Immortal Beloved (Band 3) - Entfesselt - Cate Tiernan - E-Book

Immortal Beloved (Band 3) - Entfesselt E-Book

Cate Tiernan

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Beschreibung

Nur knapp ist Nastasja Incys Gewalt und damit dem Tod entronnen. Jetzt ist sie nach River's Edge zurückgekehrt, wo die zarten Bande zwischen ihr und Reyn wieder aufleben. Doch ihre Liebe ist nicht ungetrübt, denn schon bald tauchen Rivers mächtige Brüder auf, die nur ein Ziel haben: River vor Nastasja zu schützen. Die Vorwürfe Nastasja gegenüber häufen sich, als immer wieder Unsterbliche von Unbekannten angegriffen werden und klar wird, dass es einen Verräter in den eigenen Reihen geben muss. Ist Nastasjas und Reyns Liebe stark genug, um alle Anfeindungen zu überstehen und am Ende zu siegen? Die Immortal Beloved-Trilogie überzeugt mit einer fantastischen Geschichte, zeitlosen Charakteren und einer unsterblichen Liebe. Ein Muss für alle, die gerne Romantasy lesen! "Entfesselt" ist der letzte Band der Immortal Beloved-Trilogie. Die beiden Vorgängertitel lauten "Entflammt" und "Ersehnt".

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In Liebe für meine Leser.

1

Uppsala, Schweden, 1619

Vali! Vali! Wo bleibt das Mädchen?«

Als ich die Stimme meines Arbeitgebers hörte, hetzte ich aus dem Keller wieder nach oben.

»Hier!«, rief ich atemlos und stellte den schweren Kasten mit den Goldfäden auf den Tresen. Die Holztreppe, die in den Lagerraum unter dem Laden führte, war kaum mehr als eine Leiter. Ich hatte mir den Kasten unter den Arm geklemmt und mich mit der freien Hand festgehalten, um nicht kopfüber hinunterzustürzen. Mit der Zeit wurde ich so geschickt wie eine Bergziege, aber ich war erst einen Monat hier, und diese Stufen waren selbst für skandinavische Verhältnisse ungewöhnlich eng und steil. In Kombination mit den langen Röcken und Unterröcken jener Zeit war der Absturz beinahe vorprogrammiert.

Mein Arbeitgeber, Meister Nils Svenson, lächelte seinem Kunden zu. »Vali ist neu hier und muss erst noch lernen, wo alles ist.«

Ich deutete einen Knicks an und hielt den Blick gesenkt.

»Sie macht sich aber schon sehr gut. Nicht wahr, Mädchen?« Meister Svenson nickte mir wohlwollend zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf den Mann, der sich unschlüssig war, ob große Rüschenkragen wirklich aus der Mode kamen oder nicht.

Ich nahm einen Feder-Staubwedel und begann die Stoffballen abzustauben, die an zwei Wänden des Geschäfts lagerten. Mein Meister war einer der angesehensten Schneider von Uppsala und hatte stets die feinsten Stoffe vorrätig. Fein gewebte Wolle, die sich glatt anfühlte und in tiefen Edelsteintönen gefärbt war; weißes und farbiges Leinen in verschiedenen Qualitäten, von hauchfein bis hin zu den kräftigen Stoffen für Reithosen und Mieder; feine Seide aus dem Fernen Osten in schrillen Papageienfarben, die so exotisch waren, dass sie in diesem Land im November vollkommen fehl am Platz wirkten.

Die Silberglocke über der Eingangstür klingelte und eine sehr elegante Dame trat herein. Ich erkannte sofort, dass die türkisfarbene Straußenfeder, die von ihrem Hut herunterhing, mehr gekostet hatte, als ich in sechs Monaten verdiente.

»Da bist du, meine Liebe«, sagte der Mann und ergriff sanft ihre Hand, um ihr einen Kuss auf den Handschuh zu hauchen. »Entschuldige meine Verspätung.«

»Ach, das macht doch nichts«, sagte die Frau geziert. »Beende in Ruhe deine Geschäfte.« Sie schien auf ihren feinen Lederschuhen förmlich durch den Laden zu schweben. Einen Moment später stand sie in meiner Nähe. Ich wedelte mit dem Federbüschel und versuchte, ihren wundervollen zartgrauen Umhang mit den aufgestickten schwarzen Blumen nicht zu offensichtlich anzustarren.

»Was für ein exquisites Material«, murmelte sie und fuhr mit den Fingerspitzen über den pfirsichfarbenen Brokat, der durch die Silberstickerei schwer und steif war. Sie wandte sich an ihren Mann. »Schatz, du solltest dir wirklich eine Weste –«

Ich weiß nicht, wieso sie mich in diesem Augenblick ansah, aber sie tat es. Ihre blauen Augen glitten gleichgültig über mich hinweg, doch plötzlich hielt sie inne. Mein Gesicht schien ihren Blick anzuziehen wie ein Magnet. Sie verstummte mitten im Satz, die Augen weit geöffnet. Ihre Hand krallte sich in den Brokat, als würde sie ohne diesen Halt umfallen.

»Ja, Liebes?«, sagte ihr Mann.

Sie ließ den Brokat los und lächelte etwas gequält. Dann drehte sie den beiden Männern graziös den Rücken zu und sah mir wieder ins Gesicht.

»Du«, sagte sie so leise, dass die beiden es nicht hören konnten.

»Ja, Madame?«, antwortete ich beunruhigt. Und dann – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist mir heute noch ein Rätsel. Ich weiß nicht, woran wir es erkennen oder was es ist. Aber unsere Blicke trafen sich und da wussten wir es. Mein Unterkiefer klappte herunter und ich hätte beinahe laut aufgejapst.

Wir hatten einander als das erkannt, was wir waren: unsterblich. Seit fast fünfzig Jahren hatte ich keinen anderen Menschen getroffen, der so war wie ich – nicht in drei Ländern und acht Städten.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

»Mein Name ist Vali, Madame.«

»Woher kommst du?«

Die jahrzehntealte Lüge kam mir glatt über die Lippen. »Nóregr, Madame«, murmelte ich und hoffte nur, dass es in Norwegen tatsächlich Unsterbliche gab. Ich hatte jedenfalls keine getroffen, während ich dort lebte.

»Schatz?«, rief ihr Mann.

Nach einem weiteren durchdringenden Blick wandte sich die Frau von mir ab und kehrte zu ihrem Ehemann zurück. Kurze Zeit später gingen sie hinaus in den kalten, dunklen Nachmittag. Es war zwar erst halb drei, aber hier im hohen Norden war die Sonne natürlich längst untergegangen.

Ich stand da wie erstarrt und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, bis ich bemerkte, dass Meister Svenson mich beobachtete. Sofort fing ich wieder an, den Staubwedel zu schwingen.

Am nächsten Tag rief mein Lehrherr mich von dem Glaskasten mit den Seidenschleifen weg, die ich gerade neu ordnete.

Er wickelte etwas in braunes Papier ein, faltete es sorgsam und band es mit einer gewachsten Schnur zusammen. »Ich möchte, dass du das zu Madame Henstrom bringst«, sagte er. »Sie hat mehrere Stoffproben verlangt.« Er nahm seine Füllfeder heraus, tauchte sie in die Tinte und schrieb in seiner gebildeten, etwas schrägen Handschrift ihre Straße und Hausnummer auf das Paket. »Und nicht bummeln, Vali. Hier – kauf dir auf dem Rückweg etwas Süßes.« Er gab mir ein paar Kupfermünzen.

»Vielen Dank, Herr«, sagte ich. Er war wirklich ein freundlicher Mann und bis jetzt war es ganz angenehm, für ihn zu arbeiten.

Ich zog mir den Schal, den ich immer trug, fester um den Hals, warf mir meinen grünen Lodenumhang um und verließ eilig das Geschäft. Diese Madame Henstrom lebte etwa eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Ich wich dem Straßenschmutz aus, den Pferden und den Leuten, die sich vor den Geschäften der Hauptstraße drängten, und war wieder einmal froh, in einer Stadt zu wohnen und nicht mehr auf dem Land. Uppsala war mit Abstand die größte Stadt, in der ich seit Reykjavík gelebt hatte. Auf dem Land senkte sich die Dunkelheit um einen wie eine Metallglocke, die über eine Kerze gestülpt wird, still und unerbittlich. Aber hier hörte man sogar um Mitternacht noch gelegentlich das Klappern von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, das Schreien eines Babys und manchmal auch den etwas schrägen und lautstarken Gesang von Männern, die zu viel getrunken hatten. Und hier, in dieser Stadt, lebte mindestens noch eine weitere Unsterbliche.

Die Straßen waren verschlungen und ich landete mehr als einmal in einer Sackgasse und musste umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Ich ging so schnell ich konnte, vor allem, um mich warm zu halten, aber die feuchte Kälte kroch unter meinen Umhang und in meine knöchelhohen Stiefel. Als ich endlich die richtige Hausnummer gefunden hatte, war ich durchgefroren bis zu den Zehennägeln und bibberte vor Kälte.

Das Haus war groß und ansehnlich, erbaut aus braunen Ziegelsteinen mit einem Muster aus andersfarbigen Steinen und einem angedeuteten Türmchen. Es hatte drei Stockwerke und zur Eingangstür ging es mehrere steile Stufen hinauf. Ich schlug den Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfes mehrmals gegen das Holz. Die schwarz gestrichene Tür wurde fast augenblicklich von einer großen, kräftigen Frau in einer makellos weißen Schürze geöffnet. Sie hatte die geröteten und rauen Hände einer Dienstkraft, strahlte aber trotzdem eine gewisse Wichtigkeit aus. Also vielleicht die Haushälterin.

»Meister Svenson schickt mich«, sagte ich. »Mit Stoffproben für Madame.« Ich hielt ihr das Päckchen entgegen, aber sie öffnete die Tür weiter.

»Sie erwartet dich im Empfangszimmer.«

»Mich? Ich bin doch nur ein Lehrmädchen.«

»Geh schon.« Die Haushälterin deutete mit einer Kopfbewegung auf eine hellgrau gestrichene Doppeltür.

Drinnen saß eine Frau vor einem weißen Marmorkamin, in den Früchte und Girlanden eingemeißelt waren. Blaue und weiße Fliesen mit Schiffsmotiven umgaben den Feuerraum und ich hätte mich am liebsten davorgekniet, mir jede einzelne angesehen und dabei die Wärme des Feuers genossen. Aber stattdessen blieb ich verlegen an der Tür stehen, bis sich die Frau bewegte und ich ihr Gesicht sehen konnte. Mein Herz schlug sofort schneller: Es war die Frau aus dem Laden, die von gestern Nachmittag. Die Unsterbliche.

»Oh, gut – die Proben von Meister Svenson«, sagte die Frau. Sie hatte eine angenehme, wohlklingende Stimme. »Ich möchte, dass du wartest, während ich sie mir ansehe. Dann kannst du deinem Lehrherrn gleich mitteilen, wofür ich mich entschieden habe.«

»Ja, Madame«, sagte ich verblüfft.

»Danke, Singe«, sagte die Frau zu ihrer Haushälterin, die sich jedoch nur zögerlich entfernte. Offensichtlich machte sie die Anwesenheit eines gewöhnlichen Ladenmädchens im vornehmen Salon ihrer Herrschaft neugierig und empörte sie zugleich.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, winkte mich Madame Henstrom zu sich heran. »Entschuldige den Vorwand, aber ich konnte kein Lehrmädchen zu mir rufen«, sagte sie leise und ich nickte. »Du sagst, du kommst aus Nóregr?«

Ich nickte wieder. »Und Sie, Madame – woher kommen Sie?«, fragte ich kühn.

»Frankreich«, antwortete sie. Ich wusste damals so wenig über Unsterbliche, dass ich total schockiert war. Gab es überall welche? In jedem Land?

Ich war Anfang zwanzig gewesen, als ich erfuhr, dass ich unsterblich war. Davor hatte ich nicht den blassesten Schimmer. Schließlich war meine ganze Familie vor meinen Augen abgeschlachtet worden. Und da sie gestorben waren, würde ich logischerweise auch irgendwann sterben. Aber nach dem Tod meines ersten Ehemanns war ich mit achtzehn Jahren nach Reykjavík gegangen und hatte dort als Hausmädchen für eine große Mittelstandsfamilie gearbeitet. Es hatte sich herausgestellt, dass auch sie unsterblich waren. Die Hausherrin, Helgar Thorsdottir, hatte mir von unsereins erzählt. Ich war damals wirklich noch sehr jung und konnte die Vorstellung von einem ewigen Leben noch gar nicht begreifen. Das war vor fünfzig Jahren gewesen. Als die Zeit verging, erst langsam und dann immer schneller, kapierte ich es allmählich. Wenn ich in ein Stück poliertes Metall oder einen der seltenen echten Spiegel oder das stille Wasser eines Teichs oder einer Pfütze schaute, sah mich immer dasselbe Ich an. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Meine Haut war glatt und meine Haare, die zwar so hell waren, dass sie beinahe weiß wirkten, zeigten keine Spur von Grau. Ich sah immer gleich aus.

»Wie alt bist du?«, fragte Madame Henstrom. Sie bot mir weder einen Sitzplatz noch eine Erfrischung an; ich war schließlich nur ein Lehrmädchen.

»Achtundsechzig.« Ich flüsterte es beinahe. Schließlich sah ich aus, als wäre ich kaum sechzehn.

»Ich bin zweihundertneunundzwanzig«, sagte sie und ich machte große Augen. Sie lachte. »Aber du hast doch bestimmt schon Leute getroffen, die älter sind als ich.«

Ich hatte keine Ahnung, wie alt meine Eltern gewesen waren. Ich wusste auch nicht, wie alt Helgar und ihr Mann waren, obwohl ich aus einigen ihrer Bemerkungen geschlossen hatte, dass sie ungefähr achtzig gewesen war. Damals. Dann musste sie jetzt um die hundertdreißig sein.

»Ich glaube nicht. Ich habe noch nicht so viele andere getroffen.«

»Aber wir sind doch überall!« Sie lachte wieder und ein kleiner Spaniel, den ich bisher nicht bemerkt hatte, kam unter ihrem Stuhl hervor und sprang ihr auf den Schoß. Sie streichelte seinen seidigen Kopf und die flauschigen Ohren. »Frankreich und England. Spanien. Italien. Hier in Schweden«, sagte sie und deutete zum Fenster hinaus.

Ich wartete darauf, dass sie auch Island nannte, denn dort war ich geboren worden, aber das tat sie nicht. Ich kannte keines der anderen Länder, aber in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich sie eines Tages sehen würde. Bei dieser Erkenntnis stockte mir der Atem, denn ich sah eine Zukunft vor mir, die ich nie zu träumen gewagt hatte. In den letzten fünfzig Jahren war die Vorstellung, mehr zu sein als ein Dienstmädchen, Ladenmädchen oder eine Ehefrau, oder woanders zu leben als in diesen nördlichen Ländern, etwas so Vages gewesen, dass sie nie konkrete Formen angenommen hatte. Dasselbe galt für Fragen, die ich Helgar nie gestellt hatte, Fragen, die jahrelang in meinem Hinterkopf gewesen waren und die jetzt an die Oberfläche kamen und die ich kaum schnell genug loswerden konnte.

»Kennen Sie viele andere – Leute wie uns?«

Madame Henstrom lächelte. »Ja, natürlich. Eine ganze Menge. Auf jeden Fall diejenigen, die in Uppsala leben – deswegen war ich ja so überrascht, noch jemanden zu treffen, den ich bisher nicht kannte.«

»Ihr Mann?«

»Ein Sterblicher, leider. Ein guter Mensch.« Trauer breitete sich auf ihrem hübschen, zarten Gesicht aus und ich begriff sofort, dass er eines Tages sterben würde und sie nicht.

»Sind alle, die Sie kennen, so wie Sie?« Ich deutete mit einer Handbewegung auf die Damasttapeten, die Möbel, das Haus. Ich meinte reich und vornehm.

Sie hielt den Kopf schief und sah mich an. »Nein. Wir kommen aus allen Gesellschaftsschichten und unterscheiden uns auch in Bildung und Erziehung.«

Meine Eltern waren reich und einflussreich gewesen. Einst hatten wir eine der größten und prunkvollsten Burgen Islands besessen, erbaut aus gigantischen Steinblöcken mit echten Glasfenstern, mit mindestens vierzehn Zimmern und Wandteppichen. Außerdem hatten wir Dienstboten, Lehrer, Musikinstrumente und sogar Bücher. Als ich meine Kindheit verlor, verlor ich auch alles andere.

»Es ist eigentlich ganz einfach«, sagte Madame Henstrom, »wenn man sehr lange lebt, hat man viel Zeit zur Verfügung. Man kann sie nutzen, um sich weiterzubilden, in welcher Hinsicht auch immer. Und um Menschen kennenzulernen – einflussreiche Menschen. Man kann sich eine kleine Beschäftigung suchen und dabeibleiben, bis sie zu etwas Größerem heranwächst. Geld vermehrt sich im Laufe der Zeit. Also, zumindest solange man keine Dummheiten damit macht.«

»Ich habe kein Geld.« Eigentlich hatte ich das nicht sagen wollen, aber es war mir so herausgerutscht. Ich wurde sofort rot, denn es war ja nicht zu übersehen, dass ich arm war wie eine Kirchenmaus.

Madame Henstrom nickte mitfühlend. »Warst du jemals verheiratet?«

»Zwei Mal. Aber die beiden hatten auch nichts.« Ich wollte nicht an sie denken, nicht an den lieben ungebildeten Asmunder, mit dem man mich verheiratet hatte, als ich sechzehn war, und auch nicht an den widerlichen Kerl, den ich rund vierzig Jahre später für den Richtigen gehalten hatte. Inzwischen waren sie ohnehin beide tot.

»Vielleicht hast du die falschen Männer geheiratet.« In Madame Henstroms Stimme schwang keinerlei Sarkasmus mit – es war eher, als machte sie mir einen Vorschlag. Sie schwenkte die Hand durchs Zimmer, fast genauso, wie ich es kurz zuvor getan hatte. »Ich habe mein eigenes Geld, aber ich achte auch darauf, reiche Männer zu heiraten. Und wenn sie sterben, gehört ihr Geld mir allein, verstehst du?«

Ich starrte sie fassungslos an. »Sie meinen damit … ich soll versuchen, einen reichen Mann zu heiraten?«

»Ich denke, dass die Heirat mit armen Männern dich nicht weitergebracht hat«, bemerkte sie und streichelte ihr Hündchen. »Du hast ein hübsches Gesicht. Mit anderer Kleidung und einer modernen Frisur würdest du die Blicke vieler Männer auf dich ziehen.«

»Ich habe keine Familie, keine Beziehungen«, stammelte ich. »Ich bin ein Waisenkind ohne jeden Besitz. Wer würde mich heiraten wollen?« Ganz abgesehen davon, dass ich nie wieder heiraten wollte.

Wieder neigte Madame Henstrom ihren Kopf zur Seite. »Meine Liebe – wenn ich dir erzählen würde, dass ich die fünfte Tochter eines reichen englischen Gutsbesitzers bin, wie würdest du das nachprüfen wollen? Die Welt ist so groß und es gibt so viele Menschen. Niemand kann sie alle kennen. Briefe, Nachfragen, so etwas dauert Monate und Monate. Erfinde dir eine Familie und eine Geschichte, wenn du das nächste Mal einen Boden scheuerst … oder Stoffballen abstaubst. Und dann sei diese Person. Stell dich so vor. Werde ein neuer Mensch, wie du es ohne Zweifel schon öfter gemacht hast – aber verändere diesmal mehr als nur deinen Namen.«

Ihre Worte rasten durch mein Gehirn wie ein Komet und schufen dort Raum für neue Ideen, neue Konzepte. Aber dann holte mich meine beschränkte Wirklichkeit wieder ein. Meine Hände zupften an meinem groben Umhang, dem schlichten Rock mit dem schlammigen Saum. Ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Es machte mir Angst. »Ich weiß nicht –«, begann ich.

Madame Henstrom hob die Hand. »Meine Liebe – es ist November. Bleib bei Meister Svenson, bis du dir überlegt hast, wer du gern wärst, wenn dir alle Möglichkeiten offenständen. Ich werde im März wieder nach dir schicken.«

»Ja, Madame«, sagte ich überwältigt und verängstigt und … unheimlich aufgeregt.

Und im März schickte Madame Henstrom tatsächlich nach mir. Ich verließ Meister Svenson, nahm das Geld, das ich in den letzten sechs Monaten angespart hatte, und meine nächste Station war das Landhaus der Henstroms, rund zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Dort wartete ihre private Schneiderin, die mir auf Anweisung der Hausherrin drei neue Kleider nähte und dabei sogar meine persönliche Marotte berücksichtigte, mein Genick stets bedeckt zu halten. Die Kleider waren schicker und prunkvoller als alles, was ich bisher besessen hatte, aber dennoch nicht so protzig, dass sie Erstaunen hervorriefen.

Als ich in den Spiegel sah, mein weißblondes Haar kunstvoll geflochten, in einem blauen Kleid, das viel hübscher war als alles, was ich seit meiner Kindheit getragen hatte, traf mein Blick den von Madame Henstrom – Eva –, die wohlwollend lächelte.

»Darf ich fragen«, begann ich zögernd.

»Ja?«

»Darf ich fragen, wieso Sie das für mich tun? Es wird Jahre dauern, bis ich Ihnen alles zurückzahlen kann.«

Evas Miene wurde nachdenklich. »Weil … vor mehr als hundert Jahren war ich wie du. Doppelt so alt wie du jetzt bist, aber im Grunde genauso. Ich war dumm und hatte keine Träume für meine Zukunft. Aber dann habe ich jemanden getroffen. Und … ich tat ihr leid. Sie wollte mir helfen. Sie war die älteste Person, die ich jemals getroffen habe – damals war sie schon über sechshundert.« Madame Henstrom lächelte beinahe wehmütig. »Wie auch immer. Sie hat jedenfalls dasselbe für mich getan, was ich jetzt für dich mache. Ich wollte schon immer jemandem helfen, um auf diese Weise meine Schuld zu begleichen.« Wieder lächelte sie mich an. »Das ist meine gute Tat. Nimm sie an und genieße dein Leben.«

Danach passierte einiges, Gutes und Schlechtes, aber kaum achtundzwanzig Jahre später war ich Elena Natoli, die Inhaberin eines Geschäfts für Spitzen in Neapel. Ich hätte schon viel reicher sein und mir viel mehr Luxus gönnen können, aber ich brachte es einfach nicht über mich, noch einmal zu heiraten.

Ich habe die Frau, die sich Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Eva Henstrom nannte, nie wieder gesehen. Hätte ich sie noch einmal getroffen, hätte ich ihr gedankt. Sie hat den Lauf meines Lebens geändert wie ein Sturm, der einen Fluss übers Ufer und auf neue Wege treibt.

2

West Lowing, Massachusetts, USA Gegenwart

Also, jetzt heben alle die Hand, die schon mal:

– Essen, Eis oder ein Getränk vor jemandem verschüttet haben (oder sogar auf ihn),

– festgestellt haben, dass sie einen Riesenfleck auf der Kleidung haben, der anscheinend schon den ganzen Tag da war, ohne dass jemand etwas gesagt hat (Extrapunkte, falls der Fleck mit dem weiblichen Zyklus zu tun hat),

– bei einem wichtigen Essen mit jemandem einen dicken Krümel an der Lippe hatten und nichts kapierten, obwohl ihr Gegenüber unauffällig darauf hinzuweisen versuchte,

– ein total einfaches Fremdwort vor allen anderen falsch ausgesprochen haben.

Ich könnte ewig so weitermachen. Der Punkt ist, dass solche Sachen jedem passieren können. Ich wette, dass sie euch auch nach Jahren noch peinlich sind, stimmt’s?

Also, zu dem Thema kann ich nur sagen, regt euch ab, es gibt definitiv Schlimmeres.

Wer erst einmal vor den Leuten weggelaufen ist, die einem nur helfen wollten, sich mit einem Typen zusammengetan hat, von dem jeder (man selbst eingeschlossen) wusste, dass er ein mieser Kerl ist; mit ihm rumgezogen ist, auch als er ausflippte, und zwar nicht auf die normale Weise wie jemand, der sich nur die Klamotten runterreißt und dann in einem öffentlichen Brunnen tanzt, sondern indem er schwarze, grauenhafte Magie benutzte, jemanden entführte und abschlachtete – also, wer das schon mal gemacht hat und dann zu den Leuten zurückgekehrt ist, die nur helfen wollten … also dann darf derjenige sich gern bei mir melden. Aber solange das nicht der Fall ist, kratzt es mich kein bisschen, was für Steinchen andere Leute gerade im Schuh haben.

»Nas? Nastasja?«

Ich blinzelte und konzentrierte mich hastig wieder auf das Gesicht von Anne, eine meiner Lehrerinnen. Ihre runden blauen Augen sahen mich erwartungsvoll an und das braune Haar wippte ihr um die Schultern.

»Äh …« Ich fummelte an dem Tuch herum, das ich um den Hals trug. Was war die Frage gewesen? Ach ja. »Ringelblume«, sagte ich und identifizierte damit die orangefarbene Blüte auf der Karte, die Anne hochhielt. Bildkärtchen, die uns Schülern dabei helfen sollten, die endlosen Fakten über jedes einzelne Ding in der physischen, metaphysischen und spirituellen Welt zu lernen. Und das war erst der Anfang.

Neben mir streckte Brynne ihre langen Beine unter dem Tisch aus und schlug sie dann erneut übereinander. Ich konnte spüren, wie gern sie mir zu Hilfe gekommen wäre. Sie wusste viel mehr als ich – alle wussten mehr als ich –, aber sie schaffte es, sich nicht einzumischen.

»Eigenschaften?« Anne war nicht so geduldig wie River und allmählich nervte es uns beide, so viele Stunden damit verbringen zu müssen, das ganze Wissen so schnell wie möglich in mein Hirn zu hämmern. Ich war kein komplett hoffnungsloser Fall – ich wollte ja lernen –, aber heute schien es mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Meine Wangen begannen zu glühen, als sich das Schweigen im ganzen Raum ausbreitete. Ich war mir nur zu bewusst, dass Reyn da war und still neben Brynne saß, und Daisuke, der in einer Ecke allein vor sich hin lernte. Mein Versagen war unausweichlich: In meinem Gehirn nach den Eigenschaften der Ringelblume zu suchen war, als würde man herumrennen und Glühwürmchen fangen wollen. Glühwürmchen mit Turbolader. Im Kokainrausch.

»Sie wird viel genutzt in … Thailand und Indien, für religiöse Zwecke«, sagte ich in dem verzweifelten Versuch, das Gesicht zu wahren. Ich hasste es, dumm dazustehen, obwohl das für mich mittlerweile genauso selbstverständlich sein sollte wie Atmen. Aber Reyn war hier und ich hasste, hasste, hasste es ganz besonders, vor ihm dumm dazustehen.

»Ja?«, hakte Anne nach.

Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf – hölzerne Karren, hoch beladen mit den gelben Blumen auf einem Straßenmarkt in Nepal. Zweifellos war das heute noch so, aber meine Erinnerung daran stammte aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Da war ich über Nepal nach Bombay gereist, um dort ein Handelsschiff nach England zu nehmen. Und jetzt lasst uns den Suezkanal hochleben, der diese Reise locker um vier bis fünf Monate verkürzt. Wer ist dabei?

»Nastasja.« Anne seufzte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Es würde dir helfen, solche Dinge zu wissen.«

»Ich weiß«, beteuerte ich und versuchte, nicht den Kopf einzuziehen, als ich hörte, wie Reyn auf seinem Stuhl herumrutschte. »Ich will es ja. Ich weiß, dass ich es wissen muss. Es ist nur – mein Kopf ist schon so voll mit anderem Kram.«

Ich meine, das ist doch wohl logisch, oder? Vierhundertneunundfünfzig Jahre hinterlassen eine Menge Kram. Identitäten, Abenteuer, Lebensabschnitt nach Lebensabschnitt, jeder davon so voll wie der vorherige. Das brachte die Unsterblichkeit eben mit sich.

Brynne zappelte mittlerweile auf ihrem Stuhl herum wie ein Greyhound, der ein Kaninchen entdeckt hat.

»Okay«, sagte ich energisch und setzte mich aufrechter hin. Ich wusste es jetzt. Ich hatte es eine Million Mal gelernt. »Okay, also … sie dient überwiegend zum Schutz. Und stärkt. Zum Beispiel das Herz, und schützt vor dem Bösen. Oh.«

Jetzt kapierte ich, wieso ich alles über Ringelblumen lernen sollte, und mir wurde klar, dass sie mich, zusammen mit einer Unmenge anderer Dinge (wie Weihrauch, Flohkraut, Eisenkraut, Brennnessel, Eisen und Onyx, um nur ein paar zu nennen) vor dem Bösen schützen sollten. Manche Leute versuchen, sich vor Erkältungen zu schützen. Ich gebe alles dafür, das Böse fernzuhalten. Ist eben alles relativ.

Das uralte Böse. Wirklich komisch, dass es tatsächlich existiert. Aber das tut es. Und meine letzte Begegnung damit, diese ganze Horrorshow in Boston mit meinem ex-besten Freund Incy hatte mir nur allzu deutlich klargemacht, dass ich kaum eine Ahnung von Magie habe. Hätte ich in dieser Nacht über mehr Wissen verfügt, hätte ich Katie und Boz vielleicht retten können. Hätte vielleicht ihr grauenvolles Sterben nicht mitansehen müssen. Vielleicht hätte ich auch mich selbst schneller befreien können, und zwar ohne, dass mir fast der Kopf explodiert wäre.

Ich war nun schon einen Monat wieder hier in River’s Edge. Wahrscheinlich hätte ich ebenso gut in irgendeine entfernte Ecke der Welt fliehen, mich in einer Höhle verkriechen und meine Wunden lecken können – und das für, nun, sagen wir mal eine Ewigkeit. Aber ich war fertig genug, um zuzugeben, dass ich tatsächlich Hilfe brauchte. Ich brauchte Hilfe dringender als meinen Stolz, meine Tapferkeit, meine Coolness oder meine totale Verlegenheit.

Bis jetzt waren alle super damit umgegangen, was passiert war. Niemand hatte es mir unter die Nase gerieben, mich verachtet oder auch nur komisch angesehen. Weil die alle so viel cooler sind als ich, richtig? So viel erfahrener, sowohl in der realen Welt als auch in der Welt der Buße. Und mir keine Vorwürfe zu machen, sorgte bei ihnen für gutes Karma. Eigentlich müssten sie mir danken. Dass ich ihnen so viele Gelegenheiten gebe, die Gutmenschen hervorzukehren.

Aber es war auch unverkennbar, dass meine jahrhundertealte Angewohnheit, nichts zu lernen, mich nicht weiterbrachte. Also saß ich fest wie ein Fisch am Haken und wurde Stunden über Stunden mit Wissen bombardiert: Beschwörungen, Einfluss der Sterne auf die Magie, magische Eigenschaften verschiedener Pflanzen, Steine, Kristalle, Öle, der Erde, des Himmels, des Wassers – alles ist überall miteinander verbunden und alles kann sowohl zum Guten als auch zum Bösen genutzt werden. Ich kam mir vor, als wäre mein Kopf bis zum Platzen vollgestopft mit Fakten, Überlieferungen, Geschichte und Tradition, Formen und Mustern und Beschwörungen und Bedeutungen – wenn ich mich übergeben würde, kämen wahrscheinlich nur Worte heraus, die sich in einem stachligen Haufen auf den Boden ergießen würden.

»Nas?«

Ich blinzelte und versuchte, ein aufmerksames Gesicht aufzusetzen, aber Anne lehnte sich zurück und legte die Karten weg. »Lasst uns eine Pause machen«, sagte sie. Sie wirkte müde. Mich zu unterrichten, war wohl nicht ihre Vorstellung von einem gelungenen Tag. Die meisten Dinge, die mich betrafen, waren nicht gerade die Höhepunkte im Leben von irgendwem; das wusste ich längst und bisher war mir das vollkommen egal gewesen. Aber in letzter Zeit, seit ich auf dem besten Weg war, ein wenig erwachsener zu werden, fühlte ich gelegentlich einen Anflug von Schuld deswegen, und es war mir sogar ein bisschen peinlich. Bisher war es mir allerdings gelungen, diese Gefühle die meiste Zeit erfolgreich abzuschütteln.

»Okay«, sagte ich und versuchte, nicht zu begeistert zu klingen. Ich warf einen Blick zum Fenster; die matte Februarsonne gab ihr Bestes, aber viel war es nicht. Es war schätzungsweise zehn Uhr und ich musste unwillkürlich daran denken, dass ich noch vor ein paar Wochen vormittags um diese Zeit Regale in MacIntyres Drugstore eingeräumt hatte. Dort arbeitete ich jedoch nicht mehr. Ich war gleich zweimal gefeuert worden.

»Ich hoffe, in der Küche gibt’s noch Kaffee.« Brynne entfaltete ihren langen schlanken Körper und streckte sich. Ihre karamellfarbenen Locken wippten. Sie kam dem, was ich eine Freundin nennen konnte, am nächsten, auch wenn wir nicht verschiedener sein konnten: Sie groß und schwarz – ich klein und schneeweiß; sie Amerikanerin – ich Isländerin; sie 230Jahre alt – ich 459; sie fröhlich, nett, selbstbewusst und fähig … ich nichts von alldem. Außerdem hatte sie eine große liebevolle Familie und ich niemanden mehr.

»Ich denke, ich werde einen Blick auf den Arbeitsplan werfen«, sagte ich. »Und eine Weile etwas tun, für das ich meinen Kopf nicht brauche.«

»Gute Idee«, meinte Anne und lächelte mich sanft an. Sie kam herbei und rieb mir kurz über den Rücken – Anne stand auf Anfassen. Ich hatte lange geübt, nicht sofort zusammenzuzucken, und zog nur ein wenig die Schultern hoch, bis es mir gelang, mich wieder zu entspannen. »Manchmal helfen langweilige oder routinemäßige Arbeiten, das Wissen sacken zu lassen.«

Ich nickte und griff nach meiner Daunenjacke. Also, wenn Langeweile und Routine beim Lernen halfen, war ich bereits auf der Überholspur. Daisuke blieb allein im Klassenzimmer zurück, als Brynne, Reyn und ich gingen. Von allen Schülern war Daisuke meiner Einschätzung nach der am weitesten Fortgeschrittene. Er war dem ultimativen Frieden am nächsten und hatte die wenigsten offensichtlichen Macken. Aber niemand landete in River’s Edge nur so aus Spaß. Ich wusste nicht, was Daisuke getan hatte, dass ihm Jahre in der Reha wie ein guter Plan erschienen, aber etwas musste es gewesen sein. So viel hatte ich in den vier Monaten gelernt, die ich nun schon hier war.

Brynne warf mir ein verschmitztes Lächeln zu und eilte vor mir und Reyn zur Tür hinaus, um uns – ganz unauffällig – etwas Zweisamkeit zu verschaffen.

Ich sah kurz zu ihm hinüber, aber sein Gesicht war – ja, ich weiß, die totale Überraschung – vollkommen ausdruckslos. Wie üblich, wenn ich in seiner Nähe war, wechselte mein Herz von einem kurzen Aussetzer sofort in den Galopp, was sich anfühlte wie Regen, der auf ein Blechdach prasselt. Ich wollte gerade etwas sagen, das mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit total albern gewesen wäre, als hinter uns etwas durchs nasse Laub raschelte. Wir drehten uns um und sahen etwas kleines Weißes auf uns zurasen: Dúfa, Reyns Welpe. Sie musste auf ihn gewartet haben.

Reyn kniete sich sofort hin und sein unbekümmertes Lächeln schnürte mir die Brust zu. Dúfa galoppierte tapsig und mit der typischen Entschlossenheit eines Welpen auf uns zu und stieß dabei ein paar schrille Kläffer aus – nur für den Fall, dass wir sie übersehen hatten. Sie stürzte sich auf Reyn und stellte sich auf die Hinterbeine, um ihm das Gesicht abzulecken.

»Okay«, sagte er ruhig und hob die Hand. »Sitta.« Sofort plumpste Dúfas kleiner Hintern auf den kalten Boden und ihre merkwürdig hellbraunen Augen waren unverwandt auf Reyns Gesicht gerichtet. Er hielt die Hand ausgestreckt, als er sich wieder aufrichtete und über ihr stand – mehr als einsachtzig groß, überwältigend attraktiv und gefährlich. Dúfa sah ihn immer noch unverwandt an, erlaubte sich aber ein kurzes Wedeln mit ihrem überlangen dünnen weißen Schwanz. »Okay«, sagte er wieder und erlöste sie. Sie sprang auf und fing erneut an zu kläffen.

»Sie kann schon Sitz«, sagte ich mit meiner üblichen Begabung, die offensichtlichsten Dinge in Worte zu fassen. »Auf Schwedisch.« Wie konnte ich meinen nächsten Plan in die Tat umsetzen? Ich will dich irgendwohin locken. Mich auf dich werfen. Nicht darüber nachgrübeln, ob unsere »Beziehung« überhaupt »sinnvoll« ist.

»Sie ist ein kluges Mädchen«, sagte Reyn, nahm den Welpen hoch und steckte ihn in seinen Stallmantel. Dúfas weißes Gesicht und die langen Schlappohren lugten unter seinem Kinn hervor und sie sah sowohl glücklich als auch sehr wichtig aus.

In meinem Kopf machte es ding. »Du meinst, sie ist klug, aber ich nicht?« Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, da waren sie mir schon peinlich – ich meine, wie paranoid war ich, eine harmlose Bemerkung über seinen Hund sofort als Seitenhieb gegen mich zu interpretieren?

»Ganz genau«, erwiderte er kalt und meine Augenbrauen schossen hoch.

»Häh?«

Er blieb auf dem Weg abrupt stehen und wandte sich mir zu, das Gesicht voller Wut. »Du bist in Boston fast gestorben!«, fuhr er mich an. »Du bist tausendmal mächtiger als dieses jämmerliche Stück Abfall, aber trotzdem hatte er die Oberhand. Du warst so kurz davor, dir deine Kraft entreißen zu lassen!« Er hielt zwei Finger dicht nebeneinander für den Fall, dass ich visuelle Verdeutlichung brauchte.

»Ich weiß!«, verteidigte ich mich. »Ich war da! Dumm gelaufen. Und?« Ich verschränkte die Arme und versuchte, nicht zur Kenntnis zu nehmen, wie Dúfa Reyn den Hals leckte.

»Und wieso lernst du dann nicht wie eine Verrückte?«, rief er. »Wieso nimmst du das nicht ernst? Du hast zwei deiner Freunde einen grauenvollen Tod sterben sehen. Du solltest Angst haben und alles tun, was du kannst: lesen, lernen, üben.« Er verengte die Augen und stach mir mit seinem starken Zeigefinger in die Brust, was richtig wehtat. »Nächstes Mal kannst du deine Kraft vielleicht nicht mehr retten«, sagte er. »Nächstes Mal wirst du vielleicht getötet. Du könntest für immer tot sein, nur weil du zu faul warst, dich zusammenzureißen und zu lernen, wie du dich schützen kannst!«

Was erlaubte der sich? Jetzt verengten sich auch meine Augen und ich fing an, ihm den Finger gegen die Brust zu stoßen. Allerdings war Dúfa im Weg und ich wusste nicht, wo sie anfing und endete. Also funkelte ich ihn nur böse an und bedachte ihn mit dem strengen Lehrerinnen-Fingerwackeln – was längst nicht so befriedigend war. Davon abgesehen war er auch noch rund zwanzig Zentimeter größer als ich, also fürchtete ich, dass ich nicht so einschüchternd auf ihn wirkte, wie ich es gern getan hätte.

»Du –«, begann ich wütend, aber mehr fiel mir leider nicht ein. »Ich –« Während ich noch empört versuchte, mich zu verteidigen, wurde mir zu meiner Schande bewusst, dass er recht hatte.

Er wartete und sein Atem hinterließ weiße Wölkchen in der kalten Luft.

»Ich versuche es ja«, sagte ich steif.

»Du versuchst gar nichts«, widersprach er kalt. »Du bist hier, um dein Leben und dich selbst endlich mal ernst zu nehmen. Sag mir Bescheid, wenn du vorhast, damit anzufangen.« Bevor ich auch nur so tun konnte, als hätte ich eine tolle Retourkutsche parat, hatte er sich schon an mir vorbeigedrängt und marschierte mit seinen langen Beinen aufs Haus zu. Ich verharrte eine Weile und wusste nicht, was ich tun sollte.

Nach meiner Rückkehr aus Boston hatten Reyn und ich uns kurz darüber verständigt, was wir füreinander empfanden. Okay, also eigentlich hatten wir uns vor allem darauf geeinigt, uns nicht mehr zu hassen.

Und jetzt war er gerade mal wieder wütend auf mich. Was mochte er überhaupt an mir? Wieso passte er dann immer wieder einen günstigen Augenblick ab und küsste mich so leidenschaftlich mit seinem superheißen Mu–

Okay, Schluss damit! Reiß dich zusammen, Nastasja, befahl ich mir streng. Das sollte eigentlich gesessen haben. Sehr, sehr langsam ging ich aufs Haus zu, damit ich noch etwas Zeit zum Nachdenken hatte.

Schließlich stieg ich die Stufen hoch und öffnete die Küchentür, wo mich Backdüfte begrüßten. Reyn hing dort ebenfalls ab.

Rachel nickte mir zu, die an der Arbeitsplatte einen Teigklumpen von der Größe einer Melone knetete. Sie trug ein dunkelgrünes Sweatshirt und hatte ihre schwarzen Haare mit einem Tuch zusammengebunden. Ich wusste, dass sie ursprünglich aus Mexiko stammte und ungefähr dreihundertfünfzehn war, also rund ein Jahrhundert jünger als ich. Sie sah aus wie eine Studentin.

»Hey«, sagte ich, um Normalität bemüht. »Das riecht lecker.«

Sie nickte wieder. Rachel lächelte nur selten, aber ein Blick auf den umwerfenden Kerl mit dem hässlichen kleinen Welpen unter dem Mantel ließ ihre Gesichtszüge weich werden. Ich meine, kann man sich ein Bild vorstellen, das noch mehr zum Niederknien ist? Missgelaunt ging ich an ihm vorbei ins Esszimmer. Genau im selben Moment kam Charles durch die Schwingtür. Sein Gesicht leuchtete auf, als er Reyn entdeckte. Sofort fing er an, Dúfa unter dem Kinn zu kraulen, was sie offensichtlich genoss.

»Gut, dass ich dich treffe, Reyn«, sagte Charles. »Kannst du mir helfen, den großen Schrank im ersten Stock umzustellen?«

»Klar.« Reyn bedachte mich mit einem Blick, der mich schaudern ließ, und folgte Charles hinaus.

Ich hörte auf, ihm hinterherzustarren, und musste feststellen, dass Rachel mich beobachtete.

»A-ha«, sagte sie und schob sich die Brille hoch, was einen weißen Mehlschmierer auf ihrer Nase hinterließ.

»A-ha was?«, erwiderte ich kühl.

Sie nickte nur und ich verdrehte die Augen und verzog mich in das große schlichte Zimmer, in dem wir aßen. Zurzeit waren wir dreizehn Personen: die vier Lehrer River, Asher (der Rivers Partner war), Solis und Anne – und acht Schüler: ich, Brynne, Rachel, Daisuke, Charles, Lorenz und der unnahbare Reyn. Und dann war da noch Annes Schwester Amy, die aber nur zu Besuch da war.

Ich hängte meine Jacke auf und schaute tatsächlich auf den Arbeitsplan im Flur. Allein die Tatsache, dass ich es tat und mich nicht klammheimlich für ein kleines Nickerchen in mein Zimmer verdrückte, bewies wohl zur Genüge, mit welcher Hingabe ich das Leben und mich selbst ernst nahm. Natürlich war diese Hingabe an manchen Tagen stärker als an anderen und es gab auch Tage, an denen ich mich ungefähr fünfzig Mal dazu zwingen musste.

Verdammter Reyn. Für wen hielt der sich?

Plötzlich standen mir meine Nackenhaare zu Berge. Auf der Holzveranda dröhnten Schritte und vor der Mattglasscheibe der Haustür tauchte ein dunkler Schatten auf. Die Paranoia, die ich seit Boston verspürte, war sofort wieder da, als der Türknauf gedreht wurde.

Die Tür ging auf. Und wenn man die perfekte Besetzung für die Rolle des Teufels in einem alten Hollywoodschinken suchen würde, wäre es dieser Typ. Er war groß, dunkel und gut aussehend, aber auf eine raue, vermutlich seelentötende Weise. Flügelförmige Brauen überspannten Augen, die so dunkel waren wie meine – nein, schwärzer, tiefer, ohne jedes Licht. Haifischaugen. Er starrte mich sofort an, stellte seinen Koffer ab und legte den Kopf in den Nacken. Ich beobachtete ihn verstört und erwartete Wolfsgeheul.

»River!«, brüllte er und es hallte durch den ganzen Flur. Ich wich zurück bis zur Treppe und wollte noch ein wenig weiter zurückkriechen, um mich ins hintere Wohnzimmer zu verdrücken.

Fast sofort wurde die Tür am Ende des Flurs geöffnet und River kam aus dem kleinen Raum, den sie als Büro benutzte. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Hätte sie irgendeine andere Regung als freudige Überraschung gezeigt, würde ich mir den Ziegelstein schnappen, der die Wohnzimmertür offen hielt, und ihn dem Typen über den Schädel schlagen.

River war tatsächlich freudig überrascht, allerdings auch etwas verblüfft.

»Ottavio!«, rief River aus und da erinnerte ich mich vage an ihn, denn River hatte mich einmal auf eine Führung durch ihr Leben mitgenommen.

Dieser finster wirkende Typ war Rivers älterer Bruder. Außerdem hatte sie auch noch drei jüngere Brüder.

Ist ja der Hammer, dachte ich, als ich es endlich kapiert hatte. Das ist Rivers Bruder. Er war noch älter als River, und sie war einer der ältesten Menschen, die ich je getroffen hatte. Sie ist 718 in Genua geboren worden und war eine Zeit lang sehr, sehr dunkel (magisch gesehen). Heute war River einer der besten Menschen, die ich kannte. Ich konnte nur hoffen, dass ihr Bruder ebenfalls solche Entwicklungssprünge gemacht hatte.

»Was für eine Überraschung!«, rief River aus. Die beiden umarmten sich und küssten einander auf die Wangen – auf beide Seiten, wie es viele Südeuropäer tun. »Wieso um alles – wieso hast du nicht gesagt, dass du kommst?« Sie trat zurück und sah ihn prüfend an. »Ist alles in Ordnung?«

Ottavio nickte und wieder fiel mir seine strenge Schönheit auf, die Perfektion seines Körpers, der mich an eine römische Statue erinnerte, und die feinen Fältchen um seine Augen.

»Mir geht’s gut«, sagte er. Dann zeigte er auf mich. »Ich bin wegen ihr gekommen. Sie sollte nicht hier sein.«

Ich machte große Augen. Sehr nett. So viel zum Thema italienischer Charme.

River blinzelte verblüfft und warf mir einen Blick zu. »Bitte entschuldige uns einen Moment«, murmelte sie.

Ich rang mir ein verkniffenes Lächeln ab, verzog mich ins Esszimmer und von dort nach draußen, wo ich mich fragte, was zum Teufel Ottavio damit gemeint hatte.

Und jetzt? Es war natürlich kalt hier draußen und ich hatte keine Jacke. Mein Blick fiel auf das Stallgebäude auf der anderen Hofseite und ich ging darauf zu.

Drinnen hörte ich Anne in ihrem Klassenzimmer vor sich hin summen. Vermutlich genoss sie ihre Nastasja-freie Zeit. Ich straffte meine Schultern und klopfte.

»Hi.« Anne schien überrascht, mich zu sehen.

»Hi«, antwortete ich verlegen. »Ich dachte … wenn du Zeit und Lust hast … könnten wir vielleicht mit der Kräuterkunde weitermachen?« Bitte sag nicht nein. Bitte sag nicht, dass du die Nase voll von mir hast.

Anne sah mich an, als würde sie ihre Optionen abwägen. »Natürlich. Gern. Setz dich.«

»Ich weiß, dass ich noch besser werden muss. Und … ich will nicht zurück ins Haus«, gestand ich. Es frei herauszusagen statt irgendwelcher Ausflüchte, war ein weiterer Fortschritt, der so offensichtlich war, dass man ihn nicht erst mit der Lupe suchen musste. »Rivers Bruder Ottavio ist gekommen.«

Annes Überraschung schlug in Verblüffung um. »Ottavio! Hier?«

Ich nickte. »Und er hasst mich jetzt schon. Obwohl er gerade erst angekommen ist. Meistens muss ich wenigstens mit den Leuten reden oder so, bevor sie mich hassen.«

»Hm«, machte Anne nachdenklich. »Sehr merkwürdig.«

Ja. Ganz meine Meinung.

3

In meinem Leben musste ich schon: mich vor blutrünstigen Nordmännern verstecken; mir einen Weg durch pockenverseuchte Leichen bahnen, um eine Stadt zu verlassen; mit einem gestohlenen Pferd vor einer Flutwelle fliehen; Männer erschießen, die mich während des Goldrauschs ausrauben wollten; einen wilden Eber töten, der mich angriff (ich hatte gerade mal einen lausigen Speer und eine Handvoll Steine); mich aus etlichen haarigen Situationen herauslügen – mit immer neuen gefälschten Papieren und Identitäten; und nach River’s Edge zurückkehren, nachdem ich mit Innocencio durchgebrannt und fast von ihm umgebracht worden war.

Und nach allem, was ich durchgemacht hatte – wieso verknotete mir die Aussicht, beim Abendessen auf Ottavio zu treffen, dann so den Magen?

Vielleicht, weil man mich hier kannte. Nach vier Monaten waren die Leute in River’s Edge keine Fremden mehr, die ich mit ein paar Lügen täuschen konnte. Außerdem bedeuteten sie mir etwas. Ich … ich wollte nicht, dass sie schlecht von mir dachten.

Und dass der düstere, strenge und selbstgerechte Ottavio ausgerechnet jetzt auftauchte und mich mit einem Fußtritt an die Luft befördern wollte, wo ich mich endlich halbwegs zu Hause fühlte – das war echt Mist.

Schon auf halbem Weg die Treppe hinunter konnte ich Rachels Brot riechen und irgendwas mit Huhn. Wir aßen oft vegetarische Mahlzeiten und die Aussicht auf echtes Huhn beschleunigte meine Schritte.

Ich blieb an der Tür kurz stehen und rutschte dann möglichst unauffällig auf den letzten freien Platz der langen Holzbank.

»Hey, Nas.« Annes jüngere Schwester Amy saß neben mir. Obwohl sie in Reyn verknallt war, musste ich sie einfach gernhaben. Sie schien begriffen zu haben, dass Reyn und ich irgendwie aufeinander standen (normalerweise, also zurzeit gerade nicht so), und hatte sich taktvoll zurückgezogen. Was sehr erwachsen von ihr war. Ganz anders als bei Nell, einer anderen Verehrerin von Reyn, die eine Zeit lang Schülerin in River’s Edge war und versucht hatte, mich umzubringen. Hatte sie wirklich.

»Hi«, sagte ich. »Was hast du heute gemacht?«

»Ähem.« Amy tätschelte den knotigen Garnklumpen, den sie um den Hals trug. »Ich lerne stricken. Nachdem ich mich zwei Jahrhunderte lang erfolgreich davor gedrückt habe, versuche ich es nun doch. Das ist mein erstes Kunstwerk.« Sie lächelte stolz und wickelte den Schal ab, um ihn mir zu zeigen.

»Äh …«, murmelte ich. Es war eine einzige Katastrophe – ein Gewirr aus Wolle, Knoten, klaffenden Löchern und hier und dort kleinen Bereichen, in denen tatsächlich etwas Gestricktes zu erahnen war. Ich schaute kurz zu Amy auf und zermarterte mir das Gehirn nach einer diplomatischen Bemerkung. Doch dann sah ich ihr Grinsen und das Funkeln in ihren Augen, als sie versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. Sie wusste genau, wie scheußlich ihre Strickerei war.

»Wow!«, sagte ich mit gespielter Begeisterung. »Das ist ja der Wahnsinn, Amy! Du bist ein Naturtalent!«

Sie lachte und reichte mir die Schüssel mit dem klein geschnittenen Hühnerfleisch und den Brotkorb. »Nenn mir deine Lieblingsfarbe. Dann mache ich dir auch so einen Schal.«

»Quietschgrün«, sagte ich und zog mir unwillkürlich meinen aktuellen Schal etwas enger um den Hals.

»Abgemacht. Etwas Senf?«

Es war Sandwich-Abend auf der Hazienda River und ich nahm den Senf gern entgegen. Bis jetzt hatte ich Ottavio, der neben River auf der anderen Seite des Tisches saß, erfolgreich ignoriert.

Aber nicht mehr lange.

»Ihr Lieben!« River klopfte mit dem Messer gegen ihr Wasserglas. »Viele von euch kennen meinen Bruder Ottavio. Für die, die ihn nicht kennen: Das ist mein Bruder Ottavio.«

Es wurde gelächelt und freundlich genickt. Sie erwähnte jedoch mit keiner Silbe, dass er der König ihres Hauses in Genua war. Es gab acht dieser Häuser, wie die auf der Welt verstreuten Dynastien von Unsterblichen genannt wurden. Einige der Häuser, das Russische und das an der Grenze zwischen Ägypten und Libyen, waren zerstört und hatten keine Nachkommen mehr. Die anderen in Australien, Brasilien, Afrika, Italien und hier in Amerika verfügten immer noch über ihre alten Quellen unsterblicher Kraft und ihr Erbe. Ottavio war das älteste Mitglied des Hauses von Genua. Das Isländische hingegen war im Jahr 1561 von Nordmännern vollständig zerstört worden. Nur wenige Menschen wussten, dass dieses Haus eine Überlebende hatte, die vor Kurzem wieder aufgetaucht war. Und zwar meine Wenigkeit.

»Er ist überraschend zu Besuch gekommen, was mich sehr freut«, fuhr River fort. Bruder und Schwester tauschten einen Blick, aber ich konnte nicht erkennen, was er zu bedeuten hatte. Ich hoffte bereits, dass er einfach nur gereizt gewesen war oder einen Jetlag gehabt und es nicht so gemeint hatte. Ich bin wirklich super darin, mich auf diese Weise selbst zu täuschen. Wie sonst hätte ich mehr als hundert Jahre mit Incy befreundet sein können?

»Wie schön, dich wiederzusehen, Ottavio«, sagte Anne und legte etwas Wintersalat auf ihr Sandwich.

Ich hielt meinen Blick auf den Teller gesenkt und verteilte großzügig Senf und Mayo auf mein Brot.

»Dich ebenso, Anne.« Ottavios Stimme war so tief und knurrig wie die eines Bären, den man zu früh aus dem Winterschlaf geweckt hatte. Er wirkte ganz anders als River, obwohl seine Haare genauso grau waren wie ihre. Als ich River das erste Mal begegnet war, hatte mich ihr ungewöhliches Aussehen fasziniert – die glatte, südländisch wirkende Haut, das gütige Gesicht, das sie nicht älter als dreißig aussehen ließ, und das für Unsterbliche total ungewöhnliche silbergraue Haar, das sie etwas mehr als schulterlang trug. Offensichtlich war sie die Nette in der Familie.

»Was führt dich her?«, fragte Charles höflich und sein irischer Akzent war gerade noch zu erahnen. Normalerweise verlieren Unsterbliche den Akzent ihres Heimatlandes, wenn sie ungefähr hundert Jahre alt sind. Dann wird ihre Aussprache neutraler, in jeder Sprache, die sie lernen. Fast wie bei einem Nachrichtensprecher. Für die Ewigkeit.

Sei gespannt, Nas … Ich nahm einen Bissen von meinem Sandwich.

Der olle Ottavio hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf. Er zeigte mit seinem Messer auf mich (so viel zum Thema Symbolik) und sagte: »Ich bin wegen ihr hier. Wegen der Gefahr, die von ihr ausgeht. Sie sollte nicht hier sein; meine Schwester sollte sie nicht dulden. Ich bin gekommen, um herauszufinden, was sie weiß.«

Ich versuchte, hastig zu schlucken, um keine Krümel über den ganzen Tisch zu spucken. Es fühlte sich an, als würde ich eine Glasmurmel hinunterwürgen, langsam und schmerzhaft.

Dann zwang ich mich aufzuschauen, statt unter den Tisch zu kriechen, was mein erster Instinkt gewesen war. River wirkte gereizt, auch wenn sie sich offensichtlich bemühte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Die anderen sahen verblüfft und sogar schockiert aus. Ich konzentrierte mich darauf, normal zu atmen, und sah zu Reyn hinüber. Seine offenkundige Wut und die Anspannung seiner Schultern gefielen mir im ersten Moment richtig gut, weil ich dachte, dass sie Ottavio galten, der es gewagt hatte, mich anzugreifen. Doch dann überfiel mich der unangenehme Gedanke, dass er vielleicht immer noch wütend auf mich war.

Dazu kam noch, dass ein paar der anderen tatsächlich zustimmend nickten, wie ich bei einem schnellen Rundblick feststellen musste – Jess, Charles und sogar Solis, von dem ich so viel gelernt hatte.

Das Blut schoss mir in die Wangen und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Ich war zu Hause, in Italien«, fuhr Ottavio fort. Seine schwarzen Augen schienen sich förmlich in meinen Schädel zu bohren, während seine langen Finger ein Stück Brot zerrupften. »Dort habe ich von großer, gefährlicher Magie gehört – Terävä-Magie – hier in Amerika. In Boston. Und wegen der Nähe zu meiner Schwester habe ich weitere Informationen eingeholt.«

Ich nickte. Richtig. Große, böse Magie. Das traf es ganz genau. Es war sogar so böse gewesen, dass ich nicht einmal darüber witzeln konnte. Nicht nach einem Monat. Nicht nach hundert Jahren. »Ich habe keine dunkle Magie angewandt«, sagte ich.

»Nein. Aber du standest in Kontakt mit der Person, die es getan hat.« Ottavio ließ das Brot auf seinen Teller fallen, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, was er da tat.

»Aber jetzt nicht mehr«, sagte ich, obwohl mir natürlich klar war, wie lahm sich das anhörte.

Ottavio schnaubte verächtlich.

Ja, ich hatte Mist gebaut – nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder. So ist das eben mit Rehamenschen. Bei Incy zu sein, als er seine zerstörerische Magie ausgeübt und zwei unserer Freunde vor meinen Augen getötet hatte, war eine Tragödie gewesen. Aber ich hatte ihn nicht dazu gebracht. Ich war nicht schuld an seinem Wahnsinn. Es stand ganz unten auf meiner langen Liste »Dinge, auf die ich keinen Einfluss hatte«. Wie zum Beispiel in meine Familie geboren zu werden. Wie die einzige Überlebende zu sein, in dieser Nacht, in der alle anderen – meine Eltern, meine Schwestern, meine Brüder – von den Winterschlächtern getötet wurden, weil sie die magischen Kräfte unseres Hauses an sich reißen wollten.

Ottavios schwarze Augen durchbohrten mich. »Wieso bist du hier? In was willst du meine Schwester hineinziehen? Wer – wenn überhaupt – hat dich hergeschickt und zu welchem dunklen Zweck?«

Ich starrte ihn fassungslos an – in totaler Schockstarre. Das konnte nicht sein Ernst sein. Ich überlegte, wie ich ihm die Sache mit Incy und unserer jahrhundertelangen Freundschaft erklären sollte. Wie konnte ich ihm nur klarmachen, wie verloren ich mich gefühlt hatte, wie unzulänglich, in dieser Nacht, in der ich geflohen war? Wusste er, dass mich Incy bereits einen Monat lang verhext hatte, damit ich endlich zusammenbrach und River’s Edge verließ? Ich war kurz davor durchzudrehen: Alle sahen mich an. Würde River verlangen, dass ich ging? Zählten meine Fortschritte nicht mehr? Vielleicht konnte ich unter vier Augen mit ihr reden –

Moment mal. Moment. Mal. Ich war nicht mehr zehn Jahre alt. Er war nicht mein Vater. Er war auch nicht mein Lehrer oder mein Onkel. Er war nicht die Tähti-Polizei. Was sollte er schon tun? Mir Stubenarrest geben?

Nicht so hastig, Nastasja, warnte mein Gehirn. Tu nichts Unüberlegtes. Das ist Rivers Bru–

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, rief ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Ottavios Augen weiteten sich und Charles zuckte sogar zusammen. Ich stand auf und schob meinen Teller weg. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Dies ist Rivers Haus. Und sie will mich anscheinend immer noch hierhaben.« Ich runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass du ihrem Urteil nicht traust?«

River blinzelte verblüfft und Ottavio wollte etwas sagen.

»Wenn River mich bittet, deine nervigen Fragen zu beantworten, werde ich es tun. Aber bis dahin, Ott – ich darf dich doch Ott nennen? Bis dahin, Ott, kannst du mich mal.« Ich stieg über die Bank und wollte das Esszimmer würdevoll verlassen.

Lorenz hob die Brauen. Ottavio wurde blass und sprang auf. Er überragte mich um einen ganzen Kopf. Reyn schob sich auf seiner Bank zurück, als würde er gleich eingreifen wollen. River schaute ernst drein, biss sich aber auf die Unterlippe, als müsste sie sich das Lachen verkneifen. Das war der Moment, in dem mir einfiel, dass meine letzte persönliche Katastrophe noch ziemlich frisch war und ich vielleicht nicht so dick auftragen sollte. Upps. Na, dafür war es jetzt wohl zu spät.

»Und ihr sitzt einfach nur da und mimt den Wackeldackel?« Ich sah Charles, Jess und Solis an. »Was ist denn mit eurer Vergangenheit? Glaubt ihr wirklich, über mich urteilen zu können?« Jess und Charles starrten auf ihre Teller, als fiele ihnen wieder ein: Ach ja, ich bin ja selbst ein totaler Versager. Das war mir für einen Moment entfallen. Solis erwiderte meinen Blick, aber er wirkte nachdenklich.

Eine kluge Person hätte sich jetzt würdevoll zurückgezogen. Aber da wir von mir reden, kam das natürlich nicht infrage.

»Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, fuhr Ottavio mich an. Seine seelenlosen Augen glühten förmlich und auf seinen aristokratischen Wangen breitete sich Zornesröte aus.

Reyn stand auf. Er war zwar ein bisschen kleiner als Ottavio, aber die tödliche Ruhe, die er ausstrahlte, hätte sogar einen Löwen im Sprung gestoppt.

»Klar«, sagte ich zu Ottavio. »Du bist Rivers Bruder.«

Am anderen Ende des Tisches gab River hinter vorgehaltener Hand einen erstickten Huster von sich.

Ottavio richtete sich kerzengerade auf.

»Ich bin Ottavio di Luchese della Sovrano«, tönte er. »König des Sechsten Hauses in Genua!« Er war groß und eindrucksvoll und schien mit seinem dunklen Anzug und dem makellos weißen Hemd das gesamte Ende des Raums einzunehmen. Er wirkte extrem königlich. Die Kombination aus lockigen Silberhaaren und einem erstaunlich glatten Gesicht, das ihn wie dreißig erscheinen ließ, tat seinem imposanten Auftreten keinen Abbruch.

Das Kapuzenshirt, das ich trug, war das unschuldige Opfer eines Waschmaschinenunglücks, und wie mir erst jetzt auffiel, klebte auf meiner Jeans neben Dreck noch etwas anderes – vielleicht Erdbeermarmelade. Nicht besonders königlich.

»Das hört sich richtig gut an, Ott«, sagte ich.

Alle im Raum sahen uns mit großen Augen zu und hielten den Atem an: Hier entfaltete sich ein weiteres Nastasja-Drama, das extra für sie aufgeführt wurde. Abendessen mit Showeinlage.

»Das ist es auch«, knurrte er. »Und du bist eine gefährliche Streunerin, die meine Schwester aufgesammelt hat! Ein Stück Terävä-Abschaum!«

Wieso musste ich bei dem Wort Abschaum bloß immer an eine Schaumparty denken?

River streckte die Hand aus und zupfte an seinem Ärmel. Er ignorierte sie.

»Eigentlich nicht«, sagte ich. Hier wussten alle von meiner Vergangenheit, von dem unerwarteten Erbe, das ich die letzten vierhundertneunundvierzig Jahre verleugnet hatte. Aber offenbar hatte River dem ollen Ott nichts davon erzählt. Wahrscheinlich hatte er sie nicht zu Wort kommen lassen, der Stinker.

Meine Finger kribbelten und ich fühlte mich irgendwie abgehoben und ganz komisch. Ich hatte eine sehr lange Zeit nicht an mein Erbe gedacht und jede Erinnerung an meine Kindheit, meine Eltern und meine Geschwister verdrängt. Ich schätze, ich hätte meine Vergangenheit vollständig aus meinem Kopf verbannen können, wenn ich nicht diese ständige Mahnung mit mir herumtragen würde: die Narbe in meinem Nacken. Sie ist rund, etwa fünf Zentimeter groß und das perfekte Abbild einer Hälfte des Amuletts, das meine Mutter jeden Tag ihres Lebens um den Hals getragen hat. Es hatte sich in der Nacht, in der meine Eltern starben, in meine Haut eingebrannt. Seitdem hatte ich vierhundertneunundvierzig Jahre lang immer einen hohen Kragen, einen Schal oder beides getragen und in dieser ganzen Zeit hatten – soweit ich wusste – nur drei Leute meine Narbe zu sehen bekommen: Incy, River und Reyn.

Tatsache ist, dass ich mir alle Mühe gegeben habe, meine Identität zu vergessen. Aber plötzlich verspürte ich das dringende Verlangen, vor Ott die Bombe platzen zu lassen.

»Oh, doch!« Seine Stimme dröhnte durch unser schlichtes Esszimmer. »Und was immer du planst, was immer dein Ziel ist, du wirst es nicht erreichen. Dafür werde ich sorgen.«

»Also, das finde ich nicht witzig, Ott«, sagte ich. »Denn mein einziges Ziel ist es, zu lernen und ganz Tähti-mäßig zu werden.«

Meine Eltern waren Terävä gewesen – Anhänger der dunklen Magie, bei der man den Dingen um einen herum die Kraft aussaugt, um selbst stärker zu werden. So lange, bis diese starben. Die Tähti-Magie war vergleichsweise neu. Sie konzentrierte sich auf die in der Erde vorhandene Kraft, sodass dabei niemand zu Schaden kam. Die meisten Unsterblichen sind immer noch Terävä, weil es viel einfacher ist, als ein Tähti zu sein. Incy war ein Terävä. Ich hatte mich dagegen entschieden.

»Ottavio«, murmelte River, aber auch diesmal ignorierte ihr Bruder sie.

»Meine Schwester konntest du täuschen«, sagte Ottavio.

River richtete sich auf. »Hey!«

»Aber ich durchschaue dich: Du bist eine falsche Schlange, die nur hier ist, um unser Haus zu schwächen, um das Böse hierherzuholen. Diese Vorkommnisse in Boston – sie sind unverzeihlich.«

»Da stimme ich dir zu«, sagte ich ernst und meinte es auch so. »Aber ich war nicht der Auslöser dieser Ereignisse.«

»Du bestreitest, dass du bei dieser Entweihung dabei warst?«

»Ich bestreite, dass ich sie verursacht oder dazu beigetragen habe«, sagte ich und verlor den letzten Rest von meinem ohnehin nur mickrigen Vorrat an Geduld. »Also bitte. Ich schaffe es kaum, morgens zusammenpassende Socken anzuziehen, geschweige denn eine riesige Verschwörung anzuzetteln. Ein richtiger Plan? Ich kann mir nicht mal eine Handynummer merken. Ich muss hier sein – weil ich ein besserer Mensch werden will. Aber ich habe es nicht nötig, euer Haus zu schwächen. Ich brauche keine fremde Kraft, ich habe meine eigene.« Ich stand da, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, ernst und entschlossen auszusehen. Elf Augenpaare folgten uns hin und her wie bei einem Pingpong-Match.

Als ich mir eingestanden hatte, die Tochter meiner Mutter und Erbin meines Vaters zu sein, hatte ich auch die Kraft meiner Vorfahren und meine Position als Alleinerbin des Hauses von Úlfur anerkannt. Das war, als würde ein ausgemergelter Hamster beschließen, MrUniversum zu werden. Zu behaupten, dass ich noch einen weiten Weg vor mir hatte, war eine Untertreibung von galaktischen Ausmaßen. Aber das bedeutete nicht, dass ich mir Otts Beleidigungen gefallen lassen musste.

Ottavio lachte verächtlich. »Deine Kräfte sind lächerlich. Natürlich willst du uns unsere rauben.«

»So lächerlich nun auch nicht«, widersprach ich. Ich wurde immer stinkiger und wollte, dass es endlich vorbei war.

»Ottavio«, sagte River streng.

Aber er war voll in Fahrt und richtete sich noch mehr auf, um mir den Rest zu geben.

»Mein Name ist Lilja af Úlfur«, rief ich hastig, obwohl mir dabei beinahe die Nerven durchgingen. Reyn sah mich von der anderen Seite des Tisches unverwandt an. »Ich bin die Tochter von Úlfur, dem Wolf, König des Hauses von Island.«

River lehnte sich zurück und nickte kaum merklich, als wäre sie stolz auf mich. Der Knoten in meinem Magen löste sich.

Aber das Beste war Otts Gesicht – der hängende Unterkiefer, das entgeisterte Glotzen und seine plötzliche Blässe. »Das ist unmöglich.« Er funkelte mich eisig an. »Dieses Haus ist 1559 zerstört worden. Die Familie wurde getötet und der Tarak-Sin ging verloren. Wie kannst du es wagen, mir diese edle Abstammung vorzulügen?«

»Oh, Ottavio«, murmelte River und ließ den Kopf in die Hände sinken. Asher tätschelte tröstend ihren Arm.

»Es war 1561«, sagte ich ruhig. »Und es wurden nicht alle getötet. Ich habe überlebt.«

»Ich glaube dir kein Wort!«, fauchte Ottavio.

Allmählich bedauerte ich, dass River ihre Brüder nicht getötet hatte. Oder wenigstens diesen. Ist eine lange Geschichte. Aber dieser Typ war über tausenddreihundert Jahre alt und immer noch total verbohrt. Hielt sich immer noch für was Besseres. Für den Mittelpunkt des Universums. Dabei sollte man doch meinen, dass ihm im Laufe seines langen Lebens dieser Egotrip irgendwann einmal ausgetrieben wurde.

»Es ist wahr«, durchbrach River die Stille.

Ottavio glotzte seine Schwester fassungslos an. Sie lächelte verlegen. »Ich habe versucht, es dir zu sagen.«

»Yeah!«, sagte Brynne lächelnd. »Highfive, du isländische Erbin.« Sie hob die Hand, und diese alberne freundliche Geste brachte mich zum Lächeln. Ich beugte mich zu ihr und schlug ein.

Im ganzen Raum herrschte Schweigen, als Ottavio diese unwillkommene Neuigkeit verdaute. Ein Großteil seiner Überheblichkeit war verschwunden. Er plumpste zurück auf die Bank, als hätten die Knie unter ihm nachgegeben, ließ mich aber nicht aus den Augen. Dann murmelte er: »Erbin des Hauses von Island. Úlfurs Tochter.«

»Jep«, bestätigte ich und fühlte mich plötzlich total erleichtert und gleichzeitig halb verhungert. Also setzte ich mich ebenfalls wieder hin und griff nach meinem Sandwich. Der Name meines Vaters, Úlfur, bedeutete »Wolf«. Ich hatte ihn also »Wolf, der Wolf« genannt. Aber egal, es klang einfach besser so.

»Nun«, sagte Lorenz und stützte beide Hände auf den Tisch. Lorenz war Italiener und erst ungefähr 120Jahre alt. Er war einer der schönsten Männer, die ich je gesehen hatte, mit tiefschwarzen glatten Haaren und leuchtend blauen Augen, dennoch ließ er mein Herz kein bisschen schneller schlagen. »Dann werde ich eben derjenige sein, der es ausspricht, wenn sich sonst keiner traut.«

Ich schaute auf, leicht geschockt.

»Wir wissen, dass du die Erbin eines sehr alten Throns bist«, sagte er langsam und deutlich. »Die Tochter eines Königs.«

»Sieht so aus«, sagte ich abwartend und mit vollem Mund.

»Dann kann ich es nicht länger für mich behalten.« Er musterte mich vorwurfsvoll. »Unter diesen Umständen ist dein mangelnder Sinn für Mode noch unbegreiflicher.«

Ein paar der anderen gaben einen gedämpften Schnaufer von sich und konzentrierten sich schnell wieder auf ihr Essen.

Ich lächelte, dann fing ich an zu kichern und konnte nicht wieder aufhören. Als auch die anderen loslachten, verspürte ich ein umwerfendes Gefühl der Erleichterung – ich würde sogar sagen, ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Schluck das, Ott.

4

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