, sagte Charles. Mit den leuchtend roten Haaren, den grünen Augen, den Sommersprossen und dem fröhlichen, runden Gesicht fiel es ihm schwer, eine ernste Miene zu machen, aber er gab sein Bestes. »Wie geht es Nell?«

Ja, sprich es aus, Chuck. Tu dir keinen Zwang an. Wir blicken den Dingen ins Auge hier. Wir haben keine Angst vor unseren Gefühlen –

»Nicht gut«, sagte Solis und schenkte sich Wasser ein. »Sie ist vollkommen verrückt geworden. Aber in Louisettes fähigen Händen und mit den Heilern, die sie dort haben, wird sie wohl wieder gesund werden. Irgendwann.«

Charles schüttelte den Kopf – was für eine Schande, so ein nettes Mädchen –, dann aß er weiter.

»Meine Tante Louisette hat schon Menschen geheilt, denen es viel schlechter ging als Nell«, sagte River. »Nell weiß, dass wir ihr unsere guten Gedanken und Wünsche senden.«

Ich konnte es nicht lassen, schnell zu Reyn zu sehen. Sein Gesicht war ausdruckslos und sein Kiefer verkrampft. Er schob den Auflauf auf dem Teller herum, ohne etwas davon zu essen. Ich fragte mich, ob er sich wohl verantwortlich fühlte, weil er nicht gemerkt hatte, wie Nell sich nach ihm verzehrte. Wenn es so war, ließ er es sich nicht anmerken.

»Also, ihr Lieben. Ihr wisst es sicher«, sagte River. »Morgen ist Silvester. Es ist kaum zu fassen, dass schon wieder ein Jahr vorüber ist! Wir bilden morgen Nacht wie jedes Jahr einen besonderen Zirkel. Ich hoffe, dass ihr alle dabei seid – ich würde das neue Jahr gern mit euch zusammen begrüßen.«

Da gingen sie hin, meine Pläne, nach New York zu fliegen und mich am Times Square volllaufen zu lassen.

Ja, ich weiß, guter Scherz. Es war zwar ungewöhnlich für mich, aber ich wollte hier gar nicht weg, um mich mit Fremden zu betrinken und von Lichtern, Lärm und Chaos umgeben zu sein. Lichter, Lärm und Chaos waren das ganze letzte Jahrhundert meine ständigen Begleiter gewesen – wahrscheinlich waren sie ohne mich ziemlich einsam.

Aber vielleicht hatten sie auch gar nicht gemerkt, dass ich weg war. Vielleicht amüsierten sich gerade meine Freunde Innocencio, Boz, Katy, Cicely und Stratton mit ihnen. Ich hatte so lange mit denselben Leuten abgehangen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie nutzlos wir alle geworden waren. Ich hatte auch nicht mitbekommen, wie Innocencio das Zaubern gelernt und an den magischen Kräften gearbeitet hatte, über die jeder Unsterbliche in gewissem Maß verfügt. Und dann hatte Incy eines Abends seine Magie dazu verwendet, einem Taxifahrer, der uns blöd gekommen war, das Rückgrat zu brechen. Er hat ihm tatsächlich die Wirbelsäule gebrochen und ihn damit für den Rest seines Lebens gelähmt. Und obwohl er ein normaler Mensch gewesen und »der Rest seines Lebens« nicht mehr sehr lang war, war sein Leben doch von einer Sekunde auf die andere zerstört worden, nur aus einer Laune heraus. Dieser Zwischenfall hatte mir die Augen geöffnet. Um es gelinde auszudrücken.

Ich seufzte, schob meinen Teller weg und wünschte, ich hätte einen Käsekuchen in meinem Zimmer versteckt. Mini-Kühlschränke in den Zimmern. Ein weiterer sinnvoller Vorschlag für Rivers Zettelkasten.

Nach dem Essen sah ich auf den Plan mit den abendlichen Pflichten und hatte wie durch ein Wunder keinen Unterricht, keine Pflichten, gar nichts zu tun. Das passierte nur ein- oder zweimal pro Woche. Jippieh! Ich ging nach oben, nahm ein heißes Bad und rollte mich mit einem Buch über irische Kräuterheilkunde auf meinem schmalen Bett zusammen. Ja, ich weiß, ich kann nichts dagegen tun: Ich bin das totale Partygirl.

Schon bald war ich in die Wunder und Freuden von Augentrost, Mutterkraut, Schlüsselblume und Löwenzahn vertieft. Natürlich bin ich lange vor der Zeit der chemischen Arzneimittel geboren worden und Pflanzen waren die Hauptbestandteile unserer Hausmittelchen gewesen, ebenso wie Hirschblut, Spinnweben und Ähnliches. Aber die Wirkung der verschiedenen Pflanzen änderte sich, wenn man sie zu magischen Zwecken verwendete. Ich hatte noch so viel zu lernen!

Es war faszinierender Stoff und ich musste erst zwei- oder dreimal einnicken, bevor ich es aufgab und meinen Augen erlaubte, geschlossen zu bleiben. Ich war noch nicht ganz eingeschlafen – ich konnte durch meine geschlossenen Lider noch das Licht der Leselampe spüren und war mir vage meines kleinen Zimmers und der Dunkelheit draußen bewusst. Aber dann driftete ich davon, träumte und wachte in einem Wald auf. Vor ein paar Hundert Jahren standen überall Wälder, und um von Punkt A nach Punkt »Irgendwo Anders« zu kommen, musste man fast immer durch einen Wald gehen. Ich steh da nicht drauf. Gelegentlich mal ein Baum, klar. Ein Wäldchen, durch das man hindurchsehen kann, kein Problem. Aber keine Wälder. Die sind dunkel, die scheinen kein Ende zu nehmen, man kann sich unheimlich leicht darin verlaufen und sie sind voll von Geräuschen und flatternden Dingen und Ästen, die hinter einem knacken. Meiner Erfahrung nach meidet man sie am besten.

Aber hier war ich nun. Ich fühlte mich an wie ich, konnte mich gleichzeitig aber selbst sehen, so wie das in Träumen manchmal ist. Ich sah wieder aus wie vor River, mit schwarzen Haaren, schwarz geschminkten Augen und superdünn und blass. Das war jahrelang normal für mich gewesen. Rückblickend muss ich sagen, dass ich ausgesehen habe wie Edward mit den Scherenhänden, nur ohne die Scheren. Ich bekam sofort Angst und fühlte mich verloren, lief um Bäume herum und zwängte mich durch dichtes Gestrüpp, das mich ausbremste. Mein Gesicht und meine Arme waren zerkratzt und brannten. Auf dem Boden lagen dicke Schichten von altem Laub und es fühlte sich an, als liefe ich auf dem Mond.

Ich war verstört, wurde immer verstörter und suchte nach etwas. Ich wusste nicht, nach was. Ich wusste nur, dass ich es irgendwie finden musste und mir die Zeit davonlief. Ich hasste es, in diesem Wald zu sein, und versuchte, schneller zu laufen, was aber nur dazu führte, dass ich noch mehr zerkratzt wurde. Ich hatte längst die Hoffnung aufgegeben, jemals dorthin zurückzufinden, von wo ich losgegangen war. Ich rechnete auch nicht mehr damit, jemals wieder herauszukommen, aber es drängte mich vorwärts, suchend, und meine Angst und Anspannung wuchsen bei jedem Schritt.

Das Licht verblasste, die Zeit verging und als die Nacht hereinbrach, überfiel mich eine böse Vorahnung. Ich war den Tränen nahe und ziemlich hysterisch – ich sehnte mich verzweifelt nach einem Feuer, einem Freund, Hilfe. Aber ich konnte auch nicht stehen bleiben – etwas Schlimmes würde passieren, wenn ich stehen blieb. Und dann – da, links von mir! Es sah aus wie – es war ein Feuer! Ich eilte auf das Licht zu. Der anheimelnde Geruch des Holzrauchs zog mir durch die Bäume entgegen. Ich hörte eine Stimme. War das … Gesang? Es war Gesang. Ich zwängte mich durch ein paar stachlige Zweige und landete auf einer kleinen Lichtung, wo ein Feuer in einem Steinkreis wild flackerte.

»Nas.« Mein Kopf fuhr hoch, als ich die Stimme hörte. Es war die von Innocencio, meinem besten Freund der letzten hundert Jahre, der aus dem Dunkel des Waldes hervorkam.

»Incy! Was machst du hier?«

Er lächelte und sah überirdisch gut aus. Seine Augen waren so dunkel, dass sich die Flammen darin spiegelten. Ich starrte ihn an und war alarmiert, streckte aber trotzdem die Hände dem wärmenden Feuer entgegen.

»Ich habe auf dich gewartet, Darling«, sagte Incy mit einer Stimme, die so verführerisch war wie süßer Wein. »Komm, setz dich und wärm dich auf.« Er deutete auf einen großen umgestürzten Baumstamm am Rand der Lichtung. Ich wollte nicht – in mir schrie alles Lauf! Aber meine Füße trugen mich zum Baumstamm und ich setzte mich hin. Ich wollte nicht hier sein, hier bei ihm, aber das Feuer war so anheimelnd, so tröstlich.

»Du warst zu lange fort, Nasty«, sagte Incy. »Ich habe dich so vermisst. Das haben wir alle.« Immer noch lächelnd deutete er um sich und in der Hoffnung auf meine alte Truppe ließ ich den Blick suchend umherschweifen. Aber außer mir und Incy war niemand da und ich wollte gerade fragen, wieso.

Dann sah ich es. Das Feuer … da war ein Schädel im Feuer, mit verschmorten Fleischfetzen, schwarz verbrannt und fast von den Flammen verzehrt. Mein Mund öffnete sich zu einem entsetzten Japsen. Das Feuer war voller Knochen, es bestand aus Knochen. Ich wusste im Bruchteil einer Sekunde, dass es Boz und Katy waren – vielleicht auch Stratton und Cicely. Incy hatte sie alle umgebracht und verbrannte ihre Körper. Ich sprang auf, aber wieder lächelte Incy mich an: Er hatte mich. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Plötzlich spürte ich den widerlichen, beißenden Gestank von brennendem Haar und Fleisch in Nase und Mund. Ich hatte das Gefühl zu ersticken und fing an zu würgen. Ich konnte nicht atmen. Ich versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Ich wollte rennen, aber meine Füße waren buchstäblich angewurzelt – dicke rankende Wurzeln bedeckten sie, hielten mich fest und begannen, an meinen Beinen hochzuwachsen.

Klopf, klopf.

Ich würgte wieder und im nächsten Moment fuhr ich hoch und riss die Augen auf. Ich keuchte. Mein Blick war wild und mein Körper mit kaltem Schweiß bedeckt – in meinem Zimmer in River’s Edge.

Klopf, klopf.

Meine Hände waren zu Klauen verkrallt, meine Atmung gehetzt. Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Ich spürte Reyns Energie vor meiner Tür und war innerhalb von einer Sekunde auf den Beinen.

Ich holte ein paar Mal tief Luft, um mich zu beruhigen. »Was willst du?«, rief ich durch die Tür und bemühte mich, normal zu klingen. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade von einer Brücke gesprungen, und lehnte mich zittrig gegen die Tür. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker – es war fast zehn. Die meisten anderen waren inzwischen in ihren Zimmern und viele von ihnen schliefen schon. Unsere Tage begannen gottlos früh.

»Mach die Tür auf«, kam es halblaut von Reyn.

»Warum?«

»Mach sie einfach auf.« Er klang jetzt schon genervt. Allmählich hatte ich es super drauf, ihn zu reizen.

Aber ich hatte keine Angst vor ihm, und um das zu beweisen, öffnete ich die Tür und verschränkte die Arme. Und natürlich wurde mir genau da bewusst, dass ich mir die Haare nach dem Baden nicht gekämmt hatte und außerdem noch mit nassen Haaren eingeschlafen war. Vermutlich standen sie jetzt in einem wirren Haufen an einer Seite meines Kopfes ab. Verbunden mit meinem ungeschminkten Gesicht, den Kissenfalten auf der Wange und den überaus weiblichen Stricksocken, der langen Unterhose, dem Schal und einer Strickjacke gab ich garantiert ein Bild ab, wie es so noch keiner gesehen hatte.

Reyn neigte den Kopf zur Seite und sah mich an. »Bist du okay?«, fragte er. »Du siehst …«

»Hast du mich deswegen geweckt?«, unterbrach ich ihn. »Um einen Spruch über mein Aussehen abzulassen?« Es war eine echte Erleichterung, dieses sinnlose Gezicke mit dem Wikingergott. Auf jeden Fall um Längen besser als zuzusehen, wie der ehemalige beste Freund alle anderen Freunde im Wald verbrannte.

»Komm mit«, sagte Reyn. »Ich will dir was zeigen.«

Ehrlich gesagt hatte ich etwas Originelleres erwartet. »Echt?«, fragte ich spitz. »Das ist es? Das ist alles, was dir eingefallen ist?«

Er runzelte die Stirn, was ihn natürlich noch besser aussehen ließ. Reyn war kein hübscher Junge; sein Gesicht war eckig, der Kiefer kantig, der Mund hart. Seine Nase war ein bisschen krumm und hatte einen kleinen Höcker, wo sie wer weiß wie oft gebrochen war. Und er hatte sich genauso in Schale geworfen, um mich zu beeindrucken, wie ich: Jeans, an denen noch Heuhalme hingen, seine verkratzten Arbeitsstiefel, ein Flanellhemd, das so abgetragen war, dass der Kragen schon fast von selbst abfiel.

Ich hätte ihn am liebsten bei lebendigem Leib aufgefressen.

Okay, vergessen wir das. Verzögerter Schock.

»Ich meine es ernst«, sagte er und sah tatsächlich so ernst aus, wie man nur aussehen konnte. »Da ist etwas im Stall, das du sehen solltest.«

Meine Augen wurden groß. »Machst du Witze?«

Er seufzte ungeduldig. »Das ist kein Trick. Ich dachte, du würdest es gern sehen. Und es ist zufällig im Stall.«

Es war im Stall gewesen, wo wir uns das erste Mal geküsst hatten, wo sein Mund und seine Hände Nervenenden bei mir geweckt hatten, die ich längst für tot erklärt hatte. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, an seine harten Muskeln, sein Drängen, musste ich ein hörbares Wimmern unterdrücken.

Im Stall war uns auch bewusst geworden, dass wir eine grausige Vergangenheit teilten: Sein Vater, der Anführer des blutrünstigen Wikingerclans, hatte die Burg meines Vaters gestürmt. Sie hatten alle außer mir getötet – ich war vom toten Körper meiner Mutter verdeckt gewesen. Zuvor aber, kurz bevor sie selber getötet wurde, hatte meine Mutter Reyns Bruder mit ihrer Magie lebendig gehäutet und mein älterer Bruder hatte seinem Bruder den Kopf abgeschlagen. Und als sein Vater und einige andere später versuchten, das Amulett meiner Mutter zu benutzen, waren sie in Flammen aufgegangen. Reyn hatte mit angesehen, wie sie neben ihm zu Asche verbrannten.

Anne hatte mir erzählt, dass er schon fast dreihundert Jahre daran arbeitete, seine Berserker-Vergangenheit zu überwinden. Ich nahm an, dass mehr dazu gehörte, als hundertmal »Ich werde keine Dörfer mehr niederbrennen« an die Tafel zu schreiben.

Und er und ich hatten geknutscht wie liebestolle Kids von der Highschool.

Er seufzte wieder: Ich war eine solche Nervensäge. Dann sagte er: »Bitte.«

Oh, er benutzte fiese Tricks.

Ich stieß ebenfalls einen betont genervten Seufzer aus und zog Jeans über meine lange Unterhose. Ich sparte mir die Mühe, meine Turnschuhe zuzubinden, und wickelte mir nur den Schal enger um den Hals, als ich Reyn nach unten in die leere Halle folgte. Ehrlich gesagt war ich ganz froh, eine Weile aus dem Zimmer zu kommen, in dem ich immer noch einen Hauch von verbranntem Fleisch zu riechen glaubte.

Draußen war es feuchtkalt und meine Nase verwandelte sich in Eis. Ich hasste es, wie dunkel es hier war. Seit ich das erste Mal eine Stadt erreichen konnte, hatte ich immer in Städten gelebt. Doch hier waren wir schon nach zehn Metern von einer samtigen Schwärze umgeben, die sich über mich legte wie ein erstickender Vorhang. Ich rückte unauffällig näher an Reyn heran, denn irgendwie wusste ich, dass er mich trotz allem vor Trollen oder Landhaien oder tödlichen Ex-Freunden oder allem anderen beschützen würde, das nachts sein Unwesen trieb. Als wir endlich den Stall erreichten, hechtete ich förmlich durch die Tür und in die relative Wärme der nach Heu duftenden Luft.

Drinnen war es halbdunkel und still, nur gelegentlich bewegte sich ein Pferd in der Box. Es gab zehn Boxen, aber nur sechs waren mit Rivers Pferden belegt. Die Pferde zu putzen und ihre Ställe auszumisten, gehörte zu den Aufgaben, die ich am meisten verabscheute. Das hatte verschiedene Gründe.

Am Ende der Stallgasse blieb Reyn stehen. Die Boxentür war offen und er bedeutete mir hineinzugehen. Ich zögerte – wollte er mich da ins Stroh werfen? Ich hasste die Tatsache, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde ein so brennendes Verlangen verspürte, dass meine Finger kribbelten. Trotzdem wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte.

Dann hörte ich die leisen Geräusche.

Ich hob eine Braue und reckte den Kopf durch die offene Tür … Da sah ich River im Heu sitzen. Sie blickte zu mir auf, lächelte und legte einen Finger an die Lippen.

Molly, einer der Farmhunde, lag zusammengerollt im Heu und knurrte kurz. River sagte etwas Beruhigendes zu ihr.

Ich entdeckte einen, zwei … sechs kleine Wesen, die sich an Molly drängten. Welpen. Ich kniete mich neben River. Ich bin kein großer Hundefreund. Oder Katzenfreund. Oder Haustierfreund. Haustiere brauchen Pflege und verlangen, dass man an etwas anderes denkt als an sich selbst, und das habe ich schon vor Jahren aufgegeben.

Und dennoch. Sogar ich wurde ein bisschen weich angesichts dieser dicken Welpen mit den geschlossenen Augen und Ohren und dem Flausch auf den kleinen Schnauzen.

»Das hat Molly richtig gut gemacht«, sagte River und streichelte den Kopf der Hündin. Molly schloss die Augen; den Großteil der Arbeit hatte sie hinter sich.

»Die Welpen sehen gut aus«, bemerkte Reyn. Ich hatte fast vergessen, dass er da war.

»Ja«, bestätigte River. »Wir haben sie von einem Deutsch Kurzhaar decken lassen. Aber … diesen hier kann ich mir nicht erklären.« Sie zeigte auf den kleinsten Welpen, der darum kämpfte, unter einem größeren, kräftigeren Geschwisterchen hervorzukriechen. River zog ihn sanft unter dem Großen hervor und legte ihn ans Ende der Milchbar, wo er nicht zerquetscht werden würde.

Fünf Welpen sahen aus wie Miniatur-Mollys – einfarbig braune Köpfe, hellgraue Körper mit einem Hauch der braunen Punkte, die sie später bekommen würden. Aber der Kleine erweckte den Eindruck, er käme aus einem ganz anderen Wurf. Vielleicht sogar einer anderen Tierart. Er war dünn und langbeinig statt süß und knuddelig und ungefähr halb so groß wie der größte Welpe. Er war fast vollkommen weiß und hatte unregelmäßig verteilte rotbraune Flecke, die aussahen, als hätte jemand ein Glas Wein über ihm verschüttet.

»Das ist der Mickerling des Wurfs«, sagte Reyn. »Ist er missgebildet? Vielleicht eine Gaumenspalte?«

»Nicht, soweit ich sehe«, sagte River. »Armes kleines Mädchen. Es sieht so aus, als hätten nur die anderen in der Gebärmutter all die guten Sachen bekommen.« Sie streichelte den kleinen Welpen vorsichtig mit einem Finger. »Ist es nicht ein Wunder?«, murmelte sie. »Ich bin immer wieder überwältigt und staune jedes Mal aufs Neue über das Wunder des Lebens.« Sie wirkte verträumt und nachdenklich, ein unerwarteter Kontrast zu ihrer sonstigen energischen und humorvollen Art.

Dann schien sie wieder sie selbst zu werden und stand auf. »Das hat Molly gut gemacht«, sagte sie noch einmal und Mollys Schwanz pochte zweimal auf den Boden. »Ich sehe nachher noch mal nach dir. Ruh dich aus.« Noch ein Pochen.

Auch ich stand aus dem Stroh auf und wir gingen zu dritt wieder hinaus in die Kälte. River blieb in der Küche, um eine Brühe für Molly zuzubereiten, und Reyn und ich verzogen uns nach oben. Die Welpen zu sehen, hatte mich in eine merkwürdige Stimmung versetzt – fast wünschte ich, ich hätte sie nicht gesehen.

»Ich hatte immer Kampfhunde.« Reyns Stimme klang gedämpft, als wir die Treppe hochgingen. »Halb Wolf, halb Mastiff. Ich habe sie hungrig gehalten, damit sie angriffslustig waren. Dann schickte ich sie voraus und erledigte anschließend, was noch übrig war.«

Er erinnerte mich mit Absicht an seine Zeit als Berserker und die Wut darüber brachte mein Blut zum Kochen. Ich machte den Mund auf, um ihm etwas Bissiges, Verächtliches an den Kopf zu werfen – aber dann bremste ich mich. Wieso erzählte er mir das? Wollte er mir zeigen, wie weit er es gebracht hatte?

»Fehlt es dir?«, fragte ich. »Das Kämpfen, der Krieg, die Eroberungen?« Das war nicht bissig gemeint. Ausnahmsweise.

Wir blieben vor meiner Tür stehen. Der Flur war fast dunkel, nur ein paar kleine Lämpchen dicht über dem Boden spendeten ein mattes Licht. Es war still, nichts regte sich – ich konnte die ruhigen Muster der Schlafenden spüren.

Ein kaum wahrnehmbarer Anflug von Emotionen huschte über Reyns Gesicht mit den hohen Wangenknochen und mandelförmigen Augen in der Farbe von Altgold. Ich fragte mich, ob er mich anlügen würde.

Doch er sah weg, als würde er sich schämen. »Ja.« Er sprach so leise, dass ich mich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen. »Das ist es, was ich gelernt habe. Was ich am besten kann.« Er sah mich nicht an.

Ich stieg ein kleines Stückchen von meinem hohen Ross der Vorurteile runter.

»Wie lange ist es her?«, fragte ich.

Sein Blick traf kurz meinen, huschte aber schnell wieder weg. »Seit ich den Führungsanspruch über meinen Clan aufgegeben habe, dreihundertacht Jahre. Seitdem kein Morden und Brandschatzen mehr. Aber Krieg? Kämpfen? Zuletzt im Zweiten Weltkrieg.«

Anscheinend war mir meine Verblüffung anzusehen, denn Reyn wendete sich ab und ich konnte sehen, wie er rot wurde. »Jedenfalls dachte ich, du würdest die Welpen gern sehen.«

»Komme ich dir wirklich vor wie ein Mädchen, das auf Welpen steht?« Nachdem ich mich in den letzten paar Monaten so verändert hatte, wusste ich wirklich nicht mehr, wie andere mich sahen.

Reyn fuhr sich über die Bartstoppeln. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein. Keine Welpen, keine Häschen, keine Babys. Aber du musst das nicht alles aufgeben, weißt du.«

Alles klar, Zeit für mich, diese Diskussion zu verlassen. Ich griff nach meinem Türknauf, aber Reyns harte, warme Hand hielt mich auf. »Die meisten von uns wollen so etwas nicht haben«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Wir wollen keine Liebhaber, Kinder, Pferde haben. Kein Heim. Weil wir schon so viele verloren haben. Aber das alles aufzugeben bedeutet, dass die Zeit gewonnen hat – dass die Zeit dich geschlagen hat. Ich denke … ich könnte jetzt bereit sein, den Kampf gegen die Zeit wieder aufzunehmen. Vielleicht bin ich jetzt stark genug, um eine Chance zu haben.«

Reyn war normalerweise eher der schweigsame Typ. Aber das war fast ein Roman gewesen. Und es hatte viel über ihn verraten. Hatte er getrunken? Ich konnte keines der verräterischen Anzeichen dafür erkennen.

Mein Gehirn verarbeitete hastig, was er gesagt hatte, und wich elegant allen potenziell verfänglichen Bedeutungen seiner Worte aus. Ich hatte Panik vor dem, was er als Nächstes sagen würde.

»Dann … willst du dir also einen Hund anschaffen?«, fragte ich und entschied mich damit für die am wenigsten gruselige Option.

Er sah müde aus. Ihm in die Augen zu sehen, tat schon fast weh, aber ich würde ganz sicher nicht zuerst blinzeln. Er hob die Hand und ich schaffte es, nicht zurückzuzucken. Mit dem Finger strich er mir von der Schläfe bis zum Kinn, fast so, wie River den mickrigen Welpen gestreichelt hatte.

»Gute Nacht«, sagte er.

3

Die Einwohner im Örtchen West Lowing (5031 Einwohner, um genau zu sein) glauben, dass River’s Edge eine kleine familienbetriebene Biofarm ist. Was in gewisser Weise sogar stimmt. Die Tatsache, dass wir alle unsterblich sind und die meisten von uns daran arbeiten, über unser bedeutungsloses Leben in dunkler Endlosigkeit oder endloser Dunkelheit hinwegzukommen, ist etwas, das wir natürlich nicht überall rumtratschen. Das geht niemanden etwas an. Und wenn zufällig jemand vorbeikommt, sieht er nur ganz normal wirkende Leute im Garten arbeiten, Felder umpflügen, Hühner füttern, Holz hacken und Ställe ausmisten.

Man sollte meinen, dass diese wundervollen Outdoor-Aktivitäten für genügend Beschäftigung sorgen, aber einige von uns (vor allem ich) hatten außerdem die Auflage bekommen, einen Job in der wirklichen Welt anzunehmen. Asher hatte mir den Grund dafür erklärt, aber ehrlich gesagt war mein Gehirn nach den Worten »Job« und »Mindestlohn« nicht mehr besonders aufnahmefähig. Und als er dann noch so Sachen vorschlug, wie in der örtlichen Leihbücherei Bücher in die Regale zu stellen, hatte ich innerlich angefangen zu schreien.

Doch zur allgemeinen Überraschung arbeitete ich nun schon seit sechs Wochen bei MacIntyre’s Drugs an der Main Street von West Lowing. Der »Innenstadtbereich« der Main Street erstreckte sich über vier Blocks und bestand aus fünf leerstehenden Läden, einer geschlossenen Tankstelle, einem Futtermittelhandel, einem Lebensmittelladen, einer Imbissbude, einem Hotdog-Restaurant (da gab es tatsächlich nichts anderes) und dann noch der West-Lowing-Version von internationaler Küche in Form eines Restaurants mit chinesischen und arabischen Gerichten.

Also … in einem angesagten Shop in Manhattan Regale aufzufüllen, wäre schon schlimm genug. Aber ich füllte Regale in MacIntyre’s Drugstore im gottverlassenen West Lowing, Massachusetts, auf. Und damit nicht genug: Mein Boss war ein verbitterter alter Knacker. Er hasste mich und schrie pausenlos meine Kollegin – seine Tochter – an. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie er zu Hause mit ihr umsprang.

Aber das alles gehörte zu meiner Therapie: zu lernen, mit anderen auszukommen und zusammenzuarbeiten.

Als ich eine Minute vor Schichtbeginn die Ladentür aufstieß, putzte Meriwether MacIntyre bereits den Verkaufstresen mit einem Spray und einem Lappen.

»Hast du noch Weihnachtsferien?«, fragte ich und ging an ihr vorbei, um meine Jacke aufzuhängen.

»Ja. Noch zwei Tage«, sagte sie. Meriwether besuchte die Abschlussklasse der einzigen Highschool im Ort. Sie überragte mich um fast zehn Zentimeter und war eine der farblosesten Personen, die ich je getroffen hatte. Ihre Haare, die Haut und die Augen hatten im Grunde dieselbe aschbraune Farbe und sie hatte die Ausstrahlung eines misshandelten Kaninchens. Daran war garantiert ihr grässlicher Vater schuld.

Old Mac, wie ich ihn nannte, sah mich hasserfüllt an, als ich zur Stechuhr schlenderte und fünfzehn Sekunden vor Beginn meiner Schicht die Karte stempelte. Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und ging nach vorn, wo Meriwether und ich daran arbeiteten, den Laden ins 20.Jahrhundert zu zerren, wenn nicht sogar ins 21.

»Erst müssen wir die neue Ware einräumen«, sagte sie und zeigte auf die blauen Plastikkästen mit Produkten, die in die Regale mussten. Wir hatten angefangen, den Laden langsam umzuorganisieren, und die Waren logischer zusammengestellt, als der Großvater vom alten Mac es 1924 für sinnvoll gehalten hatte. Es war ein witziger Gedanke, dass ich den Großvater von Old Mac und seinen glänzenden neuen Laden hätte sehen können, wenn ich 1924 hier gewesen wäre – was ich natürlich nicht war.

»Guck mal hier.« Meriwether ging in die Hocke und zeigte mir mehrere neue Kartons: homöopathische Heilmittel. Ich hatte den alten Mann lange genervt, welche ins Sortiment aufzunehmen, weil die Kunden schon mehrfach danach gefragt hatten.

Ich presste die Hände aneinander und tat so, als würde ich vor Begeisterung in Ohnmacht fallen. Meriwether grinste.

»Wenn ihr Mädchen arbeiten würdet, statt nur rumzualbern, wärt ihr vielleicht euren Lohn wert!«, schrie uns MacIntyre durch den ganzen Laden zu.

Ich schnappte mir einen Karton mit Echinacea-Salbe, lächelte ihn bezaubernd an und zeigte ihm den hochgereckten Daumen. Seine Augen verfinsterten sich und er stürmte zurück in den Apothekenbereich, wo er die rezeptpflichtigen Medikamente aufbewahrte.

»Wie machst du das?«, flüsterte mir Meriwether ein paar Minuten später zu, als wir ein paar elastische Binden umräumten, um Platz für die neuen Sachen zu schaffen.

»Was?«, flüsterte ich zurück. »He, wir könnten die Sachen vielleicht alphabetisch sortieren, oder?«

»Ja«, stimmte sie mir zu. »Du weißt schon, wieso du nicht ausrastest, wenn mein Dad dich anschreit.«

Nun, im Laufe der Zeit hatte ich es oft genug mit blutrünstigen Nordmännern zu tun gehabt, von Wikinger-Berserkern und Kosaken ganz zu schweigen. Solange der alte Mac nicht vor meiner Nase jemandem mit einer Axt den Schädel spaltete, konnte ich gut mit dem umgehen, was er austeilte.

Aber das konnte ich im Leben nicht sagen.

»Vielleicht, weil er nicht mein Vater ist«, wisperte ich leise. »Es ist immer schlimmer, wenn es der eigene Dad ist.« Ich hatte meinen Vater verloren, als ich zehn war, also war das nur eine Vermutung. Aber es hörte sich logisch an. »Hast du schon große Pläne für Silvester?«

Meriwether lächelte, was sie so veränderte, dass ich verblüfft blinzelte. Sie nickte. »In der Schule ist ein Tanzabend«, murmelte sie. »Und mein Dad hat tatsächlich erlaubt, dass ich hingehe. Ausnahmsweise. Ich treffe mich vorher mit einer Freundin und wir wollen uns zusammen aufstylen, bevor es losgeht.«

Für mich hörte sich das so verlockend an wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel, aber sie sah glücklich aus und ich gönnte ihr die kurze Auszeit von ihrem Vater.

»Hast du einen Freund?«

Sie verzog das Gesicht. »Mich fragt keiner. Die haben zu viel Angst vor meinem Dad. Aber ich hoffe, dass dieser Junge namens Lowell da ist.« Sie atmete hörbar aus. »Und was ist mit dir?«, fragte sie. »Hast du Pläne?«

Ich nickte. »Aber nichts Besonderes.« Nur ein besonderer Zirkel mit einem Haufen Unsterblicher. Also das Übliche. »Ich werde mit ein paar Freunden zusammensitzen. Ich hoffe nur, dass ich bis Mitternacht durchhalte.« Da ich jeden Tag vor dem Morgengrauen aufstand, fiel ich gewöhnlich spätestens um zehn ins Bett. Das war … peinlich. Ich war mal viel cooler. Allerdings war diese Coolness auch mit dem Gefühl verbunden gewesen, halb irre und total wertlos zu sein. Also schätze ich, dass ich sie nicht sehr vermisse.

Ein Kunde kam herein und Meriwether bediente ihn. Ein paar Minuten später kam sie wieder und brachte die Plakate mit, die wir angefertigt hatten, um für die neuen Produkte zu werben. Ich habe nicht die geringste künstlerische Begabung, aber Meriwether hatte sich selbst übertroffen und kleine Figuren gezeichnet, die glücklich strahlend verschiedene Dinge in den Händen hielten, die sie gerade ergattert hatten. Ich hörte auf, Waren einzuräumen, und gemeinsam hängten wir die Poster mit doppelseitigem Klebeband auf. »Wie ist dein Dad so?«, fragte Meriwether plötzlich, als ich eine Ecke hochhielt, damit sie sie ankleben konnte.

Ich blinzelte. Das hatte mich seit … einer Ewigkeit niemand mehr gefragt. Wirklich lange. In Gedanken verglich ich meinen Dad, der ein düsterer, machthungriger König im mittelalterlichen Island gewesen war, mit dem alten Mac. Sie hatten nicht viel gemeinsam.

»Nun, er ist tot«, sagte ich und Meriwether verzog das Gesicht.

»Tut mir leid«, flüsterte sie.

»Schon okay. Es ist lange her.« Ha ha, du hast ja keine Ahnung, wie lange. Ich atmete aus und dachte einen Moment lang an meinen Vater. Normalerweise tue ich das nicht. »Ich weiß noch, dass er ziemlich unnahbar war«, sagte ich. »Meine Mutter hat mehr Zeit mit uns verbracht. Er war eher der strenge Typ.«

»War er in seinem Job viel unterwegs?« Sie drückte einen Klebestreifen fest und trat zurück, um unser kunstvolles Schild zu bewundern.

Ja, irgendwie schon, denn es ist schwierig, andere Dörfer vom Schaukelstuhl aus zu unterjochen und auszuplündern. Mein Vater war einer von diesen Königen gewesen, wie es damals viele gab – mächtige Männer, die über ein kleines Reich herrschten. In den ersten zehn Jahren meines Lebens hatte er die Fläche seines Reichs vervierfacht. Ich nickte. »Manchmal hat er uns Dinge beigebracht«, fuhr ich fort, obwohl ich nicht wusste, wieso ich es nicht einfach ließ. »Er war, äh, beim Militär und wollte, dass wir alle mutig und hart im Nehmen werden. Mein großer Bruder hat ihn verehrt.« Sigmundur hatte versucht, in jeder Beziehung so zu sein wie Faðir. Als er starb, war er sechzehn, aber schon ein erfahrener und harter Krieger.

»Hat er viel geschrien?« Meriwether nahm das letzte Schild und sah sich nach einem guten Platz dafür um. Ich zeigte auf die Vorderseite des Verkaufstresens und sie nickte. Wir gingen hinüber, um das Plakat festzukleben.

»Wenn er gebrüllt hat, kam es mir immer vor … als würde das ganze Haus wackeln«, sagte ich. »Die Leute, die für ihn gearbeitet haben, hatten Angst vor ihm.« Das wurde mir tatsächlich erst jetzt klar.

»Genau wie mein Dad.« Meriwether riss ein Stück Klebeband ab und drückte es fest.

»Stimmt.« Auf eine bizarre, unerklärliche Weise.

»In den Weihnachtsferien ist mein Dad schlimmer als sonst«, sagte Meriwether. Wir hörten, wie der alte Mac den Apothekenbereich verließ und in unsere Richtung kam, also verstummten wir schnell, trennten uns und konzentrierten uns auf unsere verschiedenen Aufgaben. Langsam drifteten wir wieder aufeinander zu und fuhren fort, Schachteln und Fläschchen in die Regale zu räumen.

»Du sagtest, dass es um diese Zeit war, dass deine Mutter …« Ich bin keine besonders sensible oder mitfühlende Person und es ist normalerweise kein Problem für mich, auf den Gefühlen anderer Leute herumzutrampeln. Aber ich mochte Meriwether und sie hatte bei Gott schon genug durchgemacht, auch ohne dass ich es noch schlimmer machte.

»Stimmt.« Meriwether konzentrierte sich darauf, alle Schachteln perfekt auszurichten. »Wir waren auf dem Rückweg von einer Weihnachtsfeier und die Straße war vereist. Mein Dad war nicht mitgekommen.«

»Du warst auch im Wagen?« Meine Güte. Dasselbe war mir in Frankreich auch passiert; an diesem Tag im Jahr 1929 hatte ich River kennengelernt. Aber die Person, die dabei ums Leben gekommen war, war praktisch eine Fremde gewesen, deren Tod mein Gewissen kein bisschen belastet hatte. Solche Sachen waren mir schon immer ziemlich gleichgültig gewesen – bis zu dem Taxifahrer vor zwei Monaten. Zu dem, was sie mir in River’s Edge beibrachten, gehörte es, die Dinge mit der angemessenen Intensität zu fühlen.

Meriwether nickte, ohne mich anzusehen. Ich kapierte es sofort: Sie fühlte sich schuldig, weil sie überlebt hatte. Und ihr Vater konnte sie nicht ansehen, ohne daran erinnert zu werden, dass seine Frau und sein einziger Sohn tot waren. Und sie nicht.

»Tut mir wirklich leid«, sagte ich und es war etwa das zweite Mal in meinem Leben, dass mir diese Worte über die Lippen kamen. Aber sie tat mir ehrlich leid – sie konnte in dieser Situation unmöglich gewinnen.

Ich musste daran denken, wie ich um 1650 in einem kleinen Dorf außerhalb von Neapel gelebt hatte. Eine der letzten Pestepidemien brach aus und die Leichen stapelten sich. Später habe ich gelesen, dass bei diesem Ausbruch die Hälfte der Bevölkerung von Neapel draufgegangen ist. Die Hälfte einer ganzen Stadt. Die Hälfte.

Mein kleines Dorf hatte es schwer erwischt. Meine Nachbarn starben, ihre Kinder starben, der örtliche Priester starb. Alles gute, freundliche Menschen, die in nur wenigen Tagen dahingerafft wurden. Am Dienstag hatte die Nachbarin noch im Garten gearbeitet und am Freitag ging man an ihrer Leiche vorbei, die auf einem Stapel anderer Leichen auf der Straße lag.

Aber nicht ich. So viele Leute, die viel besser waren als ich, sind damals gestorben, aber ich blieb stehen und konnte fröhlich meiner Wege ziehen, denn, hey, von meinem Dorf war nichts mehr übrig. Ich hatte überlebt. Immer und immer wieder.

Neben mir seufzte Meriwether und warf einen Blick in Richtung Apothekentresen.

»Es hätte mich treffen sollen, weißt du? Das wäre für jeden besser gewesen.« Sie raffte die leeren Kartons zusammen, um sie nach draußen zur Papiertonne zu bringen.